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Somatoforme Störungen
• Prof. Dr. Dr. Wolfgang Schneider
• Klinik für Psychosomatik und Psychotherapeutische Medizin
• Zentrum für Nervenheilkunde
• Universität Rostock
• Institut für Psychotherapie, Gesundheitswissenschaften und Organisationsentwicklung (IPGO)
Somatoforme Störungen F 45
• Wiederholte Darbietung körperlicher Symptome in Verbindung mit hartnäckigen Forderungen nach medizinischen Untersuchungen trotz wiederholter negativer Befunde u. der Versicherung der Ärzte, dass die Symptome nicht körperlich begründet sind... Auch wenn der Beginn oder die Fortdauer der Symptome eine enge Beziehung zu unangenehmen Lebensereignissen, Schwierigkeiten oder Konflikten aufweist, widersetzt sich der Patient gewöhnlich den Versuchen, die Möglichkeit einer psychischen Verursachung zu diskutieren. Es besteht häufig ein gewisses aufmerksamkeitssuchendes Verhalten...
Diagnostische Beschreibungen
• F 45.0 SomatisierungsstörungMultiple, wiederholt auftretende und häufig wechselnde körperliche Symptome... Die Symptome können sich auf jeden Körperteil oder jedes Körpersystem beziehen.Meist chronisch fluktuierender Verlauf u. häufig mit sozialen u. interaktionellen Problemen verbunden.
• F 45.1 undifferenzierte Somatisierungsstörungwie bei F 45.0, jedoch nicht so ausgeprägt
• F 45.2 hypochondrische StörungAnhaltende Überzeugung vom Vorhandensein wenigstens einer oder mehrerer körperlichen Erkrankungen; ständige Beschäftigung mit dem Körper; normale oder allgemeine Empfindungen oder Erscheinungen werden von dem Individuum als abnorm oder belastend interpretiert. Ständige Weigerung, den Rat u. die Versicherung mehrerer Ärzte zu akzeptieren, dass den Symptomen keine körperliche Krankheit zugrunde liegt.
F 45 somatoforme Störungen• F 45.3 somatoforme autonome Funktionsstörung
Patient schildert die Symptome so, als beruhten sie auf der körperlichen Erkrankung eines weitgehend oder vollständig innervierten vegetativen Organsystems;Zwei Symptomgruppen ergeben das typische Bild:1. Symptome der vegetativen Stimulation, wie z.B. Herzklopfen, Schwitzen, Erröten u. Zittern;2. Subjektive u. unspezifische Symptome, wie fließende Schmerzen, Enge, Brennen, Schwere etc.; diese werden einem bestimmten Organsystem zugeordnet;3. Begleitsymptome, wie Singultus, Flatulenz oder Hyperventilation;
Bei vielen Patienten finden sich psychische Belastungsfaktoren, die einen Bezug zur Störung zu haben scheinen.
• F 45.30 kardiovaskuläres System („Herzneurose“)• F 45.31 oberer Gastrointestinaltrakt („Magenneurose“)• F 45.32 unterer Gastrointestinaltrakt („nervöser Durchfall“)• F 45.33 respiratorisches System (Hyperventilation; Husten)• F 45.34 urogenitales System (Dys-, Pollakisurie)• F 45.38 sonstiges Organsystem
F 45 somatoforme Störungen
• F 45.4 anhaltende somatoforme SchmerzstörungAndauernder, schwerer u. quälender Schmerz, der durch einen physiologischen Prozeß oder eine körperliche Störung nicht vollständig erklärt werden kann. Der Schmerz tritt in Verbindung mit emotionalen Konflikten oder psychosozialen Problemen auf. Diese sollten schwerwiegend genug sein, um als entscheidende ursächliche Einflüsse zu gelten.Nicht darunter zu klassifizieren sind z. B. vermutlich psychogene Schmerzen infolge einer depressiven Störung oder einer Schizophrenie (dort klassifizieren). Schmerzen infolge von psychophysiologischen Mechanismen (Spannungsschmerz oder Migräne) sollten unter F 54 (psychische Faktoren oder Verhaltenseinflüsse bei andernorts klassifizierten Krankheiten) klassifiziert werden und unter dem entsprechenden Organkapitel
• F 45.8 sonstige somatoforme Störung• Körperempfindungen zu tolerieren und adaptiv zu verarbeiten stellt die
zentrale Schwierigkeit dar
Epidemiologie
• Je nach Untersuchungskontext (Allgemeinbevölkerung, Primärversorgung, Klinik) und Definition (DSM/ICD)
• Hanel et al. (J Psychosom Res 04) berichten Prävalenz von 18.4 in der Primärversorgung für irgendeine somatoforme Störung
• Häufige Komorbidität und definitorische Überlappung mit Angst und Depression
Prognose
• Insgesamt schwer zu bewerten (Variabilität; Komorbidität; Stichprobendiffusion)
• Nach 3.5 Jahren: Remission in 52% (lt. Lieb et al., Eur Psychiatry. 2002) – aber: Verschlechterung in 30%
• Ungünstige Prognose korreliert mit Anzahl der (medizinisch unerklärten) Symptome
Patienten können die Mitteilungen des Arztes, dass die Symptome nicht durch eine Organerkrankung verursacht sind, nicht akzeptieren!
Ihr Krankheitskonzept (die Laienätiologie) ist somatisch orientiert; ebenso die Behandlungserwartungen
Sie weisen eine Tendenz zur wiederholten und ergänzenden Diagnostikund Therapie auf (Doctor hopping)
Somatoforme Störungen - Relevante Differentialdiagnosen
• Zuallererst ist natürlich auch an körperliche Grunderkrankungen zu denken, die diagnostisch ausgeschlossen werden;
• Depressive Störungen;
• Angststörungen;
• dissoziative Störungen;• ggf. auch psychotische
Störungen;
• Viele psychische Erkrankungen weisen auch Körpersymptome auf!
DD am Beispiel der Herzneurose
• org. Probleme (KHK) aber auch Refluxkrankheit • Kardiozeption ist sehr variabel
(Qualität/Wahrnemungsschwelle/Lokalisation): am häufigsten ist die
• Palpitation• PANIKstörung: VT-Diagnose• Angst und kardiale Beschwerden sind funktionell
verknüpft
DD am Beispiel der Herzneurose
• Symptome haben keinen Anfalls-, sondern Kontinuitätscharakter
• Unspezifische/Begleitsymptome• Somatisches Krankheitskonzept• Denkbar ist auch eine Kombination von
„Herzangst“ und Panik• Überwiegt die „ängstliche Überzeugung“
Hypochondrie
Diagnostische Hinweise auf das Vorliegen einer somatoformen Störung
Die Art und Intensität der Beschwerdenschilderung korreliertnicht mit den Ergebnissen der klinischen Untersuchung sowieapparativer und laborchemischer Untersuchungen
Es findet sich häufig eine deutliche Diskrepanz zwischen den „objektiven“ Befunden und den Aktivitäten des Probanden
Auffälliges Krankheitsverhalten
Ggf. finden sich Hinweise auf aktuelle oder frühere psychosoziale Belastungen
KrankheitskonzeptKrankheitskonzept
• Subjektive Einschätzung der Belastung Subjektive Einschätzung der Belastung und Krankheitsfolgenund Krankheitsfolgen
• Erleben, Darstellung und Konzeption der KrankheitErleben, Darstellung und Konzeption der Krankheit • somatisch (Symptomerleben, somat. Laienätiologie und somatisch (Symptomerleben, somat. Laienätiologie und
Behandlungserwartung);Behandlungserwartung);• psychisch (psych. Beschwerden, PT-Erwartungen, psychisch (psych. Beschwerden, PT-Erwartungen,
Leidensdruck); Leidensdruck); • Sozial (soz. Probleme, Konzepte und Erwartungen)Sozial (soz. Probleme, Konzepte und Erwartungen)• Ressourcen und Offenheit, Hemmnisse und Ressourcen und Offenheit, Hemmnisse und
KrankheitsgewinnKrankheitsgewinn
KrankheitskonzeptKrankheitskonzept• Emotionale, Kognitive und handlungsbezogene Emotionale, Kognitive und handlungsbezogene
Ressourcen (Belastbarkeit) des Ich Ressourcen (Belastbarkeit) des Ich • Abwehr/Coping, spezifische konflikthafte Abwehr/Coping, spezifische konflikthafte
Erlebensmuster, Selbstreflexion, -Erlebensmuster, Selbstreflexion, -wahrnehmung, Affekttoleranz und –steuerung, wahrnehmung, Affekttoleranz und –steuerung, Beziehungs-fähigkeitBeziehungs-fähigkeit
• Leidensdruck: Diskrepanzerleben zw. Distress Leidensdruck: Diskrepanzerleben zw. Distress und Kompensationsmöglichkeitenund Kompensationsmöglichkeiten
• Therapiemotivation: Leidensdruck und Therapiemotivation: Leidensdruck und Krankheitsgewinn (affektiv); Konzept und Krankheitsgewinn (affektiv); Konzept und Erwartung (kognitiv)Erwartung (kognitiv)
Prinzip der Somatisierung
• Ich reproduziere Symptome, die Du nicht erklären kannst!
• Ich präsentiere Dir Körperbeschwerden, aber keine seelischen Probleme!
• Ich mache mir Sorgen um mich und stehe deshalb immer wieder vor Deiner Tür!
• Die Bedrohung meiner Gesundheit lässt keine Kompromisse zu!
Chronifizierungsfaktoren
• maladaptive Krankheitsverarbeitung
• dysfunktionales Krankheits- und Leistungskonzept;
• Fixierung auf medizinische Unterstützung;
• Ausmaß an Aktivitätseinschränkungen;
• eingeschränkte Partizipation an unterschiedlichen Lebenskontexten (z.B. interaktionelle Einschränkungen);
• sozialer Rückzug;
• bedrohte körperliche und psychische Integrität;
• dysfunktionale soziale Unterstützung
• Rentenwunsch/ -antrag;
Verhaltenstherapeutisches RisikomodellUnterscheidung von auslösenden und aufrechterhaltenden / chronifizierenden
Bedingungen
Auslösende Bedingungen:
1 genetische u. psychobiologische Variablen,
2 erhöhte Depressivität u. Ängstlichkeit u. damit verbundener sozialer Rückzug,
3 Krankheitsmodelle, die während der Kindheit u. Jugend erlernt worden sind,
4 Verstärkung von Krankheitsverhalten durch das soziale Netzwerk aber auch durch das medizinische u. paramedizinische System,
5 aus 3. u. 4. resultieren spezifische maladaptive Bewertungs- u. Einstellungsmuster, die das Risiko zur Ausbildung somatoformer Beschwerden erhöhen
Aufrechterhaltende u. chronifizierende Bedingungen:
1 selektive Aufmerksamkeit (somatosensorische Verstärkung),
2 katastrophalisierende Bewertung körperlicher Mißempfindungen
3 Erhöhung von Schon- und Vermeidungsverhalten,
4 sozialer Rückzug u. Steigerung der Aufmerksamkeitsfokussierung
Verhaltenstherapeutische Behandlungsansätze
• Informationen zum Krankheitsbild
• Förderung eines psychosozialen Krankheitskonzeptes
• Arbeit an der dysfunktionalen Körperwahrnehmung
• Bearbeitung der katastrophisierenden Bewertungen (Gedanken)
• Unterstützung einer adaptiven Krankheitsverarbeitung; z.B. körperliche Aktivierung und Förderung von sozial aktiverem Verhalten
Psychodynamische Erklärungs- und Behandlungsansätze
• Psychodynamische Konzepte gehen davon aus, dass die heterogene Gruppe der somatoformen Störungen, durch unterschiedliche intrapsychische Bedingungen verursacht sind
• Somatoforme Beschwerden • als Reaktionen auf aktuelle
„konflikthafte“ Belastungen;
• auf dem Hintergrund einer neurotischen Problemstellung (unbewußter intrapsychischer Konflikt);
• als Ausdruck von Persönlichkeits-störungen; z.B. Grundstörung im Bereich des Gehaltenwerdens; Versorgt- und Geschütztwerdens, mangelnde Affektregulation;
Zur Verursachung
• Bindung: z.B. unsichere Bindung -> Katastrophisierung, stärkere Symptomklage
• Kindheitstraumatisierungen
• Chronische Krankheiten der Familie
• Eigene Krankheitserfahrung: kortikale Engrammierung
Psychodynamische Behandlungsansätze bei somatoformen Störungen (1)
• Somatoforme Störung als Reaktion auf aktuelle Belastungen:
• Therapeutisches Vorgehen:• verhaltenstherapeutische
Ansätze;den aktuellen Konflikt fokussierende Kurztherapie;
• Somatoforme Störung auf dem Hintergrund einer neurotischen Problemstellung;
• Therapeutisches Vorgehen:• verstehender Zugang;• Arbeit mit der Übertragung;• Arbeit am Widerstand;• Herausarbeitung des
unbewußten konflikthaften Materials
Psychodynamische Behandlungsansätze bei somatoformen Störungen (2)
• Somatoforme Beschwerden als Ausdruck einer Persönlichkeitsstörung;
• Therapeutisches Vorgehen
• Förderung des Wahrnehmens und Erkennens von Affekten;
• körperliche Symptome als Fokus von Affekten (Affektäquivalent);
• Bearbeitung von Affekten;
• Körperbezogene therapeutische Arbeit als „Brückentherapie“
Somatisierung und chronischer Schmerz
• Es stellen sich insbesondere körperbezogene Symptome dar, die jedoch nicht Ausdruck einer körperlichen Grunderkrankung sind sondern eher eine Folge von chronischen psychosozialen Belastungen darstellen
• Auffälliges Krankheits- und Hilfesuchverhalten (Hineinsteigern in Symptome, wiederholtes Aufsuchen von Ärzten zur Diagnostik und Therapie, häufige Krankschreibungen)
• Somatisch/biologisches Krankheitskonzept; z.B. Umwelterkrankungen als Erklärungsmodell
• Wenig Zugang zu etwaigen psychosozialen Hintergrundbedingungen
• Hohe Tendenz zur Chronifizierung
Umgang mit Patienten mit somatoformen Störungen in der Arztpraxis
• Systematische Förderung der Psychotherapietherapiemotivation;
• Systematische Arbeit an dem dysfunktionalen Krankheitskonzept des Patienten;
• Abbau von Vorurteilen gegenüber psychischen und psychosomatischen Störungen und Behandlungsansätzen;
• wenn möglich, Herstellung eines Zusammenhanges zwischen den körperlichen Symptomen und der individuellen Entwicklung;
• Aufzeigen der Prinzipien psychotherapeutischer Konzepte und Vorgehensweisen
Chronische Schmerzerkrankungen werden häufig durch psychische und soziale Faktoren (mit-) beeinflusst.
• Psychologische Dimensionen• Affekte (Depressivität, Angst)• Kognitionen (Pessimismus)• Verhalten; Vermeiden von • Körperlichen Anstrengungen• Soziale Dimensionen• interaktionelle Variablen• (Klagen, sich Aktivitäten
abnehmen lassen• Sozialer Rückzug• U.U.Rentenantragsstellung
• somatische Ebene• Nozizeptoren • physiologische Prozesse
Stressmodell des Schmerzes
Schmerz
BefindenVerspannung
Verstärkte Wahrnehmung von Körpersignalen
• Amplifikatoren I- Arousal- Distress- HPA Achse- Sensibilisierung
• Amplifikatoren II• Selektive
Aufmerksamkeit• Gesundheitsbezogene
Angst• Depression• ….
Chronifizierungsfaktoren beim Schmerz oder somatoformen Störungen
• erhöhte und selektive Wahrnehmung von Körpersignalen und psychischen Beeinträchtigungen
• Katastrophisierende Selbstbeobachtung und Interpretation
• dysfunktionales Krankheits- und Leistungskonzept
• Fixierung auf medizinische Unterstützung
• Existentielle Bedrohung, Angst vor Ausgrenzung und Stigmatisierung
• Gelernte Hilflosigkeit und fehlendes Gefühl von Selbstwirksamkeit
• Wachsendes Ausmaß an Aktivitätseinschränkungen
• eingeschränkte Partizipation an unterschiedlichen Lebenskontexten (z.B. interaktionelle Einschränkungen);
• Wiederholte Krankschreibung; Herausfallen aus dem Arbeitsprozess;
• sozialer Rückzug;• All dieses kann in Rentenwunsch/
-antrag münden
Probleme und „Auffälligkeiten“ im Arbeitsprozess
• Verminderte körperliche und psychosoziale Leistungsfähigkeit und -belastbarkeit
• Ängstlichkeit und Klagen über die Beschwerden
• Einschränkungen von Aktivitäten, Schonhaltungen
• Hohe Fehlzeiten aufgrund von Krankheitstagen
• Durch Schmerzmedikamente kognitive Beeinträchtigungen (Konzentration und Aufmerksamkeitsstörungen)
• Rentenwunsch bei chronischen Schmerzerkrankungen
Therapie und Prognose
• Psychotherapie mit Integration von körperbezogenen Ansätzen (Bearbeitung der emotionalen und sozialen Probleme)
• Verhaltenstherapeutische Programme zur Förderung eines psychosozialen Zugangs zu den Problemen und zur Bewältigung der Störung
• Prognose: hohe Chronifizie-rungstendenz;
• Psychologische Schmerzprogramme
• Ziel: Reduzierung der Schmerzen über die Bearbeitung dysfunktionaler Verhaltensmuster und Kognitionen
• Förderung eines psychosomatischen Schmerzkonzeptes und Motivierung;
• Analyse von auslösenden und aufrechterhaltenden Bedingungen;
• Verhaltensanalyse, Abbau von Schonverhalten und Überforderung
• Erlernen von Entspannungstechniken, • Aufbau alternativer, schmerzinkompatibler
Verhaltensweisen;• Genußtraining
- Dysfunktionales
inhibierendes
deszendierendes
Schmerzsystem
-Verstärktaktivierendes
deszendierendes
Schmerzsystem
(Tracey & Mantyh, 2007)