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Schon als kleiner Junge f rchtete sich Joseph vor …...Schon als kleiner Junge f rchtete sich Joseph vor dem unheimlichen Mann, der ruhelos durch die Stadt rann-te. Inzwischen ist

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Schon als kleiner Junge fürchtete sich Joseph vor demunheimlichen Mann, der ruhelos durch die Stadt rann-te. Inzwischen ist Joseph älter. Schon lange hat er nichtmehr vom Running Man geträumt. Doch plötzlichgeht es wieder los. Ob das mit seiner neuen Verbindungzum Nachbarhaus zu tun hat? Dort lebt die freundlicheMiss Leyton mit ihrem älteren Bruder Tom, der sich seitJahren völlig von der Außenwelt zurückgezogen hat.Dunkle Gerüchte ranken sich um ihn. Joseph ist erschro-cken und neugierig zugleich, als er Tom kennenlernt.Es entwickelt sich eine spröde Freundschaft zwischendem wortkargen Jugendlichen und dem gebrochenenMann, der scheinbar keine Gefühle mehr kennt. Nachund nach erfährt Joseph Toms Geschichte. Das Spre-chen fällt nicht leicht. Doch es verändert sie beide.

Michael Gerard Bauer, geboren 1955 in Brisbane (Aus-tralien), studierte an der dortigen Queensland-Univer-sität Literatur, Wirtschaftswissenschaften und Pädago-gik. Nach dem Studium arbeitete er viele Jahre alsEnglisch- und Wirtschaftslehrer. Sein Debüt ›RunningMan‹ erhielt auf Anhieb zahlreiche Kritikerpreise, unteranderem als Book of the Year des Children’s Book Coun-cil of Australia. Running Man war nominiert für denDeutschen Jugendliteraturpreis und wurde mit demKatholischen Kinder- und Jugendbuchpreis 2008 aus-gezeichnet.

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Michael Gerard Bauer

RunningMAN

Roman

Aus dem Englischen vonBirgitt Kollmann

Deutscher Taschenbuch Verlag

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Was vor uns liegt und was hinter uns liegt, sindKleinigkeiten im Vergleich zu dem, was in uns liegt.Und wenn wir das, was in uns liegt, in die Welt tragen,geschehen Wunder.

Henry David Thoreau

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Ein Leben lang in Schachteln

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Joseph richtete seinen Blick fest auf den Sarg und musstean Seidenraupen denken. Stumm und starr wie ein Ko-kon stand die honigfarbene Holzkiste vor ihm, undeinen Moment lang befand sich Joseph in einer anderenZeit, an einem anderen Ort. Er kämpfte darum, das Bildin seinem Kopf festzuhalten, aber jeder Laut, der an seinOhr drang – ein Murmeln, ein Räuspern oder das scharfeEcho eines Schuhs, der ungeschickt gegen eine der har-ten Kniebänke stieß –, erinnerte ihn daran, wo er war,und gleich regten sich wieder schmerzliche Gefühle vonReue und Verlust in ihm. Es ist meine Schuld, dachteJoseph, und die Worte trafen ihn mitten ins Herz.

Hinter ihm kroch das Pfeifen der Orgel in sämtlicheWinkel der Judaskirche und hing in der Luft wie Kum-mer. Joseph war nicht zum ersten Mal auf einer Beerdi-gung, aber wenn man in der vordersten Kirchenbanksaß, war es etwas anderes. Bisher war er einfach einervon vielen unruhigen Schuljungen gewesen, die sich ander Straße aufgereiht hatten für jemanden, an dessenGesicht er sich später nur mit Mühe erinnerte. Dochjetzt stand er im Mittelpunkt eines Geschehens, das ihnumfasste und festhielt wie eine unerwünschte, unerbitt-liche Umarmung.

Er ließ den Kopf sinken, und seine Mutter berührtesanft sein Knie. Joseph legte seine Hand auf ihre und

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zwang sich zu einem matten Lächeln. Dann richtete erseinen Blick wieder auf den Sarg, schloss die Augen undließ sich in die Dunkelheit fallen.

Warum war alles so gekommen? Wenn er es schaffte,an einen bestimmten Ausgangspunkt zurückzukehrenund jeden darauf folgenden Moment nachzuzeichnen,bis er schließlich wieder an diesem Tag, an diesem Ort,an diesem Platz in der Kirchenbank anlangte – würde erdann irgendeine Bedeutung, irgendeinen Sinn in alldemfinden können? Womit hatte alles angefangen? Es schienunmöglich, den exakten Moment zu erkennen, in demetwas begann. Ein Ende ließ sich viel leichter bestim-men. Ein Ende war fest umrissen. Wenn etwas endete,gab es eindeutige Anzeichen dafür. Dinge hörten auf.Menschen gingen fort. Jemand starb. Anfänge hinge-gen waren wie Schatten und Nebel, sie schmolzen undlösten sich auf in allem, was sie umgab.

Während er angestrengt nach einem Ausgangspunktsuchte, landeten seine Gedanken gleich wieder bei denSeidenraupen. Das passierte häufig in letzter Zeit, Jo-seph konnte nichts dagegen tun. Manchmal wusste ernicht einmal, wieso sich die Seidenraupen plötzlich inseine Gedanken drängten, er sah die Verbindung nichtzwischen diesen einfachen Wesen und dem, was um ihnherum geschah. Dieses Mal jedoch sah er sie. Sein Ver-such, die Fäden der Vergangenheit zu entwirren, glichdem Ablösen der Seide von den Kokons der Seiden-raupen.

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Um die Seide zu spinnen, muss man die lose außen amKokon hängenden Fäden fest zwischen Daumen undZeigefinger fassen und behutsam in eine Richtungzwirbeln. Wenn dann der harte Teil des Kokons an die-sen Fäden baumelt, schüttelt man einfach sanft, dieSeide löst sich, und nur ein einziger Strang bleibt übrig.Danach muss man nur noch den Kokon an diesemStrang etwas rütteln, bis er sich mehrmals um sich selbstdreht und abfällt.

Genau danach suchte Joseph jetzt – nach dem einenzarten Faden, an dem er sich entlanghangeln konnte.Während er sich stark konzentrierte, um seine Gedan-ken zu klären, wurden sie schärfer und deutlicher, bisam Ende nur die stärksten Bilder übrig blieben. Zudiesen gehörten die Gesichter von drei Männern – dreiMännern, die einander nie begegnet waren und derenLeben, jedes für sich, inzwischen doch mit JosephsLeben auf eine Weise verflochten waren, wie er es sichnie hätte vorstellen können.

Er sah das Gesicht seines Vaters bei ihrem letztenZusammensein: bestürzt, verletzt, zornig. Dann sah erTom Leytons Gesicht: stumm wie ein Stein, verborgenin der Tiefe seines dämmrigen Zimmers. Und schließ-lich das Gesicht des Running Man, in dessen Augen einverzweifeltes Feuer brannte. Immer schon war er da ge-wesen,derRunningMan– immer diese Phantomgestaltirgendwo in der Ferne, die mit schleppendem Schrittunerbittlich näher kam.

Joseph blickte wieder starr auf den Sarg, und nach

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und nach fielen die letzten losen Fäden seiner Erinne-rung ab, bis nur noch ein einziges Bild vor seinen Au-gen stehen blieb. Es war das Bild, das er jede Nacht vonseinem Schlafzimmerfenster aus sah, das alte Holzhausseiner Nachbarn, der Leytons. Auf seinen schwarzenPfählen hockte es da wie ein hochbeiniges, im Schattenlauerndes Tier.

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Seit über sechzig Jahren schon bewohnte die FamilieLeyton das große Haus an der Ecke Arthur Street undAshgrove Avenue, doch »die alten Leytons«, wie sie inder Nachbarschaft noch immer genannt wurden, warenbereits seit vielen Jahren tot, als Joseph und seine Elternin das Nachbarhaus einzogen. Schon bald waren dieDavidsons über die Geschichte des Viertels komplettim Bilde, dafür sorgte Mrs Mossop von gegenüber. Esgeschah kaum etwas in der Nachbarschaft, wovon sienichts wusste.

Joseph war erst fünf, als seine Familie in das HausNummer drei in der Arthur Street einzog, aber erkonnte sich noch gut daran erinnern, wie Mrs Mossopan jenem Tag »nur kurz auf ein Schwätzchen vorbei-schaute«. Es war der erste von vielen Besuchen dieserArt. Als er älter wurde, bemerkte Joseph, wie seine Mut-ter leicht in sich zusammenzusinken schien, wenn dieTürglocke läutete und eine muntere Stimme trällerte:»Ich bin’s nur, Laura.«

Schon bald stellte sich heraus, dass die Leytons zuGeraldine Mossops Lieblingsthemen gehörten, und imLaufe der Jahre schnappte er so einiges von der Ge-schichte dieser Familie auf, was sich dann in seinemKopf festsetzte. Er wusste, dass der alte Mr Leyton Rich-ter gewesen war und dass seine Frau (um einiges jünger

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als ihr Mann, wie Mrs Mossop stets mit hochgezogenenAugenbrauen betonte) in der öffentlichen Bibliothekgearbeitet hatte. Er wusste, dass die beiden nur zweiKinder gehabt hatten – einen Sohn namens Tom undeine jüngere Tochter, Caroline. Und er hatte auch ver-standen, dass die Leytons eine glückliche Familie undallgemein beliebt gewesen waren, weswegen »die furcht-bare Tragödie«, wie Mrs Mossop das Ereignis immerumschrieb, die ganze Nachbarschaft so schwer getroffenhatte.

Diese furchtbare Tragödie war ein Autounfall, bei dembeide Eltern ums Leben kamen. Damals hatte Carolinenoch zu Hause gelebt. Sie studierte Journalismus undhatte bereits eine Anstellung bei einer Zeitung gefun-den. Zwei Wochen vor dem Tod ihrer Eltern hatte Ca-roline ihre Verlobung bekannt gegeben. Mrs Mossopzufolge hatte ihr »die Welt zu Füßen gelegen«. DochJoseph wusste, dass Caroline nie geheiratet hatte. Siearbeitete in einer örtlichen Drogerie und lebte alleinmit ihrem Bruder Tom im Elternhaus.

Wirklich geheimnisvoll war dagegen Tom Leyton.Von ihm wusste Joseph mit Sicherheit nur so viel zusagen, als dass er einige Zeit nach der Beisetzung derEltern nach Hause zurückgekehrt war und sich seit nunschon etlichen Jahren verborgen hielt. Carolines Bru-der wurde zu einem Rätsel, das den Menschen keineRuhe ließ, und schnell verbreiteten sich Gerüchte. DieKinder in der Nachbarschaft erzählten Joseph grausigeGeschichten, in denen es um Entstellung und Wahn-

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sinn ging, aber auch weitaus finsterere Dinge, die nurhämisch flüsternd weitergegeben werden konnten. Wasimmer die Wahrheit gewesen sein mochte, sie ging baldein, wie eine zarte Blume inmitten giftiger Gräser.

Auch wenn Joseph die grausamen Geschichten, dieer hörte, nicht wirklich glaubte, so konnte er sich dochebenso wenig wie alle anderen dem Geheimnis um denrätselhaften Nachbarn entziehen. Natürlich war nur sel-ten ein Blick zu erhaschen: mal eine flüchtige Gestalt,die an einem offenen Fenster vorbeiging oder, an an-deren Tagen, eine geduckte, an einen festgenommenenStraftäter erinnernde Gestalt auf dem Beifahrersitz vonCarolines Auto. Der einzige Eindruck, der von solchflüchtigen Blicken zurückblieb, war der eines großen,recht kräftigen Mannes, dessen Gesicht sich hinterdichtem Kopf- und Barthaar verbarg.

Mrs Mossop schien ihre eigene Meinung zu TomLeyton zu haben. Sie nannte ihn nie anders als »dieserMensch«, »dieser Bruder von Caroline« oder auch »dervon nebenan«. Wenn Joseph dabei war, sprach sie je-doch nie offen über Tom Leyton, so als wäre er ein un-passendes Thema für einen Jungen.

Mit der Zeit wurde Tom Leyton für Joseph ein ak-zeptierter Unbekannter, ähnlich dem dunklen Innereneines Hauses, an dem man täglich vorbeikam, das manaber nie betrat.

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Anfang September, drei Monate bevor er sich in der ers-ten Reihe der Judaskirche wiederfand, geschah es, dassJoseph Tom Leytons Welt etwas näherkam. Es war einSamstagmorgen, und Joseph war soeben mit Rasenmä-hen fertig, als er hörte, wie jemand seinen Namen rief.Er schaute auf und sah Caroline am Zaun stehen.

»Ganze Arbeit«, sagte sie mit einem Lächeln.»Danke.«»Hör mal, ich weiß ja nicht, ob du interessiert wärst,

aber der Mann, der sich immer um unseren Garten ge-kümmert hat, ist in Ruhestand gegangen, und jetzt mussich jemand Neuen suchen. Würdest du dir gern einbisschen Taschengeld dazuverdienen? Üblich sind hiervierzig Dollar. Und was zu trinken würde ich auch nochspendieren.«

Joseph nickte. Es schien ihm eine Menge Geld. »Ja,hört sich gut an.«

»Prima, aber sprich erst mit deiner Mum und gibmir dann Bescheid. Wenn sie einverstanden ist, könn-test du dir gleich nächstes Wochenende unseren Rasenvornehmen.«

Joseph stellte den Rasenmäher unter das Vordach desHauses und ging die Treppe hinauf, um nach seinerMutter zu suchen. Sie saß am Küchentisch. Ihr gegen-über saß Mrs Mossop.

»Hallo, Joseph.«»Oh … Hallo, Mrs Mossop.«»Alles fertig?«, fragte seine Mutter.»Ja, und Mum – Caroline Leyton hat mich gefragt,

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ob ich nächstes Wochenende ihren Rasen mähen will,für vierzig Kröten. Wär das okay?«

Mrs Mossop wandte Joseph jäh den Kopf zu.»Doch, ja, warum nicht? Solange es dir Spaß macht.

Es ist ein großer Garten. Vierzig Dollar? Aber glaubnicht, dass du von mir deshalb auch so viel bekommst.«

»Keine Sorge. Danke, Mum.«»Schon gut. Und jetzt verschwinde mit deinen

Dreckschuhen von meinem sauberen Fußboden, sonstkassiere ich demnächst noch Miete von dir.«

Joseph setzte sich auf die Treppe an der Tür zumGarten und fing an, seine Schnürsenkel aufzuknoten.Im Hintergrund konnte er seine Mutter und Mrs Mos-sop reden hören.

Auf einmal erhob sich Mrs Mossops Stimme überdem bis dahin so gleichmäßigen Gemurmel. »… pureDummheit, bei so einem Menschen.« Sie konnte nurTom Leyton meinen.

Joseph schlich die Treppe hinauf und lauschte. AlsNächstes hörte er die Stimme seiner Mutter. »Er solldoch nur den Rasen mähen, Geraldine. Ich glaube, jetztübertreibst du ein bisschen.«

»So, tu ich das? Also, ich wohne hier seit zweiund-fünfzig Jahren, es könnte also sein, dass ich über man-che Dinge ein bisschen mehr weiß als du.«

Dieses Mal klang seine Mutter wie jemand, der einaufgeregtes Kind zu beruhigen versucht. »Schau mal,ich weiß es wirklich zu schätzen, dass du dir Gedankenmachst. Und ich weiß auch, dass Tom Leytons Beneh-

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men gelinde gesagt merkwürdig ist, aber andererseits –wenn jemand auf diese Weise gleich beide Eltern ver-liert, das muss doch grauenvoll gewesen sein. Und hastdu mir nicht auch erzählt, dass er in Vietnam verwundetwurde? Was weiß ich – vielleicht hat er einfach genugvon der Welt gesehen. Vielleicht versteckt er sich des-wegen im Haus. Und wer will es ihm verdenken, nachallem, was er durchgemacht hat?«

»Sie waren auch Carolines Eltern, Laura, und sie ver-barrikadiert sich doch auch nicht im Haus, oder? Nein.Sie hat den schrecklichen Unfall und die Beisetzungdurchgestanden. Er dagegen hat gar nichts gemacht –ist für den einen Tag kurz erschienen, um dann gleichwieder zu verschwinden, weiß Gott, wohin. Und dann,als Caroline gerade dabei war, ihr Leben wieder in denGriff zu kriegen, da tauchte er auf einmal auf und bliebendgültig. Seitdem kümmert sie sich um ihn. Schirmtihn ab. Sorgt dafür, dass er keine Probleme macht. Alldiese Jahre. Und was ist dabei aus ihr geworden? Schausie dir doch an – nichts ist ihr geblieben. Ihre Karriere,ihr Verlobter, ihre Zukunft – alles weg.«

»Aber was hat das damit zu tun, dass Joseph ihrenRasen mähen will?«

»Die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Ich hab dirdoch erzählt, dass er Lehrer war, ihr Bruder. Irgendwoim Süden soll er unterrichtet haben, hab ich gehört.Aber nur ganz kurz, dann musste er aus irgendeinemGrund von jetzt auf gleich aufhören. Dann taucht erhier auf, verschwindet im Haus – und traut sich nicht

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mehr, sein Gesicht zu zeigen. Wieso sollte er das tun,wenn er nicht mehr zu verstecken hätte als nur sichselbst?«

»Aber du weißt doch nichts Genaues. Es kann ebensogut alles völlig harmlos sein.«

»Und wieso weigert sich Caroline dann, über ihn zusprechen? Wenn alles so harmlos ist, wieso tut sie dannso, als gäbe es ihren Bruder gar nicht? Kein Wort kriegtman aus ihr raus. Sie macht einfach dicht.«

Joseph spürte die Enttäuschung und den Ärger inMrs Mossops Stimme. Sie schien es als persönlicheKränkung zu empfinden, dass Caroline Geheimnissehaben könnte, die sie mit niemandem teilen wollte.

»Selbst wenn es wahr sein sollte«, beharrte JosephsMutter, »und Tom Leyton hätte … hätte etwas getan,so wird Joseph doch die ganze Zeit im Garten sein undgar nicht in seiner Nähe. Und auf jeden Fall ist Carolineimmer dabei, und ich habe volles Vertrauen zu ihr.«

»Aber wie kannst du das? Caroline Leyton liebt ihrenBruder. Sie ist vermutlich so ein Mensch wie du undwill immer nur das Beste in jedem sehen. Aber Laura –was, wenn das Schlimmste wahr ist?«

»Ich weiß nicht. Es scheint mir nur falsch, ihn einfachzu verurteilen, ohne dass wir irgendetwas mit Sicher-heit wissen.«

»Falsch? Ich will dir sagen, was falsch ist: Wenn dudeinen vierzehnjährigen Sohn auch nur in die Nähe die-ses Menschen lässt. Aber du bist ja für vernünftige Ar-gumente nicht zugänglich …«

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»Geraldine, wirklich … er kommt schon zurecht, be-stimmt.«

Es gab ein kurzes Schweigen, dann sprach Mrs Mos-sop, diesmal mit strengem Tonfall: »Ich kann es nurhoffen, Laura, ich glaube nämlich, Tom Leyton ist eingefährlicher Mann, ein kranker Mann, und er wird dei-nen Sohn beobachten.«

Joseph hörte Stühlerücken und beeilte sich, dieTreppe wieder hinunterzukommen. Gerade zog er sichdie Schuhe aus, als er hinter sich Schritte hörte.

»Wiedersehen, Mrs Mossop.«Geraldine Mossop sah Joseph ins Gesicht, als sie an

ihm vorbeiging, und warf ihm einen besorgten Blick zu.Sie zögerte kurz, so als wollte sie etwas sagen, dochdann nickte sie nur und lächelte grimmig, bevor sie eiligdie Einfahrt hinunterlief.

Mrs Mossops letzte Worte vor ihrem Aufbruch klan-gen Joseph noch im Ohr, als er am kommenden Sams-tag den Rasen mähte, und so warf er von Zeit zu Zeitbesorgte Blicke zum Haus hinüber. Von Tom Leytonwar nichts zu sehen. Erst später, als Joseph mit Caro-line unter dem Vordach saß, wo der Boden asphaltiertund kühl war, verriet das Knarren von Dielen über ih-nen die Anwesenheit eines anderen Menschen ganz inder Nähe. Doch sowohl Joseph als auch Caroline zo-gen es vor, diese Anwesenheit nicht zur Kenntnis zunehmen.

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