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DIE BYZANTINISCHE FORM Den besonderen Verh¨ altnissen der byzantinischen Welt entsprechend hat die byzanti- nische Malerei sich ganz im Dienste der Kirche befunden. Was an profanen Werken entstand, vor allem der Sichtbarmachung der Kaisermacht geltend, war durch die kirch- liche Kunst inspiriert oder wirkte dort, wo es sich selbst¨ andig auf Grund profaner antiker Vorbilder entwickelte, auf die kirchliche Kunst zur¨ uck. In dieser stand die Aufgabe der Darstellung Christi obenan – eine Darstellung des Pantokrators, unter dessen strengem Blick sich das Staatsleben vollzog, seitdem Jupiter, die G¨ ottin Roma, der Genius Populi Romani und die mit solartheologischer Begr¨ undung zur irdischen Gottheit erkl¨ arten Kaisergestalten seiner Herrschaft hatten weichen m¨ ussen. Der zwischen den Werken der kirchlichen Kunst des europ¨ aischen Westens, in denen ein unabh¨ angiges weltliches Element schon fr ¨ uh sich zu regen beginnt, und denen des byzantinischen Kunstkreises bestehende auff¨ allige Unterschied beruht auf einer grunds¨ atzlichen Verschiedenheit in der Stellung zu den Aufgaben der Bildgestaltung, zun¨ achst im Bilde Christi. In dem Jahrtausend, das von dem Franken Godescalc, der zur Zeit Karls des Großen als Buch- maler t¨ atig war, bis zu Rubens reicht, weist die abendl¨ andische Kunst allein in der Darstellung Christi eine un¨ ubersehbare Menge voneinander verschiedener Typen auf. Demgegen¨ uber bleibt in den Christusdarstellungen des byzantinischen Kunstkreises im gleichen Zeitraum der Christustyp unver¨ anderlich. In seinen wesentlichen Z¨ ugen bleibt das Bild des thronenden Christus dasselbe in dem um 900 entstandenen Mosa- ik ¨ uber der K¨ onigst¨ ure im Narthex der Hagia Sophia in Konstantinopel und auf den Christusikonen des Semion Uschakov, der zur Zeit des Vaters Peters des Großen in der zweiten H¨ alfte des 17. Jahrhunderts t¨ atig war und den die Slawophilen des 19. Jahrhunderts als den russischen Raffael gepriesen haben. Dasselbe ist von den ¨ ubrigen Themen der kirchlichen Malerei zu sagen. Von dem Meister der Viviansbibel Karls des Kahlen bis zu Rembrandt wird die Vielgestaltigkeit in der biblischen Darstellung im Westen geradezu unermeßlich. Dagegen bleibt in den biblischen und hagiologi- schen Zyklen des byzantinischen Kunstkreises im gleichen Zeitraum der Bildtypus unver¨ anderlich, ebenso die Darstellung der Gottesmutter in ihren verschiedenen, feste Formen annehmenden Varianten. Fragt man nun, wodurch diese Verschiedenheit in der Stellung zum Bilde in den beiden großen christlichen Kunstkreisen des Westens und des Ostens bedingt war, so kann auf diese Frage eine klare Antwort gegeben werden: Sie war bedingt durch die verschiedene Bewertung des Bildes im Westen und in Byzanz. Im Abendlande hat das Bild innerhalb der Gegebenheiten des kirchlichen Kultus immer als etwas Unterge- ordnetes, Geduldetes und letzten Endes Entbehrliches gegolten. Der ¨ uberragende unter den P¨ apsten, Gregor der Große, nannte das Bild eine Bibel f¨ ur die Armen im Geiste, ur die analphabete Menge, der es Ersatz f¨ ur die Schrift sei. Ein halbes Jahrtausend sp¨ ater gab der Franziskaner Bonaventura dieselbe Bewertung des Bildes: die Roheit der einf¨ altigen Menge mache das Bild notwendig. So wurde im Abendlande das Bild von der Kirche nur geduldet. Zwar wußte die Kirche hier im Laufe der Jahrhunderte aus besonderen, auf die Volksphantasie wirkenden Gnadenbildern Nutzen zu ziehen. Sie ¨ uberließ indes die Bildgestaltung weitgehend dem Gutd ¨ unken der aus ¨ ubenden K ¨ unstler, die seit dem Beginn des selbst¨ andigen Lebens in den St¨ adten im 12. Jahrhundert zum

Schweinfurth Byzantinische Form 1954

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Philipp Schweinfurth, Die byzantinische Form. Ihr Wesen und ihre Wirkung, 1954, Erstes Kaptel,S. 9 – 18.

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DIE BYZANTINISCHE FORM

Den besonderen Verhaltnissen der byzantinischen Welt entsprechend hat die byzanti­nische Malerei sich ganz im Dienste der Kirche befunden. Was an profanen Werkenentstand, vor allem der Sichtbarmachung der Kaisermacht geltend, war durch die kirch­liche Kunst inspiriert oder wirkte dort, wo es sich selbstandig auf Grund profaner antikerVorbilder entwickelte, auf die kirchliche Kunst zuruck. In dieser stand die Aufgabe derDarstellung Christi obenan – eine Darstellung des Pantokrators, unter dessen strengemBlick sich das Staatsleben vollzog, seitdem Jupiter, die Gottin Roma, der Genius PopuliRomani und die mit solartheologischer Begrundung zur irdischen Gottheit erklartenKaisergestalten seiner Herrschaft hatten weichen mussen. Der zwischen den Werkender kirchlichen Kunst des europaischen Westens, in denen ein unabhangiges weltlichesElement schon fruh sich zu regen beginnt, und denen des byzantinischen Kunstkreisesbestehende auffallige Unterschied beruht auf einer grundsatzlichen Verschiedenheit inder Stellung zu den Aufgaben der Bildgestaltung, zunachst im Bilde Christi. In demJahrtausend, das von dem Franken Godescalc, der zur Zeit Karls des Großen als Buch­maler tatig war, bis zu Rubens reicht, weist die abendlandische Kunst allein in derDarstellung Christi eine unubersehbare Menge voneinander verschiedener Typen auf.Demgegenuber bleibt in den Christusdarstellungen des byzantinischen Kunstkreisesim gleichen Zeitraum der Christustyp unveranderlich. In seinen wesentlichen Zugenbleibt das Bild des thronenden Christus dasselbe in dem um 900 entstandenen Mosa­ik uber der Konigsture im Narthex der Hagia Sophia in Konstantinopel und auf denChristusikonen des Semion Uschakov, der zur Zeit des Vaters Peters des Großen inder zweiten Halfte des 17. Jahrhunderts tatig war und den die Slawophilen des 19.Jahrhunderts als den russischen Raffael gepriesen haben. Dasselbe ist von den ubrigenThemen der kirchlichen Malerei zu sagen. Von dem Meister der Viviansbibel Karlsdes Kahlen bis zu Rembrandt wird die Vielgestaltigkeit in der biblischen Darstellungim Westen geradezu unermeßlich. Dagegen bleibt in den biblischen und hagiologi­schen Zyklen des byzantinischen Kunstkreises im gleichen Zeitraum der Bildtypusunveranderlich, ebenso die Darstellung der Gottesmutter in ihren verschiedenen, festeFormen annehmenden Varianten.

Fragt man nun, wodurch diese Verschiedenheit in der Stellung zum Bilde in denbeiden großen christlichen Kunstkreisen des Westens und des Ostens bedingt war, sokann auf diese Frage eine klare Antwort gegeben werden: Sie war bedingt durch dieverschiedene Bewertung des Bildes im Westen und in Byzanz. Im Abendlande hat dasBild innerhalb der Gegebenheiten des kirchlichen Kultus immer als etwas Unterge­ordnetes, Geduldetes und letzten Endes Entbehrliches gegolten. Der uberragende unterden Papsten, Gregor der Große, nannte das Bild eine Bibel fur die Armen im Geiste,fur die analphabete Menge, der es Ersatz fur die Schrift sei. Ein halbes Jahrtausendspater gab der Franziskaner Bonaventura dieselbe Bewertung des Bildes: die Roheitder einfaltigen Menge mache das Bild notwendig. So wurde im Abendlande das Bildvon der Kirche nur geduldet. Zwar wußte die Kirche hier im Laufe der Jahrhunderte ausbesonderen, auf die Volksphantasie wirkenden Gnadenbildern Nutzen zu ziehen. Sieuberließ indes die Bildgestaltung weitgehend dem Gutdunken der ausubenden Kunstler,die seit dem Beginn des selbstandigen Lebens in den Stadten im 12. Jahrhundert zum

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großen Teil Laien waren (als solcher bezeichnet sich ausdrucklich um 1186 BonnanusCivis Pisanus an den Bronzeturen von Monreale). Dieses Verhaltnis ist fur die zweiteHalfte des 13. Jahrhunderts durch den Liturgisten Durandus bezeugt, der mit einemhorazischen Verse zugeben muß, daß bei der bildlichen Ausstattung der Kirchen demEigenwillen der Kunstler ein gewisser Spielraum nicht versagt werden konne.

Ganz anders lagen die Dinge im Gebiete der griechischen Kirche. Nachdem in denersten Jahrhunderten des Bestehens der Kirche die Meinungen uber den Wert, ja uberdie Zulassigkeit des Bildes geteilt gewesen waren und der Bilderstreit dieses im christ­lichen Osten eine Zeitlang uberhaupt in Frage gestellt hatte, kam es durch den Eifer derobsiegenden Bilderverehrer in der zweiten Halfte des 9. Jahrhunderts zu einer Neube­wertung des Bildes, auf der sich der im Laufe des 10. Jahrhunderts abgeschlossene Bauder mittelbyzantinischen Ikonographie gegrundet hat. Das Besondere dieser Neubewer­tung, die im neuplatonischen Sinn vor allem von Johannes Damaszenus ausging, wardadurch gegeben, daß das Bild durch sie endgultig mit dem christologischen Problemin Verbindung gebracht wurde, wodurch es sich jetzt nicht mehr als geduldet, vielmehrim Zusammenhange mit dem Glauben an die Doppelnatur Christi als notwendig erwies.Die Darstellung der menschlichen Gestalt galt als zulassig, da durch die Fleischwer­dung des Logos diese menschliche Gestalt geheiligt worden sei. Daruber hinaus wurdesie notwendig, weil das Bild Christi auf den Ikonen (unter solchen verstand man ebensoWand­ wie Tafelbilder) als Beweis dafur erachtet wurde, daß Christus wirklich Menschgeworden sei. Der gottliche Urgrund Christi (seine Usia), der Logos an sich, ist nichtdarstellbar. Wohl aber ist dagegen darstellbar Christus in seiner Fleischwerdung, alsinkarnierter Logos (d. i. seine Hypostase). Christus ist somit gleichzeitig unumschreib­bar (aperigraptos) und umschreibbar (perigraptos). Dieser letzte Vorgang ist es, dersich sichtbar in den Bildern vollzieht. Sie sind jetzt nicht mehr dazu da, um, von derKirche geduldet, bestenfalls die Unmundigen zu belehren. Sie dienen vielmehr unmit­telbar der Vergegenwartigung der obersten Heilstatsache der christlichen Lehre. Durchdiese ihre Aufgabe werden ihrem Inhalt zugleich feste Grenzen bestimmt. Das Bild hatdas Heilige in demselben Maße zu vergegenwartigen wie die Schrift. Daher muß seinInhalt ebenso authentisch, das heißt von jeder willkurlichen Veranderung frei sein wiedie Schrift. ”Das wahre Bild sei wie die Schrift der Bucher. Die gottliche Gnade wirdihm innewohnen, wenn das, was es darstellt, heilig ist“, schreibt noch im ersten Vierteldes 15. Jahrhunderts Symeon von Thessalonich in seinem Werk ”uber den heiligenKirchenraum“.

Obenan in der Reihe der heiligen, unveranderlichen Bilder steht das Abbild Christi.Nach den anfanglichen Stadien des Christusbildes, in denen der Heiland im bartlo­sen apollinischen Typus des guten Hirten, im bartigen Padagogentypus, in mystischer,wunderbarer Kindesgestalt (die bis zu Durer und zu Murillo nachwirkt) erscheint, sta­bilisiert sich der Christustypus im Acheiropoietos, in dem ”nicht von Menschenhandengeschaffenen Bilde“, wie es sich nach den apokryphen Berichten an verschiedenenOrten im Osten, in Edessa in Syrien und in Kamuliana in Kappadokien in wunderbarerWeise offenbart hatte1. Das bartige Haupt des Acheiropoietos mit dem gescheiteltenlangen Haar, dem zweigeteilten Bart und dem geraden, ernsten Blick entspricht derBeschreibung Christi im sogenannten Lentulusbrief, der, obwohl nur in einer spatenRedaktion des 13. Jahrhunderts vorliegend, den ostlichen ”historischen“ Typus Christi,wie er seit dem 5. und 6. Jahrhundert gegenuber dem hellenistischen ”symbolischen“

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Typus aufgekommen war, beschreibt. Nach dem Vorbilde des Acheiropoietos hat sichdie Darstellung Christi im Laufe eines Jahrtausends in der byzantinischen Kunst aus­gerichtet. Das in wunderbarer Weise zustande gekommene, die Gottesmutter mit demKinde darstellende Lukasbild wird als feierliche Hodigitria zum Grundtypus der Dar­stellungen der Gottesgebarerin (Theotokos). Weder Christus noch der Gottesmutterwerden außere Attribute der Herrschaft beigegeben. Christus, der im Kreuznimbuserscheint, ist mit dem Gewand und dem Mantel bekleidet (Chiton und Himation) undtragt an den Fußen Sandalen. Die Gottesmutter tragt uber ihrem schlichten Gewandein großes Umschlagtuch, das den Kopf, die Schultern und den Oberkorper bedeckt(das Maphorion). Ihre Fuße sind mit Schuhen bekleidet. Das Kind auf den Armen derGottesmutter, der inkarnierte Logos, wird stets in der Kleidung der Erwachsenen, mitGewand, Mantel und Sandalen abgebildet. In unveranderlicher Gestalt werden weiterdie Erzengel, die Heiligen und die Kirchenvater gebildet und in gleichbleibenden Kom­positionen vor allem auch die Darstellungen der zwolf großen Kirchenfeste des Jahres,die mit der Verkundigung beginnen und sich uber die Kreuzigung und die stets im Bil­de der Hollenfahrt dargestellte Auferstehung, die Anastasis, bis zum Marientode, derKoimesis, fortsetzen. Auch sie sind heilig, weil in ihnen die Vorgange, die zur Erlosungfuhrten, ihr Abbild finden. Die Wesensart der byzantinischen Malerei wird durch dieUnveranderlichkeit der zur Vergegenwartigung der von der Kirche vermittelten Heils­tatsachen geschaffenen Bildtypen charakterisiert. Das zweite nikanische Konzil (787)hat zur kanonischen Fixierung der Bildtypen beigetragen. Aus ihrer Zahl haben sichdie meisten von selbst im Laufe der Zeit herausgearbeitet, indem viele Typen bereitsseit dem 5. und 6. Jahrhundert feststanden (zum Teil in Nachahmung der monumen­talen Darstellungen an den konstantinischen und theodosianischen Grundungsbautenin Palastina). In der zweiten Halfte des 9. Jahrhunderts, nach Beendigung des Bilder­streits, hat die endgultige Vereinheitlichung begonnen, die jedenfalls schon vor demJahre 1000 beendet war. Die Unveranderlichkeit der architektonischen Form des seitdem Beginn der mittelbyzantinischen Zeit herrschenden Bautypus der Kreuzkuppel­kirche gewahrleistete der byzantinischen Monumentalmalerei die Moglichkeit einerregelmaßigen Ausbreitung ihres Bildprogrammes im Kirchenraum. uberall erscheintjetzt im Kircheninneren der Pantokrator, in der Kuppel, die Gottesmutter zusammenmit der gottlichen Liturgie (das Abendmahl der Apostel) und den Kirchenvatern imAltarraum, die Festbilder und die Gestalten der Heiligen im Laienraum und das JungsteGericht an der Eingangswand, wahrend die Vorhalle dem Marienleben und dem Lebender Heiligen Platz bietet.

Das byzantinische ikonographische Programm, das sich auf diese Weise aufrollt,zeigt ein Gefuge von ebenso strenger wie einfacher Großartigkeit. Im Gegensatz zumAbendlande, wo schon in der romanischen Monumentalkunst die Bildfolgen wechselnund spater eine Haufung der Themen eintritt, durch die eine wachsende Menge vonBildern sich in der Summe der gotischen Portalplastik und Glasfenster fast unermeß­lich steigert, sind auf der Hohe der byzantinischen Kunst die Bildzusammenhange imKircheninneren von einer Klarheit wie die Statuengruppen eines dorischen Tempelgie­bels. Erst der Spatzeit, in den serbischen Kirchen des 14. Jahrhunderts, auf dem Athosund in den großen russischen Folgen der Wandmalerei im 16. und 17. Jahrhundert tritteine Vermehrung der Bildermenge durch Anbringung zusatzlicher hagiographischerund hymnologischer Zyklen ein, die schließlich die Ubersicht aufhebt und samtliche

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Raumteile mit einem Ubermaß von Bildgestalten uberzieht, das wie eine barocke Il­lusionsmalerei alle Blickpunkte verschiebt. Diese Art der Bildausstattung ist bereitsnachbyzantinisch, sie vollzieht sich außerhalb des kanonischen byzantinischen Bild­gefuges, ja, sie ist sein Gegenteil. Das Vorurteil von dem hybriden, raffinierten undzugleich schalen Byzanz ist mit durch sie erzeugt worden. Die lebendige, eigentlichebyzantinische Kunst ist von einer klaren, einfachen Strenge und erhaben in ihrer Ein­fachheit wie alles, was den Stempel des griechischen Genius tragt. Dieser hat in Byzanzsein unsterbliches Wesen in die christliche Form metamorphosiert. Die Begrenzungender ikonographischen Forderungen der Kirche auf sich zu nehmen, das war freilich seinletzter, großter Verzicht. Man ermißt, was die bildschopferische Kraft des Hellenentumsaufgeben mußte, bis sie sich zu allerletzt in die byzantinische Form kleidete, und manversteht zugleich, daß diese byzantinische Form nur noch eine Metaphysik ist jenergriechischen Wirklichkeit, die einst gewesen war. Aber diese Metaphysik hat Realitat,denn der griechische Genius ist unsterblich. Die Grundsatze der antiken Bildgestaltungund die Kenntnis des griechischen Kanons im Aufbau der menschlichen Figur wohnender byzantinischen Malerei inne. Wie sie sich mit dem hieratischen kirchlichen We­sen verbinden, wie sie seinen Forderungen entsprechen und seinen ikonographischenSchemen den hohen Sinn griechischer Bildungen verleihen – das ist ein sich dem be­griffsmaßigen Verstandnis entziehender Prozeß, den man nur veranschaulichen, nichterklaren kann. Hier erfassen wir das Wesen der byzantinischen Form, die zugleichBehauptung und Verzicht ist.

Ein Beispiel, das wir aus der Zahl der Denkmaler der byzantinischen Außenlanderwahlen, dient zur Veranschaulichung dieser Verhaltnisse. Zu den mittelbyzantini­schen Wandmalereien in den kappadokischen Hohlenklostern bei Urgub, westlich vonCasarea­Kaisarieh im zentralen Kleinasien, gehoren die Fresken der »Neuen Kirche«von Toqale (”Toqale II“). Sie zeigen eine Folge lichter Bildkompositionen, in denen dieFigurendarstellung frei und von sicherer Haltung, die Linienfuhrung streng und schonzugleich ist. Die Harmonie, mit der die Teile sich hier zum Ganzen fugen, ruft un­willkurlich die Erinnerung an raffaelische Formen wach (Abb. 25). Diese Fresken sindzwischen 950 und 1000 n. Chr. entstanden2. Im Bilde der Berufung der ersten Junger(Abb. 26a) sind hier die Nachen hintereinander so angeordnet, daß ein raumlicher Ein­druck entsteht. Die Struktur dieser Nachen ist dargestellt, ihr Innenraum perspektivischvergegenwartigt. Von den beiden Apostelgruppen, die in den Nachen zu sehen sind,fallt die im Hintergrund befindliche besonders auf. Petrus, den man zuerst erblickt,streckt die Rechte akklamierend in der Richtung auf den am Ufer stehenden Christusaus. Der hinter ihm stehende, an seinem reichen Haarwuchs kenntliche Andreas hatim Boot Fuß gefaßt, um von rechts her ein Netz aus dem Wasser zu ziehen. Er haltes mit beiden Handen fest und wendet zugleich seinen Oberkorper nach links, umChristus zu sehen, wodurch aus der Summe dieser zwei widerstreitenden Bewegungenein Kontrapost entsteht. Ich finde das gleiche Motiv in einer deutschen Miniatur des11. Jahrhunderts auf Fol. 26 v. des Goldenen Evangelienbuches Heinrichs III. (Abb.26b), welches um 1045 von dem kaiserlichen Stifter dem Dom von Speyer uberwiesenwurde und sich in der Bibliothek des Eskorial befindet3. Es ist in der Schreibstube desKlosters Echternach bei Trier entstanden. Weder der deutsche Meister von Echternachnoch der byzantinische Maler von Toqale II. haben den ikonographischen Typus dieserBerufung der ersten Junger erfunden. Wohl aber haben sie die gleiche Vorlage benutzt,

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namlich eine altchristlich­fruhbyzantinische Evangelienillustration des 5. bis 6. Jahr­hunderts, die noch im 11. Jahrhundert sehr bekannt gewesen sein muß und von der esdamals viele Repliken gegeben haben wird; von ihnen ist keine bis auf uns gekommen.Wahrend der dem byzantinischen Kunstkreise angehorende Maler von Toqale II. denSinn dieser Vorlage zu erfassen und wiederzugeben imstande war, konnte sein Partnerin Echternach ihr nur in den allgemeinen ikonographischen Zugen folgen, ohne denformalen Kern zu bewaltigen. Die Gestalt des Andreas schrumpft bei ihm zu einerkruppelartigen Erscheinung zusammen. Der Unterschied zwischen dem EchternacherMeister und dem byzantinischen Maler ist indes nicht auf sein Versagen in der Dar­stellung des Kontrapostes beschrankt. Das raumliche Element in der Anordnung derbeiden Nachen, die perspektivische Darstellung dieser Nachen, die Toqale II. zeigt, istauf der Echternacher Miniatur in ein zages Hintereinander der im flachen Umriß fastohne Andeutung ihres Volumens in willkurlicher Struktur gegebenen Boote verwan­delt, und jeder Versuch einer Darstellung des Innenraumes der letzteren ist aufgegeben.Die nachste Analogie, die zur Darstellung der Berufung der ersten Junger in Toqale II.in den erhaltenen byzantinischen Denkmalern aufgewiesen werden kann, ist die Dar­stellung desselben Themas in den Miniaturen der großen, fur Basilios I. Makedo um880 angefertigten Handschrift der Predigten des Kirchenvaters Gregor von Nazianz inder Nationalbibliothek in Paris (Paris. gr. 510) (Abb. 27a). Die Art, wie die Nachen hierim Paris. gr. 510 abgebildet werden, ist mit Toqale II. identisch. Der Vorwurf ist ikono­graphisch anders gefaßt, aber auch hier kommt in dieser Szene ein Kontrapost vor. WasDarstellungen von der Art der aus Toqale II. und der Paris. gr. 510 herangezogenen for­mal bedeuten, laßt ein Vergleich der Berufung der ersten Junger aus Toqale II. mit demgleichen Vorwurf bei Barna da Siena in der Collegiata von San Gimignano erkennen(Abb. 27b). Auch hier in San Gimignano, in einer grandiosen Dauerbestandigkeit des inaltchristlich­fruhbyzantinischer Zeit gepragten Bildgedankens, dasselbe ikonographi­sche Motiv und auch hier, noch im 14. Jahrhundert im Abendlande, in der stockendenZeichnung des Andreas dieselbe Unfahigkeit zur Losung der Aufgabe kontrapostischerDarstellung, die bis zu Masaccio, letzten Endes bis zu Leonardo andauern sollte. ”Danngar leichtiglich verlieren sich die Kunst, aber schwerlich und durch lange Zeit werdensie wieder erfunden“. So Durer4, der mit diesen Worten die ”antikisch Art“ meint,die er sucht und deren Elemente der byzantinische Maler von Toqale II. im 10. Jahr­hundert besitzt. In seinem Werk lebt die byzantinische Form. Wir sagten vorhin, daßsie zugleich eine Behauptung sei und ein Verzicht. Sehr viel war verlorengegangen,seitdem dem schopferischen griechischen Genius der Bildstoff des antiken Mythosentzogen worden war. Dicht neben dem gegluckten Kontrapost stehen im Fresko vonToqale II. die Zeichenfehler in der Figur des Petrus und die weniger uberzeugendeDarstellung der Junger im zweiten Boot. Unleugbar ist hier etwas vorhanden von dem

”Kummer ihrer ausgetrockneten Pinseleien“, den Goethe, der als einer der ersten diegeschichtliche Stellung der byzantinischen Kunst erkannte, ihren Meistern zunachstvorwerfen zu mussen glaubt5. Aber solche Unzulanglichkeiten treten zuruck vor demPositiven, das hier aus diesem Bilde spricht. Wir haben es kennengelernt in der Verge­genwartigung des Raumlichen im Figurenstil und in der Harmonie des Bildganzen. Soweiß denn Goethe, der die byzantinische Form in der Hauptsache aus den von Serouxd’Agincourt beigebrachten Materialien kannte, im Endresultat seiner Erorterung derenWesen unbeirrt von Nebendingen zu beurteilen, wenn er darauf dringt, daß es gelte,

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”deutlich zu machen ... was die Byzantinische Schule ... in ihrem Innern noch furgroße Verdienste mit sich trug, die aus der hohen Erbschaft alterer griechischer undromischer Vorbilder kunstmaßig auf sie ubergegangen“ war6. Die Starke der byzan­tinischen Form liegt darin, daß sie uber einen sehr großen Verzicht hinweg imstandegewesen ist, den Sinn der einzigartigen Errungenschaft, die das Werk des griechischesGenius ist, wahrend der Jahrhunderte des Mittelalters zu erhalten und fur die Zukunftzu bewahren. Im Zusammenhang mit den vorhergehenden Außerungen uber die by­zantinische Kunst beruhrt Goethe auch ein Problem, uber dessen Bedeutung sich diemoderne Kunstwissenschaft bis jetzt noch nicht genugend Klarheit verschafft hat: ”Alsaber im dreizehnten Jahrhundert das Gefuhl an Wahrheit und Lieblichkeit der Naturwieder erwachte, so ergriffen die Italiener sogleich die an den Byzantinern geruhmtenVerdienste, die symmetrische Komposition und den Unterschied der Charaktere“7.

Die Erkenntnis der Bedeutung der byzantinischen Kunst fur die Stilbildung der Re­naissance wird durch eine andere erganzt. Die monumentale Kathedralplastik des hohenMittelalters im Abendlande, so selbstandig sich ihre Endergebnisse uns darstellen, istohne die allgemeine Schulung durch den die Darstellung des Figurlichen regulierendenbyzantinischen Kanon wahrend der vorhergehenden Jahrhunderte, aber auch ohne be­stimmte direkte Anregungen, so von seiten des byzantinischen Elfenbeinreliefs, nichtdenkbar. Bis jetzt hat man, wenn uberhaupt von byzantinischem Einfluß auf die Ka­thedralskulptur die Rede war, nur von einem ”von außen kommenden Schematismus“gesprochen, der zu ihrer tektonischen Strenge beigetragen habe, oder ”von der feinenciselierenden Art der Arbeit“, die am Westportal von Chartres ”die Vorstellung einesunmittelbaren byzantinischen Einflusses erweckte“8. Es kommt aber noch ein andereshier in Betracht. Die Wurzeln der Kathedralskulptur liegen im Abendlande selbst, beiden antiken und den altchristlichen Denkmalern im Suden Frankreichs. ”Was ist naturli­cher als anzunehmen, die figurliche Skulptur sei zuerst im Suden zu machtigerem Lebenerwacht, hier, wo die Zahl reicher als sonst vorhandener Denkmaler antiker Plastik,die Reliefs der Triumphbogen und Altare, die antiken und altchristlichen Sarkopha­ge, die Statuen und Stelen zu plastischer Tatigkeit geradezu herausforderten ... Gewißist zunachst, daß unsere mittelalterlichen Meister ikonographische Anregungen emp­fingen durch die altchristlichen Sarkophage. Die Reihe thronender Apostel auf demTursturz des Arler Portals ist oft genug als Beleg dafur angefuhrt worden“9. Gegendiese Thesen ist nichts einzuwenden. Wenn dann aber die nordfranzosische Schule,die ”aus den Arler Reliefs die Chartrerer Konige formte“, allein aus der ”Eigenartfranzosischen Geistes“ und dem ”Ernst des ersten Studiums der Natur“ im Nordenbegriffen werden soll, so kommt man mit diesen Erklarungen nicht ganz aus. DasGottesmutterrelief vom Annaportal der Pariser Notre Dame10 ist nach dem Schemader byzantinischen Platytera angelegt und ungeachtet seiner abendlandischen Details(Krone der Gottesmutter und Stellung ihrer linken Hand, Buch statt Rolle und Fehlender Sandalen beim Kinde) in dem ausgesprochen byzantinischen Gesamttypus einembyzantinischen Elfenbeinwerk entnommen, von dem auch die machtige Kuppelform(die an die Kuppeln des mittelbyzantinischen Achtstutzentypus, an Daphni oder Hosi­os Lukas erinnert) herstammt, die die architektonische Rahmung der Gruppe bekront.Im Norden Frankreichs, wo die antiken Uberreste weniger reichlich waren, werdenbyzantinische Elfenbeine vielfach Vorbilder fur die Bildhauer gewesen sein. Ein klas­sisches byzantinisches Elfenbeinwerk des 10. Jahrhunderts, das Harbaville­Triptychon

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des Louvre (Abb. 64), zeigt im unteren Register der Mitteltafel die Darstellung vonfunf Aposteln, nach der sich die Meister des Nordportals von Chartres gerichtet habenkonnten. Der thronende Christus des HarbavilleTriptychons, der Christus des um 950entstandenen Elfenbeinreliefs mit Romanos II. und Berthe de Provence, die als Kaiserinden Namen Eudoxia annahm, im Medaillenkabinett der Pariser Nationalbibliothek undein Christusrelief der Sammlung Stroganov in Rom, ebenfalls aus dem 10. Jahrhundert,kommen als Vorbilder fur den ”Schonen Gott“ von Amiens in Betracht. ”Der phidia­sische Kern der gotischen Gewandfigur“ ist Nordfrankreich zu nicht geringem Teildurch byzantinische Elfenbeinwerke vermittelt worden. Die erst in letzter Zeit naherbekannt werdende franzosische Monumentalmalerei des 11. und 12. Jahrhunderts11

enthalt nicht weniger byzantinische Elemente als die gleichzeitige deutsche. Der Ka­non der byzantinischen Figurendarstellung, der in ihr enthalten ist, muß in gleicherWeise fur die Kathedralskulpturen Bedeutung gehabt haben, weil er einmal, als Grund­lage der Figurendarstellung von Byzanz vermittelt, im Abendlande wirksam war. DasMalerbuch vom Berge Athos, in dem in einer spaten Redaktion des 18. JahrhundertsTeile der alten byzantinischen Malerbucher vorliegen, die wir nicht mehr besitzen,kennt in seinem 52. Abschnitt, der ”die Maße des menschlichen Korpers“ (”hermeneiaton metron tu naturale“) betitelt ist12, einen Kanon der menschlichen Gestalt, wieer auch bei Vitruv erwahnt ist13. Die Gesichtslange ist hier die Maßeinheit fur denKorper, die Nasenlange die Maßeinheit fur das Gesicht. Die Angaben bei Vitruv gehenwahrscheinlich nicht auf den polykletischen Kanon selbst, sondern auf seine spaterealexandrinische Formulierung zuruck. Auf welche Fassung des polykletischen Kanonsdie im Malerbuch vom Athos erhaltenen Angaben zuruckzufuhren sind, ist unbekannt.Der byzantinisch­vitruvianische Kanon ist als Grundlage der Figurendarstellung in ei­ner Gruppe von deutschen monumentalen Wandmalereien des 12. und 13. Jahrhundertsnachgewiesen worden, die im salzburgisch­regensburgischen Kunstkreise sichtbar un­ter byzantinischem Einfluß stehen, der sich hier in den meisten Fallen mittelbar uberItalien ausgewirkt hat. Dieser Kanon ist indes mehr oder weniger uberall dort wirksam,wo sich der byzantinische Einfluß uberhaupt zeigt14. Leonardo war der erste, der wiederunmittelbar auf eine antike Quelle des polykletischen Kanons (Vitruv, in dessen WerkDe architectura die Elemente dieses Kanons allein erhalten geblieben sind) zuruckging.Auf der eine Proportionsfigur, die in einen Kreis hineingeschrieben ist, darstellendenZeichnung in Venedig15 nimmt Leonardo auf Vitruv Bezug und notiert: ”Die Spanneder ausgebreiteten Arme des Menschen ist gleich seiner Hohe.“ Im Codex Atlanticus16

notiert Leonardo: ”Der Abstand vom Kinn bis zum Haaransatz [eine Gesichtslange] istein Zehntel der Gestalt . . . Der Abstand vom Kinn bis zu den Nasenlochern ist ein Drit­tel des Gesichts. Und desgleichen der von den Nasenlochern bis zu den Augenbrauen,sowie der von den Augenbrauen bis zum Haaransatz.“ Das sind dieselben Grundpro­portionen, wie sie, zusammen mit noch anderen, die byzantinische Malerei besaß. WieLeonardo da Vinci, so hat sich auch sein jungerer Zeitgenosse Albrecht Durer um denKanon bemuht, von dem er durch die Nurnberger Humanisten und durch Angaben, dieer in Italien erhalten hatte, Kenntnis besaß. In den Entwurfen zum Malerbuch notiertDurer, nach Vitruv, in Ubereinstimmung mit Leonardo: ”was do spricht Fitruvius vonder menschlichen Gliedmaß ... daß das Angesicht vom Kinn bis aufhin, do das Haaranfacht [eine Gesichtslange] sei der 10. Teil des Menschen“17. 1525 veroffentlichteDurer seine ”Unterweysung der Messung mit dem Zirkel und richtscheyt“, mit der er

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bewußt eine Erneuerung des Kanons in der deutschen Malerei anstrebte. In diesem Zu­sammenhang ist es bemerkenswert, daß in Nonnberg, Prufening und Frauenchiemsee18

die Zirkelpunkte und Hilfslinien aufgefunden sind, mit deren Hilfe hier im 12. Jahrhun­dert die Darstellung dem Kanon entsprechend auf der Wandflache entwickelt wordenist.

Man kommt mit dem ublichen Begriff des Hieratischen oder mit der Vorstellungvon der raffinierten ostlichen Technik nicht aus bei der Feststellung des byzantinischenEinflusses im Abendlande. Der Idealismus der byzantinischen Form hat sich dem eu­ropaischen Westen auf anderem Wege mitgeteilt. Womit nicht gesagt werden soll, daßgleichzeitig aus dem byzantinischen Osten keine Kunstwerke heruberkamen, deren We­sen von einer strengen kirchlichen Haltung bestimmt war, die sich in ihnen seltsam miteiner ungewohnlichen, schweren Pracht der technischen Ausfuhrung verband. Schondie romische Kaiserzeit hatte, was das Zusammengehen raffinierter Techniken in derWerkkunst betrifft, einen Hohepunkt erreicht, den wir erst in letzter Zeit einigermaßenzu beurteilen vermogen, seitdem u. a. das Vorhandensein des Glasmosaiks in großenWanddekorationen bekannt geworden ist, in den Hausern von Herkulaneum ebensowie in den Kuppelraumen des Diokletianspalastes in Spalato. In der konstantinischenund theodosianischen Zeit fand eine weitere Steigerung dieses Raffinements statt, diesich beispielsweise in der Mode der gewaltigen Prachtbibeln, ”mehr Prunklasten alsBibelbucher“, außerte, gegen die die Kirchenvater ihre Stimme erhoben. Bis dann zuBeginn der eigentlichen byzantinischen Zeit unter Justinian ein Hohepunkt des Prunkeserreicht wurde, der sich durch eine gedrangte, in allen Regenbogenfarben gleißende,uberall mit Gold durchsetzte Pracht von allem Vorhergehenden unterschied und den diespateren Kaiser bis zuletzt aufrecht zu erhalten sich bemuht haben. Diese Haufung desAußerordentlichen und des Blendenden war die Folge einer Uberfremdung, die vomOsten, vom neupersischen Reich der Sasaniden herkam, mit dem in einem Zeitalter,in dem, nach dem Ausspruch eines Zeitgenossen Diokletians, Rom und Ktesiphon diebeiden Augen der Welt waren, Byzanz an Pracht konkurrieren mußte, wenn es seinenVorrang geltend machen wollte inmitten einer neuen Umgebung, die die Abneigungdes Horaz gegen den ”persischen Prunk“ nicht mehr teilte. Der ”Fruhling des Khos­roes“, der Teppich der Teppiche, auf dem eine mystische Landschaft mit Baumen,Fruchten und Blumen dargestellt war und der, mit Perlen und Edelsteinen besat, sichzusammen mit dem goldenen Pferde und dem silbernen Kamel mit seinem goldenenTreiber in der Konigshalle von Ktesiphon befand, wo ihn spater die Araber bei derTeilung der Beute in Stucke schnitten, ließ den Ehrgeiz der Byzantiner nicht schla­fen. Mit einem Staunen, hinter dem die Furcht vor geheimem Zauber stand, blicktendie merowingischen Konige auf die Wunderdinge, die der Autokrator der Rhomaerihnen als Geschenk sandte, wahrend der heilige Eligius diese Geschenke nachzuah­men bemuht war. Zusammen mit den sasanidischen Silberschalen, deren Reliefs denGroßkonig auf der Jagd zeigten, wanderten bis ans Ende der Welt, zum Ural hinauf undnach Sibirien hinein, die byzantinischen Schalen, auf denen in nicht minder meister­hafter Treibarbeit das von Engeln bewachte Triumphkreuz uber dem Paradiesesbergemit seinen Paradiesesstromen zu sehen war. Spater, um das Jahr 1000, erhielten dieneubekehrten Varangerfursten von Kiew kostbares, prachtglanzendes Kirdiengerat ausKonstantinopel und jene Goldemails mit Heiligendarstellungen, die sie auf breitengoldenen Schulterstucken, den barmy, als Zeichen ihrer Herrscherwurde trugen und

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Die byzantinische Form 9

vom Vater auf den Sohn vererbten. Die Goldemails der ungarischen Stephanskrone, dieMichael VII. Dukas dem Konig Geza I. von Ungarn sandte, zeigen den byzantinischenKaiser in rotem Gewande, umgeben von seinem Sohn und Mitregenten und Geza I., diegrune Gewander tragen, womit – da Rot, als Blutfarbe, die Souveranitat darstellt – eineideelle Oberherrschaft von Byzanz uber Ungarn zum Ausdruck kommen sollte19. DieGoldemails von Byzanz, die in der langen Geschichte des Emails technisch unerreichthervorragen, stellen in ihrer fast unbegreiflichen Vollendung den Hohepunkt kunst­gewerblicher Technik dar. Aber im Spiel jener raffinierten Techniken, die ihnen vomOsten her durch die Allgewalt der Mode und die Erfordernisse der Zeit aufgedrangtworden waren und die sie dann so virtuos zu handhaben wußten, haben die Byzantinerstets die Verwirklichung der lebendigen Form gesucht, deren hohe Vollendung ihnen alsErbe des klassischen Altertums unmittelbar uberkommen war. Im Grunde bedeutete eseine große Entsagung, diese Form, deren Wesen in einer unnachahmlichen Einfachheitund Naturlichkeit beschlossen ist, in einem so kontraren Stoff, wie es der jener Luxus­techniken war, zu entwickeln. Die Byzantiner fanden die Kraft, dies zu unternehmen.Die am Ausgang des griechischen Phanomens stehende byzantinische Form ist eineBehauptung und zugleich ein Verzicht.

Philipp Schweinfurth, Die byzantinische Form. Ihr Wesen und ihre Wirkung, 21954, Erstes Kaptel,S. 9 – 18.

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BYZANZ UND DAS ABENDLAND

Das ikonographische Substrat, an das die byzantinische Form in den Jahrhunderten ge­bunden war, die zwischen dem Ausgang der Komnenen von Konstantinopel (1204) undjenen Tagen liegen, in denen Anastasios I. dem Frankenkonig Chlodwig die konsulari­schen Insignien sandte und Justinian der Große zu Theodebert I. in Beziehung trat, istnur im weiteren Sinn einheitlich gewesen. In der altbyzantinischen Zeit konnten die ein­zelnen ikonographischen Themen noch in verschiedener Gestalt auftreten, und durchdiese Varianten wurde die Form in einem verhaltnismaßigen Reichtum der Erschei­nung sichtbar. Die ”liturgische“ mittelbyzantinische Kunst, deren Ikonographie nachder Beendigung des Bilderstreits seit der zweiten Halfte des 9. Jahrhunderts festste­hende kanonische Formen annimmt – ein Prozeß, der spatestens um das Jahr 1000 zumAbschluß gelangte –, bietet ein wesentlich anderes Bild. Sie besteht aus einer Summefest gepragter ikonographischer Formeln, nach denen jetzt die Darstellung bestimmterThemen in bestimmter Reihenfolge zu erfolgen hatte. Das Leben der byzantinischenKunst außert sich hierbei in der Art, mit der ihre Meister die ihr innewohnende idealeForm mit der Strenge einer eindeutigen liturgischen Forderung zu verbinden wissen.Von den mittelbyzantinischen ikonographischen Formeln, die auf diese Weise entste­hen, sind vor allem die Darstellungen der zwolf großen Kirchenfeste des Jahres furdas Abendland im weitesten Umfang vorbildlich gewesen. Diese ”Festbilder“ bringenaußer den hauptsachlichsten Vorgangen aus dem Leben Christi (Geburt, Darstellungim Tempel, Taufe, Auferweckung des Lazarus, Verklarung, Einzug in Jerusalem, Kreu­zigung, Auferstehung, Himmelfahrt) das Pfingstbild und zwei Vorgange aus dem Ma­rienleben (Verkundigung, Marientod) zur Darstellung. Ihr ikonographisches Gerust istin der Monumentalskulptur und Monumentalmalerei des Abendlandes im 12. und 13.Jahrhundert ebenso zu erkennen wie in der gleichzeitigen abendlandischen Tafelma­lerei, Miniatur und Werkkunst. Es bildet das nunmehr einheitliche Substrat, an dem,nach den jeweiligen Fahigkeiten der Meister, die Werte der byzantinischen Form umdiese Zeit im Abendlande entwickelt werden. Die ausgepragte, unveranderliche mit­telbyzantinische Typik macht, daß das byzantinische Element jetzt im Abendlande aufden ersten Blick zu erkennen ist. Im Zusammenhang hiermit ist in der Literatur haufigdavon die Rede, daß im 12. und 13. Jahrhundert uber Westeuropa eine ”byzantinischeWelle“ dahingegangen sei. Daß die Beziehungen zwischen Byzanz und Westeuropaim Zeitalter der Komnenen besonders rege gewesen sind, soll nicht in Abrede ge­stellt werden. Wer sie aber einseitig betont, erweckt den Anschein, als ob es vorherkeine nennenswerten byzantinischen Einwirkungen auf das Abendland gegeben hatte.Ikonographisch, technisch und formal hat die byzantinische Kunst seit ihrem Beginnim 6. Jahrhundert ununterbrochen als ”regulierender Faktor“12 auf das Kunstschaffendes Abendlandes Einfluß gehabt. Der Unterschied, den diese Einwirkung wahrend derfruheren Jahrhunderte zu der sich im 12. und 13. Jahrhundert vollziehenden aufweist,beruht auf der Tatsache, daß die Eigenart der scharf ausgepragten und sofort erkenn­baren mittelbyzantinischen ikonographischen Formeln, die in Byzanz selbst erst im10. Jahrhundert in vollem Umfang zustande gekommen waren, in der abendlandischenKunst erst seit dem 12. Jahrhundert deutlich werden konnte13. ”Die Wandmalereienin Aquileia [12. Jahrhundert] beweisen nur, wie der große ostromische Kunstschatz

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Byzanz und das Abendland 11

immer wieder inspiratorisch in den Geist des Abendlandes eindringt, was aber auchjedes andere byzantinische Werk Italiens beweist, zuruck bis Ravenna“.14

Seit der Mitte des 13. Jahrhunderts vermag die abendlandische Kunst auf Grundder vorhergegangenen formalen Schulung ihr Streben nach wirklichkeitsgemaßer Dar­stellung in voller Breite zu entwickeln. Im 14. Jahrhundert ist vor allem die SkulpturWesteuropas von einem Realismus erfullt, der in den Portratfiguren der Epoche voneiner geradezu zeitlosen Art erscheint, wahrend in ihrem Hauptwerk, dem Brunnendes Claus Sluter im Klosterhof der Kartause von Champmol bei Dijon, im Aufruhr derPropheten seelische Tiefen bewegt und dramatische Konflikte herausgestellt werden, indenen der Geist der Tragodie, das Drama der europaischen Nationalliteraturen vorbe­reitend, unabhangig von dem kirchlichen Zweck des Denkmals sichtbar wird. In ihrerexplosiven Kraft liegen Werke dieser Art ebenso jenseits von Byzanz wie der Realis­mus, der mit den Naumburger Stiftern oder mit der Gestalt der Gottesmutter am Portaldes nordlichen Querschiffs der Pariser Notre Dame und den Figuren am Sudportal vonChartres beginnt.

Am Ende des 15. und Beginn des 16. Jahrhunderts kommt es, unter Beibehaltungder auf die Erfassung der Wirklichkeit gerichteten Grundtendenz, zu einer Erneuerungder idealen Form, die jetzt aus der unmittelbaren Anschauung der Reste der klassischenAntike erfolgt. Bis in diese Zeit hinein wirken stellenweise die von Byzanz geschaf­fenen Fassungen des Bildstoffes nach, wahrend man ihnen im 14. Jahrhundert nochhaufig begegnet. Der Grabower Altar des Meisters Bertram von 1379, ursprunglichder Hochaltar der Hamburger Petrikirche, zeigt unter seinen Darstellungen ein Bild,auf dem ”Erdschopfung und Teufelssturz zusammengezogen“ werden, ”eine auf Al­tarbildern sonst nicht bekannte Darstellung“15 (Abb. 121b). Der Sturz des Luzifer –

”wie bist du vom Himmel gefallen, du schoner Morgenstern!“ – ist ein Thema, das inmittelalterlichen Darstellungen uberhaupt selten ist. Um so mehr fallt die Sicherheitund die Bedeutsamkeit der ikonographischen Formulierung auf, die der Meister desGrabower Altars ihm in seinem Bilde zu geben weiß. Die angebrachte Schriftrollezeigt, daß er hierbei fur den Inhalt auf Jesaja 14,12 Bezug nimmt.

Im byzantinischen Kunstkreise ist der Sturz des Luzifer unter den Miniaturen desParis. gr. 74 und damit den von der ”antiochenischen“ Redaktion der Evangelienillu­stration abhangigen Darstellungen zu finden16. Im Paris. gr. 74 fol. 13117 wird mit demEngelsturz der 18. Vers im 10. Kapitel des Lukasevangeliums illustriert (Abb. 121c).Der Vorgang aus dem Anfang der Zeiten taucht hier als Ruckerinnerung des inkarnier­ten Logos an Zustande auf, die vor seiner Fleischwerdung lagen18: ”Ich sah Satan wieeinen Blitz vom Himmel fallen.“ In der Miniatur des Paris. gr. 74 wird der Himmel,wie immer in byzantinischen Darstellungen, durch ein Kreissegment angedeutet, aufdem ein Erzengel mit ausgebreiteten Flugeln Wache halt. Aus dem Himmel beugt sichder prastabilierte Logos heraus und blickt auf Luzifer, der mit seinem Gefolge in dieTiefe sturzt. Die sundigen Engel haben ihre Lichtgestalt eingebußt und sind zu Teufelnverwandelt worden. Als solche werden sie in der byzantinischen Miniatur schwarz, alsgeflugelte Schatten dargestellt. Luzifer selbst ist durch keinerlei Attribute hervorgeho­ben und in der Menge der anderen nicht erkennbar. Die Tiefe, in die der ganze Schwarmsturzt, wird als der amorphe schauerliche Klumpen der ewigen Finsternis dargestellt.

Auf dem Bilde des Grabower Altars stellen sich die einzelnen Motive des Engelstur­

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12 Byzanz und das Abendland

zes anders dar als im Paris. gr. 74. Hier erscheint in der Hohe in einem bewegt wallendenWolkenkreise das greisenhafte Antlitz Gott­Vaters19. Die zu Teufelsgestalten verwan­delten abtrunnigen Engel werden in realistischem, schwerem Fall gegeben, wahrendsie im Paris. gr. 74 fast korperlos sind und blitzartig huschen, Luzifer ist unter ihnendurch die Krone auf seinem Haupte kenntlich, außerdem an dem Spruchbande mit denWorten: ”Ich will uber die hohen Wolken fahren und gleich sein dem Allerhochsten.“Die gefallenen Engel sturzen im Bilde des Meisters Bertram auf die Erde, die als einegrune Kugel dargestellt ist, und verschwinden in ihrem Innern. Ungeachtet dieser Un­terschiede bleiben die Grundzuge der ursprunglichen, byzantinischen Formulierung desThemas des Engelsturzes das Fundament, auf dem Meister Bertram die monumentaleHaltung seiner Darstellung erreicht. Daß die Schopfungsszenen des Grabower Altarssich von seinen ubrigen Darstellungen unterscheiden, ist bemerkt worden20.

Vor allem muß den ubrigen Teilen des Altars gegenuber ihre Monumentalitat her­vorgehoben werden. Die anderen Bilder sind in dieser Hinsicht von sehr verschiedenemCharakter und scheinen in ihrem stellenweise sehr starken und eigenartigen Realismusauf Eindrucke zuruckzugehen, die der Meister von den zeitgenossischen Mysterien­spielen empfangen hatte21. In den Schopfungsszenen des Grabower Altars schimmerndagegen sehr alte, formbestimmte Vorbilder durch. Das Landschaftsfragment im Bildedes vierten Schopfungstages zeigt die fur die spatantike Landschaftsdarstellung be­zeichnenden abgetreppten Felsstufen und erinnert mit seinen Baumen an bestimmteElemente der Landschaftsdarstellungen in den Miniaturen des Laur. VI 23 (Abb. 51b),ein gewiß nicht zufalliger Zusammenhang. Auch die ubrigen Schopfungstage gehenletzten Endes auf eine (durch das Medium fruherer mittelalterlicher Miniaturen vermit­telte) byzantinische Vorlage zuruck, deren Nachahmung im Engelsturz am deutlichstenzu erkennen ist.

Von der Bedeutung der byzantinischen Form fur die mittelalterliche Monumental­skulptur des Abendlandes ist bereits die Rede gewesen. Als Beispiel der Ubernahmeeines byzantinischen ikonographischen Schemas in die abendlandische Kathedralpla­stik kann der Marientod am Sudportal des Straßburger Munsters gelten. Seine vonEugene Delacroix bewunderte Komposition, die ”zu den eindrucksvollsten Gestaltun­gen des Vorgangs in der abendlandischen Kunst“22 gehort, ubernimmt, wie dies bereitsvon W. Voge bemerkt worden ist, im Aufbau und auch im seelischen Ausdruck diemittelbyzantinische Koimesis. Es ist die Gegenuberstellung eines der schmerzlich be­wegten Gesichter, die um das Sterbelager der Gottesmutter versammelt sind, mit demKopf des Laokoon versucht worden23. Gewiß, die Antike ist hier gegenwartig, abersie ist es durch die Vermittlung der byzantinischen Form. Die ”sogenannte Laokoon­braue“24, die an dem in Vergleich zum Laokoon gezogenen Straßburger Apostelkopffestgestellt werden kann, tritt hier in einer besonderen Auspragung auf, die an einergroßen Anzahl von mittelbyzantinischen Denkmalern (so im Threnos von Nerez [Abb.99] von 1164) zu sehen ist. Als Ausdrucksform fur die pathetische Seelenbewegungund fur den Schmerz ist sie von der mittelalterlichen abendlandischen Monumental­skulptur ebenso wie von der Malerei des italienischen Dugento, der ”Maniera greca“,ubernommen worden. Der Johannes vom Westlettner des Naumburger Domes25 hat sieebenso wie der Straßburger Apostel und wie die großen italienischen Kruzifixe des 13.Jahrhunderts26.

Im Straßburger Marientod ist die byzantinische Form Grundlage der Bildkomposi­

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Byzanz und das Abendland 13

tion; sie bestimmt zugleich auch die Einzelheiten der Bildgestaltung. Das Ganze desStraßburger Reliefs ist aber alles andere als im engen Sinn byzantinisch. Es war vorherdie Rede davon, daß im Abendlande Vorgange des Kunstschaffens, die in das Gebietder byzantinischen Frage fallen, sich als fruchtbare Anregungen erweisen, auf Grundderer mit Hilfe der rezipierten byzantinischen Form dort selbstandige schopferischeNeubildungen erfolgen. Der Straßburger Marientod ist eine solche Neubildung, die zuden schonsten ihrer Art gehort. Die Gestalt der Gottesmutter im Straßburger Reliefentspricht nicht der Gottesmutter der byzantinischen Koimesis. Sie ist mit ihrem ent­schleierten Haupt und der kontrapostischen Bewegung eher byzantinischen Gestaltenwie der heiligen Anna im Mosaik der Geburt der Jungfrau Maria in Daphni verwandt27,noch viel mehr aber der Maria aus der Gruppe der Heimsuchung am mittleren Portalder Westfassade von Reims28. Das heißt, sie ist wahrscheinlich ebenfalls im Zusam­menhang mit unmittelbaren Studien nach antiken Originalen, die den Meistern des 13.Jahrhunderts zuganglich waren, entstanden.

Die Kenntnis der byzantinischen Form muß bei diesen Studien eine nicht geringeForderung bedeutet haben. Daß an den verdachtigen, zauberbeladenen Resten des altenHeidentums dieselben Zuge wahrzunehmen waren, die man von den Elfenbeintafeln,den Miniaturen und den Goldschmiedearbeiten der byzantinischen Griechen her kann­te, das muß mit dazu beigetragen haben, die Scheu vor den noch im Lande vorhandenenantiken Resten zu uberwinden, ihren Wert zu erkennen und mit ihrer furchtlosen Nach­ahmung zu beginnen. Die auf diese Art wieder neu ans Licht gekommenen antikenWerke festzuhalten, dazu war das 13. Jahrhundert im ganzen noch nicht reif; sie sind,so wie sie zufallig gefunden worden waren, wieder verlorengegangen. Vorderhand wares genug, daß sie in Reims, Straßburg und Bamberg in einem glucklichen Augenblickihr Licht verbreiten konnten.

In einer schopferischen Umgestaltung, der die Meister des 13. Jahrhunderts sehrviel Eigenes zu geben gewußt haben, erscheinen im Straßburger Relief, im Gegensatzzu den stets in vollstandiger korperlicher Erscheinung dargestellten byzantinischenGestalten, die Apostel als ”ein Kranz ausdrucksvoller Kopfe ..., von denen man nichtweiß, wo ihre Korper wurzeln. Ihr Antlitz wachst blumenhaft gegen das Licht vor zuwunderbarer Beseelung des ganzen Vorgangs“29. Die Eigenleistung des StraßburgerReliefs verkorpert sich aber in der seltsamen jungen Frau, die mit klagender Gebardevor dem Sterbelager der Gottesmutter zu sehen ist30. Ihre Haltung, die Art ihres Sitzensmit untergeschlagenem linken Bein, so daß die Sohle ihres linken Schuhs zu sehen ist,konnte von einem attischen Relief herkommen. Die Inbrunst ihrer Klage, ihr sich imSchmerz auflosendes Gesicht, ihr in wirren Locken herabfallendes Haar wirkt naiv­volkstumlich und romantisch zugleich, ergreifend wie namenlose Verszeilen aus ”DesKnaben Wunderhorn“. Die alteren byzantinischen Darstellungen der Koimesis kennenkeinerlei Gestalten vor dem Totenbett der Gottesmutter, die Figuren werden ausschließ­lich zu beiden Seiten und im Hintergrunde angebracht. Seit dem 13. Jahrhundert wirddas Ganze in einer Anzahl von Darstellungen durch eine oder zwei Gestalten vermehrt,die im Vordergrunde auftreten. Es handelt sich dabei um den Jephonias, der die Bei­setzung der Gottesmutter storen und ihr Sterbelager umstoßen wollte, worauf ein miteinem Schwert bewaffneter Engel erschien, der dem Frevler, weil er den Leichnam derGottesmutter angetastet hatte, beide Hande abschlug31. Im Zusammenhang mit dieserDarstellung steht, wie es scheint, der Junger im Vordergrunde des Marientodes auf der

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Miniatur des Bertholdmissale aus Weingarten32 (erste Halfte des 13. Jahrhunderts), derals eine Umdeutung des Jephonias gelten kann. Das kauernde Madchen des StraßburgerReliefs hat mit der Jephoniasepisode nichts zu tun. Zu seiner Erklarung sind andereLegenden herangezogen worden, die nur im Abendlande verbildlicht worden sind.Es kann aber auch geltend gemacht werden, daß diese Gestalt aus kompositionellenGrunden angebracht worden ist, und zwar, weil es den Meistern des Reliefs an Bild­kraft gefehlt hat, um das Ganze durch die seitlichen Figuren allein zusammenzuhalten.Es verstummt aber letztlich alle Analyse vor dem Wunder der Kunst, das in dieserKauernden beschlossen ist.

Philipp Schweinfurth, Die byzantinische Form. Ihr Wesen und ihre Wirkung, 21954, S. 119 – 123.

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Die vier Passionsszenen auf Fol. 208v. des Parisinus graecus 74 (B. F., Abb. 51a)beginnen mit der Kreuzabnahme durch Joseph von Arimathia und Nikodemus. vonder das Johannesevangelium im 19. Kapitel, V. 38­40, berichtet und setzen sich fortuber die Grablegung und die Hollenfahrt Christi bis zu dem Bilde der Frauen, zudenen am offenen Grabe ein Engel spricht. Unter diesen Passionsbildern findet sichkein Auferstehungsbild, wie man dies aus dem Bilderkreis der westlichen Kirche kennt.Das hat seinen Grund darin, daß die griechische Kirche den Vorgang der Auferstehungnicht zur Abbildung bringt, weil die Evangelien keine Angaben uber diesen Vorgangenthalten. Bei Markus, Lukas und Johannes wird nur berichtet, daß, als nach dem TodeChristi und der Bestattung seines Leichnams im Felsengrabe am Vorabend des Sabbath(am Freitag) die frommen Frauen (bei Johannes ist es Maria Magdalena allein) nachdem Sabbath, ”am ersten Tage der Woche“ (somit am Sonntag) in der Fruhe zumGrabe kamen, sie den Stein, mit dem das Grab verschlossen worden war, abgewalzt,das Grab leer vorfanden und vor diesem einen (bei Lukas und Johannes zwei) Engel,der zu ihnen von der Auferstehung Christi sprach. Bei Matthaus allein findet sicheine weitere Angabe uber das Erlebnis der Frauen am Grabe. Im 28. Kapitel desMatthausevangelium, V. 1­8 wird berichtet, daß, als Maria Magdalena ”und die andereMaria“ kamen, das Grab zu besehen, ”ein großes Erdbeben“ geschah. ”Denn der Engeldes Herrn kam vom Himmel herab, trat hinzu und walzte den Stein von der Tur undsetzte sich darauf. Und seine Gestalt war wie der Blitz und sein Kleid weiß als derSchnee. Die Huter aber erschraken vor Furcht und waren, als waren sie tot. Aber derEngel antwortete und sprach zu den Weibern: ,Furchtet euch nicht; ich weiß, daß ihrJesum, den Gekreuzigten, suchet. Er ist nicht hier; er ist auferstanden, wie er gesagthat. Kommt her und sehet die Stelle, da der Herr gelegen hat. Und gehet eilend hin, undsaget es seinen Jungern, daß er auferstanden sei von den Toten. Und siehe, er wird voreuch hingehen nach Galilaa, da werdet ihr ihn sehen. Siehe, ich habe es euch gesagt.‘Und sie gingen eilends zum Grabe hinaus, mit Furcht und großer Freude, und liefen,daß sie es seinen Jungern verkundigten“33.

Nach den Angaben bei Matthaus ”waren somit die zum Grabe gekommenen FrauenZeugen des Erdbebens, der Herabkunft des Engels, der den Stein vom Grabe abwalzte(und damit die Siegel brach), und des Schreckens der Huter. Weder sie, noch destoweniger die Huter waren Zeugen der Auferstehung selbst. Die Auferstehung hattealso schon stattgefunden, bevor der Engel herabgekommen war und bevor der Steinabgewalzt wurde; es war das jeglichem Blicke Unzugangliche und Unfaßbare gesche­hen“. Der russische Kunstforscher Leonid Ouspensky, dessen Text ich hier gefolgtbin34, hat liturgische und exegetische Textstellen aus der sakralen Literatur der Ostkir­che zusammengestellt, die sich auf die Auferstehung beziehen: ”In der uberliefertenorthodoxen Ikonenmalerei wurde der eigentliche Augenblick der Auferstehung Christinie dargestellt. Im Gegensatz zur Auferstehung des Lazarus schweigen die Evange­listen und die Uberlieferung daruber; sie sagen nicht, wie der Herr auferstanden ist.Auch die Ikone zeigt es nicht. Dieses Schweigen verdeutlicht den Unterschied zwi­schen beiden Ereignissen: Wahrend das Wunder der Auferstehung des Lazarus einemjeden zuganglich war, blieb die Auferstehung Christi sogar den Engeln unzuganglich“.

”Deine unkorperlichen Engel fuhlten es nicht, als Du auferstandest“ (SticharionTon 5, Samstags­Fruhmette). ”Im sechsten Lied des Osterkanons zieht die Kirche eineParallele zwischen der Auferstehung Christi und seiner Geburt: ,Die Siegel unversehrt

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16 Hollenfahrt Christi

erhaltend bist Du, Christus, aus dem Grabe auferstanden, die Siegel der Jungfraunicht verletzend bei Deiner Geburt, und hast uns die Paradiespforte geoffnet‘. Wie diejungfrauliche Geburt wird hier die Auferstehung als unfaßbares Geheimnis verherrlicht.Die Unfaßbarkeit dieses Ereignisses fur den menschlichen Verstand und folglich dieUnmoglichkeit, es darzustellen, ist der Grund fur die Abwesenheit des Bildes derAuferstehung selbst.“35

Die Apostelgeschichte berichtet aus den Anfangen der Gemeinde in Jerusalemvon zwei wunderbaren Befreiungen aus dem Gefangnis, einmal mehrerer Apostel unddann des Apostels Petrus. Im 5. Kapitel, V. 17­25, wird erzahlt, wie ein Engel beiNacht die Apostel aus dem Kerker fuhrte. Am anderen Tag hatten sie vor den Ratdes Hohenpriesters gebracht werden sollen. Aber die Diener des Rates kamen zuruckmit der Meldung: ”Das Gefangnis fanden wir verschlossen mit allem Fleiß, und dieHuter außen stehen vor den Turen, aber da wir auftaten, fanden wir niemand darinnen“.Vorher heißt es, V. 19: ”Der Engel des Herrn tat in der Nacht die Turen des Gefangnissesauf“. Es war dieses Offnen der Turen aber ein transzendentes Geschehen, denn furmenschliche Augen und menschliche Kenntnis waren und blieben sie ”verschlossenmit allem Fleiß“. Ebenso ging es im zweiten Fall zu, von dem im 12. Kapitel, V. 1­10 und18­19, berichtet wird. Herodes hatte Petrus greifen und ins Gefangnis bringen lassen,wo seine Bewachung ”vier Rotten von je vier Kriegsknechten“ aufgetragen ward.Nachts ”schlief Petrus zwischen zween Kriegsknechten, gebunden mit zwo Ketten unddie Huter vor der Tur des Gefangnisses“. Da erschien ein Engel in diesem Gefangnis,das zugleich von Licht erfullt wurde. Der Engel weckte Petrus, dessen Ketten abfielen.Er befahl ihm, sich zu gurten, seine Schuhe anzuziehen und den Mantel umzuwerfenund fuhrte Petrus durch den Vorraum des Gefangnisses aus diesem hinaus, ging mitihm noch eine Gasse lang und schied dann von ihm. Auch hierbei gingen Turen auf:

”Die eiserne Tur, welche zur Stadt fuhrte, die tat sich von ihr selber auf.“ Aber auchhier war das sich Offnen der Turen transzendent. Keiner der Wachter hatte bei Nachtetwas davon gemerkt: ”Da es aber Tag ward, war nicht eine kleine Bekummernis unterden Kriegsknechten, wie es doch mit Petrus zugegangen ware. Herodes aber, da er ihnforderte, und nicht fand, ließ er die Huter verhoren und hieß sie wegfuhren.“36

Aus diesem zweiten Bericht hat Raffael die Komposition seines Wandbildes der Be­freiung Petri im Heliodorzimmer des Vatikans geformt. In der Mitte des Bildes blicktman wie durch ein großes Gitter in das Innere des aus machtigen Quadern erbautenGefangnisses, wo Petrus von zwei Kriegsknechten bewacht wird, die in voller Rustungauf ihre Waffen gestutzt schlafen. Die Lichtgestalt des Engels weckt Petrus. Auf derrechten Seite des Bildes sieht man dann im Vorraum des Gefangnisses den Engel nocheinmal, wie er Petrus, der schattenhaft hinter ihm erscheint, hinausfuhrt, an den anderenschlafenden Schergen vorbei. Soweit folgt Raffael in seiner Darstellung des Vorgangsdem biblischen Bericht. Mit dem, was er auf der linken Seite seines Bildes vor sichgehen laßt, weicht er von diesem ab. Denn hier ist, im Gegensatz zum Text der Apostel­geschichte, der besagt, daß die Wachter erst ”da es Tag ward“ das ihnen unerklarlichbleibende Verschwinden des Petrus bemerkten, eine Gruppe von gerusteten Kriegern zusehen, die, in der Mondnacht von fernem Gerausch geweckt, auffahren. Einer von ihnenselbst steht schon auf den Beinen und ermuntert die anderen, sich uber sie beugend,mit heftiger Gebarde zugleich mit dem rechten Arm in der Richtung des Gefangnissesweisend. Diese Gruppe der aufwachenden Kriegsknechte hat Raffael auf der linken

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Hollenfahrt Christi 17

Seite angebracht, zunachst, weil diese ausgefullt werden mußte, und dann, weil sichmit ihrer Darstellung ihm Gelegenheit bot, sein aus der Anschauung der Werke Leo­nardos und Michelangelos gewonnenes Konnen in der Wiedergabe der Bewegung dermenschlichen Gestalt und ihrer perspektivischen Verkurzung im Raume zur Geltungzu bringen. Auch konnte er an den vom Mondlicht beleuchteten geharnischten Gestal­ten jenes Spiegeln des Lichtes auf blanken Metallflachen zeigen, dessen malerischeBewaltigung in der italienischen Malerei seiner Zeit durch Leonardo und besondersdurch Giorgione erfolgt war. Endlich aber, und wahrscheinlich hauptsachlich, aus demDrang, das Bildganze ohne Rucksicht auf den biblischen Text, den es darzustellen hatte,durch freie Gestaltung zu beleben.

Die freie Behandlung des traditionsgebundenen Themas wurde Raffael von seinenAuftraggebern, den Renaissancepapsten Julius II. und Leo X., gestattet, fur die dieWandbilder des Heliodorzimmers – die Befreiung Petri durch den Engel, die Vertrei­bung Heliodors aus dem Tempel von Jerusalem durch himmlische Gewalt, die Ver­scheuchung Attilas aus Italien durch die drohende Erscheinung der Apostelfursten –zudem den Charakter eines politischen Manifests hatten und sich auf den Ruckzug derFranzosen aus dem Kirchenstaat und dessen Befreiung nach dem Sieg der papstlichenKoalition bei Ravenna (1512) beziehen sollten. Dazu kam die auch sonst uberall inder italienischen Renaissancemalerei zutage tretende Freiheit in der Behandlung deruberlieferten Bildinhalte, mit der bereits im ausgehenden 15. Jahrhundert Ghirlandajodie Florentiner Gesellschaft seiner Zeit in die Wochenstube der heiligen Anna oderBotticelli in die Anbetung der Konige einfuhrte. Und schon Giotto hatte die klassi­schen byzantinischen Kompositionsschemata fur die Darstellungen aus dem Leben derGottesmutter und dem Leben Christi italienisch­volkstumlich durchsetzt und damitgerade das Neue gebracht, das die Renaissancemalerei eroffnet (B. F., S. 129). EinAnderes, tiefer Zuruckreichendes lag aber zugleich dieser Freiheit der Renaissance­malerei zugrunde – namlich, daß die romische Kirche bereits seit dem Zeitalter derGotik, und fruher schon, der Dynamik, der Werdelust des Abendlandes auch im Ge­biet der bildenden Kunst keine unbedingten Schranken zu stellen fur weise gehaltenhatte. Wenn im Westen die Geistlichkeit das unveranderte Einhalten bestimmter Bild­symbole und deren Anbringung an feststehenden Stellen in den Kirchen mit gleicherasketischer Strenge verlangt hatte, wie dies von seiten der Ostkirche geschah, hattedie Entwicklung der westlichen Architektur von den romanischen Formen zur Gotiknicht stattfinden konnen. Durandus, einer der großen Liturgisten der romischen Kircheund Zeitgenosse der zweiten Halfte des 13. Jahrhunderts, sagt, daß ”die verschiedenenBegebenheiten des Neuen wie des Alten Testaments nach dem Gutdunken der Malerabgebildet werden, denn Maler und Dichter haben gleicherweise immer alles, was siewollten, wagen konnen“37.

Der Unterschied zwischen dem Wesen der kirchlichen Kunst des Westens und der desOstens ergab sich aus der Verschiedenheit in der Bewertung des Bildes (B. F., S. 10­13).Im Westen war das Bild – soweit es nicht unter die Furbitte und Nothelfer aufgenommenwurde – nach den Worten Gregors des Grossen eine Bibel der Analphabeten (B. F. S.10). Im Osten war es ”Entfaltung der Christologie“38. Im Westen, wo seit dem 12.Jahrhundert die Maler vorwiegend Laien waren (B. F., S. 10), ließ die Kirche dieKunstler gewahren: Denn diese kamen aus dem Volk, und was sie mit zunehmenderFreiheit volkstumlich schufen, war das, was die Massen am meisten beeindrucken

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mußte, auch wenn es dem Inhalt der Schrift nicht in allen Stucken entsprach. Im Ostenwaren die Maler Monche, und was sie schufen, wurde, auf Grund der ikonosophischenKonzeption von der Vermittlung der Heilstatsache, durch das Bild (B. F., S. 11) derSchrift gleichgestellt; es war heilig wie die Schrift und mußte traditionsgebunden undauthentisch wie diese sein. So konnte denn im Westen eine Bildgestalt aufkommen undweitestgehende Verbreitung und stete Wiederholung finden, von der der evangelischeText nichts weiß, ja, die zu dem Sinn desselben im Widerspruch steht: das Bild derAuferstehung Christi, bei der dieser, in der Mehrzahl der Darstellungen die Siegesfahnein der Hand haltend, dem offenen Grabe entschwebt, wahrend die Huter des Grabestaumelnd zu Boden sinken.

Es ist befremdend genug fur einen Kunsthistoriker, der, von der westeuropaischenKunst herkommend, die große Sakralkunst der ostlichen Kirche zu ergrunden sucht, vonderen Studium her zu dieser Erkenntnis zu gelangen, und es hat daher bei dieser Darle­gung des Auferstehungsthemas eines gewissen Umweges bedurft. Die Auferstehungs­darstellung, wie sie auf spateren Zeichnungen Michelangelos und auf dem IsenheimerAltar erscheinen, gehoren zum Großten der europaischen Kunst. Das Menschheits­symbol der Auferstehunng – Osiris, Adonis, Christus – hat in ihnen wie nirgends sonstGestalt gewonnen. Vom Standpunkt der Evangelien mussen sie abgelehnt werden. Dennwenn wir uns auf den Boden der Evangelien stellen, so hat kein sterblicher Menschden Vorgang der Auferstehung erlebt oder gesehen – auch die Huter des Grabes nicht– und keines Menschen Hand ist jemals berufen gewesen, ihn darzustellen.

Wahrend die Apokryphen39 vielfach die in den Evangelien berichteten Ereignisseaus dem Leben Christi, im besonderen diejenigen, welche sich um seine Mensch­werdung und fruhe Jugend gruppieren, durch nahere Angaben zu erganzen trachten,bewahren sie, ebenso wie die Evangelien selbst, Schweigen uber den Vorgang seinerAuferstehung. Dagegen schildern die Apokryphen – vor allem das sogenannte Nikode­musevangelium – mit großer Ausfuhrlichkeit ein Ereignis, das sich zwischen dem TodeChristi und seiner Auferstehung (somit am Karsamstag) abgespielt hat: die Hollenfahrt.Uber die Hollenfahrt Christi ist in den Evangelien, mit Ausnahme der Worte Joh. 5, 25,die vielleicht als ein Hinweis auf diese gedeutet werden konnen, nichts berichtet. Nuran zwei Stellen des Neuen Testaments gibt es dunkle Erwahnungen, die von einemAufenthalt Christi in der Holle sprechen. Da ist zunachst die Stelle Apostelgeschichte2, V. 30, 31, wo Petrus in seiner inspirierten Rede davon spricht, daß, da David einProphet war, ”hat ers zuvor gesehen, und geredet von der Auferstehung Christi, daßseine Seele nicht der Holle gelassen ist“40. Weiter wird im ersten Petrusbrief, 3, 19,gesagt, daß Christus im Zusammenhang mit Tod und Auferstehung ”hinging und denGeistern im Gefangnis predigte, die einst ungehorsam gewesen waren, als die Lang­mut Gottes zuwartete in den Tagen Noahs, wahrend die Arche gebaut wurde“. MitRecht ist bemerkt worden, ”daß fur die ersten Leser des Briefes die von uns nur rekon­struierbaren religionsgeschichtlichen Voraussetzungen des schwierigen Textes gelaufiggewesen sein mussen; ihnen konnte der Gedanke der Hadesfahrt Christi hier gar nichtentgehen, zumal der Text deutlich darauf hinweist, daß Christus zum Zwecke der Pre­digt an die Geister ,hinabging‘“. Auch der Satz ”Herabgefahren ins Totenreich“, dersich in dem seit dem 4. Jahrhundert geltenden ”Apostolischen Glaubensbekenntnis“zwischen der Erwahnung des Begrabnisses und der Auferstehung Christi findet, mußin der fruhchristlichen Zeit mit großerer Deutlichkeit als biblisch begrundet empfunden

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worden sein, als dies heute erkennbar ist. So kann es verstandlich erscheinen, daß dieOstkirche die Hollenfahrt ”als Schwelle des kommenden Triumphes der AuferstehungChristi und folglich auch der kunftigen Auferstehung aller Toten“ an die Stelle jenessich der Verbildlichung versagenden Vorgangs der Auferstehung gesetzt hat, mit derBeischrift H ANACTACIC, ”Die Auferstehung“ (B. F., S. 67, Abb. 35, 37).41

Die Frage nach den Stufen, uber welche sich die Ikonographie des Jungsten Gerichtskonstituiert hat, kann nur unter Berucksichtigung der Byzantinischen Frage (B. F., S.116) genugend beantwortet werden. Da die deutsche Kunstwissenschaft alles, was zurErorterung der Byzantinischen Frage dient, weitgehend vernachlassigt42, herrscht inder deutschen kunstgeschichtlichen Literatur hinsichtlich der Entstehung des Weltge­richtsbildes Mißverstandnis. Vollkommen abwegig ist die Behauptung Dehios, daß dasWeltgerichtsbild ”nicht aus dem christlich­antiken Typenvorrat geschopft“, sondern

”die erste große selbstandige Neuschopfung der germanischen Phantasie im christ­lichen Bilderkreise“ sei und daß ”mit Recht ... schon darauf hingewiesen“ wordensei, ”daß bei den Germanen die Vorstellungen von Weltuntergang und Gericht einbesonderes Entgegenkommen fanden, wie Gedichte sie zeigen: Muspilli, Heliand, derangelsachsische Krist, die nordische Woluspa“43. Das Gegenteil ist der Fall. Die Iko­nographie des Jungsten Gerichts hat sich – auf Grund seiner zahlreichen Erwahnungenin den vier Evangelien und sonst im Neuen und auch im Alten Testament – in einerZeit zu formen begonnen, in der der Norden Europas noch nicht christianisiert war.Auf Grund von Matthaus 25, 31­33: ”Wenn aber des Menschen Sohn kommen wird inseiner Herrlichkeit, und alle heiligen Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Stuhlseiner Herrlichkeit. Und werden vor ihm alle Volker versammelt werden. Und er wirdsie von einander scheiden, gleich als ein Hirte die Schafe von den Bocken scheidet.Und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und die Bocke zur Linken“44, hat die alt­christliche Kunst das Jungste Gericht zunachst im Symbol des thronenden, von Engelnbegleiteten, die Schafe von den Bocken scheidenden Guten Hirten dargestellt, wovonein eindrucksvolles Beispiel unter den um 500 entstandenen christologischen Mosai­ken an den Hochwanden des Mittelschiffes von Sant Apollinare Nuovo in Ravennaerhalten ist45. Aber bereits im 4. Jahrhundert hatte der 306 in Nisibis in Mesopotamiengeborene, von Basilius dem Großen zum Diakon geweihte, 383 in Edessa verstorbenechristliche Mystiker Ephraim (Aphrem) der Syrer, genannt ”die Zither des HeiligenGeistes“, in seinen Visionen das Jungste Gericht so geschaut, wie es am Ende der Tagevor sich gehen wird nach der von einem Engelheer begleiteten Zweiten Wiederkunft,

”zu richten die Lebenden und die Toten“. Eine Verbildlichung des Jungsten Gerichtsin ”historischer“ Form konnte nur in mehreren ubereinander gestaffelten Bildzonengegeben werden, in einer vertikalen Streifenkomposition, gegenuber seines Bildes inder ersten ”symbolischen“ Form, fur die ein einfaches Bildfeld genugte.

Die alteste bisher bekannte Darstellung des Jungsten Gerichts in der ”historischen“Streifenkomposition zeigt eine Miniatur der ”Christlichen Topographie“ des CosmasIndicopleustes, ”Kosmos des Indienfahrers“ , eines alexandrinischen Kaufmanns des6. Jahrhunderts, die in mehreren spateren Kopien erhalten ist, von denen die beste,aus dem 7. Jahrhundert, sich in der Vatikanischen Bibliothek befindet. In vier uber

41 Siehe Anhang

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einander gestaffelten Zonen erblickt man zuoberst den in einem Ovalnimbus thronendenChristus, dessen Rechte im Redegestus erhoben ist, wahrend er in der Linken das Buchhalt. Unter ihm und zu ihm aufblickend, zwei Engelgruppen, dann unter diesen Gruppenvon Menschen und in der untersten, vierten Zone die auferstehenden Toten.46 HundertJahre spater, um 750, findet sich eine Streifenkomposition des Jungsten Gerichts ineinem Hauptwerk der irischen Miniatur, dem Kodex 51 der St. Gallener Stiftsbibliothek.In zwei Zonen werden hier dargestellt: zu oberst der Weltenrichter mit dem Kreuz unddem Buch, im Redegestus (?). Zu beiden Seiten von ihm zwei posauneblasende Engel(Matth. 24, 31; 1. Thessalon. 4, 16), darunter, in der zweiten Bildzone, die zwolf Apostelals Beisitzer des Jungsten Gerichts, zu ”richten die zwolf Geschlechter Israels“ (Luk.22,30), hier mit Buchern in den Handen’.

Die Weltgerichtsdarstellung im Sangallensis 51 zeigt, wie allgemein die Verbreitungder vielfigurigen Streifenkompositionen des Jungsten Gerichts bereits im 8. Jahrhundertgewesen ist. Um 800 wird ein zum großeren Teil erhaltenes großes Weltgerichtsbild an­gesetzt, das in der Kirche des Benediktinerinnenklosters St. Johann in Munster­Mustairin der Ostschweiz vor kurzem aufgedeckt worden ist. Hier erscheint der Weltenrichterzwei Mal: in einer Kreisglorie, mit ausgebreiteten Armen, von Engeln umgeben in Ma­jestat thronen, wahrend zu beiden Seiten die zwolf Apostel, unter Arkaden, zu sehensind – und dann in einer Ovalglorie, von Engeln getragen, das Gericht einleitend. Weitersind, zum Teil nur in Fragmenten, der den Himmel wie ein Buch zusammenrollendeEngel (Apokal. 6, 14), ein posaunenblasender Engel, auferstehende Tote und Seligeund Verdammte zu sehen.48

Um die Mitte des 9. Jahrhunderts wird ein Gerichtsbild in der Unterkirche von S.Clemente in Rom datiert, zur Zeit des Papstes Leo IV. (847­855)49. Dehio erwahnt inAbschrift erhaltene Verse unter einem verschwundenen St. Galler Wandbilderzyklusaus der Zeit um 870, der ein Weltgerichtsbild enthielt, wobei der terribilis vultus,das schreckenerregende Angesicht des Richters erwahnt wird. Unter den zahlreichbekannten karolingischen Tituli (Versunterschriften zu monumentalen Wandbildern)soll sich kein auf das Weltgericht bezuglicher befinden.50

Fur die fruhen Weltgerichtsbilder ist bezeichnend, daß sie kein einheitliches Kom­positionsschema aufweisen, außer daß auf den meisten von ihnen der Weltenrichterin alles ubrige uberragender Gestalt, umschlossen von einem Kreis­ oder Ovalnimbus,erscheint und daß vor ihm oder neben ihm ein großes Kreuz zu sehen ist. Dies setzt sichim Westen bis in das 11. Jahrhundert und daruber hinaus fort, was auf drei von Dehioabgebildeten Weltgerichtsdarstellungen des 11. Jahrhunderts wahrgenommen werdenkann.51

Im Osten kommt es dagegen im 8.­9. Jahrhundert zur Zeit des zweiten Nikanums,787, oder nach der endgultigen Wiederherstellung der Bilder (vielleicht aber uber­haupt schon fruher) zu einer festen Zusammenfassung und Vereinheitlichung allerauf die Vorgange des Jungsten Gerichts bezuglichen Bildmotive zu einer geltenden,machtvollen Formel. Zu ihrer Grundlage wurden in ubereinander gestaffelten Streifenangeordnete Darstellungen Kaiserlicher Triumphalreliefs gewahlt von der Art derer,die ehemals den Sockel der Arkadiussaule in Konstantinopel, aus dem Anfang des 5.Jahrhunderts, schmuckten und die sich in einer Anzahl exakter alter Nachzeichnungen

46 Siehe Anhang.

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erhalten haben, die im Trinity­College in Cambridge aufbewahrt werden. Eine Homi­lie des Johannes Chrysostomus (gest. 407) schildert den Frieden in der Gottesstadt

”nach einem furchtbaren, doch siegreichen Kriege“, den Christus mit dem Tode undder Sunde gefuhrt hat. Die Art, wie hier das Bild der Siegestrophaen, der Zustandder Besiegten und der Anblick der Gefangenen geschildert wird, laßt erkennen, daßdieser Beschreibung der Eindruck von einem Triumphalrelief in der Art der einst amSockel der Arkadiussaule angebrachten Marmorreliefs zugrunde liegt. Reliefs, die denTriumph des Kaisers darstellen, haben – nachdem Ansatze zur Streifenkompositiondes Jungsten Gerichts schon fruher aufgetreten waren – bei der endgultigen Formulie­rung der Gerichtsdarstellung wahrend oder nach der Beendigung des Bilderstreits dasVorbild zur vollen Ausgestaltung des Themas gegeben. An den Reliefs vom Sockelder Arkadiussaule erblickt man die zentrale Siegestrophae des Kaisers an derselbenStelle, an der spater die Hetoimasie, der fur den Weltenrichter bereitete Thron mitdem Triumphkreuz, welcher zugleich sein Symbol und sein Tropaum ist, in den Dar­stellungen des Jungsten Gerichts erscheint. Die von Engeln begleiteten Gestalten vonAdam und Eva, die als Vertreter der Menschheit zu beiden Seiten dieses Thrones knien,finden ihr Gegenstuck auf den Kaiserlichen Triumphalreliefs in den Gestalten gefes­selter Barbaren, die von geflugelten Niken zum Fuße der Siegestrophae herausgefuhrtwerden und vor dieser niederfallen. ”Die von Christus verdammten Gefangenen derHolle haben ihr Gegenstuck in den Gefangenen des Kaisers. Die einen wie die andernwerden den Blicken der Menge ausgesetzt, um durch den Anblick ihrer Leiden denJubel der getreuen Untertanen Christi oder des Kaisers um so deutlicher hervortretenzu lassen“.52

So wie die nach den im Perser­ und Arabersturm des 7. Jahrhunderts unterge­gangenen monumentalen Mosaiken und Fresken der konstantinisch­theodosianischenGrundungsbauten in Palaestina jene gultigen Formeln fur die christologischen The­men geschaffen hatte, nach deren Vorbild der werdende Westen durch Jahrhundertederen Darstellung ausgerichtet hat, einschließlich Giottos in der Arenakapelle (B. F.,S. 125­130), schuf die byzantinische Ikonographie jene grandiose, aus dem Bildty­pus des siegreichen Kaisers in den des siegreichen Christus ubersetzte abschließendeFormulierung des Weltgerichtsbildes, die eine weite Wirkung gehabt hat.

Zu welchem Zeitpunkt die Angleichung des Weltgerichtsbildes an den Kaisertri­umph stattgefunden hat, wird sich mit Bestimmtheit kaum feststellen lassen. Sie kann,wie bereits gesagt, auch vor dem 8. Jahrhundert zustande gekommen sein.53 Erst ausdem 11. Jahrhundert sind Denkmaler vorhanden, die sie zeigen. Diese Denkmaler zeich­nen sich dadurch aus, daß ihre detaillierten Darstellungen des Jungsten Gerichts, mitder Deesis54, den Aposteln als Beisitzer, der Hetoimasia, der Auferstehung der Toten,veranlaßt durch den Ton der Posaunen, das Einrollen des Himmels, der Seelenwage,dem Feuerstrom, der die Verdammten zur Holle reißt, den Choren der Seligen, der Pa­radiesespforte und Abrahams Schoß, einander in allen Einzelheiten genau entsprechen.Dies weist darauf hin, daß die Herausarbeitung der grandiosen Weltgerichtsformel zuihrer Einheit mehrere Jahrhunderte vor dem 11. Jahrhundert in Anspruch genommenhaben muß, aus dem die ersten Beispiele des byzantinischen Weltgerichts bekannt sind:zwei Miniaturen des Codex graecus 74 der Pariser Nationalbibliothek (B. F., S. 146,

54 Siehe Anhang

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Anm. 111). Sie stellen beide das Weltgericht in allen Teilen in demselben Bestande dar.Das etwa 150 Jahre spater entstandene Weltgerichtsfresko in der Erloserkirche von

Neredica bei Groß­Novgorod (Nordrußland), das mit der gesamten ubrigen bis dahinwohlerhaltenen Bildausstattung dieser Kirche von 1199 im zweiten Weltkrieg zerstortwurde, entspricht in allen seinen Teilen den genannten Miniaturen des Parisinus 74.55

Fragmente von Weltgerichtsdarstellungen aus der zweiten Halfte des 12. Jahrhun­derts, die in der Georgskirche von Staraja Ladoga (Alt Ladoga) und in der Kirche desMirosklosters bei Pskow erhalten sind56, stimmen mit den entsprechenden Motivender Weltgerichtsminiaturen des Parisinus 74 und den Fresken der Neredica­Kirche inderselben Weise uberein, wie mit den formal und koloristisch hervorragenden Weltge­richtsfragmenten in der Demetrius­Kirche von Vladimir (Zentralrußland)57. Ebenso istin allen seinen Teilen ubereinstimmend mit den genannten Miniaturen des Parisinus 74,den Weltgeriditsfresken von Neredica und den Fragmenten von Staraja Ladoga, Mirosund Vladimir das gegen 15 Meter hohe, aus vier uber einander gestaffelten Zonenbestehende, die byzantinische Gerichtsdarstellung in monumentaler Große reprasen­tierende um 1200 entstandene Weltgerichtsmosaik im Dom von Torcello bei Venedig.58

Der russische Kunsthistoriker Viktor Lazarev hat aus dem Vergleich der Gerichtsdar­stellung von Torcello mit den Fragmenten von Vladimir richtig erkannt, daß es sich inTorcello um das Werk byzantinisch geschulter, in allen Stucken dem byzantinischenBildprogramm folgender italienischer Meister handelt.59 Diese mussen hier – ahnlichwie bei den Mosaiken von San Marco (B. F., S. 66) – unter Anleitung und teilweiserMitarbeit byzantinischer Mosaizisten an dem großen Weltgerichtsbilde gearbeitet ha­ben. Eine gewisse Starrheit bestimmter Teile des Weltgerichitsmosaiks von Torcello– so in den Apostelgruppen – legt davon Zeugnis ab. In seinem Ganzen vertritt dasWeltgerichtsmosaik von Torcello fur unsere Kenntnis den machtigen byzantinischenKanon der Gerichtsdarstellung, der von grandioser Einheitlichkeit ist, gegenuber denwechselnden, von einander zum Teil weitgehend abweichenden Gerichtsbildern dermittelalterlichen Kunst des Westens.

Ein wesentlicher Unterschied zu diesen ist, daß der im Westen stets ubergroß gebil­dete thronende Weltenrichter im byzantinischen Gerichtsbild dem griechischen Men­schenmaß angenahert wird und im Zentrum der Deesis – mit der Gottesmutter zu seinerRechten und dem Taufer zu seiner Linken, die sich ihm mit bittender Gebarde zuwen­den – zu sehen ist. Dazu kommt der klare Bildgedanke des Ganzen, im Unterschied zudem unubersichtlichen Gedrange formal unausgewogener Massen auf den westlichenGerichtsbildern. So erweist auch im Weltgerichtsbilde die byzantinische Ikonographieihre Herrschaft im Gebiet der Form.

Das byzantinische Gerichtsbild ist, wie die ubrigen ikonographischen Schopfungenvon Byzanz, fur den Westen vielfach beispielgebend gewesen. In diesem Zusammen­hang sind vor allem drei Denkmaler der mittelalterlichen Malerei des Westens zunennen: das große, in der zweiten Halfte des 11. Jahrhunderts entstandene Fresko ander westlichen Eingangswand in der Kirche Sant’Angelo in Formis, bei Capua Veterein Kampanien, die um 1200 entstandene vatikanische Weltgerichtstafel und das großeWandbild des Jungsten Gerichts, das Pietro Cavallini zwischen 1291 und 1293 in Sta.

58 Siehe Anhang59 Viktor Lazarev, The mosaics of Cefalu, in Art Bulletin, 1935, XVII, 184­232 und ders., Geschichte

der byzantinischen Malerei, Moskau 1947, 2 Bde. (russ.).60

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Cecilia in Trastevere in Rom gemalt hat und das 1901 unter spateren Ubermalungenaufgedeckt worden ist.

Von dem Gerichtsbild in Sant’Angelo in Formis sagt Charles Diehl treffend, daß,wer es einerseits mit Torcello, andererseits mit dem Weltgerichtsbilde von Oberzell aufder Reichenau vergleichen wollte, zu dem Ergebnis kommen wurde, daß es weit mehrden Charakter des westlichen als des byzantinischen Gerichtsbildes zeige. Der Meisterdieses Riesenbildes habe eine westliche Gerichtsdarstellung nur byzantinisch einge­kleidet.60 Die vatikanische Gerichtstafel zeigt ebenso ein zwischen der westlichengedrangten Vielgestalt und der Klarheit der byzantinischen Bildform schwankendesWesen.61 Das Wandbild Cavallinis ist in den großen Akzenten byzantinisch bestimmt,die Gestalt des Weltenrichters, die Apostel als Beisitzer, die Hetoimasie, die Chore derSeligen lassen das byzantinische Vorbild erkennen.62 Wie schon von Joseph Wilpert be­merkt worden ist, hat Raffael die Komposition seiner ”Disputa“ unter dem Eindruck derGerichtsdarstellung Cavallinis angelegt. Bei Raffael wirkt zunachst in der Zweiteilungseines Bildes – Himmel und Erde – und dann im einzelnen im oberen, himmlischen Teildas Motiv der byzantinischen Deesis (der Weltenrichter mit der Gottesmutter und demTaufer) und, frei abgewandelt, das der Apostel als Beisitzer, im unteren, irdischen, indem Altar mit der Hostie, die byzantinische Hetoimasie nach. So lebt das romische Tri­umphalrelief, das seinerzeit mit den Mitteln der griechischen Kunst geschaffen wurde,uber das byzantinische Weltgericht in dem Wandbilde Raffaels weiter. Die Traditions­linie, die von der Hoheit der antiken Form uber Byzanz zur Kunst des italienischenCinquecento und der von diesem inspirierten weiteren europaischen Kunst fuhrt, wirdhier deutlich sichtbar.

Philipp Schweinfurth, Die byzantinische Form. Ihr Wesen und ihre Wirkung, 21954, S. 176 – 184.

60 Charles Diehl, Manuel d’art byzantin, II, S. 728.61 Veroffentlicht von W. Paeseler im Jahrbuch der Bibliotheca Hertziana, 2. Bd., Rom 1938, ohne

genugende Berucksichtigung des Gerichtsbildes der byzantinischen Ikonographie.62 Joseph Wilpert, Die romischen Mosaiken und Wandmalereiender kirchlichen Bauten vom 4. bis 13.

Jahrhundert, Freiburg 1917, II, S. 1205.

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Anmerkungen

41 In der altchristlichen Kunst wird der Vorgang der Auferstehung durch die Errettung desJonas aus dem Leibe des Walfisches angedeutet. Als fruhestes Beispiel der Hollenfahrtist ein Relief an Ziboriumssaulen von San Marko in Venedig bekannt, die aus dem 5.­6.(nicht aus dem 12.) Jahrhundert sind.

Werner Georg Kummel, Die Hollenfahrt Christi im Neuen Testament. Neue ZurcherZeitung, 21. 10. 1950, Blatt 4, Nr. 2223 (43). Darin zitiert: J. Kroll, Gott und Holle, 1932;Bo Reice, The disobedient Spirits and Christian Baptism, 1946; Werner Bieder (Univ.Basel), Die Vorstellung von der Hollenfahrt Christi. Beitrag zur Entstehungsgeschichteder Vorstellung vom sogenannten Descensus ad inferos. Abhandlung zur Theologiedes Alten und Neuen Testaments, 19. ZwingliVerlag, Zurich 1949. Die Hollenfahrtin der Auffassung der Ostkirche wird in Ouspensky­Lossky, Vom Sinn der Ikonen,Bern und Olten, 1952, S. 189­191 wie folgt dargelegt: ”In der Lehre der Kirche istdie Hollenfahrt von der Erlosung untrennbar. Weil Adam gestorben ist, mußte dieErniedrigung (Kenosis) des Heilands, der seine Natur angenommen hatte, bis zu derTiefe gehen, in die Adam herabgestiegen war. Mit anderen Worten ist die Hollenfahrt dieaußerste Grenze der Erniedrigung Christi und zugleich der Anfang seiner Herrlichkeit.Die Evangelisten sprechen nicht uber dieses geheimnisvolle Ereignis. Doch verkundetes der Apostel Petrus ... Der Sieg Christi uber die Holle, die Befreiung Adams undder alttestamentlichen Gerechten, das Hauptthema des Gottesdienstes am Karsamstag,geht durch den ganzen Ostergottesdienst hindurch und ist mit der Verherrlichung desim Leibe auferstandenen Christus eng verflochten. ,Du stiegst hinab in die Tiefen derErde und zermalmtest die ewigen Siegel der gefesselten Ketten, o Christus, und amdritten Tage, wie aus dem Meerungetum Jonas, standest Du auf aus dem Grabe‘ ...[Christus] erscheint ... in der Holle nicht als ihr Gefangener, sondern als Sieger, alsBefreier der dort gefangen Gehaltenen, nicht in Sklavengestalt, sondern als der Herrdes Lebens ... in einer strahlenden Aureole, dem Symbole der Herrlichkeit [B. F. 51a] ...Nachdem Er mit Seiner Allmacht die Hollenfesseln zerbrach, zieht Er mit der rechtenHand Adam aus dem Sarge, und nach diesem steht die Urmutter Eva, die Hande imGebet gefaltet, auf. Das bedeutet, daß Christus die Seele Adams und mit ihr die Seelenaller Menschen, die mit Glauben Seine Ankunft erwarteten, befreit. So sind auch rechtsund links von dieser zentralen Szene zwei Gruppen alttestamentlicher Gerechter mitden Propheten an der Spitze dargestellt: David und Salomo in koniglichem Gewandeund Krone [als dritter Konig zuweilen Melchisedek, vgl. Schweinfurth, Bojana, Abb.35] ... Johannes der Vorlaufer, Moses .. So ist [im Bilde der Hollenfahrt] die geistigeAufrichtung Adams als Bild der zukunftigen korperlichen Auferstehung, deren Erstlingdie Auferstehung Christi ist, gemeint. Deshalb ist [diese Darstellung] obgleich sie dieEreignisse des Karsamstags abbildet und an diesem Tage zur Verehrung ausgestelltwird, eine Osterikone, und wird auch so genannt ... ,Nachdem Er jene, welche seitUrzeiten gefesselt lagen, befreit hatte, kehrte Christus wieder aus der Mitte der Totenzuruck und bereitete dadurch auch uns den Weg zur Auferstehung‘, sagt JohannesDamascenus“.

Im ”Malerbuch vom Berge Athos“ (B. F., S. 16) wird im 106. Abschnitt eine Anlei­tung zur Darstellung der Hollenfahrt Christi gegeben. Seit dem Ende des 16. Jahrhun­derts und dann im 17. drangen westeuropaische ikonographische Motive in die russischeIkonenmalerei ein (frjas, ”frankische Art“), darunter die westliche im Widerspruch zum

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Anmerkungen 25

evangelischen Text stehende Auferstehungsdarstellung, die auf den zusammengesetz­ten, eine Reihe von Darstellungen auf einer Tafel vereinigenden spaten Osterikonenneben der Anastasia erscheint. Aus der byzantinischen Malerei scheint nur eine derwestlichen ahnliche Darstellung im Chludovpsalter (B. F. S. 75, 76) bekannt zu sein.

46 Abb. in Charles Diehl, Manuel d’art byzantin, I, Abb. 117. – Dazu jetzt Beat Brenk,Die Anfange der byzantinischen Weltgerichtsdarstellung, in: Byzantinische Zetschrift57 (1964) S. 106 – 126, hier S. 106 mit Anm. 2: Die fruheste erhaltene Gerichtsdar­stellung der byzantinischen Buchmalerei liegt im Tetraevangelion Cod. gr. 74 des 11.Jahrhunderts der Pariser Nationalbibliothek vor. Die Miniatur erscheint inmitten einesevangelischen Zyklus und begegnet im selben Codex gleich zweimal.Die betuhmte Miniatur in der ”Christlichen Topographie“ des Kosmas Indikopleustes ist somit keineGerichtsdarstellung, wie V. H. Elbern, Lexikon fur Theologie und Kirche IV, Freiburg 1960 S. 736 meint,sondern sie gehort in die umfangreiche Klasse kosmischer Bilder der Spatantike. Wer die christlicheTopographie liest, findet zu Beginn des 4. Buches eine einwandfreie Erklarung der in Frage stehendenMiniatur (C. O. Winstedt: The Christaan Topography of Cosmas Indikopleustes, Cambridge 1909, S.128, Z. 17­22; ˆpÐ tûr cûr İyr to§ steqeÕlator wýqor pqýtÑr Ÿsti, ś jÑslor o£tor,Ÿm ï eĺsim Ťccekoi jaÎ Ťmhqypoi, jaÎ pósa ą m§m jatÉstasir: ŘpÐ to§ steqeÕlatorİyr tûr jalÉqar Ťmy, wýqÑr Ÿstim deÓteqor, ą basikeÏa tým oÿqamým, IJmha ś WqistoÐrŘmakgvheÎr pqýtor pÉmtym eĺsûkhem, ŸcjaimÏsar ąlđm śdÐm pqÑsvatom jaÎ fýsam.) Auchdas Mosaik von S. Michele in Africisco von Ravenna verbildlicht nicht das Jungste Gericht, sonderneine Phase aus der Vorgeschichte des letzten Tages; darauf weisen die 7 apokalyptischen Engel mit denPosaunen hin. Es handelt sich um ein himmlisches Thronbild mit eschatologischem Primargehalt.

54 Die Dreifigurengruppe der Deesis (deesis, griechisch die Bitte, das Gebet), die dieGottesmutter und den Taufer als Fursprecher um den Thron des Weltenherrschers undWeltenrichters vereinigt zeigt und die ”entscheidend bis in die Dispute Raffaels und dasGiudizio Supremo Michelangelos nachwirkt“, ist vielleicht aus der Hymnendichtungdes 5. und 6. Jahrhunderts zu erklaren, die den Taufer als Fursprecher der jungfraulichenMutter gleichwertig gegenuberstellt (vgl. Baumstark, in der Festschrift fur Clemen).Die Deesisformel, das Trimorphon (”Dreigestalt“) kann – ebenso wie die Hetoimasie,die ”Bereitung des Thrones“ fur den Weltenrichter – das Weltgerichtsbild vertreten,so in einem Mosaik des 11. Jahrhunderts das an der Westwand des Katholikon vonVatopedi (Athos), vgl. Diehl, Manuel d’art byzantin, II, S. 524, Abb. 250.

58 Abb. in Charles Diehl, La peinture byzantine, Paris 1933 und Charles Diehl, Manueld’ art byzantin. Philipp Schweinfurth, Das Weltgerichtsmosaik von Torcello, NeueZurcher Zeitung, 1. 6. 52. An der Westwand des Doms von Torcello, der laut dererhaltenen Inscriptio Torcellana, 632 zur Zeit des Kaisers Heraklios und des in Ravennaresidierenden byzantinischen Exarchen Isaac begrundet und 1008 seine gegenwartigeGestalt als dreischiffige Basilika erhalten hat, befinden sich drei Darstellungen inMosaik: zu oberst zwei Festbilder, die Kreuzigung und – in riesigen Dimensionen– die Auferstehung im Bilde der Hollenfahrt (Anastasis). Darunter folgt das in vierZonen angeordnete Gerichtsbild. Die Gesamtflache, welche diese drei Darstellungeneinnehmen, hat eine Hohe von gegen 25 m, wovon 10 m auf die beiden Festbilder,Kreuzigung und Anastasis, und 15 m auf das Gerichtsbild entfallen. Das Gedrangeder Vorgange des Gerichts, uber dem die Majestat des Richters und der Seinen thront,die Macht der eschatologischen Vision, dazu technisch die Unbeirrbarkeit, mit der dieTausende von Farben­ und Goldglaswurfel zum bewegten Riesenbilde gefugt sind, das

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26 Anmerkungen

weithin entwickelte Detail, wie es zugleich im Ganzen lebt, ist ein beeindruckendesBeispiel byzantinischer Mosaikkunst.

In der obersten der vier Zonen des Weltgerichtsbildes von Torcello erblickt man inder Mitte den in blaugoldener Gewandung auf dem Regenbogen thronenden, vom Oval­nimbus umgebenen Weltenrichter, der durch das Ausstrecken seiner die roten Nagel­male aufweisenden Hande das Gericht eroffnet. Seraphim stehen zu seinen Fußen,von denen ein Feuerstrom ausgeht, der nach unten fließt, wo er sich in den beidentiefsten Registern zum hollischen Feuer erweitert. Mit flehender Gebarde stehen rechtsund links von dem Richter die beiden Fursprecher der Menschheit, die Gottesmutterund Johannes der Taufer. Etwas zurucktretend stehen hinter ihnen in der juwelenge­schmuckten Paradekleidung der byzantinischen Kaiser und in roten Schuhen die beidenErzengel Michael und Gabriel, als die Anfuhrer der himmlischen Heerscharen, derenunermeßliche Zahl den Hintergrund fullt. Rechts und links von dieser mittleren Gruppedes Weltenrichters sitzen zu beiden Seiten die Apostel als die Beisitzer des JungstenGerichts, gruppenweise einander zugekehrt und damit ungeachtet der Starrheit ihresonstige Haltung formal noch einen Rest von der Art der antiken Darstellung vonPhilosophengruppen aufweisend.

Die zweite Zone von oben zeigt dann die im Laufschritt antiker Viktorien dahineilen­den hornblasenden Engel, weiter den Engel, der den gestirnten Himmel zusammenrollt,und weiter, in phantastischen Gebilden, die Erde und das Meer, die ihre Toten heraus­geben mussen. In der Mitte dieses zweiten Registers erblickt man noch das aus demKreuz mit der Dornenkrone, der Lanze und dem Rohr mit dem Schwamm und demauf dem Kissen eines Thrones ruhenden juwelengeschmuckten Buch bestehende Tro­paeum des Weltenrichters (Hetoimasia, ”Bereitung des Thrones“), das an der Stellesteht, wo entsprechend im zweiten Register des Kaisertriumphs am Sockel der Arka­diussaule die Kaisertrophae sich befand. Zu dieser wurden, wie bereits erwahnt, vongeflugelten Niken gefangene Barbaren herangebracht, die vor ihr niederfallen. In derbyzantinischen Gerichtsdarstellung fuhren zwei Engel Adam und Eva, als die Vertreterdes Menschengeschlechts, zur kniefalligen Anbetung des Tropaeums des Weltenrich­ters heran, das von Cherubim, die in machtigen Flugelschlag eingehullt sind, bewachtwird.

Die dritte Zone von oben enthalt in der Mitte das letztlich vom Totengericht desOsiris ubernommene Motiv der Seelenwage und den sich um diese begebenden Streitdes Erzengels mit den Teufeln, die, wie immer in der byzantinischen Ikonographie,als huschende schwarze Schatten gebildet sind. Rechts vom Beschauer, und damit zurLinken des Weltenrichters, ist hier das hollische Feuer zu sehen, in das zwei von seinemWiderschein rot ubergossene Engel die Verdammten hineinstoßen, wahrend Satan mitJudas auf dem Schoß in der Tiefe der Holle thront. Auf der entgegengesetzten Seitedes dritten Registers sind die Seligen zu sehen. Sie kommen in Choren daher, vorandie an ihren mit schwarzen Kreuzen versehenen Omophorien (wie das bischoflichePallium im Osten genannt wird) kenntlichen heiligen Bischofe, dann die Martyrer infarbigen, juwelengeschmuckten Seidengewandern, mit denen sie fur ihr Martyriumbelohnt werden, nach ihnen heilige Einsiedler und zum Schluß die heiligen Frauen,angefuhrt von der asketisch abgezehrten Maria Aegyptiaca.

Endlich, zu unterst in der vierten Zone der Gerichtsdarstellung und damit zur Rech­ten des in der Hohe thronenden Weltenrichters, Petrus als Anfuhrer der Seligen, von

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einem Engel zur Paradiesestur geleitet. Diese wird von einem Cherub bewacht. ImParadies der gerechte Schacher mit seinem Kreuz, der als erster nach dem OpfertodeChristi in das Paradies einging, die Gottesmutter als Orantin und, unter den Baumendes Paradieses, Abraham, der den armen Lazarus der Parabel in Gestalt eines klei­nen Kindes (eidolon) im Schoß halt, wahrend die Seelen der Gerechten, ebenfalls alskleine Kinder in weißen Hemden, um ihn herum stehen. Gegenuber sind hollischeMarterkammern zu sehen, Vorbilder der Hollenkreise Dantes. In einer von ihnen istder reiche Mann der Parabel, zu dem armen Lazarus und Abraham hinuberblickendund mit sprechender Gebarde inmitten der Pein der Flammen vergeblich Abraham umeinen Tropfen Wasser anflehend.

Von L. Birchler wird der Typus des Weltgerichts von Torcello irrtumlich als west­lich bezeichnet und mit der Gerichtsdarstellung vom Munster­Mustair und anderenwestlichen Gerichtsdarstellungen in Verbindung gebracht, bei denen der Weltenrich­ter zweimal erscheint (vgl. Anm. 48). In Torcello wird er nur einmal dargestellt. Diegroße Christusgestalt in der uber dem Weltgericht dargestellten Anastasis hat mit derGerichtsdarstellung nichts zu tun.

Philipp Schweinfurth, Die byzantinische Form. Ihr Wesen und ihre Wirkung, 21954, S. 199 – 203.

Vollst andige byzantinische Weltgerichtsbilder tauchen vom 11. Jh. an auf. Im PariserCodex gr. 74 liegt die erste Darstellung der Miniaturmalerei vor, in der PanagiaChalkeon in Saloniki die erste der Monumentalmalerei. Dieser Weltgerichtstypusberuht in allen seinen Motiven, jedoch mit Ausnahme der Deesis, auf den Predigten dessyrischen Dichters Ephraem. Der im Inhalt kompilatorischen Gesinnung entspricht inder Form des Bildes ein miniaturhafter Charakter. Mit großter Wahrscheinlichkeit istdieser Typus von einem klosterlichen Buchmaler geschaffen worden. Es ist moglich,daß das Bild im Studioskloster in Konstantinopel wahrend des Bilderstreites ausgehecktwurde. Jedenfalls verkorpert das Gerichtsbild des Cod. gr. 74 nicht den Urtypus. Ver­schiedene Motive stammen aus der Spatantike: der thronende Christus mit den zwolfAposteln, die Hetoimasia, die Hollenstrafen, die Deesis. Der Typus von Cod. gr. 74wird ohne namhafte Anderungen bis in die Neuzeit beibehalten. Variationen treten seitdem 12./13. Jh. in Gestalt motivischer Bereicherungen auf. In Kappadokien wird dieApokalypse zur Illustration herangezogen.

Unvollst andige byzantinische Weltgerichtsbilder sind seit dem 8. Jh. belegt. In­nerhalb der Uberlieferung des byzantinischen Weltgerichtsbildes spielen Bekehrungs­berichte eine Rolle, in welchen die Bekehrung mittels Weltgerichtsdarstellungen in dieWege geleitet wird. Inwieweit es sich in diesen Fallen um eine Abart des biblischenTopos ”Bekehrung durch Gerichtsandrohung“ handelt, kann noch nicht abgeklart wer­den.

Die abendlandische Gerichtsikonographie unterscheidet sich fundamental von derbyzantinischen. Beide Typen haben eine eigene Genesis und eine eigene Geschichte. Esbestehen nur lose und gelegentliche Zusammenhange zwischen der abendlandischenund der byzantinischen Gerichtsdarstellung. Das Jungste Gericht stellt innerhalb derbyzantinischen Ikonographie ein Nebenthema dar.63

63 Beat Brenk, Die Anfange der byzantinischen Weltgerichtsdarstellung, in: Byzantinische Zetschrift57 (1964) S. 106 – 126; cf. id. in: LChrI 4, 1972, Sp. 513 – 523 s. v. Weltgericht.

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