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Sofie Koffa, Störung der Totenruhe, Roman. GolubBooks, Karlsruhe, 2014.
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Sofie Koffa, Störung der Totenruhe
Roman
1. Auflage, 2014
GolubBooks, Edition Green Gables, Nr. 4
Lektorat: Sophia Weiss
Logo: V-print B.V., Niederlande
Umschlagillustration: © Goran Bogicevic
Covergestaltung: BGV, Karlsruhe
Satz: BGV, Karlsruhe
© Sofie Koffa
© GolubBooks
ISBN 978-3-942732-11-6
GolubBooks, Karlsruhe
www.golub-books.de
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
5
Am liebsten wären Sina Hände und Füße aus Marmor, die an den
Ecken aus dem Erdreich ragen sowie eine schlichte Betonkugel von
etwa 2 Metern Durchmesser mitten auf dem Grab mit dem eingemei-
ßelten Schriftzug: „just another irrelevant life“. Das hat sie mal mit dreizehn in einem Aufsatz zum Thema „Wie ich mir meine Zukunft vorstelle“ geschrieben und sie findet es noch
immer ganz witzig.
Sina hat sich schon früh angewöhnt, mit ihrem Gehirn zu reden und
manchmal antwortet es. Sie tut auch manchmal so, als würde ihr Bru-
der da in der Ecke stehen und sie anschauen, mit großen traurigen
Augen.
Ihre Mutter glaubt, dass Sina tatsächlich Geister sehen kann. Sie
erzählte früher immer, dass sie vor Sinas Geburt nicht an eine Seele
geglaubt habe und dass manche Dinge einem erst auffallen, wenn sie
fehlen.
Das ist Mutters Art von Humor.
2005
Der Traum geht so: Sina stürzt zum Klassenzimmerfenster, reißt es
auf und schmeißt das schwarze Buch raus.
Der kleine Ronny springt sofort auf und rennt los. Sina weiß, dass sie
ihn nicht mehr einholen kann. Sie springt dem Buch hinterher. Das
alles passiert in Sekundenschnelle.
Im Fallen fragt Sina sich, ob das so eine gute Idee war, aus dem
dritten Stock. Sie muss an eine Geschichte denken, die sie gelesen
hat. Von einem russischen Fallschirmspringer im 2. Weltkrieg, dessen
Schirm sich nicht geöffnet hatte. Im Fallen hatte er sich überlegt, dass
er den Sturz vielleicht überlebt, wenn er alle Muskeln anspannt.
Sina spannt alle Muskeln an.
Das schwarze Buch liegt neben ihr, sie will danach greifen, doch ihr
Körper gehorcht ihr nicht mehr.
Sie kann keine einzige kleine Bewegung machen.
Wahrscheinlich ist sie tot. Tot und in der Hölle.
6
Sina hört die Vögel zwitschern, sie sieht die CD-Player-Anzeige
blinken.
Das ist ihr Zimmer.
Sie kann keinen Finger rühren, nicht mal um Hilfe rufen kann sie.
Irgendwann hört sie Adrian aufstehen und in die Küche gehen und
dann spürt sie plötzlich so ein Kribbeln und ihr Körper erwacht,
manchmal Minuten später als Sina selbst.
Darum schläft sie nicht gern.
Seit etwa einer Woche überhaupt nicht mehr.
Man kann elf Tage nicht schlafen, bevor man stirbt, vielleicht auch
dreizehn. Noch ist nicht alles verloren.
Morgen wird Sina heiraten.
Also morgen wird Sina heiraten. Man stelle sich vor.
Sie steht im Brautkleid vor dem Spiegel und kriegt den
Reißverschluss nicht selbst zu, weil sie ziemlich ungelenkig ist.
Mutter kommt morgen um sechs. Bis da hin muss Sina eben mit offe-
nem Reißverschluss herumlaufen.
Sie hat sich schon mal geschminkt und die Haare gemacht. Damit sie
morgen früh nicht so viel Zeit damit vertrödelt.
Sina muss morgen um halb fünf raus, da kann sie gleich wach
bleiben.
Mutter hat gefragt, was Sina sich wünscht.
Als ob sie je irgendwas besorgen könne, das Sina sich wünscht.
Neue Serviettenringe könnte sie brauchen, hat Sina gelangweilt ge-
murmelt. Und diese Lederuntersetzer sind auch schon ganz oll. Oder
ein Fondue-Set oder eine Espressomaschine, einen Flügel oder ein
Aquarium, ein Motorrad, eine Angelausrüstung, eine Strickmaschine
– Sina ist es ganz egal.
Denn sie wünscht sich ja eigentlich, dass die Heiligen Vier Errungen-
schaften der Wegwerfgesellschaft in genügender Menge vorrätig sein
sollen.
Alufolie, Wegwerf-Feuerzeuge, Tampons und diese gelben Putz-
schwämmchen mit Kratzauflage.
Sina wurde in einem Land geboren, in dem diese wichtigen Dinge nur
äußerst selten vorkamen. Es gab ersatzweise Butterbrotpapier,
Streichhölzer, Binden und Spülbürsten.
7
Es gab auch keine Ladyshaves.
Die Frauen rasierten ihre Beine nicht, es sei denn, sie wollten für
Prostituierte gehalten werden. Sie heirateten mit achtzehn und wurden
sofort schwanger. Ihre Kinder gaben sie gleich ab, etwa drei Monate
nach der Geburt, in eine Tagesstätte. Dann arbeiteten sie weiter.
Es sei denn, sie wollten für Asoziale gehalten werden.
Sie verdienten genau so viel wie die Männer und konnten alle Berufe
ausüben außer Bomberpilot, Profi-Boxer und Geheimagent.
Ausgerechnet die drei Berufe, die Sina am meisten interessiert hätten.
Doch das ist lange her. Sina ist inzwischen Geologin und das macht
ihr auch Spaß. Ihr Freund Peter ist Mathematiker. Sina mag
Mathematiker, denn die haben die besten Witze über Physiker.
Morgen wird sie ihn heiraten.
Es ist nicht so, dass sie Angst hat. Sie mag nur keine Entscheidungen,
weil sie keine Veränderungen mag.
Adrian tritt in das Zimmer, sie hat ihn gar nicht kommen hören. Er
bleibt hinter ihr stehen und betrachtet erst ihren entblößten Rücken,
dann ihr Spiegelbild.
Er sagt gelangweilt:
- Das ist ja ein traumhaftes Brautkleid.
Er küsst sie vorsichtig auf die Schulter und sagt, als könne er Gedan-
ken lesen:
- Veränderung hat mit dem linearen Ablauf von Zeit zu tun.
Ablaufende Zeit hat mit Tod zu tun. Machen wir uns nichts vor, mein
Täubchen. Alle Geschichten enden auf dem Friedhof, auch diese. In
hundert Jahren liegt im Grab neben dir der Mathematiker, wenn alles
gut geht. Wenn nicht, ist auch nicht schlimm. Den Toten ist es ja egal.
Darum kannst du ihn eigentlich auch heiraten. Das macht keinen
Unterschied im Angesicht der Ewigkeit und der Tatsache, dass in vier
Milliarden Jahren oder so die Erde in die Sonne stürzt und ver-
dampft.
157
2005
Peter würde Sina gern mal besuchen. Immer wieder kommt er darauf zurück. Sina versucht, Adrian die Sa-che schmackhaft zu machen. Sie glaubt, dass beide sich gut verstehen würden. Sie sind sich ähnlich in mancherlei Hinsicht. Aber Adrian will nicht, dass sie einen Freund hat und schon gar nicht will er, dass sie ihn mitbringt. Er will nur immer da sitzen und Sina das Leben versauern. Sina wird ärgerlich. Wenn es ihm nicht passt, dann kann er doch wenigstens mal für ein paar Stunden in die Wirtschaft gehen. Adrian weigert sich, die Wohnung zu verlassen. Sina rächt sich, in-dem sie einfach keine Lebensmittel mehr kauft und nur noch außer-halb isst. Adrian zeigt sich unbeeindruckt. Überhaupt isst er kaum was in letzter Zeit. Seit sie Peter kennt, ei-gentlich. Abgenommen hat er trotzdem nicht, vielleicht weil er sich kaum bewegt. Adrian glaubt nicht, dass er ein Problem hat. Er sagt, er könnte jeder-zeit raus. Er will nur nicht. Sina lockt ihn mit Sushi. Nach zwei Wochen hat sie ihn so weit, dass er sich langsam und vorsichtig die Treppen hinunter und in ein Taxi begibt. Das Restaurant ist voll und teuer. Sina lehnt sich zurück und beobachtet die anderen Gäste. Nach einer Weile sagt sie erstaunt: - Ist dir schon aufgefallen, dass du gar nicht mehr angegafft wirst wie ein Wundertier? - Ja. Vielleicht hab ich es endlich geschafft, die anderen per Massen-hypnose davon zu überzeugen, dass ich ganz unscheinbar bin. Oder ich bin so abstoßend, dass die Leute mich ausblenden. Oder man wird mit über Dreißig nicht mehr angegafft, weil man endlich alt ge-nug ist, um nicht mehr schlank sein zu müssen. Sina nickt und sagt: - Überhaupt hört man auf, an der Welt zu leiden. Gut, dass wir uns nicht umgebracht haben. - Haben wir nicht? Sina lacht.
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- Ja, vielleicht sind wir nur Geister. Vielleicht bin ich beim Sprung aus dem Klassenzimmerfenster gestorben und das alles seitdem ist nur eine Art Film, der eigentlich in drei Sekunden abläuft, bevor dem Gehirn der Sauerstoff ausgeht. Vielleicht bin ich deine Einbildung. Vielleicht bilden wir uns gegenseitig ein. Vielleicht bin ich real und du bist ein Geist. Du trägst immer noch die Kleider, die wir damals zusammen schwarz gefärbt haben. Obwohl ich dir lauter neue gekauft hab. Adrian lacht. - Das wär ja prima, wenn es mitwachsende Hosen gäb! Nein. Es sind aber tatsächlich die gleichen. Oder sehr ähnliche. Ist mir beim Kaufen gar nicht aufgefallen, später erst dachte ich, dass ich solche schon mal hatte. Sind eigentlich die Achtziger grad wieder in? - Und du bist kaum gealtert. - Das geht doch erst jetzt richtig los. - Was ich auch komisch finde: Du riechst nicht. - Ich rieche nicht. So. Wär’s dir lieber wenn ich stänke? Er lacht wieder. - Und du hast immer noch keinen richtigen Bart. - Oh ja. Und darum bin ich ein Geist, Geister haben keine Bärte, weiß ja jedes Kind. Nur zu deiner Information: Auch wenn ich nicht wie Osama Bin Laden aussehe, kannst du nicht einfach behaupten, ich hätte keinen richtigen Bart. Das ist ein richtiger Bart. Er ist mittel-europäisch. Sina lacht. - Du bist vielleicht selber ein Geist. Sagt Adrian. - Du bist nämlich wirklich kaum gealtert. Und du hast auch – und bei dir ist das nicht die gleiche Hose sondern tatsächlich immer noch die-selbe! Diese rote. - Das ist doch nur die Renovierhose! - Und dieser grünblaue Ringelpulli – das wollte ich dir schon lange mal sagen: Zieh ihn nie wieder an. Auch nicht als Schlafanzug. - Was soll ich tun. Das Ding ist unkaputtbar. - Von wegen. Da ist doch mehr Loch als Pulli. Wir sollten uns wirk-lich mal von ein paar Sachen trennen. Wir sollten endlich unser Leben
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aufräumen. Du bist jetzt mit Peter zusammen. Gut. Ich denke, ich zie-
he in eine kleinere Wohnung. Oder zurück nach Berlin. Mal sehen.
- Hm.
Sagt Sina. Dann sagt sie lange nichts. Bis Adrian schließlich aufsteht
und sich siegessicher umschaut: Kein Mensch nimmt Notiz von ihm.
- Ich bin unsichtbar. Mein großes Ziel ist erreicht.
Sagt er und grinst.
Nach seiner Sushi–Erfahrung zeigt Adrian entgegen Sinas Erwartun-
gen erst recht kein Interesse mehr an der Außenwelt. Er behauptet
jetzt, seine Muskeln seien durch das lange Sitzen derart geschrumpft,
dass ein erneutes Erklimmen der Treppenstufen bis in den vierten
Stock nur ein unnötiges Herzinfarkt-Risiko darstellen würde.
Sina arrangiert ein Candle-Light-Dinner für Peter.
Es stört Peter überhaupt kein bisschen, dass Adrian dabei ist, er igno-
riert ihn höflich. Sina gibt Adrian mit einer dezenten Kopfbewegung
zu verstehen, dass er sich entfernen soll. Adrian grinst. Er stellt sich
still in eine Ecke neben ihren toten Bruder, flüstert ihm was ins Ohr
und geht dann raus.
Sina findet das unerhört. Wieso kann Adrian ihren toten Bruder
sehen?
- Peter?
- Ja?
- Das mag eine merkwürdige Frage sein, aber wann hast du Adrian
das letzte Mal gesehen?
Peter überlegt.
- Das letzte Mal? Ich glaube, ich hab ihn noch gar nicht getroffen. Du
hast nur immer von ihm erzählt.
- Nein. Ich meine den Dicken, der hier grad die ganzen Steaks ver-
schlungen hat.
Peter überlegt und grinst.
- Das bin ich.
- Nein. Ein noch viel dickerer Dicker.
Peter lacht.
- Oh ja. Das ist nicht Adrian. Das ist mein innerer Schweinehund, der
manchmal die Kontrolle übernimmt.
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Er prustet vor sich hin. Sina lächelt vorsichtig. Ihr kommt nicht zum
ersten Mal der Verdacht, dass Adrian genau so wenig real ist wie ihr
Bruder. Aber je stärker der Verdacht zur Gewissheit werden will, weil
es ihr plötzlich einfach logisch scheint, dass Adrian nicht real ist, des-
to mehr versucht sie sich einzureden, dass Logik hier nicht weiter
hilft. Wenn nämlich die Grundthese wahnhaft ist, so führen die logi-
schen Schlussfolgerungen nur zu noch größerem Wahnsinn.
Trotzdem: Warum weigert Adrian sich, ein Bankkonto zu eröffnen
oder sich endlich mal in München anzumelden? Wieso will er partout
nicht Auto fahren? Weil es ihn gar nicht wirklich gibt?
Aber es gab ihn doch mal. Auf einer Bank an einem Fluss. Vielleicht
hat Sina sich das eingebildet?
Sie kann sich kaum noch an früher erinnern, allzu absurd und fern
kommt ihr das alles heute vor.
Sina fährt mit Adrian in die kleine Stadt an der Grenze.
Merkwürdig, dass dies hier mal ihr ganzer Kosmos war. Sie schlen-
dern durch die Straßen, die jetzt alle neue Namen haben, drehen eine
Runde auf dem alten Schulhof, der jetzt ganz alt und verfallen und
klein wirkt. Sie rauchen eine Kippe hinter dem Fahrradschuppen und
dann laufen sie zum Damm hoch.
Adrian setzt sich auf die Bank am Fluss, der früher eine unüber-
windliche Grenze war. Sina steht da eine Weile und starrt Adrian aus
einiger Entfernung an, dann setzt sie sich zu ihm und schaut lange auf
den Fluss.
Ein paar Bilder steigen in ihr auf.
Ihr Fahrrad, Schuhe ohne Schnürsenkel, der mit vergilbten Zacken-
rand–Fotos tapezierte Korridor, die verfallene Fabrik, von der aus
Sina auf Matthias geschossen hat.
Plötzlich hat sie genug und beschließt, zu gehen.
Gerade da schaut Adrian plötzlich zu ihr, sie nimmt das aus dem Au-
genwinkel wahr, auch, dass er sie ziemlich lange anstarrt. Sina starrt
zurück, ohne mit der Wimper zu zucken. Etwas stimmt nicht mit sei-
nen Augen. Er sagt:
- Die meisten Leute mögen es nicht, wenn man sie anstarrt.
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Seine Stimme ist schon etwas gebrochen. Auch hat er etwas Flaum
auf der Oberlippe. Er wird so vierzehn sein. Sina schaut weg, auf sei-
ne Schuhe. Er hat sie nicht zugebunden.
- Ich bin nicht die meisten Leute.
Sagt Sina.
- Und ich weiß nicht, was sie mögen.
- Willst du Bier?
Sina nimmt die Flasche und trinkt. Sie hat das schon mal probiert. Sie
weiß, Bier ist bitter. Angenehm bitter, wie sie jetzt findet. Sina nimmt
noch einen Schluck.
Der Junge holt eine zerdrückte Zigarette aus seiner Hemdtasche und
zündet sie an. Sina fragt:
- In welche Schule gehst du? Ich hab dich noch nie gesehen.
- Marchlewski. Aber erst seit diesem Jahr. Wir sind von Leipzig her-
gezogen, zu meiner Oma. Und du?
- Oktoberschule. Siebente Klasse.
- Wo hast du PA?
- Werk 3.
- Das kenn ich. Willst du noch mehr Bier?
Sina nickt. Der Junge hält die Bierflasche schräg ins Licht. Sie ist
leer. Er steht auf und läuft einfach weg, Richtung Altstadt.
Sina nimmt ihr Rad und geht hinterher.
Sina nimmt ihr Rad und geht nach Hause.
Sina nimmt ihr Rad und geht hinterher.
Sina nimmt ihr Rad und geht nach Hause.
Adrian räuspert sich plötzlich und fragt:
- Sollen wir mal rüber zum Kippen holen?
Sina braucht viereinhalb Sekunden, bevor ihr klar wird, was Adrian
meint.
In Polen auf dem Markt treffen sie ausgerechnet Steffen Fech.
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Sie kann nicht verstehen, dass er da geblieben ist. Er kann nicht ver-
stehen, dass sie weg gegangen ist. Er ist arbeitslos und frustriert und
schimpft auf die Ausländer.
Adrian gibt zu bedenken, dass es hier gar keine gibt, jedenfalls im
Vergleich zu München oder Berlin.
Steffen ignoriert Adrian, wie immer. Sina verabschiedet sich schnell.
Sie fahren zurück.
Sina fragt, ob Adrian auch mal fahren will, aber er will nicht. Sie
fragt ihn an einer Raststätte, ob er ihr einen Kaffee holt, aber er wei-
gert sich. Sina kauft einen riesigen Berg Schokoriegel und wirft sie
Adrian auf den Schoß, aber er isst sie nicht.
Immerhin: Adrian ist auf dem Klassenfoto aus der Achten mit drauf.
Vielleicht hat er es tatsächlich geschafft, sich langsam aufzulösen.
Unsichtbar zu werden für die anderen.
Oder er ist einfach irgendwann verloren gegangen und Sina hat es
nicht bemerkt.
Vielleicht gab es ihn nie.
Sina nimmt ihr Rad und geht nach Hause.
Sina nimmt ihr Rad und geht hinterher.
- Ich werde wahnsinnig.
Sagt Sina.
- Entweder bist du ein Geist oder ich werde wahnsinnig.
Adrian antwortet lange nicht. Er drückt auf den Fensterheber, mehre-
re Male. Nichts tut sich. Sina betätigt den Knopf, er funktioniert pro-
blemlos. Adrian seufzt. Dann fragt er:
- Was wäre dir lieber?
- Es wäre mir beides gleichermaßen unangenehm. Und ich würde ger-
ne wissen, wie du darüber denkst.
- Ich? Ich glaube, du solltest in jedem Fall einen Arzt konsultieren.
Ich bin weder ein Geist noch eine Wahnvorstellung. Was übrigens
aufs Gleiche hinausläuft, nämlich auf eine Wahnvorstellung.
- Aber was, wenn die Wahnvorstellung behauptet real zu sein?
- Dann lügt die Wahnvorstellung. Können Wahnvorstellungen lügen?
- Wahnvorstellungen sind Lügen. Und ich will die Wahrheit.
- Nein. Willst du nicht.
- Doch.
- Sicher?
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- Ja. Und ich will wissen, was du in der Zeit getan hast, als ich in der
Klapse war.
- Ach. Was soll ich schon getan haben. Fahr mal da vorne rechts.
- Was? Wieso?
- Ja, mach mal.
Sina fährt rechts ab.
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Adrian hat Angst, dass er jetzt doch noch in den Werkhof muss,
schließlich ist er schon fünfzehn.
In so einem Werkhof geht es nicht gerade zimperlich zu. Das ist ein
Sammelbecken für Kinder, die ihre Aggressionen nicht unter Kontrol-
le haben.
Und für Erzieher, die entweder zu zynisch oder zu sadistisch für ein
anderes Tätigkeitsfeld sind.
Einem wie Adrian würde es da schlecht ergehen.
Sina glaubt zuerst, er sei krank, als er nach den Herbstferien in der
Schule fehlt. Trotz des Arrests geht sie ein oder zweimal die Woche
hin, steigt die Treppen hoch und klingelt. Es wird ihr nie geöffnet.
Eine Nachbarin erzählt, die ganze Familie sei in den Westen.
Der Junge ist angeblich nicht mit, der ist im Werkhof. Sie weiß nicht,
in welchem, aber es gibt ein Gerücht, dass der Bengel abhauen woll-
te, weil er irgendwas zu tun hatte mit dem Mann, den man im Stadt-
park umgebracht hat.
Eines Tages fehlt das Namensschild an der Wohnungstür. Irgendwann
gibt es ein neues und Sina geht nicht mehr hin. Sie hat begonnen, das
schwarze Buch zu schreiben.
2005
Es wird langsam wieder hell. Sie sind in einem kleinen Ort in Bran-
denburg. Sandiger Boden.
Den Jugendwerkhof gibt es nicht mehr, der Friedhof ist noch da, sehr
romantisch mit vielen alten Bäumen und einer verwitterten Backstein-
mauer, mit Gießkannenhaltern und Regenwasserbrunnen.
Sofie Koffa wurde 1972 in einer Kleinstadt in der ehemaligen DDR
geboren. Nach der Wende zog sie mit ihrer Familie nach Süd-
deutschland, wo sie eine Ausbildung zur Buchhändlerin absolvierte.
Später studierte sie Drehbuch und Dramaturgie an der HFF „Konrad Wolf“ in Potsdam-Babelsberg. Für das unveröffentlichte Manuskript
des Romans „Störung der Totenruhe“ erhielt die Autorin im Jahre
2005 den „Oldenburger Kinder- und Jugendbuchpreis“. Seit dem Jahr
2000 lebt sie in Berlin.