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Von zwei Kulturen der Fuge Ritornellform und kontrapunktische Definition im Wohltemperierten Klavier von J. S. Bach ULRICH SIEGELE »Die Fuge ist keine Form, sondern eine Technik« - diesen Satz hörte ich vor 50 Jahren während meines Studiums. Er leuchtete mir schon damals nicht ein und ist mir auch nicht einleuchtender geworden, als ich ihn 30 Jahre später, wiewohl differenzierter, bei Carl Dahlhaus las: »Die Fuge [ist], poin- tiert ausgedrückt, nicht eine Form, sondern eine Technik oder ein Ensemble von Techniken (wobei einige die Quintbeantwortung und die Durchfüh- rung des Themas durch sämtliche Stimmen - als konstitutiv und andere - der obligate Kontrapunkt, die Engfuhrung, die Diminution oder Augmenta- tion und der Orgelpunkt - als ak/identell gelten). Der Versuch, die Fuge als Form - mit fester Tonartendisposition und regulärem Wechsel zwischen Durchführungen und Zwischenspielen - zu bestimmen, verschuldete eine Verengung des Begriffs, durch die sich Historiker gezwungen fühlten, um eine geringe Anzahl >eigentlicher< Fugen eine Unmenge >fugenähnlicher< Gebilde zu gruppieren.«1 Und noch in der zweiten Ausgabe der Musik in Geschichte und Gegenwart steht zu lesen: »Eine abstrahierbare Fugenform, die Modellcharakter hätte, gibt es nicht .... >Fuge< widersetzt sich jeder Normie- rung. Als Möglichkeit bleibt im Grunde einzig, ihre denkbaren, aber nicht obligatorischen Techniken zu beschreiben.«2 Interessanter allerdings, als dem Wahrheitsgehalt des Satzes nachzusin- nen, ist die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen seiner Entste- hung. Wie ist es zu begreifen, daß der Theorie der Fuge bis heute eine brauchbare Theorie ihrer Form fehlt? Die Suche nach dem Ursprung dieses Mangels führt 250 Jahre zurück auf Friedrich Wilhelm Marpurgs Abhand- lung von der Fuge.} Zwar ist der Satz dort nicht zu finden, wohl aber die musiktheoretische Denkstruktur, auf der er gedeihen konnte. Diese erste Carl Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18. und ig.Jahrhundert, Erster Teil: Grundzüge einer Systematik (~ Geschichte der Musiktheorie 10), Darmstadt 1984, S. 170-174:3. Ein Modell: Zur Theorie und Geschichte der Fuge, hier S.r7lf.; vgl. außerdem ders., Die Musiktheorie im 18. und ig.Jahrhundert, Zweiter Teil: Deutschland, hg. v. Ruth E. Müller (= Geschichte der Musiktheorie n), Darmstadt 1989, 5.149-156: 4. Die Fuge als Technik und als Form. Clemens Kühn, Art. Form, in: Die Musik in Geschichte und Gegenivan, Zweite Ausgabe, Sachteil, Bd. 3, Kassel/Stuttgart 1995, Sp. 607-643, hier Sp. 632 f.: d. Zwischen Form und Technik: Fuge; vgl. außerdem Emil Platen, Art. Fuge, a.a.O., Sp. 930-957, hier Sp. 954f.: 3. Formgebung. Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge nach den Grundsätzen und Exempeln der besten deutschen und ausländischen Meister entworfen, 2 Teile, Berlin 1753 f. Die folgenden Zitate entstammen alle dem ersten Teil.

Siegele,_Ulrich_-_Von_zwei_Kulturen_der_Fuge,_Musik_+_Ästhetik_2006,_H._40

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Von zwei Kulturen der FugeRitornellform und kontrapunktische Definition imWohltemperierten Klavier von J. S. Bach

ULRICH SIEGELE

»Die Fuge ist keine Form, sondern eine Technik« - diesen Satz hörte ich vor50 Jahren während meines Studiums. Er leuchtete mir schon damals nichtein und ist mir auch nicht einleuchtender geworden, als ich ihn 30 Jahrespäter, wiewohl differenzierter, bei Carl Dahlhaus las: »Die Fuge [ist], poin-tiert ausgedrückt, nicht eine Form, sondern eine Technik oder ein Ensemblevon Techniken (wobei einige — die Quintbeantwortung und die Durchfüh-rung des Themas durch sämtliche Stimmen - als konstitutiv und andere -der obligate Kontrapunkt, die Engfuhrung, die Diminution oder Augmenta-tion und der Orgelpunkt - als ak/identell gelten). Der Versuch, die Fuge alsForm - mit fester Tonartendisposition und regulärem Wechsel zwischenDurchführungen und Zwischenspielen - zu bestimmen, verschuldete eineVerengung des Begriffs, durch die sich Historiker gezwungen fühlten, umeine geringe Anzahl >eigentlicher< Fugen eine Unmenge >fugenähnlicher<Gebilde zu gruppieren.«1 Und noch in der zweiten Ausgabe der Musik inGeschichte und Gegenwart steht zu lesen: »Eine abstrahierbare Fugenform, dieModellcharakter hätte, gibt es nicht.... >Fuge< widersetzt sich jeder Normie-rung. Als Möglichkeit bleibt im Grunde einzig, ihre denkbaren, aber nichtobligatorischen Techniken zu beschreiben.«2

Interessanter allerdings, als dem Wahrheitsgehalt des Satzes nachzusin-nen, ist die Beantwortung der Frage nach den Bedingungen seiner Entste-hung. Wie ist es zu begreifen, daß der Theorie der Fuge bis heute einebrauchbare Theorie ihrer Form fehlt? Die Suche nach dem Ursprung diesesMangels führt 250 Jahre zurück auf Friedrich Wilhelm Marpurgs Abhand-lung von der Fuge.} Zwar ist der Satz dort nicht zu finden, wohl aber diemusiktheoretische Denkstruktur, auf der er gedeihen konnte. Diese erste

Carl Dahlhaus, Die Musiktheorie im 18. und ig.Jahrhundert, Erster Teil: Grundzüge einer Systematik(~ Geschichte der Musiktheorie 10), Darmstadt 1984, S. 170-174:3. Ein Modell: Zur Theorie und Geschichteder Fuge, hier S.r7lf.; vgl. außerdem ders., Die Musiktheorie im 18. und ig.Jahrhundert, Zweiter Teil:Deutschland, hg. v. Ruth E. Müller (= Geschichte der Musiktheorie n), Darmstadt 1989, 5.149-156: 4. DieFuge als Technik und als Form.Clemens Kühn, Art. Form, in: Die Musik in Geschichte und Gegenivan, Zweite Ausgabe, Sachteil, Bd. 3,Kassel/Stuttgart 1995, Sp. 607-643, hier Sp. 632 f.: d. Zwischen Form und Technik: Fuge; vgl. außerdem EmilPlaten, Art. Fuge, a.a.O., Sp. 930-957, hier Sp. 954f.: 3. Formgebung.Friedrich Wilhelm Marpurg, Abhandlung von der Fuge nach den Grundsätzen und Exempeln der bestendeutschen und ausländischen Meister entworfen, 2 Teile, Berlin 1753 f. Die folgenden Zitate entstammen alledem ersten Teil.

selbständige Publikation, die dem Thema gewidmet ist, hat die Tradition ineinem solchen Maß bestimmt, daß vieles, wenn nicht das meiste von dem,was seither über die Fuge gesagt worden ist, dorthin zurückverfolgt werdenkann.

Zu den fünf Stücken, die die Charakteristik der Fuge ausmachen, zählennach Marpurg der Führer (nämlich das Thema als Dux), der Gefährte (derComes), der Wiederschlag (die Zuordnung von Dux und Comes zu deneinzelnen Stimmen), die Gegenharmonie (der Kontrapunkt) und die Zwi-schenharmonie (die Zwischenspiele).4 Die Form gehört also nicht zu denfünf Stücken, denen jeweils ein eigenes Kapitel, wenn auch sehr unterschied-licher Länge, gewidmet ist. Der »Verfolg«, also die weitere Behandlung einesFugensatzes, nämlich eines Themas, kommt im Kapitel vom Wiederschlagzur Sprache.5 Marpurgs Zielvorstellung deutet sich an, wenn er vom Fugen-satz sagt: »Je kürzer die Sätze sind, desto öfter können sie wiederhohletwerden. Je öfter sie aber wiederhohlet werden, desto besser ist die Fuge.«6

Entsprechend heißt es unter Zwischenharmonie, sie »muß nicht zu langseyn, zumahl wenn das Thema schon an sich lang ist, und nicht zu oftevorkommen. Es würde der Hauptsatz dadurch verhindert werden, sich ge-nugsam hören zu lassen.«?

Worauf es Marpurg ankommt, ist die thematische Einheitlichkeit, diethematische Integration. »Wie aber in allen Arten musikalischer Stücke einTheil mit dem ändern wohl übereinstimmen muß, wenn ein schönes Ganzedaraus werden soll: so ist dieses hauptsächlich bey der Fuge zu beobachten.«8

»Deshalb sollen sich der Kontrapunkt auf das Thema, die Zwischenspiele aufdas Thema oder den Kontrapunkt beziehen.«? »Eine strenge Fuge ... heißtdiejenige, wo in dem ganzen Stücke mit nichts anderm als dem Hauptsatzegearbeitet wird, d. i. wo derselbe nach der ersten Durchführung, wo nichtallezeit ganz, doch zum Theil, so zu sagen Satz auf Satz zum Vorscheinkömmt, und wo folglich aus dem Hauptsatze oder der bey der ersten Wieder-hohlung desselben dem Gefährten entgegen gesezten Harmonie alle übrigenGegenharmonien und Zwischensätze vermittelst der Zergliederung, Vergrö-ßerung, Verkleinerung, der unterschiednen Bewegung u. d. g. hergenom-men, diese aber vermittelst der Nachahmung in einer bündigen und gründli-chen Harmonie unter sich verknüpfet werden.« Dem steht die freie Fugegegenüber, wo »nicht durchgehends mit dem Hauptsatze gearbeitet wird«.Die strenge Fuge ist Bach, die freie Händel eigentümlich.10

4 A.a.O.5 A. a. O.6 A.a.O.7 A.a.O.8 A.a.O.9 A.a.O.

10 A.a.O.

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S. 17 f.8.113-146.8.27.5.152.5.148.5.33 und 151.S. 19 f.

Das Mittel, die thematische Einheitlichkeit zu verwirklichen, ist die kontra-punktische Arbeit, insbesondere die »enge Nachahmung«, also die Engfüh-rung. »Alle Fugen folglich, wo das Thema nicht so behandelt ist, daß etlicheArten der engen Nachahmung ... darinnen hin und wieder vorkommen,legen von der Einsicht ihrer Verfasser kein vortheilhaftes Zeugniß ab.«11 Umdie enge Nachahmung zu erreichen, sind Verkürzung nebst Variation undZergliederung des Themas und des Gegensatzes erlaubt.12 Auch wo Marpurgden dreiteiligen Modulationsplan einer Fuge - nämlich Haupttonart undDominante, Neben-, insbesondere Paralleltonarten, schließlich wiederHaupttonart - skizziert, stehen die kontrapunktischen Bestimmungen derdadurch gebildeten Formglieder im Vordergrund.^ Ist die Untersuchung derim Thema enthaltenen kontrapunktischen Möglichkeiten abgeschlossen, »soist, so zu sagen, die Fuge schon gemacht. Man braucht die verschiedenen ausdieser Art der engen Nachahmung, der Verkürzung und Zergliederung desSatzes [nämlich des Themas] entspringenden Theile nur vermittelst guterZwischensätze zusammen zu hängen.« Wichtig ist allein, »daß die größtenKunststücke zulezt bleiben, und die schwächern allezeit vorhergehen«.1'*

Dieses kompositorische Arbeitsverfahren kehrt bei Arnold Schönberg wie-der. Aus seiner Unterrichtspraxis ist überliefert, »daß die Kombination derThemen als ein dem eigentlichen Komponieren vorhergehender Akt gelehrtwurde. Bevor eine Fuge beispielsweise mit einem Subjekt und Kontrasubjektgeschrieben werden konnte, wies Schönberg seine Schüler an, Skizzen vonallen kontrapunktischen Möglichkeiten des Themas und seines Kontrasub-jelcts anzufertigen.« Daraus »sollte sich die Form der Komposition ergeben«.Schönberg differenzierte zwischen homophonem und kontrapunktisch-poly-phonem Stil. Jedem wies er ein spezifisches, auch sprachlich gegensätzlichesPrinzip der Formbildung zu, dem homophonen Stil die Entwicklung, dieentwickelnde Variation, dem kontrapunktisch-polyphonen Stil (zu einer Zeit,als der Terminus noch nicht politisch diskreditiert war) die Abwicklung.»Denn das Wesen dieses Stils beruht darauf, daß eine Anzahl von Tönen inein solches gegenseitiges Verhältnis des Nach- und Miteinander gebracht(kontrapunktiert) werde, daß dadurch alle im Laufe des Stückes erscheinendeGestalten in dieser Grundgestalt bereits enthalten, ausgebildet vorhandenoder teilweise ihrer Möglichkeit nach bestimmt sind. Das daraus entstehendeStück wickelt wie ein Film, Bild um Bild, Gestalt um Gestalt bloß ab, dennauch die Reihenfolge der Geschehnisse ist hier logisch fast ganz gegeben.«1?

n A.a.O., 5.114.12 A.a.O., S.n4f.13 A.a.O., 8.121-123.14 A.a.O., S.I2O.15 Ralf Alexander Kohler, Schönbergs Prinzip der Abwicklung, in: Arnold Schönberg in Berlin. Bericht zum

Symposium 28.-30. September 2000, hg. v. Christian Meyer (= Journal of the Arnold Schoenberg Center3/2001), S. 267-281, hier S. 268; das Zitat Schönbergs abgedruckt in: Arnold Schoenberg, The Musical Idm

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Für Marpurg wie für Schönberg, zwei wahrlich verschiedene Geister, ergabsich die Form der Fuge aus der Abwicklung der im Thema angelegtenMöglichkeiten seiner kontrapunktischen Verarbeitung. Die Technik bringtdie Form hervor; die Technik ist die Form. Jeder von beiden härte vermutlichdie Parole unterschrieben: »Keine Fuge ohne Engführung - ohne Engfüh-rung keine Fuge.« Und weder der eine noch der andere scheint Anstoß darangenommen zu haben, daß aufgrund dieser Voraussetzung eine beträchtlicheAnzahl der Fugen beider Teile des Wohltemperierten Klaviers auf die Bezeich-nung Fuge gar keinen Anspruch hatte, weil darin das Thema zwar gemäß denRegeln des Kontrapunkts mehrstimmig gesetzt, selbst aber keinen kontra-punktischen Verfahren unterzogen wird. Wie ist diese offenkundige Diskre-panz zu erklären? Wie kommt es zu dieser Fixierung auf den Kontrapunkt,auf die Technik?

Der Rückgriff auf eine Gruppe von sechs Fantasien Sweelincks kann hierKlärung bringen. Sie verwenden vier Stimmen, sind imitatorisch über eineinziges Thema gearbeitet und unterstehen, ungeachtet aller Unterschiededer Gliederung und Ausarbeitung im einzelnen, einem übergeordneten for-malen Plan. Dieser Plan ist durch die Form des Themas, nämlich die Reihen-folge Grundform - Augmentation - Diminution, gegeben. Fakultativ kannauf die einfache die doppelte Diminution, überdies auf die einfache diedoppelte Augmentation folgen und am Ende eine kurze Rückkehr zurGrundform stehen. Die Versetzung des Themas in die verschiedenen Aug-mentations- und Diminutionsgrade ist eine kontrapunktische Technik. DieTechnik also macht die Form; die Formteile sind durch die kontrapunkti-schen Verfahren definiert, denen das Thema unterzogen wird. Das Prinzipder kontrapunktischen Definition setzt sich in die Untergliederungen derFormteile hinein fort. Hier geht es etwa um die Zahl und Lage der jeweils amSatz beteiligten Stimmen, um ihre Bewegungsgrade, also um Gattungen desKontrapunkts, um die Art und Weise der Kontrapunktierung - jedenfallsstets um kontrapunktische Techniken.16

So betrachtet, zieht sich also eine Traditionslinie wenigstens von Sweelincküber Marpurg zu Schönberg. Marpurg hat somit eine Tradition zusammen-gefaßt, systematisiert und weitergegeben. Was aber hat es mit den Fugen desWohltemperierten Klaviers auf sich, deren Themen keinerlei kontrapunk-tischen Verfahren unterzogen werden, die sich also dieser Tradition nichteinfügen?

Offenkundig hat Bach in diesen Fugen der Tradition der kontrapunkti-

and the Logic, Technique, and Art ofits Präsentation, edited, translated, and with a commentary by PatriciaCarpenter and Severine Neff, New York 1995, S. 400.

16 Vgl. Ulrich Siegele, Johann Ulrich Steigleders »Ricercar Tabitlatura« (1624) als Kunstbuch (in Vorb.). Eshandelt sich um die Fantasien i bis 4, 6 und 7 in: [an Pieterszoon Sweelinck, Opera omnia, I.i: KeyboardWorks, Fantasias and Toccatas, hg. v. Gustav Leonhardt, Amsterdam I9742.

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sehen Definition der Formteile und Formglieder ein eigenes Formkonzeptgegenübergestellt. Und er hat, entgegen seiner Gewohnheit, dieses Form-konzept sogar in Worten erläutert, ausgerechnet gegenüber Marpurg, der ineinem literarischen Brief darüber berichtet1? Zwei Dinge bezeichnete Bachals konstitutiv für sein Formkonzept: eine konstruktive Modulationsord-nung, die über Dux und Comes hinausfuhrt, und eine konstruktive Verwen-dung der Zwischenspiele. Das eine und das andere hängen zusammen. Zwarsind Zwischenspiele ohne eine erweiterte Modulation möglich, nicht dage-gen eine erweiterte Modulation ohne Zwischenspiele. Der Wechsel zwischenTonika, Dominante und allenfalls Subdominante ist mit der Dux- und Co-mesform des Themas zu bewältigen; was darüber hinausgeht, insbesonderealso die Paralleltonarten, liegen außerhalb ihrer Reichweite. Das Vorbild füreine konstruktive Modulationsordnung und eine konstruktive Verwendungder Zwischenspiele konnte Bach in der Ritomellform finden. Nach diesemModell hat er sein neues Formkonzept der Fuge entworfen, nämlich diethematischen Einsätze oder Gruppen dieser Einsätze als Ritornelle, die Zwi-schenspiele als Episoden. Die Analogie zur Ritomellform ermöglichte esBach, den Fugen eine Form zu geben, die von der kontrapunktischen Defini-tion unabhängig war und deshalb darauf verzichten konnte. Das betrachteteer als seine Leistung, als sein Eigentum.

Bach hat Marpurg gegenüber die Analogie zur Ritomellform nicht er-wähnt. Er konnte es nicht, weil er über den Begriff nicht verfügte. Und zusagen, er habe seine Fugen wie eine Opernarie oder auch nur wie einKonzertallegro konstruiert, hätte aus Gründen der Gattungstheorie und-hierarchie sein Unterfangen der Lächerlichkeit preisgegeben. Übrigensmachte die Analogie zur Ritomellform die Zahl der Einsätze zu einer Katego-rie der formalen Konstruktion und zog ihre Klassifikation nach sich. Aller-dings konnte die jeweils gegebene Basiszahl verändernden Bearbeitungenunterworfen werden. Dennoch avancierten die vier Klassen der Zahl derEinsätze zu einem Ordnungsfaktor des Zeitraums, der nun neben die Zahlder Stimmen als Ordnungsfaktor des Tonraums trat.18

Ein derart geschärfter Blick auf das Wohltemperierte. Klavier fördert alsdessen normatives Formkonzept die Ritornellform zutage, die sich zwiefachdifferenziert. In jedem der beiden Teile gehört die Hälfte aller Fugen derreinen Ritornellform an; diese eine Hälfte forderte eine neue Weise derRezeption. Die andere Hälfte dagegen fügt in den Rahmen der Ritornellformkontrapunktische Definitionen von Formabschnitten ein und ließ somit die

17 Dokumente zum Nachwirken Johann Sebastian Bachs 1750-1800, vorgelegt u. erläutert v. Hans-JoachimSchulze, Kassel/Leipzig 1972 (= Bach-Dokumente III), Nr. 701, S. 144f. (S. 266 der Quelle).

18 Vgl. Ulrich Siegele, Kategonen formaler Konstruktion in den Fugen des Wohltemperierten Klaviers, in: SiegbertRampe (Hg.), Bach, Das Wohltemperierte Klavier I. Tradition, Entstehung, Funktion, Analyse. Ulrich Siegelezum 70. Geburtstag (= Musikwissenschaftliche Schriften 38), München/Salzburg 2002, 5.321-471.

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hergebrachte Weise der Rezeption offen. Zugleich handhabt sie bisweilen dieRitornellform weniger charakteristisch. Eine Spannung scheint zu bestehenzwischen Ritornellform und kontrapunktischer Definition, die dazu führte,daß es Bach Mühe bereitete, beide bruchlos ineinander aufgehen zu lassen.19

Die erste Fuge des ersten Teils allerdings ist ausschließlich kontrapunk-tisch definiert. Der Grund liegt auf der Hand: Bach holt die Leute dort ab, wosie sich befinden, ehe er ihnen sein neues Paradigma präsentiert. Diesesneue Paradigma bereichert die allgemeine Tradition der kontrapunktischdefinierten Form um Bachs spezielle Innovation einer Analogie zur Ritor-nellform, sei es, daß die kontrapunktische Definition sich in der Ritornell-form zu erhalten sucht, sei es, daß die Ritornellform sich davon befreit undals sich selbst verwirklicht. Derart exemplifiziert das Wohltemperierte Klavierzwei Kulturen der Fuge. Vielleicht ist das Bachs bedeutendste Tat, eine neue,besondere Kultur der Fuge geschaffen und sie mit ihrer alten, allgemeinenKultur vermittelt zu haben.

In dieser Weise Tradition und Innovation unter einem Werktitel zusam-menzufassen, entsprach der Art, wie ehedem Alt und Neu ins Verhältnisgesetzt wurden. Ein architektonisches Beispiel sind die beiden Bursen derTübinger Artistenfakultät. Sie waren in ein und demselben Gebäude unterge-bracht, das eine durchgehende Wand in zwei Hälften schied. Zwei Eingänge,mit einem Adler und einem Pfauen markiert, stellten dem Ankömmling frei,sich für die via antiqua oder die via modema zu entscheiden. Die beidenphilosophischen Richtungen der Realisten und der Nominalisten haustenwohl geschieden unter einem Dach, bis sie anläßlich der Reformation zu dereinen lauteren Philosophie vereinigt wurden.20 Näher liegt vielleicht dasBeispiel der Leipziger Kirchenmusik zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Kuh-nau war als Kantor an der Thomasschule Leiter der traditionellen Kirchen-musik und ihrer Organisation, die zunehmend als veraltet empfunden wur-den. Da bot die Eröffnung der Neuen Kirche, die außerhalb der hergebrach-ten Organisationsstruktur stand, die Gelegenheit, dort unter Telemanns Lei-tung eine moderne Kirchenmusik zu installieren. Nun standen musikalischeTradition und Innovation in ein und derselben Stadt nebeneinander. Es bliebabzuwarten, wie sich ihre Beziehung entwickelte.21

In der Kunst der Fuge kehrte Bach zur alten Weise zurück. Vielleichtzweifelte er an einer anhaltenden normativen Gültigkeit der Ritornellform,während den kontrapunktischen Verfahren Dauer beschieden war; vielleichtwurde er gewahr, daß es ihm nicht gelang, mit der Analogie zur Ritornell-

19 Der reinen Ritornellform gehören an im ersten Teil die Fugen c, Cis, D, Es, E, f, Fis, As, gis, A, B, h, imzweiten Teil die Fugen C, e, F, f, Fis, G, As, A, a, B, H, h.

20 Karl Klüpfel, Geschichte und Beschreibung der Universität Tübingen, Tübingen 1849 (= Karl Klüpfel und MaxEifert, Geschichte und Beschreibung der Stadt und Universität Tübingen, Abteilung 2), S. 9 f. und 30.

21 Ulrich Siegele, Bachs politisches Profil oder Wo bleibt die Musik?, in: Konrad Küster (Hg.), Bach-Handbuch,Kassel/Stuttgart 1999, 8.5-30.

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form eine gleichberechtigte Tradition zu stiften; vielleicht erachtete er es fürdringlicher, anstatt eine neue Kultur durchzusetzen, die alte zu dokumentie-ren. Ohnedies hatte er mit den beiden Teilen des Wohltemperierten Klaviersgenug getan. Die kontrapunktische Definition bezog sich in der Kunst der Fugeauf das einzelne Stück, das deshalb sachgemäß nicht Fuga, sondern Contra-punctus heißt. Jedes einzelne Stück war somit Teil eines Werks, das in grandio-ser Weise eine kontrapunktische Steigerungsform verwirklichte. Um dieseSteigerung an ihr letztes, absolutes Ziel zu führen, halte ich, trotz aller Einre-den, gemäß dem Nekrolog daran fest, daß die unvollständige Quadrupelfugedie vorletzte Fuge des Werks ist und ihr eine letzte Fuge folgen sollte, die vierThemen enthalten und im vierfachen Kontrapunkt ausgearbeitet, also in allenvier Stimmen Note für Note vertauschbar sein sollte; vermutlich war überdiesgeplant, ihre Grundform als Gegenfuge auszuführen und nicht nur die Ver-tauschung der Stimmen, sondern zugleich auch die Spiegelung des Satzes zuermöglichen. Das Werk kulminierte in dieser letzten, äußersten Möglichkeitdessen, was kontrapunktisch überhaupt als Fuge denkbar ist.22

Marpurg aber ist entschuldigt. Wie er im Vorbericht zur Titelauflage derKunst der Fuge vermerkt, war Bachs Werk Anlaß und Bezugspunkt seinerAbhandlung von der Fuge.2! Wenn nun Bach das Projekt einer Analogie zurRitornellform nicht weiter verfolgte, brauchte auch Marpurg sich nicht dar-um zu kümmern und konnte sich auf die kontrapunktische Definition kon-zentrieren. Deshalb stellte er die hergebrachte erste Kultur der Fuge dar undverschaffte ihr andauernde musiktheoretische Gültigkeit. Bachs innovativezweite Kultur dagegen blieb, wenigstens vorerst und vielleicht sogar für ihnselbst, Episode.24

SummaryOf Two Fugal Cultures. Ritomello form and contrapuntal definition in J. S. Bach's »Well-Tempered Ciavier« - Examination of the fugues in The Well-Tempered Ciavier reveals acontradiction: the common fugal theory of the time described the fugue äs an ensemble ofcontrapuntal techniques whose specific application defmed its individual formal sections.In both parts of The Well-Tempered Ciavier, however, half the fugues dispense with any suchtechniques, especially that of stretto, and thus - according to the theory - cannot rightfullybear the title »fugue«. In these fugues, Bach confronts the fugal tradition with a formalconcept of his own, based on a constructive modulation Order and a constructive use ofinterludes.

22 Ulrich Siegele, Wie unvollständig ist Bachs »Kunst der Fuge«?, in: Bericht über die Wissenschaftliche Konferenzzum V. Internationalen Bachfest der DDR in Verbindung mit dem 60. Bachfest der Neuen BachgesellschaßLeipzig 1985, hg. v. Winfried Hoffmann u. Armin Schneiderheinze, Leipzig 1988, S. 219-225.

23 Bach-Dokumente III (Anm. 17), Nr. 648.24 Der vorliegende Text wurde als Referat auf dem XIII. Internationalen Kongreß der Gesellschaft für

Musikforschung, Weimar, 16. bis 21. September 2004 (Sektion €-03) vorgetragen. Er führt den inAnmerkung 18 nachgewiesenen Beitrag weiter und zählt wie dieser zu den Vorarbeiten für eine Fugenleh-re Bachs am Beispiel des Wohltemperierten Klaviers, die in der Reihe Bärenreiter Studienbücher Musikerscheinen soll. Siegbert Rampe, Arizona/Kohl, danke ich für die anregende Diskussion des hier vorgeleg-ten Konzepts.

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