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Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 35 (2012): Rezensionen
k�nnen und daher im Absatzsegment nicht vertre-ten sind.
Auch im analytischen Vokabular bestehen Unsi-cherheiten. Das Analyseraster (das etwas zu starrund formelhaft angewandt wird) unterscheidet„primordial codierten Rassismus (Antisemitis-mus)“ von eher „traditionell codiertem Rassismus(Antisemitismus)“ und kombiniert dabei VolkovsBegriff des „kulturellen Codes“ mit dem Codie-rungsbegriff von Bernhard Giesen. Rassismus be-deute, dass die „Konstruktion einer Gruppe mit-tels ethnisch gerechtfertigter Kriterien und Be-schreibungen“ vorliegt, die gleichzeitig diskrimi-nierend wertet. Nicht nur primordiale Codierun-gen im biologischen, sondern auch im kulturellenSinn z�hlen als Rassismus. Rassistische Publikatio-nen, so definiert Wiede, seien solche, bei denenrassistische Codierungen „handlungs- oder analy-setragend“ seien, oder „die ethnische Be- und Ab-wertungsmaßst�be verbreiten und zu ethnischerSegregation aufrufen“ (S. 1).
Nun sind gerade die Unstimmigkeiten, die sichaus der Anwendung dieses Rasters aufs historischeMaterial ergeben, aufschlussreich. Denn die vorge-stellten Publikationen lassen eine viel komplexereGemengelage erahnen. Gerade die Kapitel zurRassenkunde oder zur Literaturgeschichte zeigen,wie vielschichtig und reichhaltig das vorliegendehistorische Material ist. S�mtliche Schattierungenvon Ironie, Anspielung, Anschuldigungen, subtilerDiffamierung, unausgesprochenen Assoziationen,k�nstlichem Positionswechsel, gespielter Naivit�t,Verschw�rungstheorien, �berraschungseffekten,ungew�hnlichen Allianzen und Polemik findensich darin; Tabus gab es, wie Wiede anmerkt, kei-ne, wohl aber moralische Wertungen. Von allge-meiner Kulturkritik oder der Kritik an bestimm-ten k�nstlerischen Stilen waren antisemitische Kli-
schees jeweils nur wenige Gedankenschritte ent-fernt. Autoren bedienten mitunter eine beeindruk-kend breite Palette verschiedener rassistischerSpielarten, je nachdem, (von) wo (aus) sie spre-chen. Das alles macht das Feld so komplex, dassKategorisierungen weniger Sinn machen als etwaeine Darstellung von Spannungsverh�ltnissen.
Das alles �ndert aber wiederum nichts an derRichtigkeit der Feststellung, dass offene rassisti-sche Codierungen im allgemeinen biopolitischenDiskurs – zumindest in der Wissenschaft – r�ck-l�ufig waren, wenn dies auch nicht in einer antiras-sistischen Trendwende m�ndete, und dass geradedieser Legitimit�tsverlust zur Fluktuation rassisti-scher Codierungen beitrug und sie ins popul�reGenre verschob; und dass sich darauf eine funktio-nierende Unternehmensstrategie aufbauen ließ.Ebenso, dass sich kein deutscher Sonderweg ras-senkundlicher Wissenschaftstradition feststellenl�sst.
Wiede res�miert, dass ihre Ergebnisse die Vor-stellung von den „stabilen Jahren“ der WeimarerRepublik in Frage stellen und dass die tiefgreifen-den inhaltlichen �nderungen, vor allem in der Na-tional�konomie, der Theologie und der Medizin,die Anschlussf�higkeit der untersuchten Felder anrassistische und antisemitische Diskurse erh�hthabe. Schließlich sieht sie zu Recht ihre Vermu-tung best�tigt, dass der Weimarer Buchmarkt ganzallgemein eine Radikalisierung erfuhr. Insgesamtbietet diese innovative und gut lesbare Studie �u-ßerst interessante Ergebnisse, Einblicke und Zu-sammenstellungen; und außerdem birgt sie nochweitere spannende Resultate, die, nebenbei einge-streut und wenig pointiert formuliert, hier nochnicht richtig zur Geltung kommen.
Veronika Lipphardt (Berlin)
172 i 2012 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 35 (2012) 163–174
DOI: 10.1002/bewi.201201566
Robert Lorenz, Der Protest der Physiker. Die „Gottinger Erklarung“ von 1957.(Studien des G�ttinger Instituts f�r Demokratieforschung zur Geschichtepolitischer und gesellschaftlicher Kontroversen; 3). Bielefeld: transcript 2011.402 S., e 33,80. ISBN 978-3-8376-1852-5.
Die „G�ttinger Erkl�rung“ vom April 1957 gilt bisheute als das Paradebeispiel f�r moralisches undethisches Handeln von Naturwissenschaftlern undist wesentlicher Bestandteil wissenschaftsethischerTraditionspflege. Mit dieser Erkl�rung setzten 18der namhaftesten deutschen Physiker und Chemi-ker – darunter zahlreiche Mitarbeiter des ehemali-gen Uranvereins wie Werner Heisenberg und der
bei der Erkl�rung federf�hrende Carl Friedrichvon Weizs�cker – einen �ffentlichen Gegenpol zuKonrad Adenauers Verharmlosung von Atomwaf-fen und den Bestrebungen seiner Regierung, dieBundeswehr mit Atomwaffen auszur�sten.Gleichzeitig sprachen sie sich klar f�r die friedli-che Nutzung der Kernenergie aus. F�r westdeut-sche Wissenschaftler war es auch noch in den
Rezensionen
1950er Jahren ein h�chst ungew�hnlicher Schritt,mit einer Erkl�rung an die �ffentlichkeit zu tre-ten. Hatte doch das Ideal der scheinbar „unpoliti-schen“ und damit in der Perspektive der Akteure„objektiven“ Wissenschaft Kaiserreich, Revolu-tion, Republik und NS-Diktatur �berdauert. H�ltman sich dies vor Augen, so verwundert es nichtweiter, dass die deutschen Wissenschaftler erst denSchritt an die �ffentlichkeit wagten, als ein vonihnen angestrebtes elit�res Modell der Politikbera-tung gescheitert war.
Anl�sslich ihres 50. Jahrestages wurde die Erkl�-rung weithin gefeiert, kritische T�ne waren prak-tisch nicht zu vernehmen. Nun gut, dies ist auchdie Funktion von Ged�chtnisfeiern. Von einer wis-senschaftlichen Auseinandersetzung mit den G�t-tinger 18 sollte man aber durchaus eine kritischeAuseinandersetzung mit den historischen Akteu-ren und ihren unterschiedlichen Motiven erwar-ten. Lorenz beschreitet dazu in seinem Buch, dasaus seiner politikwissenschaftlichen Dissertationan der G�ttinger Universit�t hervorging, einenneuen Weg. So w�hlt er im ersten Kapitel das poli-tische Manifest als zentralen Gegenstand seinerAnalyse, den er am Beispiel der G�ttinger Erkl�-rung abarbeitet. Methodisch geht der Band damitdeutlich �ber bisherige Arbeiten zum Thema hi-naus, die dieses zumeist an den Biographien derAkteure entfalten.
Das Buch beginnt mit einer kurzen Einleitung,in der der Autor die Aktualit�t seines Themas be-gr�ndet, den Forschungsstand mit einer angemes-senen kritischen W�rdigung darlegt, um anschlie-ßend einen knappen Abriss der Geschichte despolitischen Manifests zu geben. Darauf basierendentwickelt er seine Fragestellung, in deren Rah-men er die G�ttinger Erkl�rung als ein solchesManifest eingebettet in den historischen Kontextanalysieren will.
Diesen legt er zun�chst im ersten Abschnitt desHauptteils dar und schildert anschließend denWeg zum Manifest sowie das erfolgreiche Kon-fliktmanagement der Adenauerregierung, welchesin einer den gemeinsamen Konsens betonendenErkl�rung wesentlicher Vertreter der Manifestan-ten und der Bundesregierung m�ndete. Damit wardie politische Brisanz aus der G�ttinger Erkl�runggenommen. Ihre Folgen blieben gering: Sie gelang-te zwar auf die Titelseiten aller westdeutschen undteilweise auch internationaler Tageszeitungen,konnte aber die westdeutsche Politik nicht im Ge-ringsten nachhaltig beeinflussen. Vielmehr machtLorenz deutlich, dass f�r eine atomare Bewaff-nung der BRD eine Zustimmung zumindest allerwestlichen B�ndnispartner erforderlich gewesenw�re, vorrangig der USA. Hier war das Interessean einer Atommacht BRD �ußerst gering. Schließ-
lich legt Lorenz die Wirkungsbedingungen desManifests dar, diskutiert die Aufnahme in ver-schiedenen gesellschaftlichen Gruppen – von Ge-werkschaften bis zu Kirchen. Dabei hebt er insbe-sondere die Rolle der Medien hervor, in ihrerFunktion Anschlussbedingungen der breiten�ffentlichkeit an einen elit�ren Protest herzustel-len. In einem Zwischenfazit am Ende des erstenTeils gelangt der Autor zu einem ambivalentenSchluss: Zum einen sei die G�ttinger Erkl�rungein zweifelsohne begr�ßenswerter Versuch, �berpolitische Fehlentwicklungen zu informieren unddiese zu korrigieren. Zum anderen stellt sie abereben auch den Versuch einer Gruppe von Expertendar, sich mit Druck der �ffentlichkeit politischerEntscheidungsm�glichkeiten nicht frei von Eigen-interessen (friedliche Nutzung der Kernenergie)zu bem�chtigen.
Im zweiten großen inhaltlichen Abschnitt ana-lysiert Lorenz die Motive der Manifestanten. Alssolche werden bis heute im Rahmen der wissen-schaftsethischen Traditionspflege Verantwor-tungsbewusstsein und Gewissensnot genannt, wieLorenz darlegt. Diese Punkte will er keineswegs inAbrede stellen, relativiert sie aber, indem er ver-schiedene Motivationsfaktoren analysiert und einkomplexes Beziehungsgeflecht zwischen diesenaufzeigt. Damit gelangt der Autor vom Manifestzur�ck auf die Ebene der individuellen Akteure,ohne sie aus dem politischen Kontext zu l�sen. AlsMotivation legt er als ersten Punkt ebenfalls „Ver-antwortung“ dar, dann aber – und nun wird esspannend – diskutiert er das G�ttinger Manifestals kernphysikalische PR-Maßnahme, indem esklar gegen�ber der �ffentlichkeit Atomwaffenvon der friedlichen Nutzung der Kernenergietrennt. Dies waren zum einen die bundesdeutsche�ffentlichkeit, zum anderen aber auch die USAund Großbritannien, die den westdeutschen An-forderungen an Material und Ressourcen f�r einNuklearprogramm klare Grenzen setzten. DieTrennung zwischen Milit�r und Forschung war es-sentiell f�r die weitere Arbeit der Kernphysiker.Hinzu kommt eine mangelnde Repr�sentation die-ser sozialen Gruppe in den politischen Parteienund der Regierung, was letztlich auch seinen Aus-druck im Kampf um Ressourcen fand.
Im vierten Kapitel f�hrt Lorenz die verschiede-nen Analyseebenen in einem Fazit zusammen. Zu-n�chst legt er nochmals die Motive der Manifes-tanten dar – Verantwortung und Aufkl�rung, Re-putationsgewinn durch �ffentlichkeitsarbeit so-wie die Triebkraft des Aufstiegswillens. Abschlie-ßend betrachtet er nochmals die G�ttinger Erkl�-rung als ein politisches Manifest in Hinblick aufseine Erfolgsfaktoren, Konsequenzen und gesell-schaftliche Rezeption.
Ber. Wissenschaftsgesch. 35 (2012) 163–174 i 2012 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim 173
Berichte zur Wissenschaftsgeschichte 35 (2012): Rezensionen
Lorenz gelingt es in seinem Buch, mittels einesmethodisch innovativen Ansatzes die traditionelleErz�hlweise zu �berwinden und zu einem diffe-renzierten Bild der G�ttinger Erkl�rung zu gelan-gen. Der Ansatz erlaubt ihm auch, �ber die indivi-duelle Biographie und nationalstaatliche Betrach-tungsweise die Motive und Folgen der G�ttingerErkl�rung im Rahmen des Kalten Krieges zu kon-textualisieren. Hier h�tten sich die Thesen durch
Einbindung weiterer Forschungsarbeiten aus demangels�chsischen Raum noch weiter sch�rfen las-sen. Ein Register fehlt. Nichtsdestotrotz liegt mitdem Buch von Lorenz ein neues Standardwerk zurG�ttinger Erkl�rung vor, das in einem gekonntenSchreibstil verfasst, �beraus spannend zu lesen istund nachhaltig zur Lekt�re empfohlen werdenkann.
Christian Forstner (Jena)
174 i 2012 WILEY-VCH Verlag GmbH & Co. KGaA, Weinheim Ber. Wissenschaftsgesch. 35 (2012) 163–174