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Wien Med Wochenschr (2010) 160/1314: 314318 DOI 10.1007/s10354-010-0775-4 Ó Springer-Verlag 2010 Printed in Austria Schwindel als Symptom psychosozialen Schmerzes Verena Gartner 1 und Peter Fässler-Weibel 2 1 Palliativstation der Universitätsklinik für Innere Medizin I, Medizinische Universität Wien, Wien, Österreich 2 Paar- und Familientherapeut, Winterthur, Schweiz Eingelangt am 25. März 2009, angenommen am 14. Jänner 2010 Vertigo as a symptom of psychosocial pain Summary. Vertigo in a patient with end stage lung cancer challenges the caring team. No relief can be achieved by various treatment attempts. In a retrospective analysis it turns out that the physical symptom of vertigo makes up for psychosocial pain. Causes for this reaction can be found in the patients history and deal with solitude and loss in a wider sense. Finding out what means quality of life to an individual patient leads to general ideas about human needs. Considerations about the best place to stay for a dying person need to be merged with the options a medical system offers. Key words: Psychosocial pain, vertigo, quality of life Zusammenfassung. Ein Patient mit Lungenkrebs in fortge- schrittenem Stadium leidet unter quälendem Schwindel, für den keine physische Ursache gefunden werden kann. Die Anamnese des Patienten gibt Hinweise, dass das Symptom Schwindel Aus- druck psychosozialen Schmerzes ist. Als zentrale Probleme er- weisen sich Einsamkeit und der Verlust sozialer Netzwerke. Schwierigkeiten in der Denition von Lebensqualität für einen individuellen Patienten werden erörtert. Die Frage des idealen Aufenthaltsortes für einen sterbenden Patienten eröffnet den Blick auf Schwächen des Gesundheitssystems und deren ökonomische Hintergründe. Schlüsselwörter: Psychosozialer Schmerz, Schwindel, Lebensqualität Fallbericht Anamnese Wir berichten von einem 76-jährigen Mann, der wegen zunehmender Belastungsdyspnoe, Schwäche und Schwindel die Notfallaufnahme aufsuchte und an un- sere onkologische Abteilung transferiert wurde. Als relevante Vorerkrankungen lassen sich eine chronisch obstruktive Lungenerkrankung sowie eine duodenale Ulkusblutung vor einem Jahr erheben. Im Rahmen der Abklärung nden sich ein zentrales N. bronchi (mäßig differenziertes Adenokarzinom, G2) am rechten oberen Hiluspol mit suspekten mediastinalen Lymphknoten, sowie zwei sekundärblastomatöse Rundherde im rech- ten Unterlappen. Weiters besteht ein mäßiger Pleu- raerguss rechts. Aufgrund der Metastasierung handelt es sich um eine palliative Situation, was dem Patienten auch mitgeteilt wird. Als mögliche Therapieoptionen werden ihm eine palliative Chemotherapie mit Gemcit- abine sowie eine lokale Radiatio zur eventuellen Wiedereröffnung des rechten Hauptbronchus angebo- ten. Der Patient stimmt diesem Vorgehen zu. Psychosoziale Anamnese Der Patient ist gelernter Fleischhauer, war vor seiner Pensionierung jedoch als Bademeister tätig. Er ist seit einem Jahr verwitwet und lebt seither allein. Sein ein- ziger Sohn ist ledig und viel beruich unterwegs. In der verbleibenden Zeit kümmert sich dieser jedoch intensiv um den Vater und ist häug auf der Station präsent. Dieser Sohn berichtet, dass sein Vater immer ein fröh- licher Mensch und Unterhalter ganzer Tischrunden gewesen sei. Sein liebstes Hobby sei die Gartenarbeit im Schrebergarten. Seit dem Tod seiner Frau vor einem Jahr habe er die Wohnung jedoch kaum mehr verlas- sen, zuletzt auch aufgrund der Atemnot. Auf uns wirkt der Patient intelligent, traurig, aber angepasst; manch- mal lässt schwarzer Humor seine frühere Wesensart erahnen. Die Beziehung zu seiner Gattin beschreibt auch der Patient selbst als sehr innig. Er hat die krebskranke Frau insgesamt 14 Jahre betreut und zuletzt gepegt. Korrespondenz: Dr. Verena Gartner, Palliativstation der Univer- sitätsklinik für Innere Medizin I, Medizinische Universität Wien, Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien, Österreich. Fax: þþ43-1-40400 4468, E-Mail: [email protected] themenschwerpunkt 314 Ó Springer-Verlag 1314/2010 wmw

Schwindel als Symptom psychosozialen Schmerzes

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Wien Med Wochenschr (2010) 160/13–14: 314–318DOI 10.1007/s10354-010-0775-4� Springer-Verlag 2010Printed in Austria

Schwindel als Symptom psychosozialen SchmerzesVerena Gartner1 und Peter Fässler-Weibel2

1Palliativstation der Universitätsklinik für Innere Medizin I, Medizinische Universität Wien,Wien, Österreich2Paar- und Familientherapeut, Winterthur, Schweiz

Eingelangt am 25. März 2009, angenommen am 14. Jänner 2010

Vertigo as a symptom of psychosocial pain

Summary. Vertigo in a patient with end stage lung cancerchallenges the caring team. No relief can be achieved by varioustreatment attempts. In a retrospective analysis it turns out that thephysical symptom of vertigo makes up for psychosocial pain.Causes for this reaction can be found in the patient�s history anddeal with solitude and loss in a wider sense. Finding out whatmeans quality of life to an individual patient leads to general ideasabout human needs. Considerations about the best place to stayfor a dying person need to be merged with the options a medicalsystem offers.

Key words: Psychosocial pain, vertigo, quality of life

Zusammenfassung. Ein Patient mit Lungenkrebs in fortge-schrittenem Stadium leidet unter quälendem Schwindel, für denkeine physische Ursache gefunden werden kann. Die Anamnesedes Patienten gibt Hinweise, dass das Symptom Schwindel Aus-druck psychosozialen Schmerzes ist. Als zentrale Probleme er-weisen sich Einsamkeit und der Verlust sozialer Netzwerke.Schwierigkeiten in der Definition von Lebensqualität für einenindividuellen Patienten werden erörtert. Die Frage des idealenAufenthaltsortes für einen sterbenden Patienten eröffnet denBlick auf Schwächen des Gesundheitssystems und derenökonomische Hintergründe.

Schlüsselwörter: Psychosozialer Schmerz, Schwindel,Lebensqualität

Fallbericht

AnamneseWir berichten von einem 76-jährigen Mann, der wegenzunehmender Belastungsdyspnoe, Schwäche undSchwindel die Notfallaufnahme aufsuchte und an un-

sere onkologische Abteilung transferiert wurde. Alsrelevante Vorerkrankungen lassen sich eine chronischobstruktive Lungenerkrankung sowie eine duodenaleUlkusblutung vor einem Jahr erheben. Im Rahmen derAbklärung finden sich ein zentrales N. bronchi (mäßigdifferenziertes Adenokarzinom, G2) am rechten oberenHiluspol mit suspekten mediastinalen Lymphknoten,sowie zwei sekundärblastomatöse Rundherde im rech-ten Unterlappen. Weiters besteht ein mäßiger Pleu-raerguss rechts. Aufgrund der Metastasierung handeltes sich um eine palliative Situation, was dem Patientenauch mitgeteilt wird. Als mögliche Therapieoptionenwerden ihm eine palliative Chemotherapie mit Gemcit-abine sowie eine lokale Radiatio zur eventuellenWiedereröffnung des rechten Hauptbronchus angebo-ten. Der Patient stimmt diesem Vorgehen zu.

Psychosoziale AnamneseDer Patient ist gelernter Fleischhauer, war vor seinerPensionierung jedoch als Bademeister tätig. Er ist seiteinem Jahr verwitwet und lebt seither allein. Sein ein-ziger Sohn ist ledig und viel beruflich unterwegs. In derverbleibenden Zeit kümmert sich dieser jedoch intensivum den Vater und ist häufig auf der Station präsent.Dieser Sohn berichtet, dass sein Vater immer ein fröh-licher Mensch und Unterhalter ganzer Tischrundengewesen sei. Sein liebstes Hobby sei die Gartenarbeitim Schrebergarten. Seit dem Tod seiner Frau vor einemJahr habe er die Wohnung jedoch kaum mehr verlas-sen, zuletzt auch aufgrund der Atemnot. Auf uns wirktder Patient intelligent, traurig, aber angepasst; manch-mal lässt schwarzer Humor seine frühere Wesensarterahnen.

Die Beziehung zu seiner Gattin beschreibt auchder Patient selbst als sehr innig. Er hat die krebskrankeFrau insgesamt 14 Jahre betreut und zuletzt gepflegt.

Korrespondenz: Dr. Verena Gartner, Palliativstation der Univer-sitätsklinik für Innere Medizin I, Medizinische Universität Wien,Währinger Gürtel 18-20, 1090 Wien, Österreich.Fax: þþ43-1-40400 4468, E-Mail: [email protected]

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Vor rund einem Jahr, als die Gattin bereits sterbendwar, erlitt der Patient eine Ulkusblutung. Es musstendaher sowohl er als auch seine Frau stationär aufge-nommenwerden. ImRahmen dieses Spitalsaufenthaltesverstarb die Frau. In einem Lungenröntgen des Patien-ten zeigte sich ein suspekter Rundherd. Die empfohleneAbklärung lehnte er damals ab.

VerlaufDer Patient ist in den folgenden Wochen und Monatenaufgrund der wiederholten Chemotherapien, derStrahlentherapie sowie mehrfacher Pleurapunktionenüber lange Zeit an unserer Station aufgenommen. DieStation wird für ihn langsam zu einem sozialen Netz-werk. Es entstehen Beziehungen unterschiedlicherQualität zu €Arzten und Pflegepersonal. Initial verbes-sert sich sein Allgemeinzustand soweit, dass erzwischenzeitlich mit Hilfe mobiler Dienste zuhausesein kann. Durch Initiative des Sohnes ist es auchmöglich, dass er seinen Schrebergarten besuchen kann.

Unabhängig von der onkologischen Problematikklagt der Patient vom ersten Aufenthalt an über quä-lenden Schwindel, für den trotz vollständiger Abklä-rung kein Korrelat gefunden werden kann. Er läutetmehrmals täglich: �Mir ist schlecht�, so nennt er seinenZustand. Kein Therapieversuch fruchtet, imBetreuungs-team liegen die Nerven zeitweise blank. Obwohl ersonst ein sehr umgänglicher Mensch ist, wirkt er indiesen Momenten geradezu aggressiv und fordernd.

In den Gesprächen empfinde ich ihn als sehrpassiv. Er hört sich wohl an, dass er sterben werde (dasahnte er schließlich schon seit dem Lungenröntgen voreinem Jahr) und auch die gut gemeinten Leiern überdie Lebensqualität. Es gelingt mir nicht, zu erfahren,was er darunter versteht. Trotzdem sind da Forderun-gen nach Therapie, nach Gesundmachen wider dieVernunft: �Da muss man doch was machen können?�

Im Laufe der Monate verschlechtert sich der Zu-stand des Patienten soweit, dass er in ein Pflegeheimaufgenommen werden muss. Dieser Aufnahme gehenlange Gespräche mit ihm und dem Sohn voraus. DerSohn ist stets mit uns solidarisch, erklärt dem Vater,dass es nicht anders geht. Er gibt viel Geld für einschönes privates Heim aus. Der Patient sträubt sich biszuletzt dagegen, ihm bleibt jedoch nichts anderesübrig, als sich ins Unvermeidliche zu fügen. Es stelltsich heraus, dass er in diesem Heim sozial komplettisoliert ist. Nach drei Monaten ist er wieder bei unsstationär, und ich rate dem Sohn, das Heim zu kün-digen. Ich erkläre den beiden die Möglichkeit einesWechsels ins Hospiz. Der Sohn stimmt wie immervernunftgeleitet zu, der Patient lehnt das Hospiz ab,

fügt sich jedoch – auch aus Rücksicht auf den Sohn –

abermals. Die Anmeldung erfolgt. In der verbleibendenWartezeit von 2 Wochen genießt der Patient trotz deut-licher Verschlechterung seiner gesundheitlichen Situa-tion sein vertrautes soziales Umfeld auf unsererStation. Er stirbt 3 Tage nach Überstellung ins Hospiz.Das Team dort berichtet, er sei abweisend gewesen.

Fazit* Das quälendste Symptom des Patienten, der Schwin-

del, konnte nicht zufriedenstellend therapiertwerden.

* Trotz großer Bemühungen des Sohnes und des gan-zen Teams konnte nicht herausgefunden werden,was dem Patienten vor seinem Tod noch wichtiggewesen wäre, bzw. was für ihn mehr Lebensqualitätbedeutet hätte.

* Der Patient ist einsam an einem ihm unbekanntenOrt verstorben, obwohl das Team für ihn einenbegehrten Platz in einem schönenHospiz organisierthat.

Diskussion

1. Was war die Ursache des Schwindels und wie hätteeine wirksame Therapie aussehen können?

2. Wie erkennt man, was für einen Menschen wirklichLebensqualität bedeutet? Wie kann man herausfin-den, was dem Patienten wirklich wichtig ist ohneihm etwas zu suggerieren?

3. Ist ein Hospizplatz immer die beste Lösung?

Ad 1) Was war die Ursache des Schwindels und wiehätte eine wirksame Therapie aussehen können?Eine körperliche Ursache des Schwindels konnte durcheine eingehende Abklärung weitgehend ausgeschlos-sen werden. Doch im Sinne der umfassenden WHO-Definition von Palliative Care hätte die Abklärung überdie somatischen Ursachen hinaus erfolgen müssen [1].Aus der Anamnese des Patienten sticht seine engeemotionale Bindung zur verstorbenen Gattin heraus,deren Tod für ihn eine ernste Lebenskrise darstellte.Zugleich mit dem Tod seiner Frau erfolgte bei ihmselbst die Diagnose eines tumorverdächtigen Rund-herdes in der Lunge. Die Folge ist eine Trauer, die sichprimär auf die Gattin bezieht, jedoch auch sein eigenesLeben mit einschließt [2]. Peter Fässler-Weibel ordnetdem psychischen Schmerz vier Komponenten zu:(1) eine individuelle, (2)einedyadische (diePartnerschaftbetreffende), (3) eine familiäre und (4) eine soziale [3]. ImFalle des Patienten erscheinen mir sein eigenes unddas Sterben seiner Frau sehr eng verwoben, so auch die

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Reaktionen darauf. Durch den Tod seiner Frau leidetder Patient bereits unter gravierenden Einschrän-kungen im Bereich der dyadischen und sozialen Kom-ponente, was eine zunehmende Isolierung undVereinsamung innerhalb des letzten Jahres bewirkt hat.Bei Diagnosestellung kommt durch die Konkretisierungseiner eigenen Todesahnung noch die individuelleSchmerzkomponente dazu, was die Ressourcen desPatienten übersteigt. Die Unterteilung des psychischenSchmerzes in unterschiedliche Bereiche erleichtert we-sentlich das Verständnis von Widersprüchlichkeiten imVerhalten des Patienten. So entspringen die Hoffnungs-losigkeit und der Wunsch, so bald wie möglich zusterben den dyadischen und sozialen Schmerzen. ImGegensatz dazu entsteht als Ausdruck der individuellenNot plötzlich eine große konkrete Angst vor demSterbeprozess. Vor diesem Hintergrund fordert derPatient Therapie ein und quittiert die Ohnmacht derHelfenden mit Aggression.

Ein zentrales Moment stellen Einsamkeit undHoffnungslosigkeit des Patienten dar. In allen Begeg-nungen mit dem Patienten war dies greifbar, wurdejedoch weder von ihm, noch vom Betreuungsteamoffen angesprochen. Es ist aber notwendig, solche un-ausgesprochenen Themen zu benennen. Ideal ist es,wenn man durch eine €Außerung des Patienten einenDialog beginnen kann, es gibt jedoch auch entspre-chende Texte, die einem erleichtern, die Sprachlosig-keit zu überwinden [4]. Im konkreten Fall gab es sogarein Gesprächsangebot des Patienten, als er, nach derBedeutung des Verlustes seiner Frau befragt, weinte.Ich traute mir damals nicht zu, auf diese Thematikeinzugehen, ich fühlte mich zu unerfahren, fürchtete,die Situation könnte mir entgleiten. Im Zuge meinerLiteraturrecherche traf ich bei Franco Rest im Kapitel�Ehrlichkeit� auf den Satz �Kein Gespräch darf so ge-führt werden, als hätte einer der Partner die letztmög-lichen Antworten, die der andere zu akzeptierenhabe� [4]. Ich war erstaunt, dass meine €Angste stattHindernis erst Bedingung für ein Gespräch gewesenwären. Eine Möglichkeit, das Gespräch aufzunehmenwäre gewesen: �Ich empfinde Sie als sehr traurig. HatIhr Leben für Sie noch Sinn?� [5]. Wichtige Förderereiner Beziehung sind das zuhörende Eingehen auf Er-zählungen, den Kontakt über die eigentliche ärztlicheHandlung hinaus aufrechtzuerhalten und auch mit prä-zisen Zeitangaben in Aussicht zu stellen. Hilfreich istauch Hellhörigkeit für versteckte Motive in einerPatientenäußerung [4]. Auf die Frage �Wie geben Siedem Patienten den Hinweis, dass Sie bereit sind, mitihm über den Tod zu sprechen, falls er es wünscht?�antwortete E. Kübler-Ross: �Ich setze mich zu ihm und

spreche über seine Krankheit, seine Schmerzen, seineHoffnung, und nach kurzer Zeit unterhalten wir unssehr oft schon über unsere Anschauungen von Lebenund Tod� [6].

Was ist die Bedeutung des Symptoms Schwindelfür den Patienten? Schwindel bedeutet, den Bodenunter den Füßen zu verlieren, keinen Halt zu haben.So gesehen erscheint das Symptom nicht beliebig,sondern durchaus als bildliche Manifestation einer exis-tentiellen psychosozialen Not. Hierbei wird der psy-chische Abwehrmechanismus des �Verschiebens�angewendet, indem der Patient die für ihn unerträg-liche Angst vor dem Sterben durch die Beschäftigungmit dem Schwindel in den Hintergrund drängt [3].Durch dieses Symptom gelingt es dem sonst so ange-passten und vernünftigen Patienten auch Aggressionenauszuleben, die vom Team wahrgenommen und imIdealfall als Gegenübertragung verbalisiert werden kön-nen [7]. Dies könnte folgendermaßen geschehen: �Ichhabe den Eindruck, wir werden Ihnen nicht gerecht.Was brauchen Sie?�, oder �Ich merke, dass es michärgert, dass ich Ihnen nicht helfen kann. Ich glaubenicht, dass wir mit Medikamenten ans Ziel kommen,vielleicht liegt die Ursache auf einer anderen Ebene?�[5]. Hierbei ist es wichtig, es nicht bei einemGesprächs-angebot bewenden zu lassen, sondern das Themabeharrlich anzusprechen und auch konkrete Vorschlä-ge zu machen. �Würde es helfen, wenn ich jeden Tagzehn Minuten an ihrem Bett sitze, einfach nur so?Sollen wir das heute einmal ausprobieren?�

Ad 2) Wie erkannt man, was für einen MenschenLebensqualität bedeutet? Wie kann manherausfinden, was dem Patienten wirklich wichtigist ohne ihm etwas zu suggerieren?Besonders schwierig gestaltete sich bei diesemPatientender Themenkreis �Lebensqualität�. In der Passivitätseiner Hoffnungslosigkeit äußerte er nie Wünsche.Durch beharrliches Nachfragen erzählte er von seinemSchrebergarten. Wir setzten uns das Ziel, Besuche imSchrebergarten zu ermöglichen, was auch gelang. Dashat ihn sicherlich gefreut, trotzdem blieb ein gewissesInsuffizienzgefühl, ihm nicht gerecht geworden zu sein.Nach der Fallpräsentation in der Ausbildungsgruppewurden folgende Ideen zum Thema Lebensqualitätgeäußert:* Keine eigenen fixen Vorstellungen für den Patienten

entwickeln, sondern sich von den Ressourcen desPatienten leiten lassen.

* Ziele können variabel sein und müssen nicht auto-matisch an Wert verlieren, wenn sie an die Realitätbzw. den aktuellen Gesundheitszustand angepasst

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werden müssen (z. B. Wunsch nach Lourdes zureisen unmöglich, aber Patient mit Videokassetteeiner Messe aus Lourdes genauso glücklich [5]).

* Konsequenzen einer �Wunscherfüllung� schon zuBeginn bedenken, um Leid zu vermeiden (z. B. Einsterbender Patient hat seinen Hund sehr geliebt. Umihm eine Freude zu machen, wird der Hund aus-nahmsweise ins Krankenhaus gebracht. Sowohl Pa-tient wie Hund sind überglücklich. Der Hund hatteseinen Herrn schon verloren gegeben und lebte beidessen Sohn in der Wohnung. Ab dem Zeitpunkt desBesuches im Krankenhaus bellt der Hund unaufhör-lich und muss weggegeben werden. Der Patient erf-ährt dies und zieht sich infolge komplett in sichzurück [5]).

Meine Recherche zum Thema �Lebensqualität� inLiteratur über Sterbebegleitung war recht unergiebig,wie mir anfangs erschien. Ich suchte anhand meinerobigen Fragen entsprechende Kochrezepte. Dabeiwurde mir rasch klar, dass ich mich dem Thema nichtim Sinne einer konkreten Ausformulierung näherndarf. Eine solche kann immer nur etwas höchst Sub-jektives sein, das sich nie auf andere Menschen umle-gen lässt. Vielmehr liegen dieWurzeln zu einer Antwortin den Bedürfnissen des Menschen allgemein und dessterbenden Menschen im Besonderen. Franco Restgründet diese Thematik in seinem Buch �Sterbebei-stand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit� in Anlehnung anJ. Korczak auf 3 Grundrechte des Menschen:1. Das Recht des Menschen auf Tod.2. Das Recht des Menschen auf den heutigen Tag.3. Das Recht, so zu sein, wie derMensch gerade ist [4].

Wobei mit dem Sterbensrecht das Recht desMenschen auf einen Tod, der seinem Leben ent-spricht, gemeint ist; einem Tod, der das Leben zueiner Zeit abschließt, zu der der Mensch zu sterbenbereit ist. Das Recht auf den heutigen Tag verbietetVertröstungen, die in die Vergangenheit oder Zukunftzielen und fordert Umstände, die eine schöpferischeGestaltung der Gegenwart ermöglichen. Das Recht desMenschen, zu sein, wie er gerade ist, schließt Wertun-gen aufgrund körperlicher oder psychischer Eigenar-ten aus.

In einem weiteren Schritt unterscheidet Rest Be-dürftigkeit, objektive und subjektive Bedürfnisse unddas übergeordnete Interesse. Bedürftig ist jemand, dereinen erkennbaren Mangel leidet und die Behebungdieses Mangels braucht zur Sicherstellung seiner kör-perlichen, seelischen und sozialen Gesundheit. Objek-tive Bedürfnisse können aufgrund des fachlichenWissens erkannt werden, subjektive Bedürfnissekann man zum Teil erfragen und erspüren. Das

übergeordnete Interesse ist die Übereinstimmung mitder allgemeinen Bestimmung des Menschenwesensgegenüber sich selbst und gegenüber seinem Gott.Im Sinne des übergeordneten Interesses darf bestimm-ten Wünschen des Patienten (z. B. nach Euthanasie)nicht nachgekommen werden. Wurde jedoch denBedürftigkeiten und Bedürfnissen des Patienten zufrie-denstellend nachgekommen, ergeben sich fast niedem übergeordneten Interesse widersprechendeForderungen.

Maslow postuliert eine Reihenfolge an Grundbe-dürfnissen des Menschen, wobei die Erfüllung einesBedürfnisses erst das nächst höher stehende ermög-licht [8]:* Bedürfnisse des Körpers,* Bedürfnis nach Sicherheit,* Bedürfnis nach Liebe (Soziale Beziehungen),* Bedürfnis nach Achtung (Soziale Anerkennung),* Bedürfnis nach Selbstverwirklichung,* Bedürfnis nach Begegnung (Tanszendenz).

Umgelegt auf die Lebensqualität leuchtet ein, dassein Patient, der Schmerzen leidet und somit nichteinmal die Bedürfnisse der ersten Stufe gedeckt hat,nicht von gut gemeinten Verwirklichungen der viertenStufe profitieren kann. Diese Einteilung hilft sehr, einesinnvolle Reihenfolge in die Vielzahl an möglichenMaßnahmen zugunsten des Patienten zu bringen.

Ad 3) Ist ein Hospizplatz immer die beste Lösung?In der Zeit, als der Patient aufgenommen war, warunsere Station eine internistisch-onkologische Abtei-lung ohne besondere räumlich oder personelle Aus-stattung. Es bestand der Plan, eine Palliativstation zuerrichten, und es wurde bereits eine dementspre-chende Haltung in der Behandlung unheilbar krankerMenschen gelebt. Der Patient lebte mit Unterbrechun-gen ungefähr 3 Monate an dieser Abteilung. Da erzuhause und später im Heim keinerlei soziale Kontaktehatte, wurden das Personal und andere Langzeitpatien-ten der Station zu einer sozialen Heimat für ihn. Esbildeten sich Beziehungen unterschiedlichster Naturund Intensität aus. In seinem Fall empfand ich dasFehlen einer wohnlicheren, intimeren Umgebung alswenig relevant. Trotzdem stellt sich auch an�klassischen� Palliativstationen das Problem der Finan-zierbarkeit langer Aufenthalte von Patienten. Nach ei-ner bestimmten Zeit wird von der Krankenkasse nurmehr ein Minimalbetrag überwiesen, der die oft hohenBetreuungskosten nicht deckt. In einigen Häusern wirddieses Problem durch Spendenfinanzierung abgefan-gen (unter anderem in dem Hospiz, in das der Patientschließlich transferiert wurde).

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Grundsätzlich ist eine Palliativstation von ihremKonzept her nicht als Dauereinrichtung vorgesehen,und das wird den Patienten auch bei Aufnahme erklärt.Ein weiterer Aspekt ist, dass durch die lange Liegedauereines Patienten anderen Palliativpatienten eine Auf-nahme vorenthalten wird. Somit sind �Ping Pong�-Aufnahmen in unterschiedlichen Einrichtungen keineSeltenheit, da nach Neuaufnahme wieder 3 Wochenlang eine Finanzierung gegeben ist. Leider fehlen ingroßen Teilen Österreichs Einrichtungen, die sterben-den Patienten eine dauerhafte Wohnstatt bis zu ihremLebensende anbieten können, also klassische Hospize.Dies hat wiederum finanzielle Gründe. Der Aufenthaltan Palliativstationen wird wesentlich besser honoriert,als jener in Hospizen. Aus den oben geschildertenGegebenheiten resultieren häufige Aufnahmen undEntlassungen, die vor allem für Patienten ohne familiä-ren Versorgungshintergrund oft eine soziale Kata-strophe unterschiedlichen Ausmaßes darstellen.

Somit muss man klar sagen, dass es sich bei dereingangs formulierten Frage lediglich um eine retho-rische Frage handelt. Die beste Lösung für den Auf-enthaltsort eines sterbenden Patienten orientiert sichan dessenWünschen. Diesbezüglich haben diemeistenPatienten auch sehr klare Vorstellungen, wenn sie dieseauch oft aus Rücksicht auf die Umstände (Angehörige/Betreuer) manchmal nicht äußern. Im Fall unseresPatienten hat er sich sowohl gegen das Heim als auchgegen den Hospizplatz ausgesprochen. Trotzdemwurde er von Sohn und Betreuern wider besseres Wis-sen um das Patientenwohl zu beidem genötigt. Hierergibt sich ein Anknüpfungspunkt zu Frage 2. Ein Ver-

bleib an der vertrauten Station hätte sicherlich einenzentralen Gewinn an Lebensqualität bedeutet.

Trotzdem wäre es zu einfach, das strukturelleProblem fehlender Dauerversorgung von Palliativpa-tienten einfach durch das Ignorieren ökonomischerRealitäten zu lösen. Hier handelt es sich um einegesellschaftliche Fragestellung, die zuerst durch poli-tische Entscheidungen beantwortet werden muss. Esliegt jedoch auch in der Verantwortlichkeit der in die-sem Bereich tätigen Menschen und der betroffenenPatienten und Angehörigen, ein Problembewusstseinin der Gesellschaft zu fördern.

Interessenskonflikt

Es besteht kein Interessenskonflikt.

Literatur[1] WHO –National cancer control programmes: policies and managerial

guidelines. 2. Genf: Auflage, 2002.[2] Papala T. Der Platz der Trauer in Palliative Care – Neue Modelle und

Ansätze der Trauerbegleitung. Wien Med Wochenschr, 156(9–10):294–296, 2006.

[3] Fässler-Weibel P. Sterbende verstehen lernen. ISBN 3-7867-8593-7(Taschenbuchreihe Topos plus), pp 21–55, 2006.

[4] Rest F. Sterbebeistand, Sterbebegleitung, Sterbegeleit – Handbuch fürden stationären und ambulanten Bereich. Verlag W. Kohlhammer, 5.Ausgabe, pp 245–251, 2006.

[5] Fässler-Weibel P. Universitätslehrgang Palliative Care, Vertiefungs-lehrgang Palliativmedizin. Salzburg: St. Virgil, 3.11.2008.

[6] Kübler-Ross E. Was können wir noch tun? Antworten auf Fragen nachSterben und Tod. Verlag KnaurMensSana, ISBN 3-426-87202-1, pp 21,2003.

[7] http://de.wikipedia.org/wiki/%C3%9Cbertragung_(Psychologie),Wikipedia – die freie Enzyklopädie 10.12.2008.

[8] http://de.wikipedia.org/wiki/Maslowsche_Bed%C3%BCrfnispyramide,Wikipedia – die freie Enzyklopädie 24.3.2009.

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