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Universität Siegen (Hrsg.) Die Gründung und die Gründer: Ein Rückblick auf die Anfänge der Universität Siegen 1972 - 1980 Siegen : universi, 2012 271 Seiten ISBN 978-3-936533-6 19,90 Rezension Das Dezimalsystem ist eine segensreiche Erfindung, ohne die sich der nostalgische Bildungsbürger im Dschungel vergangener Ereignisse schwer zurechtfinden würde. Um beim Kaffeekränzchen, am Stammtisch oder im Heimatvereinskreis angeregt parlieren zu können, nachdem die Gegenwartskrisen als Tagesordnungspunkte abgehakt sind, bedarf es der runden Jubiläen. Diese reihen sich zum Glück so nahtlos aneinander, dass der sanft dahin- plätschernde Fluss des Konversierens nie unterbrochen zu werden braucht: Irgend etwas vor 10, 25, 50, 100, 200 ... Jahren Geschehenes findet der Geschichtsfreund immer. Die Historie wird zum Abreißkalender einer nie erschöpfbaren Folge von Jubelfesten; was zwischen den mit Leuchtfarbe markierten „besonderen“ Jahren liegt, kann da nicht auch noch beachtet werden. Wozu also „40 Jahre Universität Siegen“? Die Null ist eine Konzession an die Jubiläumsmentalität, man hätte auch 38 oder 42 wählen können bis zum Fünfzigsten warten aber nicht. Wenn Menschen zu Gründern neuartiger Institutionen werden, stehen sie gewöhnlich seit einiger Zeit im Beruf, haben vielfältige Erfahrungen gesammelt, sich bewährt, vielleicht auch Einfluss gewonnen, sind andererseits längst noch nicht etabliert, bequem oder auch resig- niert genug, um sich auf keine Neuanfänge und Herausforderungen mehr einlassen zu wollen. Kurzum: Es sind meist Menschen zwischen der Mitte des vierten und dem Anfang des fünften Lebensjahrzehnts. Vierzig Jahre nach Errichtung der Gesamthochschule haben sich die Reihen dieser Generation schon zu lichten begonnen, aber noch weilen viele unter uns, die als Zeitzeugen befragt werden können und den Respekt der Jüngeren für ihr Lebenswerk empfangen sollen. Zehn Jahre später, wenn wieder einmal ein konventionelle- res Jubiläum ansteht, wird das nicht mehr der Fall sein. Diese Überlegung war motivierend genug, gerade jetzt einen „Rückblick auf die Anfänge“ vorzulegen. Als „Herausgeber“ firmiert keine natürliche Person, sondern die Universität – womit sich dem Spitzenfunktionär des Hauses, wie es in solchen Fällen Brauch ist, die Gelegenheit zu einem Vorwort bietet. Hochamtliche Prologe muss man ja normalerweise nicht lesen und erst recht nicht rezensieren; wenn sich ersteres aber versehentlich doch ergibt, wird man zuweilen mit wundersamen Blüten am Baum der Erkenntnis belohnt, die auch wenn es das Haupt- geschäft aufhält den geschätzten Mitbürgern nicht ganz vorenthalten werden sollten. Derzeit bestreitet wohl kaum jemand mehr, dass eine Verwissenschaftlichung der Gesell- schaft notwendig ist“, erfährt man (S. 8) von Holger Burckhart, der seine Brötchen als professioneller = professoraler Philosoph verdient hatte, bevor er Siegener Rektor wurde. Seltsamerweise fällt dem Rezensenten niemand aus seinem engeren Bekanntenkreis ein,

Rezension "Die Gründung und die Gründer"

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Peter Kunzmann rezensiert die Festschrift der Universität Siegen anlässlich des 40. Gründungsjubiläums

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Universität Siegen (Hrsg.)

Die Gründung und die Gründer:

Ein Rückblick auf die Anfänge der Universität Siegen 1972 - 1980

Siegen : universi, 2012

271 Seiten

ISBN 978-3-936533-6

€ 19,90

Rezension

Das Dezimalsystem ist eine segensreiche Erfindung, ohne die sich der nostalgische

Bildungsbürger im Dschungel vergangener Ereignisse schwer zurechtfinden würde. Um beim

Kaffeekränzchen, am Stammtisch oder im Heimatvereinskreis angeregt parlieren zu können,

nachdem die Gegenwartskrisen als Tagesordnungspunkte abgehakt sind, bedarf es der

runden Jubiläen. Diese reihen sich zum Glück so nahtlos aneinander, dass der sanft dahin-

plätschernde Fluss des Konversierens nie unterbrochen zu werden braucht: Irgend etwas vor

10, 25, 50, 100, 200 ... Jahren Geschehenes findet der Geschichtsfreund immer. Die Historie

wird zum Abreißkalender einer nie erschöpfbaren Folge von Jubelfesten; was zwischen den

mit Leuchtfarbe markierten „besonderen“ Jahren liegt, kann da nicht auch noch beachtet

werden. Wozu also „40 Jahre Universität Siegen“? Die Null ist eine Konzession an die

Jubiläumsmentalität, man hätte auch 38 oder 42 wählen können – bis zum Fünfzigsten

warten aber nicht.

Wenn Menschen zu Gründern neuartiger Institutionen werden, stehen sie gewöhnlich seit

einiger Zeit im Beruf, haben vielfältige Erfahrungen gesammelt, sich bewährt, vielleicht auch

Einfluss gewonnen, sind andererseits längst noch nicht etabliert, bequem oder auch resig-

niert genug, um sich auf keine Neuanfänge und Herausforderungen mehr einlassen zu

wollen. Kurzum: Es sind meist Menschen zwischen der Mitte des vierten und dem Anfang

des fünften Lebensjahrzehnts. Vierzig Jahre nach Errichtung der Gesamthochschule haben

sich die Reihen dieser Generation schon zu lichten begonnen, aber noch weilen viele unter

uns, die als Zeitzeugen befragt werden können und den Respekt der Jüngeren für ihr

Lebenswerk empfangen sollen. Zehn Jahre später, wenn wieder einmal ein konventionelle-

res Jubiläum ansteht, wird das nicht mehr der Fall sein. Diese Überlegung war motivierend

genug, gerade jetzt einen „Rückblick auf die Anfänge“ vorzulegen.

Als „Herausgeber“ firmiert keine natürliche Person, sondern die Universität – womit sich dem

Spitzenfunktionär des Hauses, wie es in solchen Fällen Brauch ist, die Gelegenheit zu einem

Vorwort bietet. Hochamtliche Prologe muss man ja normalerweise nicht lesen und erst recht

nicht rezensieren; wenn sich ersteres aber versehentlich doch ergibt, wird man zuweilen mit

wundersamen Blüten am Baum der Erkenntnis belohnt, die – auch wenn es das Haupt-

geschäft aufhält – den geschätzten Mitbürgern nicht ganz vorenthalten werden sollten.

„Derzeit bestreitet wohl kaum jemand mehr, dass eine Verwissenschaftlichung der Gesell-

schaft notwendig ist“, erfährt man (S. 8) von Holger Burckhart, der seine Brötchen als

professioneller = professoraler Philosoph verdient hatte, bevor er Siegener Rektor wurde.

Seltsamerweise fällt dem Rezensenten niemand aus seinem engeren Bekanntenkreis ein,

der diese angebliche Notwendigkeit nicht bestreiten würde, aber vielleicht verkehrt er bloß in

den falschen Kreisen. Die These an sich ist natürlich nicht neu. Weisheiten wie diese

befruchteten beispielsweise auch die Lehrpläne der DDR-Schule und -Hochschule, welche

ihrerseits Vollstrecker der (wie so ziemlich alles vor und neben Hegel einschließlich seiner

selbst “vom Kopf auf die Füße gestellten“) Aufklärungsphilosophie waren. „Verwissenschaft-

lichung“ (Man genieße das Wort!) lässt sich mit vielem treiben: Kriegsführung, Massentier-

haltung, massenmediale Volksverdummung etc. – es funktioniert ja zweifellos, und wer will

behaupten, dass hier eine andere Wissenschaft am Werke sei, als diejenige, welche die

Gesellschaft insgesamt, die Schöne Neue Welt, nach den Vorstellungen des Neo-Aufklä-

rungsphilosophen Burckhart uniformieren soll. Die einzige zur Verfügung stehende Wissen-

schaft ist Menschenwerk – aber Menschen, Aufklärer ebenso wie ihre Opponenten, sind

keine wissenschaftlichen Versuchsapparaturen. Aufklärerische Illusionen klammerten sich

schon an alle möglichen Früchte der Wissenschaften: Mal wurde in der völkerverbindenden

Eisenbahn das endlich anbrechende Heil der Menschheit gesehen, mal in der die Glühlampe

und das Ferngespräch schenkenden Elektrizität, mal in der Schutzimpfung oder der Anti-

Baby-Pille oder neuerdings im Internet. Wahrlich, an „Verwissenschaftlichung“ mangelt es

der Gesellschaft seit zwei Jahrhunderten nicht – nur handelt es sich dabei, soweit kollektive

Aneignungsprozesse ins Spiel kommen, eher um eine Verpseudowissenschaftlichung. Diese

ist immerhin das kleinere Übel gegenüber der Alternative (die gewisse Verfechter haben

dürfte): Das Einpflanzen extern programmierbarer Gehirnstimulatoren würde die Gesellschaft

in ein wissenschaftlich zuverlässiger handhabbares System verwandeln helfen. Handhabbar

durch wen?

Auch ohne bis auf weiteres von künstlich-intelligenten Gehirnimplantaten bedroht zu sein

und hoffentlich ohne in den Verdacht weltverschwörerischer Paranoia zu geraten, lässt sich

nach dem künftigen Weg der Gesellschaft im allgemeinen und der Universität im besonderen

fragen, wenn auf der Prioritätenliste ihrer Eliten „Verwissenschaftlichung“ an erster Stelle

steht, nicht aber (wozu Kulturpessimisten wie dem Rezensenten allerdings auch manches

Skeptische einfallen würde) „Persönlichkeitsbildung“ – individuelle Erweckung zum Ethos

statt kollektiver Einschläferung.

Die historisch interessierten Leser dieser Zeilen könnten sich vom rektoralen Bonmot zum

Nachdenken über „Verwissenschaftlichung der Geschichte“ anregen lassen. Was unterschei-

det Geschichte vom real Geschehenen? Welche Rolle – die der Magd oder die des Diktators

– sollte der Wissenschaft beim erkenntnismäßigen Verwandeln von Geschehenem in Ge-

schichte zukommen? Können Personen, die über Vergangenes lediglich aus zweiter Hand

nach wissenschaftlichem Kalkül belehrt werden, sich ihrer selbst als historische Akteure

bewusst werden? Wie sollen Menschen – um auf die bekannte Frage des gebürtigen

Freudenbergers Hans-Ulrich Wehler zu verweisen – „aus der Geschichte lernen“, wenn

„Geschichte“ mit den als Orientierungshilfen im historischen Dickicht entworfenen wissen-

schaftlichen Erklärungsmodellen gleichgesetzt wird?

Nach dem Vorgeplänkel nun aber zur Sache.

„Den Anstand wahren!“ Dafür hatte Johannes Rau 1985 anlässlich eines Wahlkampfes in

Zeitungsanzeigen geworben. Diese Forderung gilt auch für das Besprechen eines Buches,

dessen Thematik dem „Vater der Gesamthochschulen“ einst so vertraut gewesen war. Und

nachdem das – es sei nicht verschwiegen – mit großer Skepsis erwartete Werk nun erschie-

nen ist, stellt der Rezensent fest, dass ihm der Verzicht auf unterhaltsame aber boshafte

Unanständigkeiten gar nicht schwerfällt. „Bücher haben ihre Schicksale“, heißt es so schön:

Damit sich dieses für die vorliegende Publikation auch erfüllt, soll sie ihren Weg hinaus in die

Welt friedlich ziehen können und vor dem Aufbruch zwar nicht totgeschwiegen, aber auch

nicht totrezensiert werden.

Die Festschrift ist – auch wenn sich der institutionelle Herausgeber ein wenig in den Vorder-

grund geschoben hat – eine Gemeinschaftsproduktion zweier der Universität Siegen seit

etlichen Jahren nahestehender Wissenschaftler: Sabine Hering, Sozialpädagogik-Professo-

rin und ausgewiesene Expertin auf dem Gebiet der – wie es modern heißt – „Gender

Studies“ (u.a. Mitgründerin des Archivs der Deutschen Frauenbewegung in Kassel) und Kurt

Schilde, promovierter Historiker mit dem Arbeitsschwerpunkt sozialgeschichtlicher Aspekte

der NS-Zeit. Wer von den Hintergründen des Projekts anfangs am Rande Kenntnis erlangt

hatte, wird nicht darüber erstaunt sein, dass zwei – um es vorsichtig auszudrücken – der

hochschulgeschichtlichen Forschung bislang nicht leidenschaftlich ergebene Autoren nun

ausgerechnet das vielschichtige Thema „Gesamthochschule“ für sich entdeckt haben: Die

Festschrift ist schlicht ein Auftragswerk, anscheinend im akademischen Freundeskreis ange-

regt und Anfang des Jahres 2009 vom damaligen – historisch aufgeschlossenen – Rektor

Ralf Schnell offiziell zum 40. Gedenktag erbeten. Der Versuchung, eine maßstabsetzende

Monographie mit Referenzcharakter für die zukünftige bildungs-, hochschul- und regional-

geschichtliche Forschung anbieten zu wollen, sind die Autoren erfreulicherweise nicht

erlegen. In dem nur etwa dreijährigen Zeitrahmen für das Einarbeiten in einen sehr sperrigen

Stoff und das Ausarbeiten eines dem Anlass würdigen Exponats wäre jeder Versuch, eine

großangelegte „Geschichte der Universität Siegen“ zu produzieren, illusorisch gewesen.

Entstanden ist eine recht sympathische Jubiläumsschrift, eine Reminiszenz an die Veteranen

der Gründungszeit, von diesen sicherlich als ein Kleinod universitärer Erinnerungskultur

dankbar empfangen.

Was als durchaus eigenständiges Druckwerk auftritt, ist genaugenommen „das Buch zum

Film“, nämlich die um einige Beigaben angereicherte Sammlung transkribierter, primär

audiovisuell vorliegender Interviews. Diesen vorangestellt wurde zur Einstimmung lediglich

eine kompakte „Gründungsgeschichte“ (S. 11-35), die den mit der Materie nicht vertrauten

Lesern (falls es solche geben sollte) einen Überblick verschafft.

Sicherlich ist es eine schwierige Gratwanderung, auch dem heterogenen Publikum jenseits

der engeren Zielgruppe gerecht werden zu wollen und dies obendrein innerhalb des selbst-

gewählten Rahmens einer knappen Einführung. Hier und dort müssen zwangsläufig

Wünsche offenbleiben. Einem jüngeren Leserkreis (etwa heutigen Siegener Studierenden)

würde es nicht leichtfallen, anhand bildungspolitischer Extrakte eine Beziehung zu den

einstigen Anliegen der studierenden Elterngeneration zu entwickeln. Für Leser, die keine

alteingesessenen Siegerländer sind, wäre es vielleicht interessant, Genaueres über die

seinerzeitigen örtlichen Verhältnisse und besonders über die Mikrostandortwahl zu erfahren.

Gerade dieses Thema ist allerdings in der Region legendenumwoben, so dass, wer sich nur

auf das „kollektive Gedächtnis“ und nicht auf objektive Quellen stützt, leicht auf Abwege

gerät. Zum Beispiel hatte die Stadt Siegen Ende 1969 nur 10 Tage nach dem Kreis ihren

eigenen Anspruch auf eine Universität artikuliert, wie auch die Initiative für eine regionale

(den Kreis einschließende) „Aktionsgemeinschaft Universität Siegen“ ein Vierteljahr später

von ihr ausging – ein gegenüber dem Landkreis geringeres oder gar fehlendes Interesse, wie

es in den Interviewfragen immer wieder suggeriert wird, lässt sich also kaum behaupten.

Auch dass die Stadt sich „nicht entschließen konnte, einen angemessenen Bauplatz anzu-

bieten“ (S. 18), gehört ins Reich der Fabel. Sie hätte ja gerne, konnte aber nicht. Entgegen

der landläufigen Meinung eröffnete dies nun aber keinen Kalten Krieg zwischen den Siege-

ner und Hüttentaler Verwaltungen, denn die Entscheidungsträger in der Siegmetropole

waren (vielleicht im Gegensatz zu manchen lokalpatriotischen Stammtischrunden)

einsichtsvoll genug, um die einzige realisierbare Option mitzutragen.

Die Ausführungen zur Landespolitik mussten um der angestrebten Kürze willen ebenfalls auf

die an sich wünschenswerte Tiefe verzichten, was dann auch, weil nicht erfragt, durch die

Interviews nicht kompensiert wird. Bei einer großzügiger dimensionierten Darstellung würde

ein guter Ansatzpunkt ja durchaus die (dann besser korrekt, d.h. nicht nach der Sekundär-

literatur zitierte) Äußerung des – übrigens damals für den Hochschulbereich gar nicht mehr

zuständigen – Kultusministers Holthoff zur Schließung von PH-Abteilungen (S. 17) sein.

Verständlich wird sie nur im Kontext der ins „Nordrhein-Westfalen-Programm 1975“ einge-

gangenen Hochschulausbaupläne des 1. Kabinetts Kühn. In dem Zusammenhang ist dann

die Trendwende von der Metropolisierung zur Regionalisierung (2. Kabinett Kühn, nun mit

Wissenschaftsminister Rau) aufschlussreich für die politische Szene vor 40 Jahren, wo

manches Konzept mehr Anklang beim „Gegner“ als im eigenen Lager fand. So stand etwa

die Forderung progressiver Vertreter der CDU nach einer Universitätsgründung im Sieger-

land (besonders vom ehemaligen Kultusminister Paul Mikat erhoben) längst im Raum, bevor

Johannes Rau in die Position gelangte, von der bisherigen sozialliberalen Kabinettspolitik

abweichende Ideen verwirklichen zu können.

Im übrigen ist es nicht verkehrt, sich hin und wieder darauf zu besinnen, dass die politische

Praxis in diesem Staat auf Gewaltenteilung beruht. Zu sagen, „für die Entwicklung des

Gesamthochschulmodells in NRW“ sei das Wissenschaftsministerium „zuständig“ gewesen

(S. 12), beschreibt nur die eine Seite der Medaille. Wer Verständnis für die Hochschulreform

der 1960er/70er Jahre sucht, kommt am Landtag schlichtweg nicht vorbei, wo neben inter-

essanten Gladiatorenkämpfen (im Plenum) eben auch ernsthafte konzeptionelle Arbeit (im

Kulturausschuss) geleistet wurde. Der Landtags-Kulturausschuss war übrigens der Ort, an

den Abgeordnete der zu integrierenden Bildungsstätten eingeladen worden waren, um sich

zum Entwurf des Gesamthochschulentwicklungsgesetzes auszusprechen (Anhörung am

12.4.1972; aus dem Siegerland und Gummersbach waren neben H.-G. Vitt die Herren

Witthöft, Rimbach, Roth sowie Studentenvertreter Wagner angereist). Ein Jahr zuvor hatte

Rau seine (sicherlich im Ministerium kollektiv erarbeiteten) „Thesen“ vorgelegt und ausdrück-

lich um Stellungnahmen der potentiell betroffenen Einrichtungen gebeten. Schon im Sommer

1970, kurz nach der Amtsübernahme, waren die Pädagogischen Hochschulen aufgefordert

worden, Kommentare zum „Aufbau- und Strukturplan für die Gründung neuer Universitäten“

abzugeben; die eingehenden Stellungnahmen führten mit dazu, gegen Ende des Jahres das

von Heinz Kühn goutierte Konzept der „Erziehungswissenschaftlichen Universitäten“ fallen-

zulassen und sich für regional gestreute Gesamthochschulen zu entscheiden. So verständ-

lich und nachvollziehbar es natürlich ist, dass die damaligen Praktiker „sich vor Ort über-

gangen fühlten“ (S. 22) – Wer fühlt sich von seinen Dienstherren nicht übergangen? – sollte

doch auch daran erinnert werden, dass gerade die Gesamthochschulerrichtung nicht als ein

Paradebeispiel für etatistischen Machtmissbrauch in Anspruch genommen werden kann.

Die Fokussierung des Blicks auf gewisse hervorstechende Charakteristika der Gesamthoch-

schulkonzeption hat leicht zur Folge, dass die historische Dimension des Unternehmens –

quasi der „Reformgeist an sich“ – übersehen wird. Der Intention nach sollte diese Konzeption

eine Abkehr von dem in den Vorjahren beschrittenen Weg der separierten Reformen (mal für

Volksschüler, mal für Ingenieurschüler, mal für angehende Lehrer) einleiten. Die Integration

des tertiären Bereichs war nicht als isolierte Maßnahme beabsichtigt; sie sollte (nach den

Vorstellungen Evers‘, Raus und Gleichgesinnter) in enge Beziehung zu Reformen des

Sekundarbereichs (Integration von Hauptschulen, Realschulen, Gymnasien, Berufsschulen)

gebracht werden. Gesehen wurde auch – worauf aus den Kultus- und Wissenschaftsressorts

heraus freilich kein Einfluss genommen werden konnte – die Reformbedürftigkeit des Öffent-

lichen Dienstes mit seinem rigiden Berechtigungswesen, Verbeamtungstheater und Besol-

dungsunrecht. Erst eine Humanisierung dieses Bereichs hätte letztendlich auch die Gesamt-

schulen und Gesamthochschulen ihr volles Potential entfalten lassen; doch wäre hierzu ein

gesamtgesellschaftlicher Wertewandel erforderlich gewesen, auf den der im pietistischen

Wuppertal sozialisierte „Bruder Johannes“ vielleicht gehofft haben mag, der sich aber offen-

sichtlich nicht einleiten ließ (und lässt). Dies alles in den Blick gefasst, wird deutlich, was hier

eigentlich gescheitert und nicht einmal über erste Anfänge hinausgelangt war. Darüber kann

auch das Beschwören formaler Übereinstimmungen zwischen damaligen und heutigen Orga-

nisationsdetails nicht hinwegtäuschen. Es mag ja sein, dass konsekutive Studienmodelle,

wie sie in den Reformjahren um 1970 entworfen worden waren, viel Ähnlichkeit mit dem

aktuellen Bachelor-Master-System aufweisen. Solche Formalismen schönzureden, verstellt

aber nur den Blick auf die unterschiedlichen Intentionen hinter beiden Prozessen. Ohne

Zweifel waren auch diejenigen Protagonisten der 1960er/70er Jahre, die es wirklich ernst mit

der Bildungsreform (als Katalysator für erhoffte gesamtgesellschaftliche Reformen) meinten,

„Kinder ihrer Zeit“ und keine Heroen, aber zugestehen kann man ihnen immerhin den guten

Willen, das Ideal der Humanität in die bildungspolitische Sphäre hineinzutragen. Mit der

technokratischen Hochschulglobalisierung, die sich des Namens der ehrwürdigen Bologne-

ser Universität bemächtigte, hat das nun gar nichts zu tun.

(Als kleine Abschweifung sei auf die – einige Jahre vor dem Anstoß des „Bologna-Prozes-

ses“ – anlässlich der 900-Jahr-Feier dort initiierte „Magna Charta der Universitäten“ hinge-

wiesen, ein Bekenntnis abendländischer und außereuropäischer Hochschulen zu den Tradi-

tionen humanitärer Bildung und deren Bewahrung unter den Herausforderungen der Zukunft

– fraglos eine völlig nutzlose Gesinnungserklärung, die nichtsdestotrotz seit 1988 von bislang

insgesamt 752 offensichtlich auch Zweckfreies schätzenden Universitätsrektoren und -präsi-

denten unterzeichnet worden ist, darunter 30 Repräsentanten deutscher Universitäten, alter

wie neuer Gründungen, einschließlich Duisburg/Essen und Paderborn. Siegen ist nicht

dabei, warum auch, will man doch hier die Gesellschaft verwissenschaftlichen und keine

Sentimentalitäten pflegen.)

Wer aus der Perspektive eines der fünf Gründungsstandorte schreibt, wird leicht versucht

sein, eine gewisse regionale Selbstbezogenheit nicht zu hinterfragen. Die legislatorische

Errichtung von Gesamthochschulen in NRW und die Planung einer davon im Siegerland

durch regionale Gremien sind, wie man sagt, zwei Paar Schuhe. Hier zu differenzieren, ist

für das Verständnis des landespolitischen „Regionalisierungsprinzips“ wichtig. Dieses bedeu-

tete eben gerade nicht, die am lautesten rufenden unterversorgten Regionen mit dem

Geschenk einer Hochschule ruhigzustellen. Neue Universitäten sollten, worauf schon Paul

Mikat ein paar Jahre vor 1972 hingewiesen hatte, nicht gebaut werden, „um den Städten

eine Freude zu machen“. Die Bewilligung konkreter Makrostandorte konnte – daran ließ auch

der Wissenschaftsminister nie einen Zweifel – allein das Ergebnis zentral vorgenommener

komplexer Landesplanungen sein, ausgehend von prognostizierten Studierendenzahlen,

Wanderbewegungen, gegenseitigen Beeinflussungen benachbarter Gründungen (z.B.:

Würde eine Gesamthochschule in Paderborn der selbst noch am Aufbaubeginn stehenden

Universität Bielefeld das Wasser abgraben?), sekundären Effekten für den Strukturwandel

und so fort. Keine Überredungkraft hatte die persönliche Meinung von Stadtvätern, ihre

Kommune sei besser als andere für die Ansiedlung einer Hochschule geeignet. Für die

Doppelstadt Siegen/Hüttental und die vier übrigen dann gewählten Kandidaten traf dies,

anders als für die vielen sonstigen Bewerber jener Zeit (insgesamt sollen es um die 40 gewe-

sen sein), in der Tat zu, deshalb bekam das Siegerland eine Gesamthochschule (übrigens

nicht, weil es „calvinistisch“ war und ein Gegengewicht zum katholischen Paderborn herge-

stellt werden sollte, wie sich Manfred Zabel – S. 209 – zu erinnern glaubt). Des Biedenkopf-

Lohmar-Gutachtens hätte es zur Beeinflussung der Landesregierung gar nicht bedurft; es

diente mehr der regionalen Selbstvergewisserung, ob man ein solches Großprojekt auch

„stemmen“ könne. Die für das Ministerium relevante Datenbasis lieferte ein von ihm wohl-

weislich außerhalb der Landesgrenzen in Auftrag gegebenes wissenschaftliches Gutachten

(Arbeitsgruppe Standortforschung an der Universität Hannover).

Mit dem bewussten (natürlich der gewünschten Kompaktheit geschuldeten) Ausblenden des

bildungspolitischen Geschehens vor der Thematisierung des Gesamthochschulmodells wird

in Kauf genommen, dass ein wirklich abgerundetes Bild der Siegerländer Hochschul-

geschichte nicht vermittelt werden kann. Nachdem sich das Land erst einmal grundsätzlich

für den Weg der Regionalisierung entschieden hatte, war die Gründung einer Gesamthoch-

schule im Siegener Raum nahezu unvermeidlich (was den Wert der ihr dargebrachten

regionalen Bemühungen ja nicht schmälert), da sie sich aus längst geschaffenen Voraus-

setzungen ableitete. Es gab in Nordrhein-Westfalen Anfang 1971 genau fünf Kommunen

(wenn man Siegen und Hüttental hier als Einheit sehen will), die 1. selbst oder im nahen

Einzugsbereich über keine Universität verfügten, 2. eine Pädagogische Hochschul-Abteilung

beherbergten, 3. demnächst durch Zusammenschluss mehrerer höherer Fachschulen Sitz

einer Fachhochschule werden sollten und 4. (was Hagen ausschloss) auf Jahre hinaus ein

wachsendes Studierendenaufkommen erwarten ließen. Diese genau fünf Kommunen

wurden nach dem Willen der Landesregierung und natürlich (worüber trotz der anders moti-

vierten Ablehnung des GH-Entwicklungsgesetzes durch die CDU-Opposition parteiüber-

greifender Konsens herrschte) auch des Landtags dafür vorgesehen, die Reformen in NRW

ein Stück weit voranzubringen. Es hätte schwerwiegender Argumente seitens der Städte,

etwa des Fehlens geeigneter Grundstücke bedurft, um sich diesem vom Land gewünschten

Aufbauwerk entziehen zu können. Im Siegerland zum Beispiel wäre ein am Haardter Berg

von frustrierten Häuslebauern angezettelter Bürgerkrieg vermutlich überzeugend genug für

die Aufgabe des Projekts gewesen. Die Entscheidungsspielräume waren für die kommuna-

len Körperschaften und Aktionsgemeinschaften 1971, als in Düsseldorf das Quintett der

Hochschulen neuen Typs zusammengestellt wurde, durchaus bescheiden. Ob sie nun

unbedingt wollten oder nicht, die Fünf hätten dazugehört; glücklicherweise wollten sie es alle.

Die in der Konsequenz entscheidenden Weichen waren zu dieser Zeit längst gestellt worden.

Um die Leistungen der regionalen Reformkräfte angemessen würdigen zu können, müsste

die Gründung der Siegener Gesamthochschule in einem offeneren zeitlichen Rahmen

betrachtet werden. Zum Beispiel hätte es ohne das jahrelange Festhalten am Wunsch nach

sowohl einer Pädagogischen Hochschule als einer Ingenieurschule für Maschinenwesen in

den 1950er/60er Jahren später keine Gesamthochschule gegeben. Ohne die geduldigen und

zeitweise demütigenden Auseinandersetzungen mit gewissen Haubergsgenossen zu Beginn

des Städtebauprogramms am Haardter Berg Anfang der 1960er Jahre hätte die Hüttentaler

Verwaltung weder für die PH noch für die GH Grundstücke anbieten können. In Gummers-

bach hätte das Misslingen des lange verfolgten Ingenieurschulplans (1963 verwirklicht) das

Entstehen einer Einrichtung vereitelt, ohne die vermutlich Siegen nicht Sitz einer Fachhoch-

schule geworden wäre. (Die oberbergische Außenabteilung steuerte mit ca. 1000 Studieren-

den ein Drittel bei. Dass Gummersbach, bis 1983 dazugehörend, in der Festschrift weit-

gehend unerwähnt bleibt, werden die dort tätig gewesenen noch lebenden „Gründer“ sicher-

lich mit Enttäuschung registrieren.)

Gern würde der Rezensent an dieser Stelle zusammenfassend sagen, die 25seitige „Grün-

dungsgeschichte“ werfe mehr Fragen auf, als sie und die nachfolgenden Interviews beant-

worten – gern, weil mit dem Entdecken von Frag-Würdigem die Bildung beginnt. Wenn die

Darstellung solches bewirkt, hat sie womöglich nicht ihren beabsichtigten, wohl aber einen

noch edleren Zweck erfüllt. Jedoch lehrt die Erfahrung, dass der Neugier des literarisch über-

sättigten Publikums durchaus Grenzen gesetzt sind. Wo sich keine unmittelbare Betroffen-

heit einstellt, wird die Lektüre meist folgenlos absolviert und zum nächsten zufällig präsenten

Text übergegangen.

Es ist ja das grundsätzliche Manko jeder Darstellung historischer Abläufe, dass den Empfän-

gern wesentlich mehr Einzelheiten vorenthalten als mitgeteilt werden und die Auswahl nicht

sie selbst frei und im Einklang mit ihren spezifischen Interesse-Nuancen vornehmen, son-

dern der Vermittler nach seinen Kriterien. So entsteht „Geschichte aus zweiter Hand“, welche

je nach dem Grad der „Verwissenschaftlichung“ die Rezipienten entweder gleichgültig lässt

oder ihnen das trügerische Gefühl gibt, etwas verstanden zu haben, ohne dass sie es sich

selbst erarbeiten mussten. Zwischen ihnen und den Zeugnissen der Vergangenheit steht

immer die Subjektivität des Vermittlers (Achtung: Der Rezensent ist auch einer!), sei es als

Filter für faktische Informationen, sei es als Übersetzer von Mannigfaltigkeit in abstrahierte

Lehrsätze. Schreibende Historiker können diesem Dilemma schwerlich entrinnen, aber es

wird sie im besten Fall stets an ihre Verantwortung mahnen: Da es sich nun einmal nicht

vermeiden lässt, die Leser zu manipulieren, sollte man es wenigsten so quellenbasiert wie

möglich tun. Freilich entspricht das zähneknirschend-geduldige Durchforsten von Archiven,

die Kärrnerarbeit, dem dynamischen Naturell mancher Historiker eher wenig. Wer selbst dem

alten Schlachtruf „Ad fontes!“ mit Blut, Schweiß und Tränen Folge zu leisten versucht, wird

auf saloppere Annäherungen an die Historie mit großem Misstrauen blicken, zumal dann

(was aber bei der Festschrift nicht der Fall ist), wenn sich unter dem Mantel der Geschichte

nur „Brot und Spiele“ verbergen.

Doch bevor dies allzusehr in Schwafelei ausartet, wenden wir uns hurtig dem Hauptteil des

Buches zu, den Interviews.

Diese stellen einen gewichtigen Versuch dar, „Oral History“ in die Geschichtsschreibung der

Universität einzubeziehen. Respektabel ist dies allemal, sind doch von Mensch zu Mensch

erzählte Geschichten ein Ferment der historischen Bewusstwerdung. „Oral History“ –

meistens, aber nicht erschöpfend, mit „Geschichte von unten“ assoziiert – ist das Instrument

zur Aufarbeitung der nicht oder zumindest nicht adäquat verschriftlichten Aspekte menschli-

chen Treibens, solange noch Zeitgenossenschaft besteht. Ihr Gegenstand kann das Leben

der sogenannten „kleinen Leute“ sein, die wenig materielles Erinnerungsgut hinterlassen,

aber auch das der „größeren“, wenn etwa mentalitätsgeschichtliche Fragen interessieren. So

wird man über die Befindlichkeiten deutscher Professoren und Fachhochschuldozenten um

1972 in der Tat am meisten erfahren, wenn man sie einfach reden lässt. Vergleichsweise

wenig kann „Oral History“ zur institutionsgeschichtlichen Thematik im engeren Sinne beitra-

gen, abgesehen von stets willkommenen Anekdoten, sofern es den Fragenden gelingt,

solche hervorzulocken. Moderne Institutionen sind durchweg kollektive Schöpfungen und

während des Entstehens auf die Absicherung kommunikativer Prozesse durch Schriftlichkeit

angewiesen. Dem bei Großprojekten überwältigenden Corpus dokumentierter Überlieferung

(die natürlich nicht mit der Sekundärliteratur zu verwechseln ist) wird aus persönlicher, nach

Jahrzehnten ohnehin oft trügerischer Rückschau selten etwas bis dato Unbekanntes aber

Wichtiges hinzufügbar sein. Solche verschütteten Erinnerungen bei Gesprächspartnern dann

durch geschicktes Fragen vielleicht doch freizulegen, setzt eine sehr souveräne Kenntnis

eben jener verschriftlichten Geschehnisse voraus – sowohl um für die offensive Gesprächs-

führung gerüstet zu sein, als auch um das Erinnerte mit dem überlieferten Kontext in die

rechte verifizierte Beziehung bringen zu können.

Damit ist freilich nur gesagt, dass Interviews den durch Aufarbeitung des reichen archivi-

schen Quellenmaterials möglichen Kenntnisstand über die Gesamthochschulerrichtung

heute nicht mehr spektakulär bereichern. Das dürfte aber primär auch gar nicht die Moti-

vation der Befragungen gewesen sein. Man könnte sie im Anklang an den ein wenig peinli-

chen Slogan der Siegener Universität „Zukunft menschlich gestalten“ (Die Gegenwart dem-

nach nicht???) unter das Motto stellen „Das Menschliche in der Vergangenheit verstehen“.

Dies ist nicht ganz so trivial, wie es klingt. Obwohl natürlich erkundende Gespräche zunächst

darauf hinzielen sollten, konkrete, in der jüngeren Vergangenheit wirkende oder sogar etwas

gründende Persönlichkeiten zu verstehen, kann dies nicht die letzte Erfüllung von „Oral

History“ sein. Die menschliche Gesellschaft war und ist kein wissenschaftlich organisiertes

Laboratorium und Geschichte weder Versuchsprotokoll noch daraus abgeleitete Theorie.

Geschichte kann sich ebenso wenig im Sammeln und Sortieren protokollierter Fakten (der

„Quellen“ im weitesten Sinne, schriftlicher wie mündlicher) erschöpfen, wie sie sich von

Theorieentwürfen reglementieren lassen darf. Die gegenwärtige Gesellschaft, in der gefragt

wird, ist qualitativ nichts anderes, als die vergangene Gesellschaft, aus der die Antworten

erhofft werden: eine Bühne für das aktive Handeln und passive Behandelt-Werden von

Menschen (die „Taten und Leiden“, wie es Goethe nannte) in der Spannung zwischen indivi-

dueller Behauptung und kollektiver Vereinnahmung. Die konventionelle Frage „Wie ist etwas

objektiv gewesen?“ führt noch nicht über die virtuelle Grenze der Zeit hinaus, obgleich sie

sehr komplexe Glasperlenspiele anregen kann. Existentielle Bedeutung für Menschen in der

Gegenwart erlangt Geschichtserkenntnis erst, wenn sie die menschlichen Irrungen und

Wirrungen in der Vergangenheit verstehen hilft. Dann könnte aus der Geschichte vielleicht (!)

sogar gelernt werden. Soweit das Ideal.

Wer die gedruckten Interviews liest, wird sich bewusst sein, dass es Nachschriften sind;

solche können nicht die Lebendigkeit leibhafter Gespräche abbilden, wie es Filmaufnahmen

möglich ist. (Die Mitschnitte werden voraussichtlich später auf DVD veröffentlicht.) Leider

fehlen im Buch Auskünfte über den Charakter der sicherlich stattgefundenen redaktionellen

Bearbeitung. Sind die Niederschriften gekürzt, sind sie geglättet? Geben sie die spontanen

Redebeiträge wieder oder nachträglich autorisierte Versionen? Wurden noch mehr Inter-

views als die 18 transkribierten geführt und wenn ja, nach welchen Kriterien erfolgte die

Endauswahl? Das Fehlen von Hintergrundinformationen macht es schwer, die Kollektion

gerecht zu beurteilen. Den Lesern wird ja kaum eine gewisse Unausgewogenheit entgehen,

die sich vielleicht versehentlich ergeben hat, womöglich aber auch durch Sachzwänge

bedingt war. Ohne Frage wäre es gar nicht möglich gewesen, jeden voraussichtlich inter-

essanten Gesprächspartner einzubeziehen. Auch 18 solcher Befragungen, zum Teil mit

Reisen verbunden, haben zweifellos mehr Mühe und Aufwand erfordert, als viele einsiedle-

risch über Akten brütende Historiker (oder Rezensenten) zu investieren bereit gewesen

wären. Die eine oder andere Persönlichkeit, von der zu vermuten ist, dass sie eigentlich

interviewt werden sollte, hat dies nicht mehr erlebt, weil sie im Laufe der letzten drei Jahre

verstorben ist. Es könnte gelegentlich auch persönliche Gründe gegeben haben, für ein

Gespräch nicht zur Verfügung zu stehen. Über die Auswahl mag man sich also wundern,

sollte jedoch nicht zu viel hineininterpretieren.

Natürlich fällt auf, dass nur eine einzige Frau zu Wort kommt, welche zugleich auch noch die

einzige Vertreterin des nichtwissenschaftlichen Gesamthochschulpersonals ist. Frauen an

den Herd oder allenfalls an die Schreibmaschine? Solcher Gesinnung sind die Autoren nun

wirklich nicht zu verdächtigen! Wie immer diese Diskrepanz (Altrektor Rimbach hätte tadeln-

de Worte gefunden) verursacht sein mag, illustriert sie jedenfalls treffend die Situation zur

Gründungszeit der Gesamthochschule. Nicht einmal 5 % der 1972/73 in Siegen tätigen

Hochschullehrer waren Frauen; deren Domäne bildete der Verwaltungsbereich, vor allem der

Schreibdienst, denn Leitungsposten waren natürlich ausnahmslos maskulin besetzt.

Die Wahl der Gesprächspartner (1 Rektor, 2 Kanzler, 1 Landrat, 1 IHK-Präsident, 2 hohe

Ministerialbeamte, daneben etliche Professoren) könnte den Eindruck einer ausgeprägten

Herrschaftsfreundlichkeit seitens der Festschriftautoren erwecken, was aber sicherlich ein

Fehlurteil wäre, würde man doch bei Frau Hering und Herrn Schilde anhand ihrer Lebens-

läufe ein eher gemäßigt „linkes“ Selbstverständnis vermuten. Gleichwohl kommt natürlich die

Tatsache zu kurz, dass die Gründungszeit der Gesamthochschule noch mehr umfasste als

höchst anspruchsvolle wissenschaftliche Unternehmungen. Die Belastungen dürften in den

von Bauarbeiten und Umzügen begleiteten Anfangsjahren für die Mitarbeiter aus Technik

und Verwaltung besonders groß gewesen sein und ihre Verdienste um das Aufbauwerk,

soweit sie sich an individuellem Engagement messen lassen, nicht minder respektabel als

die des wissenschaftlichen Personals. Es kann bezweifelt werden, ob dieser Gruppe die

Befragung einer einzelnen „Alibi-Sekretärin“ das Gefühl gibt, an der Festtafel willkommen zu

sein.

Freuen darf man sich mit den Autoren darüber, dass es ihnen gelungen ist, Dietrich Küchen-

hoff und Hans Engel, seinerzeit Gruppenleiter und Regionalreferent im Wissenschaftsmini-

sterium, als Zeitzeugen zu gewinnen: Man spricht ja oft leichthin abfällig von der „Ministerial-

bürokratie“ und verbindet damit vielleicht die regelmäßig wiederkehrenden Signaturen unter

amtlichen Schriftstücken. Durch den Auftritt der beiden sympathischen älteren Herren wird

man daran erinnert, dass auch hinter den Düsseldorfer Bürotüren ganz normale Menschen

ihrem Tageswerk nachgingen.

Auf einen aus seiner Sicht schwerwiegenden Mangel hinzuweisen, bleibt dem Rezensenten

nicht erspart. Die integrierten Gesamthochschulen sollten drei Kategorien tertiärer Bildungs-

einrichtungen zu neuen Einheiten verschmelzen. Wenn in der Siegener Rückschau nur zwei

Dritteln des Trios Beachtung geschenkt wird, ergibt sich ein sehr unvollständiges, wenn nicht

verzerrtes Bild der Gründung und hat dies zur Folge, dass sich eine wichtige Gruppe der

Gründer brüskiert fühlen muss. Ohne die Existenz und Bewährung der Pädagogischen

Hochschule wäre im Siegerland keine Gesamthochschule entstanden. Dass ihre Integration

nicht reibungslos ablaufen würde, dürfte damals niemanden überrascht haben: Die Vertreter

der PH kamen gewissermaßen zwischen den Stühlen der übergeleiteten Fachhochschul-

dozenten, die für sie eine eher fremde Welt repräsentierten, und der berufenen Universitäts-

professoren, von denen sie sich nicht recht ernstgenommen fühlten, zu sitzen. In einem

Rückblick auf die Gründung und die Gründer hätten sie, neben den beiden anderen

Personengruppen, nicht fehlen dürfen. Wenn sie womöglich auch als ein etwas komplizierter

Partner im Dreiergespann wahrgenommen wurden (wie es z.B. im Gespräch mit Berthold

Stötzel anklingt), wäre es nur recht und billig gewesen, an das von ihnen eingebrachte

Positive zu erinnern. Die Lehrerausbildung war ein Standbein der Gesamthochschule, und

an ihrem wohl guten Ruf hatten sicherlich die den Paradigmen der PH verpflichteten

Kollegen einen besonderen Anteil. Welche Konflikte gab es zwischen den von klassischen

philosophischen Fakultäten nach Siegen berufenen Hochschullehrern und den im gleichen

Fach arbeitenden PH-Professoren mit ihrem mehr lebensnah-didaktischen Ansatz? Trifft es

zu, dass die Universitätsleitung auch noch Jahrzehnte später lieber an Traditionen wie die

der Wiesenbauschule erinnert werden möchte als an die der PH? Wie viel von der Pädagogi-

schen Hochschule Westfalen-Lippe, Abteilung Siegerland, wirkt heute noch in der Universität

Siegen nach, was hat sich nicht durchgesetzt oder ist mit „Bologna“ verschwunden? Was

ließe sich nach den Erfahrungen von 8 + 40 Jahren – mit erweitertem Blick auf die preußi-

schen Reformen der Lehrerausbildung um 1926, ohne die das Phänomen „Pädagogische

Hochschule“ kaum zu verstehen ist, den künftigen Siegener Pädagogen mit auf den Weg

geben? Aus der Festschrift ist all dies nicht zu ersehen, und das betrübt den Rezensenten

ebenso, wie es manchen Leser enttäuschen wird.

Freundliche Neugier und ein vorgefertigter Katalog recht allgemein gehaltener Fragen genü-

gen noch nicht, um jedes Interview mit dem bestmöglichen Ergebnis abzuschließen. Eine

denkbare Alternative zu netten solitären Plaudereien wäre gewesen, jeweils zwei oder drei in

ihren Ansichten vermutlich divergierende Zeitzeugen zu behutsam moderierten Streitgesprä-

chen einzuladen. Natürlich hängt der Ertrag eines Interviews auch immer von Temperament

und Erfahrungshintergrund des Befragten ab, so wie der Aussagewert für den Leser in

gewissem Maße durch persönliche Faktoren wie Sympathie oder nähere Bekanntschaft

beeinflusst wird. Deshalb soll hier gar nicht erst versucht werden, die einzelnen Beiträge zu

charakterisieren.

Das menschliche Gedächtnis hat bekanntlich seine Tücken, und es wäre sehr erstaunlich,

bei dem insgesamt so umfangreichen Rückblick auf vor mehreren Jahrzehnten erlebte

Geschehnisse nicht die eine oder andere faktische Ungereimtheit zu entdecken. Durch noch

sorgfältigere Endredaktion hätte gewiss vermieden werden können, manches Irreführende

an die Öffentlichkeit weiterzugeben. Wenn etwa die Chronologie durcheinander gerät (z.B. S.

208), sollte das für gut vorbereitete Bearbeiter leicht erkennbar sein; wenn sich in der

Erinnerung Tatsache und Wunschbild unglücklich vermischt haben (S. 182), hätte man das

durch einen Blick in die alten Protokolle unschwer aufklären können. Aber es muss jetzt nicht

argwöhnisch nach Haaren in der Festtagssuppe geforscht und jedes Versehen oberlehrer-

haft zur Sprache gebracht werden. Die Interviews sind keine Examen. Wer sie liest, wird den

Befragten das gleiche zugestehen, was er im Zeugenstand für sich selbst beanspruchen

würde, nämlich dass Irren menschlich ist.

Vorhin ist von den Interviews als einem „Versuch“ die Rede gewesen, und das war nicht

despektierlich gemeint. Geschichte als bewusstes Nachzeichnen von Geschehenem ist ein

stetiger Prozess, nichts innerhalb von drei Jahren oder der Lebensspanne von Personen

Abzuschließendes. Sie hat Werkstattcharakter. Der einzelne Beiträger kann – auch wenn er

für sich selbst nach Vollendung streben mag – letztendlich doch nur „Versuche“ unterneh-

men und darauf hoffen, dass sich irgendwo in der großen Werkstatt Kollegen zur Weiterfüh-

rung des Begonnenen angeregt fühlen werden.

Zu den Anhängen: Das „Personenglossar“ (S. 215-250), eine anerkennenswerte Fleißarbeit,

bringt Biogramme der Interviewpartner und zahlreicher weiterer im Kontext mehr oder minder

relevanter Persönlichkeiten. Manche, die eher als andere dazugehören würden, fehlen – was

sich natürlich leicht monieren lässt, wenn man selbst von der sich irgendwann unweigerlich

einstellenden „Betriebsblindheit“ nicht betroffen war. (Was würden Freud und die Gleich-

stellungsbeauftragte dazu sagen, dass sämtliche männliche Rektoren von Woll bis Burckhart

aufgenommen wurden, nicht aber Frau Hantos? Ekkehard Birnstiel, den letzten Leiter der

Höheren Wirtschaftsfachschule, hätte man nicht vergessen sollen, zumal der alte Herr das

Buch wahrscheinlich noch in die Hand bekommen wird. Auf die „PH-Abstinenz“ ist oben

schon eingegangen worden.)

Die Erstellung des 20seitigen Literaturverzeichnisses („zur Geschichte des Gesamthoch-

schulmodells / Universität Siegen“) dürfte, wie es solche Hilfsmittel nun einmal erfordern,

dem Kompilator einige Mühe abverlangt haben – für die er keinen angemessenen Dank

ernten wird: Lesern, die einen eher feuilletonistischen Zugang zur Thematik suchen, muss

das Verzeichnis überfrachtet erscheinen; zur Vorbereitung systematischer Recherchen

würde man auf umfänglichere Bibliografien zurückgreifen.

Ein paar Worte noch zu Äußerlichkeiten, denn das Auge isst bekanntlich mit – besonders

dann, wenn leicht verdauliche Speisen serviert werden, bei denen scharfe Zähne und

ätzende Magensäure nicht viel zu tun bekommen.

Die ebenso schlichte wie geschmackvolle Aufmachung und die handwerklich solide Herstel-

lung des Bandes verdienen hervorgehoben zu werden; sie entsprechen dem Anlass des Ent-

stehens. Als für alternde Knaben wie ihn gerade noch zumutbar empfand der Rezensent die

Schriftgröße – ein Ärgernis dürfte sie aber für die im achten oder neunten Lebensjahrzehnt

stehenden Leser sein, denen als Angehörigen der Gründergeneration das Buch ja auf den

Gabentisch gelegt worden ist. Die bildliche Ausstattung wurde – hoffentlich nicht mit Rück-

sicht auf das calvinistische Erbe des Verlagsortes – sehr karg gehalten; außer kleinen

Porträts der Interviewten mit dem Charme von Passbildern gibt es nichts. Eine Festschrift

aber, in der nur gelesen werden kann, ist wie ein Fest, bei dem nur geredet wird. Wäre nicht

der eine oder andere Gesprächspartner bereit gewesen, seine alten Fotoalben zu öffnen?

„Die Gründung und die Gründer“ ist ein Buch, das – Welch eine Binsenweisheit! – unter der

Hand anderer Autoren und Redakteure anders ausgefallen wäre. „Anders“ könnte heißen:

dieses oder jenes Detail prononcierter auszuarbeiten, bei mancher Ansicht die Perspektive

des Frosches gegen die des Vogels zu tauschen oder umgekehrt, hier und dort die glatte

Oberfläche aufzurauhen, den einen oder anderen Nebenschauplatz zu erkunden ... –

„anders“ heißt nicht zwangsläufig: als Ganzes besser.

Das Buch wendet sich zunächst einmal an die im Titel genannte Zielgruppe. Wer zu den

„Gründern“ gehörte, wird seine eigenen Erfahrungen sicherlich – ob schwarz auf weiß oder

zwischen den Zeilen – reflektiert finden, wird sich in seiner Empfindung, Profiteur oder

Verlierer gewesen zu sein, bestätigt fühlen. Die Aufmerksamkeit dieses überschaubaren, von

Jahr zu Jahr mehr schwindenden Publikums ist der Festschrift zu recht sicher. Die außerhalb

der Festgemeinde stehenden Interessenten sollten sich klarmachen, was diese Veröffent-

lichung nicht sein will und deshalb auch nicht ist: weder eine sensationslüsterne Enthüllungs-

story noch eine historische Dokumentation, wie sie Universitäten nach mehrhundertjährigem

Bestehen herauszugeben pflegen. Alles in allem ist es ein anständiges Buch geworden, das

mit anständigen Worten auf seinen Weg zu den Lesern geschickt werden kann.

Damit sei es geschlossen und das Auge noch für einen Moment am Einband erquickt,

dessen Farbgebung natürlich, wer würde daran zweifeln, der schönen blauen Sieg ebenso

wie dem ewig strahlenden Himmel über der Universität nachempfunden ist.

Peter Kunzmann