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Universität LüneburgStudiengang: Berufliches Lehren und Lernen: Sozialpädagogik (B.A.)Wintersemester 2008/2009Gebiet: Personen- und organisationsbezogene Methoden der Sozialpädagogik
Dozentin: Prof. Dr. Cornelia WustmannModul: 63512000 Gesundheit, Musik und Spiel Prüfungsnummer: 63512001
Reflexion in der Erzieherinnenausbildung
Eine selbstreflexiv - essayistische Auseinandersetzung mit den Modellen
von Schulz von Thun
vorgelegt von:
Hannah Denker (geb. Uhle)Veerßer Str. 2029525 UelzenTel.: 0581-2118660Mobil: 01784832761Fax.: [email protected].: 3006898Fächerkombination: Sozialpädagogik/ Deutsch
Inhalt
1. Einleitung...............................................................................................................................1
2. Kommunikationsmodelle in der Erzieherinnenausbildung .............................................2
3. Essay: Gescheiterte Kommunikation über Kommunikationsmodelle.............................43.1 Wer sind die Protagonisten?............................................................................................43.2 Analyse der verunglückten Kommunikation.....................................................................53.3. Spiel mir das Lied vom Stuhl.........................................................................................103.4 Eine unendliche Geschichte............................................................................................143.5 Die innere Theaterbühne................................................................................................153.6 Wer versteckt sich denn im Bühnenuntergrund?............................................................193.7 Ein gemeinsames Theaterstück?.....................................................................................213.8 Die Weiterentwicklung oder die Lehre aus vergangenen Taten....................................243.9 Schlussbemerkungen.......................................................................................................25
4. Konsequenzen für die Lehrkraftausbildung....................................................................27
Literatur...................................................................................................................................28
1. Einleitung
„Die Reflexion ist ein Prozess, in dem wir erkennen, wie wir erkennen, das heißt eine
Handlung, bei der wir auf uns selbst zurückgreifen“ (Maturana/ Varela 1087: 29).
Reflexion, die als selbstreflexive Auseinandersetzung mit sich und seiner Umwelt wie im
oben genannten Zitat verstanden wird, kann als Teil von kommunikativen Kompetenzen
interpretiert werden. So ist die verbalisierte Form innerpsychischer Phänomene ein
Bestandteil situationsgerechten Verhaltens (vgl. Schulz von Thun 2002b: 275f) und ist ein
zentraler Baustein der sozialpädagogischen Ausbildung (vgl. Greving et al. 2005: 30).
Fegebank (2004a: 19) pointiert sogar, dass kommunikative Kompetenz ins Zentrum der
Ausbildung von personenbezogenen sozialen Dienstleistungen gerückt werden sollte. Des
Weiteren wird in der Diskussion um eine besondere Form der (Sozial-)didaktik die
Strukturgleichheit zwischen Lehrkraft - Schüler/Schülerin-Verhältnis und
Erzieher/Erzieherin-Kind-Verhältnis betont (vgl. Karsten 2003: 357). Wenn also im Sinne
einer konstruktivistischen Didaktik der Beziehungsebene sowohl in Lehr-Lernarrangements
als auch in der beruflichen Praxis eine herausragende Stellung eingeräumt wird (vgl. Reich
2006), dann erscheint es nicht nur sinnvoll, sondern notwendig, dass auch die zukünftigen
Lehrkräfte sich mit ihrem eigenen Interaktionsverhalten auseinandersetzten sollten.
In den folgenden Ausführungen werden dementsprechend kommunikationspsychologische
Grundlagen zunächst in das Lernfeldkonzept der Niedersächsischen Rahmenrichtlinien (2002)
für den berufsbezogenen Unterricht der Fachschulen für Sozialpädagogik eingeordnet, um
dann einen selbstreflexiv-spielerischen Umgang mit den theoretischen Modellen in Form
eines essayistischen ‚Briefes’ an Schulz von Thun zu erproben. Dieses Essay wurde bereits im
Rahmen der Begleitung einer Vorlesung von Schulz von Thun (2002) zum Scheinerwerb an
der Universität Hamburg im Fach Psychologie vorgelegt. Abschließend wird dieser
Selbstversuch auf seine Eignung für die Lehrkraftausbildung hin kurz reflektiert.
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2. Kommunikationsmodelle in der Erzieherinnenausbildung
Fach-, Methoden-, Personal- und Sozialkompetenz werden als leitende Zielsetzung der
Rahmenrichtlinien für Niedersachsen genannt (Niedersächsisches Kultusministerium 2002:
2f). Das Kommunikationsmodell von Schulz von Thun (1999, 2002a, 2002b) kann als eine
Grundlage für die Verbesserung der Ebenen Personal- und Sozialkompetenz sowie
Methodenkompetenz verstanden werden. Die Niedersächsischen Rahmenrichtlinien
subsumieren unter Personalkompetenz u.a. Kritikfähigkeit und Selbstvertrauen (ebd.: 3). Zur
Kritikfähigkeit gehört u.a. auch die Fähigkeit das eigene (kommunikative) Verhalten kritisch
zu durchdenken und zu hinterfragen sowie „die Entwicklung durchdachter
Wertvorstellungen“ (ebd.). In einem berühmten Essay von Kleist wird dieser Prozess auch mit
dem verheißungsvoll-ketzerischen Titel: „Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken
beim Reden“ (Kleist 2008) auf den Punkt gebracht. Eine (selbst-)kritische
Auseinandersetzung zur Erhöhung der Personalkompetenz kann also durch eine schriftlich-
fixierte Reflexion persönlicher Konfliktsituationen erreicht werden. Neben den Axiomen zur
zwischenmenschlichen Kommunikation von Watzlawik (1993) bieten sich die erweiterten
Modelle von Schulz von Thun zusätzlich dafür an, die Sozialkompetenz zu fördern. In den
Niedersächsischen Rahmenrichtlinien wird daraufhingewiesen, dass Sozialkompetenz sich
durch „die Bereitschaft und Fähigkeit, soziale Beziehungen zu leben und zu gestalten“
(Niedersächsisches Kultusministerium 2002: 3) auszeichnet. Dazu gehört auch die Fähigkeit
Spannungen aushalten zu können. „Diese Unsicherheit aber ist es, die Professionalität
erfordert, um sie im beruflichen Denken und Handeln aushalten und produktiv gestalten zu
können“ (Karsten 2003: 351). Spannungen aushalten zu können reicht allerdings für
professionelles Handeln nicht aus. Hinzutreten muss – wie es die Niedersächsischen
Rahmenrichtlinien auch fordern (vgl. ebd.) – die Fähigkeit Spannungen erfassen, verstehen
und erklären zu können. Und schließlich bieten die Modelle von Schulz von Thun eine
verständliche und metaphernreiche Möglichkeit sich zielgerichtet, sachgerecht und
methodenbasiert zwischenmenschlichen Konfliktsituationen anzunähern. Damit erfüllen sie
ebenso die Forderungen nach Methoden- und Fachkompetenzen (vgl. ebd.: 2f).
Im Gegensatz zur Lernfelddidaktik der Heilerziehungspflege (Niedersächsische
Rahmenrichtlinien für die Fachschule Heilerziehungspflege), die den Nutzen der Modelle von
Schulz von Thun bereits erkannt und in das Lernfeld „Gruppenprozesse gestalten und
Gruppenprozesse begleiten“ (2003: 15) unter dem Punkt Kommunikationsmodelle integriert
2
haben, betonten die Niedersächsischen Rahmenrichtlinien für die Fachschule Sozialpädagogik
(2002) zwar auch „Kommunikation und Gesprächsführung“ (2002: 14), allerdings wird
lediglich die Themenzentrierte Interaktion nach Cohn direkt benannt (vgl. ebd.: 15). Dennoch
wird in einschlägigen Grundlagewerken für Erzieherinnen explizit das erste Modell von
Schulz von Thun zur Entschlüsselung von Botschaften favorisiert (vgl. Jaszus et al. 2008:
104ff). Auch in der Ausbildung zur Altenpflege wird das Grundlagenmodell „Die Anatomie
einer Nachricht“ (Schulz von Thun 1999: 23ff) zu Ausbildungszwecken herangezogen (vgl.
Willig/ Kommerell 2002: 227f).
Um das Modell also in den verschiedenen personenbezogenen sozialen Dienstleistungen
adäquat anwenden zu können, ist es erforderlich, dass sich auch die Lehrkräfte sowohl mit
den theoretischen Grundlagen – die über Band Eins hinausgehen sollten -, also
fachwissenschaftlich, als auch mit den praktischen Implikationen auseinandersetzten. Eine
Möglichkeit stellt dabei die Erprobung der theoretischen Modelle an einem Praxisbeispiel dar
– wie es das Modell der Lernsituationen vorsieht. Eine andere Handhabe bietet jedoch auch
ein direkter Transfer auf die eigene Lebenswelt. Im Folgenden wird dies in Form eines
humoristischen Essays aus dem eigenen Alltag der Autorin erprobt.
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3. Essay: Gescheiterte Kommunikation über Kommunikationsmodelle
Jedes Ende hat einen Anfang und jeder Anfang hat ein Ende? Ist das eine einfache Wahrheit?
Wenn dem so ist, dann ist es wohl unverständlich, warum es mir so schwer fällt, meiner
Geschichte einen Anfang zu geben. Nicht, dass ich nicht weiß, worüber ich schreiben möchte.
Ich wusste es bereits in den letzten Semesterferien noch bevor ich Ihre Vorlesung besuchte,
sofort nachdem ich Ihre Bücher gelesen hatte. Der passende Konflikt dazu hat sich in dieser
Zeit zugetragen. Aber sollte ich damit beginnen? Denn es geht um Freundschaft und die ist
schließlich meist schon vor einem Konflikt vorhanden. Aber wenn ich mit dem Beginn der
Freundschaft anfange, dann würde es wohl eher ein ‚Roman der Missverständnisse und
Kommunikationsstörungen’ werden.
Mit dem Titel meines Essays habe ich die Entscheidung letztendlich schon getroffen. Ich
stelle die Kommunikationsstörung in den Mittelpunkt, möchte aber trotzdem auch Ausflüge in
die gemeinsame Geschichte der beiden Protagonisten machen. Denn es verbergen sich hinter
einer harmlosen Gegebenheit vielleicht ja doch alte Wunden. Um mit Ihrem Sprachspiel zu
argumentieren: ich beziehe den systemischen Blickwinkel mit ein.
3.1 Wer sind die Protagonisten?
Obwohl ich nicht viel von Pseudonymen halte, muss ich sie hier wohl aufgrund des
Personenschutzes einführen: K. und meine Wenigkeit, Hannah. Der Konflikt trug sich an
einem sonnigen Junitag zu. Hannah war recht gut gelaunt und ging nicht ohne Freude zu
ihrem guten, platonischen Freund K. Dieser war wie immer fleißig über seine Bücher gebeugt
in seinem Arbeitszimmer und bastelte an seiner Doktorarbeit. Es entspann sich in etwa
folgender Dialog (eventuelle Vergangenheitsverzerrungen eingeschlossen):
Hannah: „Hallo K.. Störe ich dich mal wieder beim Arbeiten?“
K. dreht sich mitsamt seinem Stuhl um.
K.: „Nein, setz’ dich doch“
Unterstreicht seine Worte durch eine Geste in Richtung Stuhl.
Hannah: „Ich habe jetzt endlich Band III gelesen. Also wirklich, das mit dem inneren
Team hättest du mir neulich wirklich in ein paar Worten erklären können!“
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K. (lacht): „Du kannst das vielleicht in ein paar Worten erklären. Ich kann es nicht!“
Hannah: „Na ja, ist ja auch egal.“ (Sehr kurzes Schweigen.) „Ich glaube, das kann man
gut in einer Therapie einsetzen, oder? Ich meine natürlich immer vorausgesetzt
der Klient, Patient – oder wie auch immer – lässt sich darauf ein.“
K. (nachdenklich): „Ich glaube, das ist eine sehr schwierige Sache. Ich würde es nicht
wollen.“
Hannah: „Aber wieso denn? Ich meine, das ist doch toll, so eine innere Klärung. Gut ich
kriege das Strukturbild zweiter Ordnung nie hin, aber mit Hilfe…“
K.: „Also, ich würde das als Grenzüberschreitung erleben. Mir wäre das
unangenehm.“
Hannah: „Das verstehe ich nicht. Es kann doch hilfreich sein.“
K. (mit strengem Gesichtsausdruck):
„Ich habe das Gefühl, das, was ich sage, kommt gar nicht bei dir an. Du lässt
mir gar nicht meine Meinung.“
Hannah sieht erschrocken zu Seite. Es arbeitet in ihr. Schließlich steht sie auf und verlässt
wortlos den Raum.
3.2 Analyse der verunglückten Kommunikation
Meiner Ansicht nach ist diese kurze Episode ein gutes Beispiel für verunglückte
Kommunikation. Was aber ist geschehen? Warum bin ich gegangen? Warum hat K. auf eine
scheinbare Sachdiskussion auf die Frage, ob man das Modell des inneren Teams in der
Therapie einsetzen kann oder nicht, mit einem wütenden Gesicht reagiert? Als ich auf dem
Heimweg traurig (!) in der Bahn saß, dachte ich zunächst über meine eigene Reaktion nach.
Ich war verletzt. Aber weswegen? Ich war wütend. Aber ich hatte doch keinen Grund. Warum
hatte ich so einen theatralischen Abgang hingelegt? Was hatte mich so sehr verletzt. In
Gedanken ging ich das Gespräch noch einmal durch und erkannte den Satz, der dieses innere
Wirrwarr in mir ausgelöst hatte: „Du lässt mir gar nicht meine Meinung!“. Legen wir ihn
doch einmal unter die kommunikationspsychologische Lupe:
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Abb. 1: Kommunikationspsychologische Lupe
Ist mir dadurch klarer geworden, was mich so verärgert hat? Nun, ich könnte mit meinem
Appellohr gehört haben und daraus geschlossen haben, dass ich ihn störe. Nach Ihrem Modell
hört besonders ein bestimmter Stil mit dem Appellohr: „Der Selbst-lose Stil“ (Schulz von
Thun 2002 a: 93ff).
Dieser Kommunikationsstil trifft häufig auf mich zu. Ich fühle mich häufig unwichtig und bin
„nur im Einsatz für (…) andere“ (Schulz von Thun 2002a: 94) etwas nütze. Sie beschreiben,
dass dieser Stil sich dadurch charakterisieren lässt, dass ein geringes Selbstwertgefühl
vorhanden ist und die „Angst vor Selbstwerdung“ (ebd.) bestehen würde. Sie betonen aber
auch, dass ein Kommunikationsstil auch eine Beziehungsstruktur definiert. Gerade in dieser
Beziehung ist das Gefühl der Unterlegenheit besonders stark. Warum? Diese Frage lässt sich
gut mit einer weiteren Anekdote aus dem Leben von K. und Hannah beantworten:
K. sprach über seine Erfahrungen, als er 20 war und in der DDR lebte. In vollständigem
Missverständnis der Tatsache, worum es ihm eigentlich ging, rechnete ich nach, wie alt ich
damals war, und sagte erschrocken: „Da war ich vier Jahre alt!“
„Du lässt mir gar nicht meine Meinung!“
Du widersprichst die ganze Zeit, obwohl es sich hier um meine Meinung handelt, einer Meinung kann man nicht widersprechen.
Du versuchst mich zu manipulieren, du hast kein Recht mir meine Meinung zu verbieten!
Ich fühle mich persön-lichangegrif-fen!!!
Lass’ mich damit in Ruhe!!!
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Es besteht also ein beträchtlicher Erfahrungsunterschied. Als er anfing, die Welt zu verändern,
was man gemeinhin mit 20 Jahren so zu tun pflegt, lernte ich gerade die klassischen W-
Fragen überhaupt zu stellen. Dadurch besteht von vornherein ein Ungleichgewicht in unserer
Beziehung. Das wäre grundsätzlich ja noch nicht weiter problematisch, wenn K. die
Grundbotschaft: „Sag’, wie du mich haben willst!“ (Schulz von Thun 2002a: 96), die die
Grundlage des selbst-losen Stils ist, tolerieren könnte. Aber das scheint seiner
Grundüberzeugungen der Autonomie des Individuums zu widersprechen. Die
Beziehungsbotschaft des selbst-losen Stils ist Ihnen zu Folge, „die starken und guten Seiten
des anderen zu würdigen, hingegen seine schwachen und fehlerhaften Seiten zu übersehen, zu
bagatellisieren und zu entschuldigen“ (Schulz von Thun 2002a: 94).
Wie zeigt sich dieser eine Grundstil in meiner Kommunikation mit K. ? Sätze wie „Du
machst soviel, das werde ich nie alles schaffen“ oder „Ich verstehe jenes Buch zwar nicht
ganz, aber wenn du meinst, Harry Potter sei tiefenpsychologisch so aufschlussreich, dann
wird das wohl stimmen“, sind bei mir durchaus an der Tagesordnung. Wie Sie in Ihrer
Vorlesung betonen, sind die meisten Menschen Mischtypen, und ich würde auch bei mir noch
ein Veto einlegen und mich nicht selbst auf diesen Kommunikationsstil reduzieren. Aber,
zugegebenermaßen, in diesen Gesprächen nimmt er einen weitflächigen Raum ein.
Vielleicht erkennt man meine innere Grundüberzeugung auch in meinem Einleitungssatz:
„Störe ich dich mal wieder bei der Arbeit?“. Er impliziert, dass ich ihn oft störe und
vielleicht, dass ich tatsächlich das Gefühl habe, eine Zumutung für ihn zu sein. Auch hierzu
fällt mir eine kurze dialogische Anekdote ein, die sich anderntags zwischen K. und mir
zugetragen hat. Ich wollte ihm Yaloms (2002) „Der Panama-Hut oder Was einen guten
Therapeuten ausmacht“ schenken, ein Buch, das mich zutiefst beeindruckt hat. Ich hatte aber
das Gefühl, ihn zu stören, und entschuldigte mich, scheinbar mehrmals, denn er erwiderte:
„Du musst dich nicht dafür entschuldigen, das du lebst!“. Hier zeigt sich eine klassisch
genervte Reaktion auf die duckmäuserische Art meines Kommunikationsstils, die scheinbar
den geduldigsten Menschen (und K. gehört eigentlich zu dieser Sorte Mensch) auf Dauer
unerträglich wird.
Mein vorwiegender Kommunikationsstil neigt Ihren Ausführungen zufolge dazu, auf dem
Beziehungsohr eine negative Umdeutung zu vollziehen (vgl. Schulz von Thun 2002a: 93ff).
Was könnte ich also aus der Beziehungsbotschaft gemacht haben? Ich versuchte, ihn zu
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manipulieren, und verbiete ihm seine Meinung? Darauf musste ich, verbleiben wir in dieser
Stilinterpretation, entsetzt reagieren, denn ich bewundere ihn doch zutiefst, wie kann ich ihn
da manipulieren wollen? Ich wollte ihm seine Meinung doch gar nicht wegnehmen (nebenbei
bemerkt, kann man jemandem seine Meinung wegnehmen?), sondern wollte klare Argumente,
damit ich es richtig verstehe. Und eine leise Stimme flüsterte auch in mir: „Wenn der große
Meister das sagt, dann muss es eine Bedeutung haben. Ich bin aber noch nicht überzeugt. Er
soll mich lehren!“
Sie stellen es in „Miteinander Reden. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung“ (2002:
101f)) so dar, als würde der selbst-lose Stil vor allem mit dem aggressiv-entwertenden Stil
zusammentreffen (oder jene Elemente im Anderen provozieren). Nun ja, K.s
Kommunikationsstil, soweit ich diesen zu erkennen vermag, ist aber vorwiegend der helfende
Stil. Er zeichnet sich dadurch aus, dass er ein geduldiger Zuhörer ist. Ratschläge gibt er nicht.
Er ist der Überzeugung „Ratschläge sind Schläge!“. (Wenn man etwas bösartig sein will,
kann man vielleicht sagen: er hat im Seminar ‚Gesprächspsychotherapie’ und bei der
‚Themenzentrierten Interaktion’ gut aufgepasst!). Aber in jedem Fall setzt er sich für die
Schwachen, Beladenen und Hilflosen ein. Das hat natürlich zur Folge, dass ich, um ihm zu
gefallen, in diese Kategorie gehören muss, was meiner Ansicht nach auch nicht
unproblematisch ist, denn, entgegen meinem vorwiegenden Kommunikationsstil, habe ich
selbstverständlich auch noch andere Seiten, die nicht klein und hilflos sein wollen. (Das wird
mir oft deutlich, wenn mich jemand nach meinem Sternzeichen fragt: ich bin Löwe und mit
diesem Sternzeichen wird häufig Selbstbewusstsein bis hin zu Arroganz und
Selbstverliebtheit verbunden. Trotzdem – oder gerade deshalb – verrate ich mein Sternzeichen
nie ohne einen Anflug von Stolz.) Aber zurück zur K.-Hannah-Problematik: Wie könnte ein
Teufelskreis aussehen, der von zwei solchen Stilen beherrscht wird?
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Abb. 2: Kommunikationsstile und Beziehungsdynamik
Es treffen hier also zwei Kommunikationsstile aufeinander, die sich nicht optimal ergänzen.
Allerdings irritiert mich sehr die Vorstellung der moralischen Überlegenheit, die hinter
meinen Kommunikationsstil stehen soll: moralische Überlegenheit? Zunächst dachte ich, es
müsse sich wohl um sehr unbewusste Prozesse handeln, denn wie könnte ich mich moralisch
überlegen fühlen, wenn der „große K.“ alles einfach differenzierter und genauer weiß, mehr
gelesen hat als ich und die Welt im Kern einfach besser begreift? Wo bleibt da die moralische
Überlegenheit? Ich dachte zunächst, diese moralische Überlegenheit ergebe sich lediglich im
Zusammenhang mit dem aggressiv-entwertenden Stil, bei dem ich dies nachvollziehen
könnte. Ein wenig klarer wurde mir die Idee der moralischen Überlegenheit allerdings durch
Riemanns „Grundformen der Angst“ (2002: 63), indem es heißt:
ducke mich,bewundere ihn
Selbst-loser
Schuldgefühl,
in seiner Kompetenz
gestärkt
fürsorglich,hilfreich
Helfer
in eigener Nichtigkeit bestätigt
moralisch überlegen
moralische Überlegenheit bei
gleichzeitiger Abhängigkeit
genervtes zuhören
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„Hierbei kann es zu einer gefährlichen Selbsttäuschung kommen: Indem er aus diesen
Verhaltensweisen (Selbstaufgabe, Anmk. der Autorin) eine Ideologie macht, verbirgt
er nicht nur deren Motivierung aus der Verlustangst vor sich selbst, sondern er kann
sich auch noch moralisch überlegen vorkommen gegenüber denen, die weniger
bescheiden, friedfertig usf. sind. So macht er recht eigentlich aus der Not eine Tugend
und meint, etwas hinzugeben und zu opfern, was er noch gar nicht entwickelt hat und
besitzt: sein Ich“ (Riemann 2002: 63).
Die Idee der moralischen Überlegenheit resultiert also aus dem Vergleich mit Menschen, die
weniger hingebungsvoll bis zur Selbstaufgabe sind. Aus diesem Blickwinkel betrachtet, ist es
einleuchtend, dass es mir schwer fällt, dies mit meinem Verhalten in Einklang zu bringen.
Denn K. ist der Inbegriff des Moralisten, der sich für andere opfert und immer hilfsbereit und
prinzipientreu ist. Es fällt mir also schwer, bei unserer Kommunikation meine moralische
Überlegenheit zu entdecken. Allerdings spielt die Verlustangst wirklich eine zentrale Rolle.
Er braucht mich nicht, aber ich habe den Eindruck, ihn zu brauchen. (Also nicht nur ein
Ungleichgewicht im Sinne des Altersunterschieds, sondern auch der Bedürftigkeit an sich.).
Allerdings ist K. (im Gegensatz zu mir) Unabhängigkeit bis hin zu Autarkie enorm wichtig
und vielleicht ist da doch eine leise Stimme in mir, die sagt: „Ich kann mich für andere selbst
aufgeben und du klammerst dich an einen abstrakten Begriff wie Unabhängigkeit.“ Es scheint
eine seltene und schwierige Konstellation zwischen selbst-losem und hilfsbereitem Stil zu
sein.
3.3. Spiel mir das Lied vom Stuhl
Es scheint alles darauf hinaus zu laufen, mein inneres Team zu diesem Streit aufzustellen.
Denn ich fürchte, dass bei mir auch einige, ich nenne sie zunächst noch „Bösewichte“ und
hoffe diesen Begriff auf der sekundären Ebene korrigieren zu können, hinter dem Vorhang
warten oder sogar mit dem Besenstil gegen die Untergrunddecke klopfen. Aber zuvor halte
ich es für sinnvoll, einmal das „Spiel“, das Sie in Ihrer Vorlesung vorgeschlagen haben, in
Bezug mit K. zu versuchen. Also, auf die Stühle, fertig los:
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Stuhl (A): Wie finde ich ihn?
Lieb, hilfreich, süß, kompliziert, distanziert, weit weg, geheimnisvoll, klug,
belesen, intellektuell, bewundernswert,
Abb. 3: Stuhl A
„groß“ wie eine Statue, romantisch, ehrgeizig, unverständlich, streng, schuldgefühlbeladen,
moralisch, besserwisserisch, anstrengend, verschlossen, alt…
Stuhl B: Wie reagiere ich innerlich?
Ich fühle mich klein, ich spüre den Ehrgeiz, ihm ebenbürtig zu sein,
ich fühle mich gefordert und gefördert, ich fühle mich herausgefordert
und angespornt, ich bin neidisch und eifersüchtig, ich denke, er mag
mich nicht, ich meine, ihn die ganze Zeit zu nerven, ich fühle mich
unbedeutend und unterlegen, nichtswürdig und minderwertig, ich
denke viel über seine Worte nach, ich meine, dass ich ihn nie
verstehen werde, ich fühle mich ausgeschlossen und einsam, ich
empfinde Trauer und Glück zugleich, Trauer, dass ich ihn nie
erreichen werde, und Glück, dass ich ihn kennen darf, ich habe oft das
Gefühl, zurückgesetzt zu werden, und fühle mich unwissend mit einem
großen Fragezeichen.
Auf den eigentlich dritten Stuhl © möchte ich gern ein wenig anders eingehen. Die Frage, wie
reagiere ich äußerlich, lässt sich ja am besten an einem Gesprächsbeispiel darstellen. Es gibt
eine Stelle in Sartres „Zeit der Reife“ (S.86), die unser beider Kommunikation sehr treffend
wiedergibt, allerdings mit einer Einschränkung: ich übernehme die männliche Rolle und K.
die weibliche (ein wenig verkehrte Welt also!). Ich habe diese Stelle ausgewählt, da sie so
oder ähnlich zwischen K. und mir hätte stattfinden können. Der Philosophielehrer Mathieu
(meine Rolle in dieser Parallele) hegt Gefühle für die junge Studentin Ivich und misst allen
ihren Äußerungen großes Gewicht bei. Sie scheint ihn ein wenig für seinen Lebensstil zu
verachten. Sie wirft ihm scheinbar vor, dass er es sich in seinem Leben zu bequem gemacht
habe und nicht ausbrechen will. Allerdings handelt es sich um einen implizit-versteckten
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Abb. 4: Stuhl B
Vorwurf wie im folgenden Textausschnitt deutlich wird, indem es thematisch um Gauguin
geht, aber mit einer nachdenklich-unterschwelligen Ebene:
(Nicht vergessen: vertauschte Rollen!)
>>„Nun – ich meine, es gibt nicht viele solche Büromenschen. Er sieht so… verloren aus.“
Mathieu sah wieder ein schwerfälliges Gesicht mit einem gewaltigen Kinn vor sich. Gaugiun
hatte die Menschenwürde verloren, hatte es auf sich genommen, sie zu verlieren.
„Ja“, sagte er. „Unten auf dem großen Bild? Damals war er sehr krank.“
Ivich lächelte geringschätzig.
„Ich spreche von dem kleinen Bild, auf dem er noch jung ist: er sieht so aus, als wäre er zu
wer weiß was imstande.“
Sie blickte etwas verstört ins Leere, und Mathieu fühlte zum zweiten Mal den Stachel der
Eifersucht.
„Wenn Sie’s so meinen, bin ich offenbar kein verlorener Mensch.“„Oh nein“, sagte Ivich.
„Ich seh’ übrigens nicht ein, warum das ein Vorzug sein soll“, sagte er. „Oder ich versteh’
nicht recht, was Sie meinen.“„Reden wir nicht mehr davon.“ „Natürlich. So sind Sie immer.
Sie machen versteckte Vorwürfe und weigern sich dann, sie näher zu erklären. Das ist
ziemlich bequem.“ „Ich mache niemandem einen Vorwurf“, sagte sie gleichgültig.
Mathieu blieb stehen und sah sie an. Auch Ivich blieb ungnädig stehen. Sie trat von einen Fuß
auf den anderen und mied Mathieus Blick.
„Ivich! Sie werden mir sagen, wie Sie das meinen!“„Was?“ fragte sie erstaunt. „Diese
Geschichte vom >verlorenen< Menschen.“ „Müssen wir weiter davon reden?“ „Es klingt
idiotisch“, sagte Mathieu, „aber ich möchte wissen, wie Sie das meinen.“
Ivich begann wieder an ihren Haaren zu zupfen: es war zum Verzweifeln.
„Gar nichts besonderes; es fiel mir nur so ein.“<< (Sartre 1963: 86)
„Ich mache niemandem einen Vorwurf“ war der Punkt, an dem ich beim Lesen innehielt und
schließlich schmunzeln musste, ein Satz, der auch aus K.s Mund hätte kommen können bzw.
schon oft kam! Auch der Satz: „Ich verstehe nicht recht, was du meinst.“ Kam mir sehr
vertraut vor. Ich verstehe wirklich häufig nicht, was K. mir eigentlich sagen möchte. Und auf
Nachfragen reagiert er genau wie Ivich: gleichgültig und mit der Aussage: „Ich mache
niemandem Vorwürfe.“ Er zieht seine Aussage dann indirekt zurück, auch in der Weise, dass
er sagt: „Das ist deine Sache.“, was ja wiederum ein: „Es geht mich nichts an und interessiert
mich auch nicht.“ Impliziert. Das Thema der „versteckten Vorwürfe“ ist sozusagen das
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tägliche Brot in K.s und meiner Interaktion. Wenn es besonders arg wird und ich das Gefühl
habe, mich nicht dagegen wehren zu können, dann kommt es vor, dass ich ihm eine
Interpretation aus Ihrem Repertoire anbiete „Wahrscheinlich, K., sind das die verbannten
inneren Teammitglieder, die sich durch das Klopfen bemerkbar machen?!“ Er stimmt mir
dann (oft lachend) zu, verrät mir aber trotzdem nicht, warum er so ärgerliche Mitglieder hat.
Im ersten Band von „Miteinander Reden“ schreiben Sie, dass man den Mut aufbringen sollte
zur direkten Konfrontation. Was aber, wenn dann folgendes passiert:
Hannah: „K., ich habe das Gefühl, dass ich dich nerve.“
K.: „Hannah, das sind deine Phantasien!“
Auch der Versuch, die (vermeintliche) Wahrheit der Situation explizit zu machen, kann
durchaus scheitern! In dem Textbeispiel bleibt auch unsicher, was genau der eigentliche
Vorwurf von Ivich an Mathieu ist. Der Leser bleibt darüber im unklaren, man kann nur
vermuten, dass es Ivich darum geht, dass Mathieu sich in seinem Leben als Philosophielehrer
zu sehr eingerichtet hat, und nicht bereit ist, seine eigene Freiheit zu leben. Ebenfalls ein
Thema, dass auf die eine oder andere Art in unseren Gesprächen eine Rolle spielt. K. wirft
mir (meist natürlich eher implizit) vor, dass ich nicht den ‚Mut zur Freiheit’ (vgl. Sartre 1965:
32) habe, womit er, nebenbei bemerkt, wohl recht hat.
Die Begeisterung für Ihre Theorie scheint bei uns ebenfalls unterschiedlich stark ausgeprägt
zu sein. Ein weiteres Beispiel aus dem reichen Schatz der missglückten Klärungsversuche aus
dem Leben von H.U.! Die Situation war folgende: Ich wollte meinen Geburtstag feiern und
hätte mich sehr gefreut, wenn K. gekommen wäre – vor allem, weil er die meisten meiner
Freunde nicht kennt und ich es gern gesehen hätte, wenn er sich mit ihnen verstanden hätte.
Ich lade ihn also ein und er sagt, er hasse Partys und werde nicht kommen. Ich bin hin- und
hergerissen zwischen Enttäuschung und Verständnis. Einerseits hätte ich ihn einfach gern
dabei gehabt, andererseits gehe ich selbst nicht übermäßig gern zu Partys, denn die
Unterhaltungen sind doch meistens recht oberflächlich. Ich kann ihn also bedingt verstehen.
Allerdings löse ich das Problem meist so, dass ich zu den Partys guter Freunde gehe, um sie
nicht zu verletzen, und eben nicht so lange bleibe. Na, jedenfalls sagte K. ab und ich hatte
gemischte Gefühle. Ich wollte meine Enttäuschung aber nicht vollständig runterschlucken.
Als ich nun bei Ihnen las, dass Sie einst einen Konflikt mit einer Kollegin hatten und dann das
innere Team auf Bierdeckeln symbolisierten und feststellten, dass sie in vielen Punkten einer
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Meinung waren, dachte ich: Super, das ist es! Ich schlage K. einfach vor, dass wir das auch
machen, dann verstehe ich ihn besser und bin vielleicht nicht mehr so enttäuscht. Gedacht,
getan!
Hannah: „Wollen wir nicht einmal unsere inneren Teams zum Thema: >Du kommst
nicht zu meiner Geburtstagsfeier< aufstellen?“
K.: „Nein, das ist mir kein Anliegen.“
Hannah: „Aber ich bin sicher, du hast dazu auch verschiedene Ansichten, oder?“
K., (zögert): „Ja, das stimmt. Aber so was macht nur Sinn, wenn es mein Anliegen wäre. Ich
habe kein Bedürfnis dazu.“
Um einem Vor-urteil vorzubeugen: Ich rede nicht ständig nur von
Kommunikationspsychologie und wende sie auch nicht permanent an. Den Eindruck könnte
man aus den Sequenzen vielleicht gewinnen, es handelt sich jedoch um Beispiele und ich sehe
K. schließlich ziemlich oft, wir sprechen also auch über viele andere Themenkreise!
3.4 Eine unendliche Geschichte
Ich möchte nach diesen längeren Ausflügen über K. und meine Art miteinander umzugehen,
aber wieder zum Ausgangskonflikt zurückkehren. Denn die anfangs beschriebene
Konversation war schließlich nur die Einleitung zu einer schwierigeren Phase. Mich
beschäftigten nach dieser Episode verschiedene Fragen, so unter anderen: Wie sollte ich mich
ihm gegenüber jetzt verhalten? Ich durchdachte verschiedene Alternativen: die Einfachste
wäre, sich ganz normal zu benehmen, so als wäre nichts passiert. Aber würde er das nicht
seltsam finden? Erst verlasse ich ihn dramatisch ohne Abschiedsgruß und dann tue ich so, als
sei nichts gewesen? Außerdem hatte ich das unbestimmte Gefühl, das nicht zu können. Die
andere Alternative wäre, ihn direkt darauf anzusprechen, ihm zu erklären, warum ich so
überreagiert habe. Aber könnte ich das? Wusste ich denn, warum ich mich so albern
benommen hatte? Nein, ich wusste es nicht! Und außerdem, das wusste ich jedenfalls genau,
würde es darin münden, dass ich mich entschuldigen würde, und das wollte ich nicht.
Irgendwie wollte ich mich nicht schon wieder entschuldigen. Ich entschloss mich, auf seine
Reaktion zu warten. An dieser Stelle muss man erwähnen, dass wir uns immer eher spontan
zum Café treffen und eigentlich selten bis nie telefonieren. Ich glaube, ich kann an einer Hand
abzählen wie oft er mich angerufen hat. Aber irgendwie habe ich erwartet, dass er mich
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zumindest bei zufälligen Treffen in und um die Uni ansprechen würde. Stattdessen grüßte er
wie gewöhnlich und meldete sich nicht. Und dann geschah etwas mir Unbegreifliches: ich
wurde parallelisiert. Ich konnte ihm kaum noch einen höflichen Gruß zukommen lassen und
konnte ihn nicht einmal mehr ansehen. Ich bekam regelrecht Angst davor, ihm auf dem Gang
zu begegnen, hoffte aber gleichzeitig ihn zu treffen. Einmal waren wir gemeinsam im
Fahrstuhl „eingepfercht“. Er schien sich genötigt zu fühlen „Konversation“ zu betreiben:
K.: „Warum bist du denn so früh an der Uni?“
Hannah: „Hab’ ein Seminar.“
K.: „Ach ja, Persönlichkeitsstörungen bei Eckert?“
Hannah: „Hm.“
Ich war so wütend. Wie konnte er es wagen mit mir so ein extrem oberflächliches Gespräch,
zu führen. Da hätte er ja gleich über das Wetter reden können! Auch an dieser Stelle war es
mir unmöglich, ihn anzusehen, und ich war erleichtert, als ich aus dieser engen und stickigen
Fahrstuhlzwangsjacke heraustreten durfte. Mir ist bis heute eigentlich nicht wirklich klar,
warum ich so reagierte.
3.5 Die innere Theaterbühne
Ich glaube, hier kann es mir wirklich helfen, das „Innere Team“ einmal aufzustellen.
Allerdings bevorzuge ich die Vorstellung von einer Theaterbühne, da ich gerne ins Theater
gehe und mir das Ganze dann bildlicher vorstellen kann. (Vgl. Abbildung 5)
Ihre Namen verweisen noch ein wenig darauf, dass mein Regisseur sich doch mit einigen
noch zu stark identifiziert. Aber schauen wir sie uns doch im Einzelnen erst einmal an:
Da wären im Bühnenmittelpunkt „Die Intellektuelle“, die gerne im Rampenlicht steht, am
liebsten Publikum hat. Sie zeigt sich natürlich auch in dem oben beschriebenen
Kommunikationsausschnitt. Es hat ihre Eitelkeit schon sehr verletzt, dass K. zuvor gesagt
hatte, wenn du das Modell vom inneren Team nicht kennst, dann kann ich dir diese und jene
Frage nicht beantworten. Sie ist immer eifrig bemüht, mit dem intellektuellen K. mitzuhalten.
Kein Buchzitat entgeht ihr. Sie entfaltet sich auf der Bühne gern gemeinsam mit der
„Musterschülerin“. Die Intellektuelle ist etwas verkniffen und verwendet auch manchmal den
Rohrstock („Du musst dich bilden, du bist sonst nichts wert!). Die Musterschülerin dagegen
15
ist eher angepasst-strebsam und will dem Oberlehrer, in diesem Fall K., gefallen. Sie will
nicht stören, sondern immer die richtige Antwort auf die unausgesprochenen Fragen und
Befehle stellen: „Yes, Ma’am“ ist ihr Leitmotiv. In den oben genannten Ausschnitt
eingeordnet, ist sie die jenige, die höflich fragt: „Störe ich dich mal wieder beim Arbeiten?“.
Sie würde sogar noch weitergehen und sagen: „Darf ich den ehrenwerten Doktor- Allwissend
etwa vom Arbeiten abhalten, ich kleine, dumme Schülerin?“ Aber wie gesagt, die
Intellektuelle und die Musterschülerin verstehen sich blendend und lieben das Rampenlicht.
Ebenfalls in der ersten Reihe, aber dennoch dahinter steht die „Platonische Freundin“. Die
Freundin wird in Anlehnung an den Film „Harry und Sally“ als die Protagonistin des Films
dargestellt. Sie hat das Bedürfnis, für ihren Freund da zu sein und auch für ihn hilfreich zu
sein. Allerdings steht sie im Blickkontakt mit der zusammengesunkenen Figur, die halb hinter
dem Vorhang versteckt ist, die Verletzte“. Die Verletzte meidet den Bühnenmittelpunkt. Sie
darf zwar auf der Bühne stehen, doch vom Scheinwerferlicht bekommt sie nicht viel zu sehen.
Sie wird von den beiden Hauptdarstellern (die Intellektuelle und die Musterschülerin) nicht
besonders gemocht, da sie vermeintlich schwach und hilflos ist. Einzig die platonische
Freundin hat alldieweil mal Mitleid mit ihr und schaut zu ihr hinüber. Dabei hat die Verletzte
viel zu sagen: sie ist traurig darüber, das K. ihr oft so kühl begegnet und sich selten meldet.
Dass er immer der Helfende ist und sie immer nur die Schutzbedürftige sein muss.
Vor ihr steht Mrs. Bewunderung. Warum ist diese ebenfalls nicht im Bühnenmittelpunkt, wo
sie doch offensichtlich eine so große Rolle spielt? Nun sie ist da, darf aber nicht wirklich sein,
denn wenn sie einmal in den Bühnenvordergrund tritt, was sie schon oft versucht hat, wurde
sie ruppig zurückgewiesen. Sie muss sich immer Sätze anhören wie „Das projizierst du auf
mich!“. Also hat sie gelernt, dass sie keine gern gesehene Darstellerin ist, dass das Publikum
„Buh“ ruft oder den Saal sogar verlässt, wenn sie sich in die Öffentlichkeit wagt. Sie war es
übrigens auch, die in der obigen Konversation darauf bestanden hat, eine genaue Begründung
auf der Sachseite (Therapie mit dem Modell oder nicht) haben zu wollen. Denn schließlich
bewundert sie K. so sehr und, wenn er etwas sagt, dann hat es Bedeutung und sie möchte doch
alles von ihm verstehen. Sie ist nicht böse, nur ein wenig naiv.
Auf der anderen Bühnenseite, im dunkelsten Schatten, den die Bühne zu bieten hat, steht „der
Einsame“. Ich hätte in auch gern „Der Ekel“ (Sartre 1963) genannt, nicht weil er einen
16
solchen Charakter hätte, sondern nach Sartres „Der Ekel“, der für mich der Inbegriff des
einsamen Menschen ist.
17
18Abb. 5: Die innere Theaterbühne
„Mit Missbehagen gleitet mein Blick langsam über die Stirn, über die Backen; er stößt
auf nichts Festes, er verliert sich. Gewiss, da ist eine Nase, ein Mund, da sind Augen,
aber das alles hat keinen Sinn, nicht einmal einen menschlichen Ausdruck.“ (Sartre 1963:
23).
Dem Einsamen oder dem „Ekel“ ein Gesicht zu geben, ist nicht korrekt, denn er hat
„eigentlich keinen menschlichen Ausdruck“ (ebd.), ist nur ein dunkles, bedrohliches Gefühl,
das mich befällt, wenn ich das Gefühl habe, jemanden zu verlieren. Man könnte meinen „Der
Ekel“ und „die Verletzte“ würden sich gut verstehen. Dem ist aber nicht so, denn der Einsame
sucht nicht wirklich Nähe, zieht sich lieber zurück, flüchtet aus der Situation, während die
Verletzte eigentlich alles immer klären möchte und eigentlich bereit ist, ins Rampenlicht zu
treten, wenn man sie nur lassen würde… Der „Ekel“ will nicht gesehen werden, er hasst das
Licht, ja vielleicht sogar die Menschen. Er ist ein Misanthrop.
Ebenfalls im tiefsten Bühnenschatten versteckt sich die „Kapitolische Wölfin“ oder „Mrs.
Gierig“. Sie setzt sich vom „Ekel“ deutlich ab, denn die beiden haben nichts gemeinsam. Die
Wölfin kann, wenn sie einmal Blut geleckt hat, nicht mehr aufhören. Im Zusammenhang mit
K. heißt das, wenn er einmal lieb zu ihr war, dann ist sie wie ein gieriges Tier, das die
Wolfsmutter aussaugt, bis auf den letzten Tropfen. Gerade bei ihr bin ich nicht sicher, ob der
Regisseur (meine Wenigkeit) nicht eine gewisse „Disidentifikation“ (Schulz von Thun 2002b:
107) betreibt. Dieses einnehmende Wesen gehört nicht zu meinen Vorzeigeschauspielern. Es
fällt mir schwer, ihr einen anderen Namen zu geben, aber, wenn ich es betont freundlich
formulieren wollte, dann könnte ich sie auch die „Treue Wölfin“ nennen, denn sie hängt sehr
stark an ihren Freunden. So, das war der sichtbare Bühnenschauplatz. Aber natürlich gibt es
da noch Schauspieler, die der Öffentlichkeit vollkommen verborgen bleiben und auch mir
selbst äußerst unangenehm sind. Die heimliche Underground-Gang.
3.6 Wer versteckt sich denn im Bühnenuntergrund?
Der heimlich verliebte Mr. Brown. Er arbeitet klammheimlich mit Mrs. Fraulich zusammen.
Die beiden haben nämlich einen heimlichen, gemeinsamen Wunsch: als Frau von K. gesehen
zu werden und nicht als kleines Kind. Sie möchten so gerne auf die Frage: „Störe ich?“ eine
leidenschaftliche Umarmung bekommen, außerdem möchten sie verehrt werden. Aber die
19
beiden dürfen nicht sein. Für ihre Verbannung hat „die platonische Freundin“ gemeinsam mit
der Musterschülerin schon gesorgt, die beiden dürfen nicht sein, also sind sie nicht!
Dann gibt es da noch Jeanne d’ Arc. Sie ist eine Kämpfernatur, die alles in Zweifel zieht, was
K. sagt, die ihn überhaupt nicht bewundert und von ihm loskommen möchte. Sie möchte frei
sein und möchte ihm auch beweisen, dass auch er Grenzen hat. Mit ihrem Schwert schlägt sie
kräftig gegen den Theaterboden. Manchmal so heftig, dass die Regisseurin, Hannah, gar
nichts mehr sagen kann oder wie parallelisiert ist. Nach dem oben beschrieben Konflikt war
sie es wohl, die mich in der Folgezeit beherrscht hat. Zunächst redete ich mir ein, ich wüsste
nur nicht, wie ich darauf reagieren sollte und erklärte mir so meine Parallelisierung, die
Unmöglichkeit, mit ihm zu sprechen. Ich redete mir ein, nur darauf zu warten, dass er
reagierte. Aber bald verstand ich mein eigenes Verhalten nicht mehr. Warum war ich nicht in
der Lage ihn anzusehen? Die Verletzte, Jeanne d’Arc und Mrs. Wüterig scheinen eine Allianz
eingegangen zu sein, die mich daran hinderte, überhaupt zu handeln. Ich verstand mich selbst
nicht mehr. Von Zeit zu Zeit bemächtigte sich meiner ein Gefühl, dass ich bis dato nicht
kannte. Ich fand einen Teil der Antwort auf mein seltsames Gefühl in Simon de Beauvoirs
(2001) Roman „Sie kam und blieb“. Dort heißt es, und treffender kann ich mein verstecktes
inneres Team wohl kaum beschreiben:
„Viele Male hatte sie Regungen von Eifersucht verspürt und sich versucht gefühlt, Pierre
zu hassen und Xavière Böses zu wünschen, aber unter dem eitlen Vorwand, sich selbst
rein zu erhalten, hatte sie in sich nichts als Leere erzeugt. (…) Francoise hatte nicht
gewagt, sie selbst zu sein, und von Leid überwältigt begriff sie, dass diese feige
Heuchelei sie dazu gebracht hatte, überhaupt nicht zu sein.“ (de Beauvoir 2001: 269)
In meiner Darstellung des inneren Teams habe ich Mr. Wüterig lustig durch eine Komikfigur
aus „Snoopy“ dargestellt. (Ich hoffe: das gibt keine urheberrechtlichen Streitereien!). Ich
glaube, das spiegelt auch ein wenig das Verhältnis meiner Regisseurin zu diesem versteckten
Teammitglied wieder. Die Regisseurin hat ihr verboten, überhaupt die Bühne zu betreten, sie
hat faktisch kein Lebensrecht und muss selbst in einer reflexiven Darstellung noch ironisiert
werden. Im Grunde genommen handelt es sich aber, glaube ich, um ein starkes Mitglied, das
durch die Verdrängung (nicht im Freudschen Sinne!) eine unkalkulierbare Macht ausübt.
20
3.7 Ein gemeinsames Theaterstück?
Wie könnte man dieses Team zu einem gemeinsamen Bühnenspiel bewegen, ihnen beibringen
ein gemeinsames Theaterstück zu spielen und nicht jeder für sich allein seine Kraft im
Negativen wie im Positiven auszuüben? Setzen wir sie doch einmal an den ‚Runden Tisch’
und lassen sie eine kleine Diskussion führen (vgl. Schulz von Thun 2002b: 84ff), mal sehen,
was sie zu sagen haben. Schnell bilden sich natürlich kleine Allianzen. „die Verletzte“
versteht sich auf Anhieb mit dem „Ekel“ und „Mrs. Bewunderung“.
Die Verletzte: „Ich habe das Gefühl zurückgewiesen zu werden, fühle mich abgelehnt und…“
Der Einsame: „Und einsam!“
Mrs. Bewunderung: „Aber er ist doch so ein guter Mensch, macht immer alles richtig und
was er alles weiß!“
Mr. Fraulich
(flüsternd): „Ich würde mir so wünschen, das dieser tolle Mensch mich als Frau
sieht.“
Die Verliebte (verträumt): „Jaaaa…“
Die Gierige: „Ja, ich will mehr von ihm, will ihn besitzen!“
Die platonische
Freundin (entsetzt): „Hey, spinnt ihr? Ihr seid Freunde, wollt ihr die Freundschaft ruinieren?
Und überhaupt: Freundschaften halten länger als Liebschaften. Zudem
ist er eh zu alt für euch!“
Mrs. Wut: „Pah! Alles Mist! Er verletzt, ist abweisend und distanziert, liebes Oberhaupt,
du solltest dich überhaupt nicht mehr mit ihm abgeben, ihn bestrafen
dafür das du ihn so bewundern musst! Wehr dich!“
Jeane d’Arc: „Jawohl, Freiheit für die Unterdrückten, die Geknechteten, Revolution,
Krieg!“
Die Musterschülerin: „Seid ihr alle verrückt geworden? Man sägt doch den Ast auf dem man
sitzt nicht ab. Man kann soviel von ihm lernen.“
Die Intellektuelle
(mit freundlich zugewandtem Blick
auf Mrs. Bewunderung): „Außerdem gibt er uns intellektuelles Futter. Mit wem kann man
sonst schon über die Gewalt innerer Triebe in der eigenen Seele
diskutieren?“
21
Ein lautes Stimmengewirr, unterstützt von heftigen Schlägen auf den Theaterboden von
Seiten Jeanne d’Arcs, bestimmt das Geschehen. Zeit für den Regisseur, für Ordnung zu
sorgen. (Vgl. Abbildung 6)
„Liebe Darsteller, Ihr habt alle gewonnen und jeder bekommt einen Preis, denn ihr habt alle
Recht… und Unrecht, denn ihr übertreibt. Wollen doch mal sehen:
22
23Abb. 6: Am runden Tisch
Liebe Verliebte, Frauliche, Verletzte, Einsame und Gierige. Ihr mögt K. und wollt ihn alle
nicht verlieren, oder?“ (Zustimmendes Gemurmel.) „Jetzt stellt sich doch die Frage, was
seid ihr bereit dafür zu geben? Frauliche und Verliebte, seid ihr bereit dafür, dass ihr ihn
weiter sehen dürft und mit ihm sprechen, eure Bedürfnisse nach Liebe zurückzustellen?“
(Gedehntes Ja.) „Liebe Gierige bist du bereit, ein wenig Verzicht zu leisten, wenn du dafür ab
und an gefüttert wirst?“ „Nein!“ antwortet sie grimmig. Aber da kommt Jeanne d’ Arc der
Regisseurin zur Hilfe. „Willst du denn ewig abhängig und klein in deiner Gier bleiben? Wo
bleiben deine Freiheitsbestrebungen? Dafür, dass du ein wenig Verzicht leistest, hast du
wieder mehr Zeit, dich um andere Freunde zu kümmern und dich frei zu entwickeln.“ Die
Gierige nickt stumm. Die Regisseurin an den Einsamen gewandt: „Meinst du nicht auch, es
würde dir besser gehen, wenn du dich vermehrt mit anderen Freunden triffst, würde das
deine Einsamkeit nicht verringern?“ Er nickt ebenfalls.
„Ich glaube mit dir, Jeanne d’ Arc, brauche ich nicht darüber zu streiten, du klingst sehr
einverstanden mit der Lösung eines teilweisen Verzichtes. Aber was machen wir mit dir, liebe
Wut? Was möchtest du genau?“ „Ich möchte ihn am liebsten einmal richtig anschreien.“
„Das wird nicht gehen, da wären die anderen Teammitglieder wohl kaum mit
einverstanden.“ Die Intellektuelle: „Kann ich ihn nicht auf dem intellektuellen Wege
schlagen?“ Regisseurin: „Nein, das wäre ein Beziehungsstreit auf der Sachebene, genau das,
was du in dem obigen Konflikt getan hast, das mag ein einfacher Weg sein, aber er führt zu
nichts. Andere Vorschläge?“ Betretendes Schweigen in der Runde. Für Mrs. Wut gibt es wohl
keinen Platz. Die Regisseurin denkt traurig darüber nach, sie wieder in den Untergrund zu
verbannen. „So, wer fehlt noch? Du, platonische Freundin, dürftest ebenfalls zufrieden sein,
oder? Und die Musterschülerin ebenso, oder?“ Einstimmiges „Ja“ aus der Runde. „Und ich
darf ab und zu noch mit ihm über Camus pessimistischen Existenzialismus sprechen?“ fragt
die Intellektuelle.“ Die Regisseurin nickt. (Vgl. Schulz von Thun 2002b: 144ff)
3.8 Die Weiterentwicklung oder die Lehre aus vergangenen Taten
Es ist ja immer schön ein einhelliges Ergebnis zu bekommen. Ob diese „Lösung“ wirklich alle
meine Schauspieler gleichermaßen befriedigt, wage ich jedoch zu bezweifeln. Wie sieht nun
mein Entwicklungsquadrat aus, das ich anzustreben mich bemühen sollte, um in Zukunft
besser mit K. und mir selbst umgehen zu können?
24
Abb. 7: Das Werte und Entwicklungsquadrat (vgl. Schulz von Thun 2002a: 38ff)
Ich halte es für eine Tugend, bewunderungsfähig zu sein. Es wird jedoch zu einem Unwert,
wenn man jemanden blind idealisiert und seine Schwächen nicht mehr sehen will oder kann.
Ich darf K. also meiner Ansicht nach weiterhin bewundern, muss jedoch auch einen Blick auf
seine Schwächen wagen. Zudem muss ich lernen, auch mich selbst wertzuschätzen, und sollte
mich nicht immer ducken und klein machen, denn auch wenn ich K., was Lebenserfahrung
anbetrifft, noch weithin unterlegen bin, so habe ich als Person doch auch einen Wert und
vielleicht im Gegenzug eine gesunde Naivität, die dem erfahrenen Menschen verloren
gegangen ist.
3.9 Schlussbemerkungen
In Ihrer Vorlesung (2002c) haben Sie an verschiedenen Stellen gesagt: „Menschen, die
miteinander zu schaffen haben, machen sich zu schaffen“. Ein Ausspruch, der das Verhältnis
zu K. sehr treffend beschreibt. Noch passender finde ich allerdings folgende Aussage von
Schopenhauer, die diese Individualproblematik auf das allgemeine menschliche Miteinander
überträgt:
„Eine Gesellschaft Stachelschweine drängte sich, an einem kalten Wintertag, recht nahe
zusammen, um durch die gegenseitige Wärme, sich vor dem Erfrieren zu schützen.
Jedoch bald empfanden sie die gegenseitigen Stacheln; welches sie dann wieder von
einander entfernte. Wann nun das Bedürfniß der Erwärmung sie wieder näher zusammen
brachte, wiederholte sich jenes zweite Uebel; so dass sie zwischen beiden Leiden hin und
Bewunderungs-Fähigkeit
Selbst-wertschätzung
blinde Idealisierung Selbstüberschätzung
25
hergeworfen wurden, bis sie eine mäßige Entfernung von einander herausgefunden
hatten, in der sie es am besten aushalten konnten“ (Schopenhauer 1988: 559f).
Dieses Zitat beschreibt bis zu diesem Punkt sehr genau, was ich auch in der Beziehung zu K.
wohl lernen muss: die richtige Entfernung zu finden, damit sich unsere gegenseitigen Stacheln
nicht erreichen. Leicht gesagt, schwer gemacht! Aber Schopenhauer wäre nicht ein so
bekannter Pessimist geworden, wenn er es hierbei bewenden ließe:
„- So treibt das Bedürfniß der Gesellschaft, aus der Leere und Monotonie des eigenen
Inneren entsprungen, die Menschen zu einander; aber ihre vielen widerwärtigen
Eigenschaften und unerträglichen Fehler stoßen sie wieder von einander ab. Die mittlere
Entfernung, die sie endlich herausfinden, und bei welcher ein Beisammenseyn bestehen
kann, ist die Höflichkeit und feine Sitte. Dem, der sich nicht in dieser Entfernung hält,
ruft man in England zu: keep your distance! – Vermöge derselben wird zwar das
Bedürfniß gegenseitiger Erwärmung nur unvollkommen befriedigt, dafür aber der Stich
der Stacheln nicht empfunden. – Wer jedoch viel eigene, innere Wärme hat bleibt lieber
aus der Gesellschaft weg, um keine Beschwerden zu geben, noch zu empfangen“ (ebd.:
560).
Schopenhauer ist mir hier ein wenig zu pessimistisch, denn ich glaube, dass nicht allein die
innere Leere und Monotonie die Menschen zueinander treibt. Auch die Behauptung, dass
„Höflichkeit und Sitte“ (ebd.) die einzige Möglichkeit wären, eine mittlere Entfernung
zueinander zu finden, halte ich für zu streng. Ich glaube, da fehlen die von Ihnen benannten
Geschwistertugenden wie Spontanität und Herzlichkeit. Und schließlich kann ich eines mit
Sicherheit sagen: Ich werde nicht von K. wegbleiben, denn ich mag seine Stacheln ja auch
sehr gern! Nun könnte Schopenhauer natürlich entgegnen, dass das daher kommt, dass ich
nicht genug innere Wärme habe. Nun, vielleicht ist da sogar etwas dran, aber schließlich ist es
doch am schönsten unter Menschen zu sein, oder etwa nicht?
26
4. Konsequenzen für die Lehrkraftausbildung
Neben dieser individuellen Auseinandersetzung und Verarbeitung der Modelle von Schulz
von Thun, stellt sich die Frage, ob diese Form der Auseinandersetzung in einem Studium der
Beruflichen Bildung sinnvoll und nutzbringend sein kann. Folgt man der Annahme
Fegebanks (2004b: 116), dass die berufliche Bildung derzeit einen Paradigmenwechsel erlebt,
der Handlungsorientierung und Schülerzentrierung auf seine Fahnen schreibt, dann scheint
dieser Form des Selbstversuchs einige der geforderten Elemente zu erfüllen. Die Fähigkeit,
sich auf eine Beziehung einzulassen, wird biographisch erworben. Eine Lehrkraft in der
Berufsschule, die sich in ihrem gesamten Studium nicht mit ihren blinden, interaktiven
Prozessen auseinandergesetzt hat, wird dies mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht in ihrer
Unterrichtsspraxis tun können. Ein Erzieher bzw. eine Erzieherin, der/die in seiner/ihrer
Ausbildung keine persönliche Anteilnahme einer Berufsschullehrkraft erfahren hat, wird eine
professionelle Nähe vielleicht auch nicht in seiner/ihrer sozialpädagogischen Praxis
realisieren können.
Das zentrale Ziel einer Neuen Lern-Lehrkultur besteht in der Anpassung von schulischem und
praktischen Lernen, d.h. Unterricht soll sich zum Einen an der Lebenswelt der Schüler und
Schülerinnen orientieren und zum Anderen die Erfordernisse der Praxis – so weit möglich –
abdecken (vgl. Fegebank 2004b: 121). Dabei wird eine stärkere Selbstregulierung und
Selbstevaluation der Schüler und Schülerinnen gefordert (vgl. Fegebank 2004b: 119). Eine
direkte, praktische Anwendung (Transfer) der theoretischen Modelle von Schulz von Thun
auf Ebene der Lehrenden, eröffnet auch für den Unterrichtskontext neue Möglichkeiten. So
kann im Rahmen alternativer Formen der Leistungsmessung z.B. in einem Portfolio (vgl.
Winter 2008: 187ff) eine Aufgabe die essayistische Übertragung der Modelle auf ein
Praxisbeispiel aus dem Praktikum und/oder des eigenen Alltags sein, um sowohl eine innere
als auch eine situative Klärung zu erreichen und dem Ziel der Reflexivität des eigenen
Handelns ein Stück näher zu kommen. Schulz von Thun (2002c) entwickelte sein Modell
ursprünglich für den unternehmerischen Bereich, erweiterte seine Werke allerdings immer
wieder um Beispiele auch aus dem medizinischen und sozialen Sektor (vgl. Schulz von Thun
2002b: 203f). Ohne die Idee des doppelten Theorie-Praxis-Bezuges überstrapazieren zu
wollen (vgl. Karsten 2003: 354), ergeben sich hieraus doch einige Ideen für alle
Bildungsebenen.
27
Literatur
De Beauvoir, Simone (2001): Sie kam und blieb. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Fegebank, Barbara (2004a): Systeme personenorientierter Dienstleistungen. In: Fegebank, Barbara (Hrsg.): Arbeit-Beruf-Bildung in Berufsfeldern mit personenorientierten Dienstleistungen. Bd. 7. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 8-21
Fegebank, Barbara (2004b): Eine Neue Lern-Lehr-Kultur in der beruflichen Bildung. In: Fegebank, Barbara (Hrsg.): Arbeit-Beruf-Bildung in Berufsfeldern mit personenorientierten Dienstleistungen. Bd. 7. Baltmannsweiler: Schneider Verlag, S. 116-132
Greving, Niehoff et al. (2005):
Praxisorientierte Heilerziehungspflege. Bausteine der Didaktik und Methodik. Troisdorf: Bildungsverlag EINS Stam
Jaszus, Rainer et al. (2008): Sozialpädagogische Lernfelder für Erzieherinnen. Stuttgart: Holland + Josenhans Verlag
Karsten, Maria-Eleonora (2003):
Sozialdidaktik – Zum Eigensinn didaktischer Reflexion in der Berufsbildung für soziale und sozialpädagogische (Frauen-)Berufe. In: Schlüter, Anne: Aktuelles und Querliegendes zur Didaktik und Curriculumsentwicklung, S. 350-374
Kleist, Heinrich von (2008): Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden. In: http://www.kleistorg/texte/UeberdieallmaehlicheVerfertigung derGedankenbeimRedenL.pdf. Retrieved: 10.09.08
Maturana, Humberto R./ Varela, Francisco (1987):
Der Baum der Erkenntnis. Wie wir die Welt durch unsere Wahrnehmung erschaffen – die biologischen Wurzeln des menschlichen Erkennens. 3. Aufl. Bern u.a.: Goldmann
Niedersächsische Kultusministerium (2002):
Rahmenrichtlinien für das Fach Berufsbezogener Unterricht der Fachschule – Sozialpädagogik. In: http://www.nibis.ni.schule.de/haus/dez3
Niedersächsisches Kultusministerium (2003):
Rahmenrichtlinien für das Fach Berufsbezogener unterricht der Fachschule – Heilerziehungspflege. In. http://www.bbs.nibis.de
Reich, Kerstin (2006): Konstruktivistische Didaktik. Lehr- und Studienbuch mit Methodenpool. Weinheim: Beltz
Riemann, Fritz (2002): Grundformen der Angst. München: Ernst Reinhardt Verlag
28
Sartre, Jean-Paul (1963): Der Ekel. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Sartre, Jean-Paul (1965): Ist der Existenzialismus ein Humanismus? In: Sartre, Jean-Paul: Drei Essays. Zürich: Ullstein Verlag, S. 7-51
Sartre, Jean-Paul (1988): Zeit der Reife. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Schopenhauer, Arthur (1988): Parerga und Paralipomena. Zürich: Haffmanns
Schulz von Thun, Friedemann (1999):
Miteinander Reden. Störungen und Klärungen. Bd. 1. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Schulz von Thun, Friedemann (2002)a:
Miteinander Rede. Stile, Werte und Persönlichkeitsentwicklung. Bd. 2. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Schulz von Thun, Friedemann (2002)b:
Miteinander Reden. Das >>innere Team<< und situationsgerechte Kommunikation. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt
Schulz von Thun, Friedemann (2002c):
„Beruf und Persönlichkeit“. Vorlesung SS 2002 Universität Hamburg
Watzlawik, Paul et al. (1993): Menschliche Kommunikation. 8. Aufl. Bern: Hans Huber Verlag
Willig, Wolfgang/ Kommerell, Tilman (2002):
Psychologie, Sozialmedizin, Rehabilitation. Ein Lehrbuch für die Ausbildung in der Krankenpflege. Balingen: Selbstverlag Willig
Winter, Felix (2008): Leistungsbewertung. Eine neue Lernkultur braucht einen anderen Umgang mit den Schülerleistungen. Baltmannsweiler: Schneider Verlag
Yalom, Irvin D. (2002): Der Panama-Hut oder Was einen guten Therapeuten ausmacht. München: btb
Abbildungsverzeichnis
1. Einleitung ............................................................................................................................... 1 2. Kommunikationsmodelle in der Erzieherinnenausbildung ............................................. 2 3. Essay: Gescheiterte Kommunikation über Kommunikationsmodelle ............................. 4
3.1 Wer sind die Protagonisten? ............................................................................................ 4 3.2 Analyse der verunglückten Kommunikation ..................................................................... 5
Abb. 1: Kommunikationspsychologische Lupe ...................................................................... 6 Abb. 2: Kommunikationsstile und Beziehungsdynamik ....................................................... 9
3.3. Spiel mir das Lied vom Stuhl ......................................................................................... 10 Abb. 3: Stuhl A ........................................................................................................................ 11 Abb. 4: Stuhl B ........................................................................................................................ 11
3.4 Eine unendliche Geschichte ............................................................................................ 14
29
3.5 Die innere Theaterbühne ................................................................................................ 15 Abb. 5: Die innere Theaterbühne .......................................................................................... 18
3.6 Wer versteckt sich denn im Bühnenuntergrund? ............................................................ 19 3.7 Ein gemeinsames Theaterstück? ..................................................................................... 21
Abb. 6: Am runden Tisch ....................................................................................................... 23 3.8 Die Weiterentwicklung oder die Lehre aus vergangenen Taten .................................... 24 3.9 Schlussbemerkungen ....................................................................................................... 25
4. Konsequenzen für die Lehrkraftausbildung .................................................................... 27 Literatur ................................................................................................................................... 28
30