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HÖGSKOLAN I HALMSTAD SEKTIONEN FÖR HUMANIORA (Re)konstruktion und Medien der Erinnerung in Marons Pawels Briefe Kurs: TYSKA C 10 poäng Ht 2006 Hanne Aggerholm Kvarnen Stackarp 254 31298 Våxtorp Betreuerin Inez Mülller

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HÖGSKOLAN I HALMSTAD SEKTIONEN FÖR HUMANIORA

(Re)konstruktion und Medien der Erinnerung in Marons Pawels Briefe

Kurs: TYSKA C 10 poäng Ht 2006 Hanne Aggerholm Kvarnen Stackarp 254 31298 Våxtorp Betreuerin Inez Mülller

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Inhaltsverzeichnis

1. Einleitung S. 1 1.1Definition der Gattung Autobiographie S. 1 1.2 Pawels Briefe als Textmischform zwischen Autobiographie und Autofiktion S. 2 1.3 Die Ziele meiner Arbeit S. 2 2.Erinnerung und Gedächtnis S. 3 2.1 Das kommunikative Gedächtnis der Familie S. 4 3. Die Erzählten Medien in Pawels Briefe S. 5 3.1 Fotografien S. 5 3.2 Pawels Briefe aus dem Ghetto S. 9 3.3 Hella als Medium der Erinnerung S.11 3.4 Der Text als Medium via den Prozess des Schreibens S.11 4. Die Identität der Ich-Erzählerin S.15 5. Zusammenfassung S.17 6. Literaturverzeichnis S.19

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1.Einleitung

Monika Maron ist 1941 in Berlin geboren. 1951 zog sie mit ihrer Familie von

West nach Ost-Berlin. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Reporterin und seit

1988 als Schriftstellerin. Ihr Prosatext Pawels Briefe1 ist 1999 geschrieben und

spielt in Berlin und Polen.

Der Text handelt sowohl von der Familiengeschichte der Ich-Erzählerin

Monika als auch von einer Suche nach einem Sinn in ihrem eigenen Leben:

„Vielleicht war es auch nur mein erster Versuch, dem eigenen Leben einen Sinn

und ein Geheimnis zu erfinden“(9). Dass die Erzählerin das Wort erfinden

braucht ist sowohl ein Zeichen dafür, dass diese Familiengeschichte keine reine

Autobiographie ist, als auch ein Zeichen dafür, dass eine (Re)konstruktion der

Familiengeschichte angedeutet ist.

1.1 Definition der Gattung Autobiographie

Phillippe Lejeune (zitiert nach Martina Wagner-Egelhaaf2) definiert die Gattung

Autobiographie auf folgende Weise: „Rückblickende Prosaerzählung einer

tatsächlichen Person über ihre eigene Existenz, wenn sie den Nachdruck auf ihr

persönliches Leben und insbesondere auf die Geschichte ihrer Persönlichkeit

legt.“ In Pawels Briefe ist die Persönlichkeit der Ich-Erzählerin nicht

offensichtlich bewusst zur Schau getragen, sondern die Familiengeschichte, in

welche ihr persönliches Leben eingebettet ist. Weiteres Kennzeichen der

Textsorte Autobiographie nach Lejeune ist der autobiographische Pakt. So

Wagner-Egelhaaf:

1 Monika Maron: Pawels Briefe. Frankfurt am Main 2004,4. Auflage. Die Textbelege sind jeweils in Klammern angeführt. 2 Martina Wagner-Egelhaaf: Autobiographie. Stuttgart, 2005. S. 5ff.

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Für die Autobiographie ist die Namensidentität zwischen Autor, Erzähler und Protagonist vorausgesetzt, d.h. das Pronomen >Ich< im Text verweist immer auf den Namen des Autors, der auf der Titelseite des Buches angegeben ist.3

1.2 Pawels Briefe als Textmischform zwischen Autobiographie und

Autofiktion

In Pawels Briefe nennt sich die Ich-Erzählerin Monika und auf der Titelseite des

Buches steht der Autorinnenname Monika Maron. Erst spät im Text ist ihr Name

möglicherweise identisch mit dem der Autorin. In den 1980er Jahren besucht sie

ihr altes Haus und präsentiert sich den alten Nachbarn gegenüber

folgendermaßen: „Ich sei Monika Maron“ (118). Statt Modus Indikativ (Ich bin

Monika Maron) spricht die Erzählerin im Modus Konjunktiv. Mit dieser

Möglichkeitsform ihrer Aussage distanziert sich die Erzählerin von sich selbst.

Das heißt der/die Leser/in weiß nicht, ob sie identisch mit der Schriftstellerin

Monika Maron ist.

Die Schreibweise der Schriftstellerin in der Herstellung/Erfindung der

Familiengeschichte und Biographie der Ich-Erzählerin ist sowohl autobiografisch

als auch autofiktional. Aufgrund dieser Dualität des Schreibens ist Pawels

Briefe als Textmischform zwischen Autobiographie und Autofiktion zu

betrachten. Das autobiografische Schreiben und die Autofiktionalität sind in der

(Re)konstruktion der Familiengeschichte zu erkennen.

1.3. Die Ziele meiner Arbeit

Mit dem Anfang des zweiten Weltkrieges ist die Familiengeschichte der Ich-

Erzählerin völlig verändert. Monika ist 1941 geboren, deshalb hat sie von dieser

Zeit keine oder wenige Erinnerungen. Das Ziel meiner Arbeit ist zu zeigen, auf

welche Weise sie ihre Familiengeschichte, und ihre in dieser eingebettete

3 Wagner-Egelhaaf, S. 69.

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Persönlichkeit (re)konstruiert.Bei der (Re)konstruktion von der Geschichte sind

verschiedene Medien4 der Erinnerung benutzt worden, sowohl die Briefe des

Großvaters Pawel aus dem Ghetto, Fotografien, die Erinnerungen der Mutter

Hella, eine Erinnerungsreise nach Polen, Monikas Erinnerungen und

Imaginationen als auch der Text für sich. Mit den Medien der Erinnerung und

die Imaginationen der Ich-Erzählerin als Ansatzpunkt will ich die

(Re)konstruktion der Familiengeschichte untersuchen.

2. Erinnerung und Gedächtnis

Die Ich-Erzählerin hat keine Erinnerungen der Großeltern, weil sie ihnen nie

gekannt hat. Sie hat aber Erinnerungen von damaligen Fotografien der

Großeltern. Als Kind wollte die Ich-Erzählerin anders sein: „Weil die Fotografie

meiner Großmutter [. . .] sie allzu deutlich als die Mutter meiner Mutter auswies,

fiel meine Wahl als einzigen Ahnen, von dem abzustammen ich bereit war auf

meinen Großvater“ (9). Den jüdischen Ursprung ihres Großvaters hat sie immer

gekannt und ist für sie ein Beweis dafür, dass sie nicht von einem

Nationalsozialisten abstammt, sondern sie ist das Enkelkind eines Opfers des

Nationalsozialismus.

Demnach interessiert sich die Ich-Erzählerin schon als Kind für ihren Großvater,

aber erst 1994 fängt sie an, die Familiengeschichte zu (re)konstruieren, als ihre

Mutter Hella, Pawels Briefe findet: „Diese Briefe waren ihr [Hella] unbekannt“

(10). Hella hat ihr Wissen von diesen Briefen verdrängt oder vergessen.

Jedenfalls hat sie dafür noch kein Gedächtnis: Die Begriffe Erinnerung und

Gedächtnis verstehe ich folgendermaßen: Die Erinnerung ist unbewusst und

kann verdrängt oder vergessen werden. Das Gedächtnis ist das bewusste

Erinnern. Die Beziehung zwischen Erinnerung und Gedächtnis ist als ein

4 Medien sind hier als Träger von Erinnerungen zu verstehen.

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dauernder Prozess zu verstehen. Für die (Re)konstruktion der Familiengeschichte

ist die Gedächtnisfähigkeit der Familienmitglieder von größter Bedeutung. Das

kommunikative Gedächtnis der Familie ist deshalb sehr wichtig um die

Familiengeschichte zu (re)konstruieren.

2.1 Das kommunikative Gedächtnis der Familie

In Das Kommunikative Gedächtnis: eine Theorie der Erinnerung zeigt Harald

Welzer, dass „das „Familiengedächtnis“ kein umgrenztes und abrufbares

Inventar von Geschichten darstellt, sondern in der kommunikativen

Vergegenwärtigung von Episoden besteht, die in Beziehung zu den

Familienmitgliedern stehen und über die sie gemeinsam sprechen“5. Die Ich-

Erzählerin und ihre Mutter Hella sprechen miteinander über Episoden der

Familiengeschichte. Ihre Interpretationen der Geschichten sind aber sehr

verschieden, Welzer äußert, „dass sich Kinder und Enkel ihren ganz eigenen

Reim auf die Geschichten machen“6 und „dass sie diese nicht nur auf ihre Weise

interpretieren, sondern auch völlig neu gestalten, ergänzen oder entstellen“7

Welzer führt weiter aus, dass eine Familiengeschichte erzählt wird, weil jeder

sie schon kennt8. Friederike Eigler behauptet, dass „sich die Erzählerin kaum auf

Familiengeschichten berufen kann, die das kommunikative Gedächtnis stützen“.9

In Pawels Briefe ist Monikas und Hellas gemeinsame Familiengeschichte, dass

Pawel gelebt hat und von den Nationalsozialisten ermordet wurde. Dies ist die

Geschichte, die beide kennen. Diese Geschichte ist der Ausgangspunkt des

5 Harald Welzer: Das kommunikative Gedächtnis: Eine Theorie der Erinnerung, München 2002. S. 149f. 6 Ebd., S. 150 7 Ebd., S. 150. 8 Vgl. ebd. S. 150. 9 Friederike Eigler: Nostalgisches und kritisches Erinnern: Walser und Maron in: Monika Maron in Perspektive „Dialogische“ Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes, Elke Gilson: German Monitor No. 55. Amsterdam 2002. S. 164.

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Buches und im Gegensatz zu Eiglers Behauptung, können sich Monika und

Hella also sehr wohl auf diese Familiengeschichte berufen. Ihr

Familiengedächtnis ist aber schwach, deshalb brauchen sie die verschiedenen

Medien der Erinnerung, um die gemeinsame Familiengeschichte zu

rekonstruieren und sicherzustellen10.

3. Die erzählten Medien in Pawels Briefe

Die Ich-Erzählerin benutzt die Fotografien und die Briefe nicht nur als Medien

der Erinnerung, sondern auch als historische Dokumentation der Zeit. Auf diese

Weise haben die Fotografien und Pawels Briefe aus dem Ghetto eine duale

Funktion auf mehreren Ebenen. Als Medien der Erinnerung, benutzt Hella die

Fotografien und die Briefe als Dokumentation der Kriegszeit und als Mittel ihrer

(Re)konstruktion der Familiengeschichte. Die Ich-Erzählerin braucht die

Fotografien und die Briefe als Dokumentation der Zeit und als Mittel ihrer

(Re)konstruktion der Familiengeschichte mitsamt ihrer eigenen Geschichte.

3.1 Fotografien

Seit dem 20. Jahrhundert sind Fotografien als Träger der Erinnerung zu

verstehen11. Monika, erinnert sich, als Kind einige Fotografien gesehen zu

haben und für sie fungieren diese Fotografien als Beweis dafür, dass die

Familienmitglieder gelebt haben. Die erste Aufnahme12 zeigt ein idyllisches

Birkenwäldchen, wo ihr Großvater wahrscheinlich von den Nationalsozialisten

10 Welzer. Ebd. S.155f. ”Das Familiengedächtnis [ist] als eine Funktion zu verstehen [. . .], die jenseits der individuellen Erinnerungen und Vergangenheitsauffassungen der einzelnen Familienmitglieder die Fiktion einer gemeinsamen Erinnerung und Geschichte sicherstellt“. 11 Vgl. Wagner Egelhaaf, S. 79. 12 Monika Maron, Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte, Frankfurt am Main: Fischer, 1999. Diese Aufgabe zeigt die erste Aufnahme (ein idyllisches Birkenwäldchen) im inneren Einband.

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erschossen worden ist: So zeichnen sich nach Sylvia Klötzer,13 das Ende und der

Anfang seiner Biographie im Zusammenhang mit dem Foto (18) vom jungen

Pawel ab. Was in dem Zeitlauf zwischen diesen Aufnahmen geschehen ist,

wünscht die Ich-Erzählerin unter anderem mit Hilfe von alten Fotografien zu

(re)konstruieren.

Die Fotografien dieser Zeit sind schwarzweiß. Obwohl die Farbfotografie

schon 1877 erfunden wurde, waren die meisten Fotografien vor den 1960er

Jahren schwarzweiß. Monikas Sohn, Jonas fotografiert auf der Reise nach Polen

und im Buch sind zwei von diesen neuen Aufnahmen mit aufgenommen. Die

erste ist die anfänglich erwähnte Fotografie von dem Birkenwald und die zweite

zeigt Josefas Grab. Die Tatsache, dass die zwei Fotografien neueren Datums

auch schwarzweiß sind, ist äußerst interessant, weil Fotografien von heute

meistens Farbfotografien sind. Jonas ist aber ein professioneller Fotograf, und sie

fotografieren aus verschiedenen berufsmäßigen Gründen häufig in schwarzweiß.

Wenn die neuen Bilder in Farbe wären, wäre die Ästhetik des Buches zerstört.

Meiner Meinung nach, handelt es sich hier um eine bewusste Wahl.

Das Faktum, dass alle Bilder dieses Buches ohne Farben sind, ist für das

Verständnis des Buches äußerst wichtig. Die farblosen Fotografien spiegeln

Monikas fehlende Erinnerung an die Großeltern, die sie nie gekannt hat. Jetzt

versucht sie mit Hilfe dieser Fotografien ihr eigenes Bild von ihren Großeltern

zu (re)konstruieren. „Das Wesen meiner Großeltern bestand für mich in ihrer

Abwesenheit“ (8). Wenn Hella von damaligen Abenden mit ihren Eltern in der

Küche erzählt, versucht Monika die Großeltern als lebende Menschen

vorzustellen: „Selbst wenn ich mich anstrenge und versuche, mir meine

Großmutter und meinem Großvater als durchblutete mit einer Gesichts-, Augen-

13 Sylvia Klötzer: Wir haben eben so nach vorne gelebt: Erinnerung und Identität. Flugasche und Pawels Briefe von Monika Maron in: Monika Maron in Perspektive „Dialogische“ Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle, und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes, Elke Gilson: German Monitor No. 55. Amsterdam 2002.

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und Haarfarbe vorzustellen, gelingt es mir nicht, die farbigen Bilder zu fixieren“

(18). Sie sieht ihrer Großeltern wie in einem Kaleidoskop, das Bild von ihnen

ändert sich immer und bleibt fragmentarisch. Monika glaubt, dass Pawel

vielleicht rotes Haar gehabt hat und Hella kann nicht helfen, sie erinnert sich

vage an die Haarfarbe ihres Vaters (vgl.19).

Monika und Hella versuchen ein eigenes Bild von Pawel zu (re)konstruieren.

Die Bilder, die sie beide (re)konstruieren sind von einander verschieden. Hella

weiß nicht ob er „in Streit abgebrochen ist“(29) oder „in der Stadt sein Glück

suchen wollte“ (29). Monika versucht zu verstehen, warum Pawel konvertiert ist,

und „nehme an, dass er Ostrow gern verlassen hat“ (29). Sie braucht das Foto

(18) als Katalysator für ihre Imaginationen: „Auf einem Foto [. . .] blickt ein sehr

junger zarter Mann [. . .] auf einen imaginären Punkt [. . .] als erwarte er etwas

aus der Richtung, in die er schaut“ (29). Pawels Konvertierung begründet die

Erzählerin auf folgende Weise: „Ich nehme an, dass [. . .] Pawel [. . .] unter der

orthodoxen Religiosität gelitten ha[t]“ (30).

Einen Glauben oder eine Weltanschauung abzulegen, in denen man erzogen wurde, verlangt mehr als ein gewisses Maß an Mut und Charakterstärke; es erfordert eine andauernde intellektuelle und emotionale Anstrengung, denn den Relikten seiner Erziehung begegnet der Mensch, der sich einer solchen Umwandlung unterzieht, noch nach Jahren und Jahrzehnten (30).

Dieses Zitat zeigt eine nüchterne analytische Schreibweise der Ich-

Erzählerin. Diese nüchterne Sprache erscheint wie ein Gegensatz zu den

fotografischen Bildern. Die (Re)konstruktion der Geschichte des Großvaters ist

durch die Fotografien und die nüchterne Schreibweise verdeutlicht worden, weil

die Begrenzung der Sprache die grausame Wahrheit der Fotografien hervorhebt.

Friederike Eigler hebt hervor, dass, „erst in der behutsamen diskursiven

Annäherung an diese Fotos werden die Dokumente der Vergangenheit [...]

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sowohl für die Erzählerin als auch für die Leser [bedeutsam]“.14 Deshalb haben

die Fotografien keinen illustrativen Charakter, sondern sie sind Medien der

Erinnerung. Die Fotografien sind eng mit dem Text verbunden,15 und sie werden

deshalb durch einander wechselweise interpretiert. Eine Interpretation, wodurch

die (Re)konstruktion der Geschichte entsteht.

Das Buch ist in der Form einer Montage geschrieben, und erst in den Verlauf

des Schreibens entsteht die Konstruktion der Geschichte. Das Gedächtnis und

damit die Konstruktion der Familiengeschichte entstehen durch einen

Zusammenbau von den verschiedenen Medien der Erinnerung, die, die instabile

fragmentarische Natur der Familien Gedächtnisses spiegeln. Die Ich-Erzählerin

spricht von einem Foto von Pawel, das nicht mit im Buch aufgenommen ist (vgl.

84). Dass dieses Foto im Buch nicht dargestellt ist, ist ein weiterer Beweis dafür,

dass die Fotografien keinen illustrativen Charakter haben. Diese Fotografie von

Pawel ist vermutlich 1939, während seines kurzen Aufenthaltes in Berlin

aufgenommen worden. Monika beschreibt und interpretiert die Fotografie von

Pawel folgendermaßen:

[D]er Mund sehr verschlossen, als hätte er das Sprechen aufgegeben: Augen in denen sich keine Erwartung mehr spiegelt, nur schreckliche Gewissheit. Ein erschöpfter ein verzweifelter Mann (84).

Diese späte Fotografie und die Fotografie (18) aus seiner Jugend stehen in

einem scharfen Kontrast zueinander. Die frühe Fotografie zeigt einen jungen

Mann voller Hoffnungen, die späte Fotografie dagegen zeigt einen Mann ohne

Erwartungen. Pawel ist als junger Mann konvertiert und voller Erwartungen auf

ein neues Leben in Deutschland gezogen.

14 Eigler, S.164. 15 Vgl. Klötzer, S.46.

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Die Erzählerin spricht über die Gedanken von Niklas Luhmann: „Die

Komponenten eines Lebenslaufs bestehen aus Wendepunkten, an denen etwas

geschehen ist, das nicht hätte geschehen müssen. Das beginnt mit der Geburt“

(66). Pawels Geburt markiert dann den ersten Wendepunkt, als geborener Jude

bleibt er immer Jude in den Augen der Nationalsozialisten. Die Tatsache, dass er

konvertiert ist, spielt keine Rolle, weil die Fragestellung keine religiöse, sondern

eine ethnische ist. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten ist das Leben

ihres Großvaters völlig verändert. Dieser Wendepunkt ist in der zweiten

Fotografie gespiegelt. Die Fotografie bildet Pawel als einen resignierten Mann,

der sich mit seinem Schicksal als Opfer der Rassenpolitik des

Nationalsozialismus abgefunden hat, ab.

Die Ich-Erzählerin braucht, wie schon früher erwähnt, verschiedene Medien

oder Träger des Gedächtnisses um die Familiengeschichte zu (re)konstruieren.

Die Fotografie, wovon ich in diesen Abschnitt meines Absatzes geschrieben

habe, ist nur eine dieser Träger der Erinnerung deren Bruchstücke die

gesammelte Familiengeschichte gestalten. Die Briefe, die Pawel im Ghetto

geschrieben hat, ist ein anderes Beispiel dafür.

3.2 Pawels Briefe aus dem Ghetto

„Es muss doch ein zu ungeheuerliches Verbrechen sein, jüdischer

Abstammung zu sein“ (98), schreibt Pawel an seine Kinder. Er wird seine

Herkunft nie los, obwohl er konvertiert ist, weil die Nationalsozialisten

bestimmen, wer ein Jude ist. Wenn wir uns noch an die Fotografie des

resignierten Pawel erinnern, wird klar, dass das Gedächtnis der Ich-Erzählerin

durch die Verknüpfung von Medien der Erinnerung entsteht. Die Ich-Erzählerin

konstruiert also die Geschichte ihres Großvaters durch die Verbindung der

Fotografien und Briefe. Für eine weitere (Re)konstruktion der

Familiengeschichte braucht die Ich-Erzählerin auch das Gedächtnis ihrer Mutter,

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um die Vergangenheit mit der Gegenwart und der Zukunft zu verbinden.

Klötzer hebt hervor, dass Pawels Briefe die Vergangenheit mit der Gegenwart

und der Zukunft verbinden. „Diese Briefe werden zu einer Brücke: Sie geht in

der Vergangenheit zurück, und sie führt aus der Vergangenheit in die

Gegenwart“.16 Die Briefe wecken Hellas vergrabene Trauer und bringen sie in

eine permanente Verwirrung. Nicht nur von Pawels Briefen, sondern auch von

Briefen an Pawel, in ihrer eigenen Handschrift geschrieben, hat Hella überhaupt

keine Erinnerung (vgl.10-12). Hellas Vergessen stellt eine Barriere zwischen

ihrer Erinnerung und ihrem Gedächtnis dar. Deshalb beschließen Hella und

Monika, gemeinsam nach Polen zu fahren, um Spuren der Großeltern zu suchen.

Sie finden aber nichts, das Hellas Gedächtnis ersetzen kann, weil Hella keine

Erinnerungen aus Polen hat. Hella erinnert sich aber genau an den Tag des

Kriegsendes (vgl.150).

Das Kriegsende ist ein Wendepunkt für Hella, alles ist jetzt möglich, sie kann

von diesem Tag ihr neues Leben beginnen. Alles Furchtbare, das sie während

des Krieges erlebt hat, ist so schmerzhaft gewesen, dass sie um weiter zu leben

alles hat vergessen müssen. Für Monika ist die Kriegszeit auch furchtbar. Sie

muss vergessen, wie ihre Großeltern gestorben sind, sonst ist es ihr nicht

möglich, sich das Leben der Großeltern vorzustellen (vgl. 23).

Mit dem Vergessen hatte bereits Pawel angefangen. Er hat nie von seiner

Kindheit erzählt. In den Briefen von Pawel erfahren Hella und Monika viel über

seine Gedanken und Wünsche. Über seinen Lebenslauf und Alltag schreibt er

aber nichts, deshalb macht die Erzählerin ihre eigene Wunschbiografie des

Großvaters. Hellas Erinnerungen an ihre Kindheit ist dazu ein Beitrag. Obwohl,

Hellas sehr übertrieben positiven Erinnerungen von Monika nicht richtig

geglaubt werden, benutzt sie das Beispiel in der Küche, wo Pawel den Kindern

16 Klötzer, S. 46.

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immer individuelles Frühstück serviert: „Mein Großvater stand jeden morgen als

erster auf und servierte jedem seiner Kinder ein Frühstück; für Bruno Tee,

Kaffee für Marta, Milch für Helle, Kakao für Paul“ (24). Für Monika gehört

diese Szene aus dem Leben ihrer Mutter zu ihrer Vorstellung vom Glück.

Mit dieser Szene betont die Erzählerin welch großartiger Mensch ihr

Großvater gewesen ist. Dieses Beispiel ist eine Parallele zu dem Brief, wo Pawel

an seine Kinder schreibt, was für ihn sehr wichtig ist, nämlich immer Freunde zu

bleiben und nie Hass auszudrücken. (vgl. S. 112, S. 149).

3.3 Hella als Medium der Erinnerung.

Die Ich-Erzählerin braucht Hellas Erinnerungen, um ihre eigene

Familiengeschichte zu (re)konstruieren. Wenn Hella von dem täglichen

Frühstück ihrer Kindheit, wo Pawel jedes Kind individuelle Getränke serviert

spricht (vgl.24), spricht sie vom Glück. Während Hella diese Situation ihrer

Kindheit (re)konstruiert, konstruiert sie das Glück, ob sie damals wirklich

glücklich wäre kann man nicht wissen. Die Ich-Erzählerin braucht diese

Geschichte, um Pawel für sich lebendig zu machen. Mithilfe dieser Geschichte

gelingt es ihr, Pawel als einen Mann, der seine Kinder als Individuen sieht, zu

gestalten.

3.4 Der Text als Medium via den Prozess des Schreibens

Wagner-Egelhaaf legt dar, dass der autobiographische Text nicht nur als Ziel der

Darstellung, sondern auch als Medium des Gedächtnisses zu verstehen ist.17

Diese Aussage kann auf folgende Weise auf Pawels Briefe angewandt werden.

In Pawels Briefe, ist das Schreiben auf zwei Ebenen als Prozess der

(Re)konstruktion und des Gedenkens zu erkennen. Es gibt sowohl ein

17 Vgl. Wagner-Egelhaaf: S. 208.

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individuelles Gedächtnis, als auch ein kollektives Gedächtnis, welche eng

miteinander verknüpft sind. In Einführung in die Literaturwissenschaft plädiert

Uwe Hebekus:

Die antike Bestimmung der Topik als „Geburtshelferin des Latenten“ (Barthes 1988, 69) ergibt sich systematisch daraus, dass memoria, imaginatio und phantasia als Einheit gedacht werden, die als Einheit des kollektiven Gedächtnisses allein den Spielraum rhetorischer inventio absteckt18.

Die Imaginationen der Ich-Erzählerin entspringen das kollektive Gedächtnis.

So Bornscheuer nach Hebekus: „Es gibt keine andere Phantasie als eine

traditionsbewusste und gesellschaftlich verbindliche, keine Phantasie, die nicht

auf die Elemente des kollektiven Gedächtnisses rekurrierte“19. Beispielsweise

spiegeln die Imaginationen der Ich-Erzählerin die traditionellen,

gesellschaftlichen Vorstellungen vom Familienglück. Wie wäre es, wenn ... , ist

eine Frage die, die Ich-Erzählerin immer wieder stellt. Sie stellt sich vor wie es

wäre, wenn sie ihren Großvater gekannt hat:

Am Nachmittag geht mein Großvater mit mir spazieren. Ich führe ihn an der Hand [...] und höre wie die Nachbarn ihn grüßen: Guten Tag Herr Iglarz, schön dass Sie wieder da sind. [...] Mein Großvater ist freundlich zu allen, damit mir das schreckliche verborgen bleibt. (112)

So, wie in dieser erfundenen Spaziergang mit dem Großvater ist es aber nicht

real-wirklich gewesen, weil der ganze Lebensverlauf infolge der

Machtübernahme Hitlers, wie früher erwähnt, für die Ich-Erzählerin und ihre

Familie verändert worden ist.

18 Uwe Hebekus,: „Topik/Inventio“. In: Einführung in die Literaturwissenschaft. Hrsg. Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck, Michael Weitz: Metzler 1995. S. 85. 19 Bornscheuer zit. Nach Hebekus, ebd. S. 85.

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„[...] wenn die kulturellen Sinnhorizonte bröckeln, muss sich das Individuum

[...] einen eigenen Sinnhorizont schaffen“20. Durch den Prozess des Schreibens

versucht die Ich-Erzählerin, Sinn herzustellen, also zu (re)konstruieren. Was sie

durch die Medien des Gedächtnisses erfährt oder nicht erfährt, ist für die Ich-

Erzählerin offensichtlich unerträglich, jedenfalls sind viele Imaginationen der

Ich-Erzählerin in dem Text miterzählt. Dadurch entsteht eine Art von

Wunschbiographie, die, die belastenden Fakten der Geschichte des Großvaters

hervorhebt.

Ich habe schon von den Fotografien geschrieben, aber auch was die

Erzählerin aus den Gesprächen mit ihrer Mutter erfährt, wird als Katalysator für

eine Wunschbiographie fungieren. Das kollektive Gedächtnis, das individuelle

Gedächtnis und das Familiengedächtnis sind eng miteinander verknüpft und in

einander montiert. Wenn die Erzählerin versucht, die Lücken ihrer Geschichte zu

(re)konstruieren, ist sie von diesen Gedächtnisformen beeinflusst.

Die Ich- Erzählerin hat von ihrer Mutter gelernt, dass ihre Grosseltern im

Fenster sassen und nähten (32). Für sie ist es schwierig diese Situation zu

vergegenwärtigen, weil sie nur die Grosseltern in ihrer Abwesenheit kennt. Die

Ich-Erzählerin versucht ein Gespräch zwischen den Beiden zu konstruieren:

„Juscha, sagt mein Großvater, gibst du mir bitte mal die Schere?“ (33). Diese

Konstruktion eines Gespräches gelingt ihr aber schlecht, weil sie, die Großeltern

nie gekannt hat.

In Zerbrochene Spiegel, behandelt Oliver Sill das moderne autobiographische

Schreiben:

20 Egelhaaf, S. 38.

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Das Erzählende Ich [...] wird allein fassbar in der Struktur des Werkes; es reicht über die dargestellten Ich-Zustände hinaus und weiss sie doch in sich als unabweisliche Bestandteile der eigenen Existenz in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.21

In Struktur des Texts in Pawels Briefe wird das Erzählende Ich unter

anderem durch die Imaginationen der Ich-Erzählerin verdeutlicht. Die Phantasien

verbinden die Lücken der Familiengeschichte in einem Versuch, Sinn zu

machen, wo es keinen Sinn geben kann.

Noch dazu sind mehrere Geschichten in einander montiert. Eine Geschichte

der Geschichte wird durch die (Re)konstruktion der Ich-Erzählerin momentweise

deutlich. In Speichergeschichten: Selbstvergewisserung zwischen

Großväterlichen Briefen und mütterlichen Gedächtnislücken. Zu Monika Marons

Pawels Briefe22 hebt Eva Kormann hervor, dass „Der Fokus des Erzählens

wechselt und mit ihm der Fokus der Lektüre“. Die Geschichte der Ich-Erzählerin

und die Geschichte des Großvaters sind zusammen wie eine Kippfigur zu

erfassen. Die vielen Lücken machen das gesammelte Bild der Geschichte

instabil. „Was [...] als Figur erscheint, wird zum Grund und umgekehrt.“23

Dadurch entsteht ein wechselhafter Fokus, womit die beiden Geschichten nur

durcheinander deutlich sind. Mit diesem wechselhaften Fokus ist die brüchige

Struktur des Textes verdeutlicht, und die im Text hineingebettete Identität der

Ich-Erzählerin ist dadurch nur momentweise zu erfassen. Daher spiegeln sowohl

die (Re)konstruktion der Geschichte als auch der Identität der Ich-Erzählerin die

Struktur des Textes.

21 Oliver Sill: Zerbrochene Spiegel. Studien zur Theorie und Praxis modernen autobiographischen Erzählens: Berlin; New York: de Gruyter 1991. S. 136. 22 Eva Kormann: Speichergeschichten: Selbstvergewisserung zwischen großväterlichen Briefen und mütterlichen Gedächtnislücken. Zu Monika Marons Pawels Briefe in: Zwischen Trivialität und Postmoderne: Literatur von Frauen in den 90er Jahren. Hrsg. Ilse Nagelschmidt Frankfurt am Main 2002. S.121. 23 Ebd. S.121.

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4. Die Identität der Ich-Erzählerin

Welche Form könnte sich [...] besser dazu eignen, Identitäten, die sich stets wandeln müssen und die nicht eindeutig fixierbar sind, zu be- und erschreiben als eine Form, die zwischen verschiedenen Genres schwankt und den Schwerpunkt ihres Interesses immer wieder zwischen der (Re)konstruktion der Geschichte des Großvaters und der Suche nach der eigenen Identität hin und herschiebt.24

Die Ich-Erzählerin muss immer wieder ihre eigene Identität, die eng mit den

zeitgeschichtlichen Veränderungen verbunden ist, (re)konstruieren. In der Zeit

der Postmoderne gibt es keine stabile Identität, sondern es dreht sich um eine

ewige (Re)konstruktion. Kurz gesagt ist die moderne und postmoderne

Identitätsbildung als ein Prozess ohne Ende bis zum Tod zu verstehen. Wenn die

Umgebung sich verändert, muss sich der Mensch auch verändern. Deshalb ist

das Konzept der Identität als ein, ad infinitum, rollender Film zu erfassen. Auf

ähnliche Weise wie die Sprache, die immer instabil bleibt, und sich immer

ändert.

Laut Derrida, macht die Sprache Sinn durch Differenz und Nachträglichkeit.

Die Beziehung zwischen Differenz und Nachträglichkeit nennt er Différance.25

Die Konsequenz für Derrida ist, dass die Sprache eigentlich nie Sinn macht,

weil, wenn man von Differenz und Nachträglichkeit spricht, nicht die

Zeitperspektive vergessen darf. Laut Hans Bertens26 in Literary Theory ist

Différance mit der Kafka Geschichte Before the Law von Derrida verglichen

worden. Ein Mann wartet sein ganzes Leben lang vor einer Tür. Als er fragt, ob

24 Kormann: Speichergeschichten. S. 119. 25 Jacques Derrida: “Différance”: In: Margins of Philosophy. University of Chicago Press 1982. 3-27. Vgl. S. 4-21. 26 Hans Bertens: Literary Theory. Routledge 2001. Vgl. S. 133.

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er hereinkommen darf, bekommt er immer dieselbe Antwort: „Noch nicht“. Auf

diese Weise ist es auch mit der Ich-Erzählerin. Sie muss bis zum Tod, auf Grund

der Nachträglichkeit, einen Sinn suchen.

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5. Zusammenfassung

Die Ich-Erzählerin versucht in Pawels Briefe ihre Familiengeschichte mitsamt

ihrer eigenen Geschichte zu (re)konstruieren. Der Text ist ein Mischtext der

autofiktionale und autobiographische Schreiben. Obwohl die Ich-Erzählerin sich

Monika nennt, erfährt den Leser nie, ob sie Monika Maron ist. Erst ganz spät im

Text präsentiert sie sich als Monika Maron. Diese Reräsentation ist im Modus

Konjunktiv und deshalb bleibt es dem Leser unklar, ob die Ich-Erzählerin

identisch mit der Autorin sei.

Die Familiengeschichte und damit ihrer eigenen Geschichte (re)konstruiert die

Ich-Erzählerin mithilfe der verschiedenen Medien der Erinnerung: Die Briefe des

Großvaters aus dem Ghetto, Fotografien, die Erinnerungen ihrer Mutter, eine

Erinnerungsreise nach Polen, Monikas Erinnerungen und Imaginationen, und der

erzählte Text.

Die Mutter der Ich-Erzählerin hat Pawels Briefe aus dem Ghetto vergessen

und sie fahren gemeinsam nach Polen, um nach Spuren der Großeltern zu

suchen. Sowohl die Ich-Erzählerin als auch ihre Mutter haben keine

Erinnerungen an Polen und deshalb bringt diese Reise nichts Neues im

Gedächtnis vor. Das Familiengedächtnis der Mutter und Tochter heben hervor,

dass jede der Frauen ihrer eigene (Re)konstruktion der Familiengeschichte hat.

Aber die Ich-Erzählerin braucht die Erinnerungen und das Gedenken ihrer

Mutter, um eine eigene Geschichte zu (re)konstruieren.

Die (Re)konstruktion der Geschichten mithilfe der Erinnerungen der Mutter,

der Fotografien und der Briefe ist problematisch, weil es so viele Lücken gibt. In

diesen Lücken entsteht die Wunschbiographie der Ich-Erzählerin durch ihre

Imaginationen. Die beiden Geschichten ändern sich dauernd durch die

(Re)konstruktion und sind nur momentweise zu erfassen, weil sie nachgetragen

sind. Die Identität der Ich-Erzählerin, die durch die Geschichten und durch den

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Prozess des Schreibens (Re)konstruiert ist, bleibt für immer fragmentarisch und

instabil, weil die Sprache auf Grund der Nachträglichkeit nie Sinn machen kann.

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6. Literaturverzeichnis

Primärliteratur:

Maron, Monika: Pawels Briefe. Frankfurt am Main 2004. 4.Auflage.

Maron, Monika: Pawels Briefe. Eine Familiengeschichte. Frankfurt am Main

1999.

Sekundärliteratur:

Bertens, Hans: Literary Theory. London 2001.

Derrida, Jacques: „Differance“. In: Margins of Philosophy. University of

Chicago 1982.

Eigler, Friederike: „Nostalgisches und kritisches Erinnern: Walser und Maron“.

In: Monika Maron in Perspektive „Dialogische“ Einblicke in Zeitgeschichtliche,

intertextuelle und rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes. Hg. Elke Gilson:

German Monitor No. 55. Amsterdam 2002. S. 157-180.

Hebekus, Uwe: „Topik/Inventio“ In: Einführung in die Literaturwissenschaft.

Hrsg. Miltos Pechlivanos, Stefan Rieger, Wolfgang Struck, Michael Weitz.

Stuttgart 1995.

Klötzer, Silvia: „Wir haben immer so nach vorne gelebt: Erinnerung und

Identität. Flugasche und Pawels Briefe von Monika Maron.“ In: Monika Maron

in Perspektive „Dialogische“ Einblicke in zeitgeschichtliche, intertextuelle und

rezeptionsbezogene Aspekte ihres Werkes. Hg. Elke Gilson: German Monitor

No. 55. Amsterdam 2002. S. 35-56.

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Kormann, Eva: „Speichergeschichten: Selbstvergewisserung zwischen

großväterlichen Briefen und mütterlichen Gedächtnislücken. Zu Monika Marons

Pawels Briefe.“ In: Zwischen Trivialität und Postmoderne. Hg. Ilse

Nagelschmidt/Alexandra Hanke Lea Müller-Dannhausen/Melani Schröter.

Frankfurt am Main 2002. S. 113-128.

Sill, Oliver: Zerbrochene Spiegel Studien zur Theorie und Praxis modernen

autobiographischen Erzählens. Berlin/New York 1991.

Wagner-Egelhaaf, Martina: Autobiographie. Stuttgart 2005.

Welzer, Harald: Das Kommunikative Gedächtnis: Eine Theorie der Erinnerung.

München 2002.