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Nervenarzt 2008 · 79:1237–1248 DOI 10.1007/s00115-008-2555-6 Online publiziert: 29. Oktober 2008 © Springer Medizin Verlag 2008 K. Holtkamp 1  · B. Herpertz-Dahlmann 2 1  DRK Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie/Psychosomatik, Bad Neuenahr 2  Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie, Universitätsklinikum, RWTH Aachen SSRI- und SNRI- Behandlung im Kindes- und Jugendalter Aktuelle Informationen zum Nutzen-Risiko-Verhältnis Übersichten Die Kontroverse um die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit SSRI und SNRI führte in den letzten Jahren zum Teil zu erheblicher Verun- sicherung bei behandelnden Ärzten, Eltern und Aufsichtsbehörden. Pati- enten und deren Eltern haben ent- sprechend der Indikation ein Anrecht, über die nach derzeitigem Evidenz- und Erfahrungsstand bestwirksams- te, sicherste und verfügbare Therapie aufgeklärt zu werden [2]. Selektive Serotoninwiederaufnahmehem- mer (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin- Wiederaufnahmehemmer (SNRI) besitzen ein breites Anwendungsspektrum und ha- ben sich bei der medikamentösen Thera- pie der Depression sowie der Angst- und Zwangsstörungen im Erwachsenenalter als effektiv erwiesen. Hingegen wird die Verordnung von SSRI und SNRI bei Kin- dern und Jugendlichen seit 2003 aufgrund zunehmender Hinweise, dass die Subs- tanzen speziell in dieser Altersgruppe das Risiko suizidaler Gedanken und Hand- lungen erhöhen könnten [5], kontrovers diskutiert. Die US-amerikanische Arznei- mittelaufsichtsbehörde (FDA) kam in ih- rer Metaanalyse von 24 plazebokontrol- lierten Studien an mehr als 4500 Kindern und Jugendlichen zu dem Ergebnis, dass der Einsatz von SSRI und SNRI gegen- über einer Plazebobehandlung zu einem 2fach erhöhten Risiko (4% vs. 2%) für su- izidale Gedanken und Handlungen führt, wobei in keiner der Studien ein vollende- ter Suizid berichtet wurde [4]. Als Kon- sequenz dieser Analyse ordnete die FDA an, bei allen Antidepressiva einen Warn- hinweis (Black-box-Warnung) in die Pati- enten- und Fachinformationen aufzuneh- men, dass SSRI/SNRI im Kindes- und Ju- gendalter suizidale Gedanken und Hand- lungen induzieren können. Die europäische Arzneimittelbehörde (EMEA) sowie das deutsche Bundesins- titut für Arzneimittel und Medizinpro- dukte (BfArM) verlangten zusätzlich zu dem o. g. Warnhinweis die Angabe, dass SSRI und SNRI zur Behandlung psy- chischer Erkrankungen (mit der Ausnah- me von Fluoxetin zur Behandlung der De- pression und Fluvoxamin zur Behandlung der Zwangsstörung bei Kindern ab 8 Jah- ren) bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren nicht angewandt werden sollten. Ein Verbot der Anwendung dieser Medi- kamente in diesem Altersbereich erfolgte jedoch nicht, so dass die Anwendung die- Tab. 1 Statistische Maße zu Beurteilung des Nutzen und des Risikos einer Behandlung Wirksamkeitsdifferenz Relatives Risiko (RR) Numbers needed to treat (NNT) Numbers needed to harm (NNH) Effektstärke Die Responsedifferenz gibt den Unterschied in der pro- zentualen Wirksamkeit/des prozentualen Risikos zwi- schen der SSRI/SNRI- und der Plazebogruppe an Das relative Risiko be- schreibt das Risiko, wie häufig unter SSRI-Therapie im Vergleich zur Plazebo- behandlung Suizidalität auftritt Beispiel: RR=2 (Risiko bei SSRI-Gabe 2fach erhöht gegenüber Plazebo) NNT ist ein statistisch zu be- stimmendes Maß, welches angibt, wie viele Patienten behandelt werden müssten, um das Therapieziel (Reduk- tion der depressiven Symp- tome) zu erreichen NNH ist ein statistisch zu be- stimmendes Maß, welches angibt, wie viele Patienten behandelt werden müssten, um einen Schaden festzu- stellen (Suizidalität) Die Effektstärke beschreibt das Ausmaß der Wirkung einer Verumbehandlung gegenüber dem einer Plaze- bobehandlung Nach Cohen [11]  0,2 einen kleinen Effekt, 0,5 einen mittleren und 0,8 einen starken Effekt 1237 Der Nervenarzt 11 · 2008 |  

SSRI- und SNRI-Behandlung im Kindes- und Jugendalter

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Nervenarzt 2008 · 79:1237–1248DOI 10.1007/s00115-008-2555-6Online publiziert: 29. Oktober 2008© Springer Medizin Verlag 2008

K. Holtkamp1 · B. Herpertz-Dahlmann2

1 DRK Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie/Psychosomatik, Bad Neuenahr2 Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie,  Universitätsklinikum, RWTH Aachen

SSRI- und SNRI-Behandlung im Kindes- und JugendalterAktuelle Informationen zum Nutzen-Risiko-Verhältnis

Übersichten

Die Kontroverse um die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit SSRI und SNRI führte in den letzten Jahren zum Teil zu erheblicher Verun-sicherung bei behandelnden Ärzten, Eltern und Aufsichtsbehörden. Pati-enten und deren Eltern haben ent-sprechend der Indikation ein Anrecht, über die nach derzeitigem Evidenz- und Erfahrungsstand bestwirksams-te, sicherste und verfügbare Therapie aufgeklärt zu werden [2].

Selektive Serotoninwiederaufnahmehem-mer (SSRI) und Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer (SNRI) besitzen ein breites Anwendungsspektrum und ha-ben sich bei der medikamentösen Thera-pie der Depression sowie der Angst- und Zwangsstörungen im Erwachsenenalter

als effektiv erwiesen. Hingegen wird die Verordnung von SSRI und SNRI bei Kin-dern und Jugendlichen seit 2003 aufgrund zunehmender Hinweise, dass die Subs-tanzen speziell in dieser Altersgruppe das Risiko suizidaler Gedanken und Hand-lungen erhöhen könnten [5], kontrovers diskutiert. Die US-amerikanische Arznei-mittelaufsichtsbehörde (FDA) kam in ih-rer Metaanalyse von 24 plazebokontrol-lierten Studien an mehr als 4500 Kindern und Jugendlichen zu dem Ergebnis, dass der Einsatz von SSRI und SNRI gegen- über einer Plazebobehandlung zu einem 2fach erhöhten Risiko (4% vs. 2%) für su-izidale Gedanken und Handlungen führt, wobei in keiner der Studien ein vollende-ter Suizid berichtet wurde [4]. Als Kon-sequenz dieser Analyse ordnete die FDA an, bei allen Antidepressiva einen Warn-

hinweis (Black-box-Warnung) in die Pati-enten- und Fachinformationen aufzuneh-men, dass SSRI/SNRI im Kindes- und Ju-gendalter suizidale Gedanken und Hand-lungen induzieren können.

Die europäische Arzneimittelbehörde (EMEA) sowie das deutsche Bundesins-titut für Arzneimittel und Medizinpro-dukte (BfArM) verlangten zusätzlich zu dem o. g. Warnhinweis die Angabe, dass SSRI und SNRI zur Behandlung psy-chischer Erkrankungen (mit der Ausnah-me von Fluoxetin zur Behandlung der De-pression und Fluvoxamin zur Behandlung der Zwangsstörung bei Kindern ab 8 Jah-ren) bei Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren nicht angewandt werden sollten. Ein Verbot der Anwendung dieser Medi-kamente in diesem Altersbereich erfolgte jedoch nicht, so dass die Anwendung die-

Tab. 1  Statistische Maße zu Beurteilung des Nutzen und des Risikos einer Behandlung

Wirksamkeitsdifferenz Relatives Risiko (RR) Numbers needed to treat (NNT)

Numbers needed to harm (NNH)

Effektstärke

Die Responsedifferenz gibt den Unterschied in der pro-zentualen Wirksamkeit/des prozentualen Risikos zwi-schen der SSRI/SNRI- und der Plazebogruppe an

Das relative Risiko be-schreibt das Risiko, wie häufig unter SSRI-Therapie im Vergleich zur Plazebo-behandlung Suizidalität auftrittBeispiel: RR=2 (Risiko bei SSRI-Gabe 2fach erhöht gegenüber Plazebo)

NNT ist ein statistisch zu be-stimmendes Maß, welches angibt, wie viele Patienten behandelt werden müssten, um das Therapieziel (Reduk-tion der depressiven Symp-tome) zu erreichen

NNH ist ein statistisch zu be-stimmendes Maß, welches angibt, wie viele Patienten behandelt werden müssten, um einen Schaden festzu-stellen (Suizidalität)

Die Effektstärke beschreibt das Ausmaß der Wirkung einer Verumbehandlung gegenüber dem einer Plaze-bobehandlungNach Cohen [11]  0,2 einen kleinen Effekt,  0,5 einen mittleren und  0,8 einen starken Effekt

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ser Substanzen im Rahmen eines indi-viduellen Heilversuches (Off-label-Ge-brauch) weiter erfolgen kann.

Der individuelle Heilversuch ermög-licht den Einsatz von Pharmaka, die für die im Behandlungsfall zutreffende Indi-kation nicht zugelassen sind, solange ihr Einsatz begründbar ist. Der Einsatz eines Arzneimittels außerhalb des zugelassenen Gebrauchs begründet eine individuelle Arzthaftpflicht [10]. Deshalb muss der Arzt für den Einzelfall nachweisen, dass er geplant und in Kenntnis der Sondersi-tuation aufgrund einer sachlich nachvoll-ziehbaren Abwägung in der Therapieent-scheidung gehandelt hat und den Pati-enten über sein Vorgehen ausreichend in-formiert und dessen Einverständnis ein-geholt hat (. Abb. 2).

Dieser Artikel fasst den aktuellen Wis-sensstand zum Nutzen-Risiko-Verhältnis von SSRI und SNRI im Kindes- und Ju-gendalter zusammen und soll behandeln-den Ärzten und Ärztinnen als Informati-onsgrundlage für die Entscheidung und

die Aufklärung bezüglich eines Off-label-Einsatzes in dieser Altersgruppe dienen. Die wesentliche Grundlage dieses Arti-kels ist die aktuellste und bisher größte Metaanalyse zum Einsatz von SSRI und SNRI im Kindes- und Jugendalter [1].

Aktuelle Metaanalyse zu Effektivität und Risiko

Bridge et al. [1] fassten in ihrer Analyse randomisierte, plazebokontrollierte Studi-en zusammen, die die Wirkung von SSRI und SNRI bei Kindern und Jugendlichen unter 19 Jahren mit depressiven Störungen, Zwangserkrankungen und Angststörun-gen (Trennungsangst, soziale Phobie, ge-neralisierte Angststörung) untersucht hat-ten. In keiner dieser Studien erfolgte ne-ben der medikamentösen Behandlung ei-ne zusätzliche Psychotherapie. Es wurden 27 Studien (Depression n=15, Zwangser-krankung n=6, Angst n=6) mit insgesamt 5310 Teilnehmern eingeschlossen. Der weit überwiegende Teil der erfassten Stu-

dien wurde in den USA durchgeführt. Als Kriterium für das Ansprechen auf die Me-dikation und für die Berechnung der Ef-fektstärken wurden in den untersuchten Studien entweder das Unterschreiten eines definierten klinischen Grenzwertes oder eine Verringerung des Ausgangs-wertes (25–40%) eines für die jeweilige Symptomatik spezifischen psychomet-rischen Messverfahrens zugrunde gelegt (Angabe der einzelnen Skalen in [1]).

Wirksamkeit der Behandlung vs. Risiko suizidaler Gedanken und Handlungen

In der Metaanalyse von [1] wurden ver-schiedene Maße für die Effektivität der Behandlung und zur Beurteilung des Risi-kos für das Auftreten von Suizidalität an-gewandt, die in . Tab. 1 erläutert sind.

Es ist sehr zu begrüßen, dass die Au-toren neben der relativen Risikoreduktion (RR) und der Effektstärke auch die Anzahl der notwendigen Behandlungen sowohl

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Abb. 2 8 Beispiel einer Einverständniserklärung zu einem individuellen Heilversuch

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Übersichten

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für den gewünschten Effekt der Reduktion der depressiven Symptomatik (NNT) als auch für das Eintreten der unerwünschten Wirkung Suizidalität (NNH) ermittelt und angegeben haben. Anhand des direkten Vergleichs dieser beiden Kennwerte ist leicht eine Risiko-Nutzen-Abschätzung vorzunehmen. . Tab. 2 fasst die Wirk-samkeit sowie das Risiko des Auftretens von Suizidalität unterteilt nach Störungs-bild und Präparat zusammen.

Ergebnisse DepressionBasierend auf 13 Studien mit insgesamt 2910 Teilnehmern ergab sich für die me-dikamentöse Therapie der Depression ei-ne Ansprechrate von 61% gegenüber 50% bei Plazebobehandlung (p<0,001). Die Ef-fektstärke war gering (. Abb. 1) und lag bei 0,25. Bei Kindern unter 12 Jahren war die SSRI-/SNRI-Behandlung nicht signi-fikant wirksamer als die Plazebobehand-lung, die in dieser Altersgruppe mit 58% Ansprechrate das Niveau der Pharmako-therapie erreichte. Eine alleinige Auswer-tung der Studien mit Fluoxetin zeigte bei Kindern eine ähnliche Wirksamkeit wie im Jugendalter, wobei Fluoxetin gegen-über Plazebo signifikant bessere Ergeb-nisse erzielen konnte (Wirksamkeitsdif-ferenz [WD] 21%, p=0,01). Als weiterer Moderator der SSRI-/SNRI-Wirksamkeit bei Depression wurde die Krankheitsdau-er identifiziert. Eine längere Krankheits-dauer war mit einer geringeren Wirksam-keit der Behandlung verbunden.

Unabhängig vom Alter traten bei 3% der mit Antidepressiva Behandelten und bei 2% der mit Plazebo Behandelten Sui-zidgedanken oder -handlungen auf. Es er-gab sich allenfalls ein Trend zu einem er-höhten Risiko in der SSRI-/SNRI-Grup-pe (p=0,08). Die NNT („numbers needed to treat“) lag mit 10 deutlich niedriger als die NNH („numbers needed to harm“) mit 112. Insgesamt traten bei depressiven Kindern und Jugendlichen (unabhängig von der Behandlung mit SSRI/SNRI oder Plazebo) im Vergleich zu den Angst- und Zwangsstörungen häufiger suizidale Ge-danken und Handlungen auf.

Ergebnisse ZwangsstörungenIn die Analyse eingeschlossen wurden 6 SSRI-Studien mit 705 Patienten. Wirk-sam war die SSRI-Behandlung bei 52%,

wohingegen nur 32% auf die Plazeboga-be ansprachen (WD 20%, p<0,001). Die Effektstärke lag mit 0,48 im mittleren Be-reich. Bei 1% der SSRI-Gruppe und bei 0,3% der Plazebogruppe traten Suizidge-danken oder -handlungen auf. Die Risiko-differenz war nicht signifikant. Die NNT lag mit 6 weit unter der NNH mit 200. Bei den Zwangserkrankungen ließ sich weder ein Effekt des Alters auf die Ansprechrate der SSRI-Behandlung noch auf das Risiko der Entwicklung von Suizidgedanken und

-handlungen nachweisen; demnach profi-tieren sowohl zwangserkrankte Kinder als auch Jugendliche von einer Behandlung mit SSRI.

Ergebnisse AngststörungenBridge et al. fassten 6 Studien mit 1136 Pa-tienten zusammen. Bei 69% der Behandel-ten erwiesen sich SSRI/SNRI als wirksam, wohingegen ein Ansprechen auf Plazebo nur bei 39% zu verzeichnen war (WD 30%, p<0,001). Die Effektstärke lag mit 0,69 im mittleren bis hohen Bereich. Adoles-zente profitierten tendenziell besser von der Pharmakotherapie als Kinder unter 12 Jahren (WD 46% vs. 29%; p=0,05).

Suizidgedanken oder -handlungen tra-ten bei 1% der mit SSRI/SNRI Behandel-ten und bei 0,2% der mit Plazebo Behan-delten auf. Die Risikodifferenz war nicht signifikant. Auch bei den Angststörun-gen lag die NNT mit 3 deutlich unter der NNH mit 143.

Vergleich mit anderen Metaanalysen

Bridge et al. [1] erweiterten die Aussagen der beiden anderen großen Metaanalysen [4, 6] um die gleichzeitige Analyse der Ef-fektivität der medikamentösen Behand-lung, so dass ein Nutzen-Risiko-Vergleich möglich wurde. In die Analyse von [1] und [6] gingen vier Studien ein, die in der FDA-Studie aus berechnungstechnischen Gründen ausgeschlossen wurden, da sich weder im SSRI- noch im Plazeboarm Fäl-le mit Suizidalität fanden. In diesen 4 Stu-dien befanden sich ca. 16% der Gesamt-zahl der Patienten. Bridge et al. lösten dieses Problem durch eine Zusammen-fassung von Studien vor der eigentlichen Metaanalyse, so dass diese Studiendaten mit in die Berechnung einfließen konnten.

Zusammenfassung · Summary

Nervenarzt 2008 · 79:1237–1248DOI 10.1007/s00115-008-2555-6© Springer Medizin Verlag 2008

K. Holtkamp · B. Herpertz-Dahlmann

SSRI- und SNRI-Behandlung im Kindes- und Jugendalter. Aktuelle Informationen zum Nutzen-Risiko-Verhältnis

ZusammenfassungDas Risiko der selektiven Serotoninwieder-aufnahmehemmer (SSRI) und der Serotonin-Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer  (SNRI) bei Kindern und Jugendlichen mit Depression suizidale Gedanken und Hand-lungen zu induzieren, ist auch nach den Er-gebnissen der aktuellsten Metaanalyse [1] gegenüber Plazebo gering, aber signifikant erhöht. Bei der Behandlung von Angst- und Zwangsstörungen zeigt sich hingegen kein erhöhtes Suizidalitätsrisiko. Die alleinige  SSRI-/SNRI-Behandlung der Angststörun-gen zeigte eine mittlere bis hohe Effektstär-ke (0,69), die der Zwangserkrankungen eine Wirksamkeit im mittleren Bereich (0,48), wo-hingegen die Effektstärke der Behandlung der Depression (0,25) als gering einzuschät-zen ist. Trotz der teilweise geringen Wirkung wird das Nutzen-Risiko-Verhältnis bei allen drei Störungsbildern positiv bewertet.

SchlüsselwörterAntidepressiva · Suizidalität · Kinder und  Jugendliche · Effektivität · Risiko

SSRI and SNRI treatment in children and adolescents. Current views of the benefits and risks

SummaryThe risk of suicidal thoughts and behaviours in the treatment of depressive children and adolescents with selective serotonin reup-take inhibitors (SSRI) and selective noradren-alin reuptake inhibitors (SNRI) is slightly but significantly elevated. These treatments in underage patients with anxiety or obsessive-compulsive disorders are however not relat-ed to a higher risk of suicidality. Effect sizes of SSRI/SNRI treatment in children and ado-lescents are medium to high in anxiety disor-ders (0.69), medium in obsessive-compulsive disorders (0.48), and low in depressive disor-ders (0.25). Nevertheless, the benefit:risk ra-tio is still positive in all three disorders.

KeywordsAntidepressants · Suicidality · Children and adolescents · Effectiveness · Risk

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Darüber hinaus konnten Bridge et al. wei-tere 3 Studien einschließen, die zum Zeit-punkt der FDA-Analyse noch nicht ver-fügbar waren.

Die Ergebnisse zur Gefahr der Ent-wicklung von Suizidalität unter der SSRI-/ SNRI-Medikation bei depressiven Pa-tienten sowie in der Gesamtgruppe un-terscheiden sich bei Hammad et al. [4] und Bridge et al. [1] nicht wesentlich (. Tab. 3). Kaizar et al. [6] berichten ein etwas höheres relatives Risiko für depres-sive Patienten (2,3; Konfidenzintervall:1,3–3,8). Bei jeweils alleiniger Betrachtung der Patienten mit Angst und Zwangsstörun-gen ergaben sich in der Arbeit Hammad et al. und Bridge et al. Werte für das re-lative Risiko zwischen 1,8 und 3,1, wobei große Konfidenzintervalle mit Einschluss des Wertes 1 eine fehlende Signifikanz die-ser Ergebnisse anzeigen. Hiermit überein-stimmend berichten Kaizar et al. von kei-ner signifikanten Erhöhung des Risikos von Suizidideen und/ oder -handlungen unter SSRI-Therapie bei Patienten, die ei-ne andere Diagnose als eine Depression aufwiesen.

Einschränkungen der bisherigen RCT

Ausschluss suizidaler PatientenIn der weit überwiegenden Zahl der RCT („randomized controlled trial“) wurden Patienten mit Suizidalität zu Beginn der Behandlung von vornherein ausgeschlos-sen. In Anbetracht eines geringen, aber si-gnifikant erhöhten Risikos der Induktion von Suizidalität unter SSRI-/SNRI-Me-dikation ergibt sich die berechtigte Fra-ge, ob eine Pharmakotherapie mit SSRI/SNRI bei Kindern und Jugendlichen mit primär bestehenden suizidalen Gedanken und Handlungen das Suizidrisiko deut-lich erhöhen könnte. Insbesondere bei ge-hemmt-depressiven suizidalen Patienten könnte eine SSRI-bedingte Antriebsstei-gerung und Verhaltensaktivierung vor dem Eintritt der stimmungsaufhellenden Wirkung des Pharmakons das Suizidri-siko erhöhen. Die aktivierende Wirkung der SSRI scheint bei Kindern und Jugend-lichen deutlicher ausgeprägt zu sein als bei Erwachsenen. Obgleich der o.g. Kau-salzusammenhang bisher nicht empirisch belegt ist, sollte bei Kindern und Jugend-

lichen mit bestehender Suizidalität eine Einstellung auf einen SSRI nur unter eng-maschiger ärztlicher Kontrolle unter stati-onären Bedingungen erfolgen.

SSRI-/SNRI-Medikation als MonotherapieDie in den Metaanalysen zusammenge-fassten RCT wurden zu Prüfung der Wirk-samkeit der Medikation gegenüber Plaze-bo durchgeführt. Bisher existiert unseres Wissens nach nur eine randomisiert-kont-rollierte Studie, in der die Auswirkungen einer pharmakologischen Monotherapie (Fluoxetin) mit denen einer Kombinati-onstherapie (kognitiv-behaviorale plus Fluoxetin-Therapie) hinsichtlich des Sui-zidalitätsrisikos bei Kindern und Jugend-lichen untersucht wurde [9]. In dieser Untersuchung ergab sich im kurzfristigen

(12 Wochen) sowie im längerfristigen Ver-lauf (9 Monate) ein protektiver Effekt von kognitiv-behavioraler Therapie auf die Entwicklung suizidaler Gedanken und Handlungen unter der Behandlung mit Fluoxetin. Die Ergebnisse der TADS-Stu-die legen nahe, dass das Suizidalitätsrisi-ko unter Kombinationstherapie (Psycho- plus Pharmakotherapie) niedriger ist als das in den Metaanalysen plazebokontrol-lierter Studien ermittelte. Bei der Anwen-dung von SSRI/SNRI im Kindes- und Ju-gendalter stellt die Kombinationstherapie in Deutschland sicherlich die Regel und weniger die Ausnahme da.

Tab. 3  Relatives Risikoa der Entwicklung suizidaler Gedanken und Handlungen bei  Kindern und Jugendlichen unter SSRI/SNRI gegenüber Plazebo

  Alle Indikationen Depression Zwangs-störungen

Angststörungen

Hammad et al. [4] 1,8 (1,1–2,8) 1,7 (1,1–2,8) Statistische Signifikanz des relativen Risikos ist aufgrund großer Konfi-denzintervalle unter Einschluss des Wertes 1 nicht gegeben

Bridge et al. [1] 1,7 (1,1–2,7) 1,6 (1,0–2,7)

a 95%-CI, zugrunde liegen jeweils Random-effects-Modelle, welche von einer hohen Heterogenität der einzel-nen eingeschlossenen Studien ausgehen.

Tab. 4  Zusammenfassung der Empfehlungen zur medikamentösen Therapie der  Depression sowie der Angst- und Zwangsstörungen aus den Leitlinien der DGKJP [7]

Depression

Bei leichtem und mittlerem Schweregrad der depressiven Symptomatik ist die Behandlungsme-thode der 1. Wahl Psychotherapie (in erster Linie kognitive Verhaltenstherapie und interpersonale Therapie). Bei schweren Störungsbildern oder bei ungenügender Wirkung psychotherapeutischer Verfahren wird eine Kombination aus Psychotherapie und medikamentöser Behandlung empfoh-len. Die Wirksamkeit trizyklischer Antidepressiva (TCA) im Kindes- und Jugendalter ist nicht sicher belegt, und das Nebenwirkungsprofil der TCA wird gegenüber den SSRI weiter als ungünstiger bewertet

Zwangsstörungen

Bei Zwangserkrankungen mit leichtem und mittlerem Schweregrad sollte die Behandlung mit Psy-chotherapie begonnen werden. Sollten im Weiteren psychotherapeutische Methoden nicht zu einer ausreichenden Besserung der Symptomatik führen oder letztere einen erheblichen Schweregrad aufweisen, sollte die Psychotherapie durch Pharmakotherapie ergänzt werden. Die längsten Erfah-rungen liegen für das TCA Clomipramin vor [welches sich signifikant wirksamer gegenüber den SSRI erwiesen hat (Geller et al. [3]), Anmerkung des Autors]. Aufgrund des gegenüber den SSRI ungünsti-geren Nebenwirkungsprofils (insbesondere Mundtrockenheit) ist die Stellung von Clomipramin als Pharmakon der 1. Wahl dennoch fraglich

Angststörungen

Psychotherapeutische Interventionen (insbesondere kognitive Verhaltenstherapie und Familienthe-rapie) stellen die Behandlung 1. Wahl dar. In besonderen Situationen (z. B. Patient verlässt das Haus nicht) kann eine Pharmakotherapie der Psychotherapie vorgeschaltet werden. Psychopharmaka sollten nur in Kombination mit Psychotherapie eingesetzt werden. Bevorzugte Pharmaka sind SSRI und in zweiter Linie SNRI. Bei leichten Formen der Panikstörung und der generalisierten Angst-störung können β-Rezeptoren-Blocker eingesetzt werden. Benzodiazepine sollten aufgrund ihres Suchtpotenzials nur kurzfristig angewandt werden

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Kurze Studiendauer, Suizidalität kein Hauptkriterium, Post-hoc-VergleichDie Studiendauer der Pharmastudien war mit 8–16 Wochen insgesamt sehr kurz. In keiner der eingeschlossenen Studien wur-de prospektiv Suizidalität als Hauptmess-größe des Heilungserfolgs (Outcome) un-tersucht. Es handelt sich bei allen Studi-en um Post-hoc-Vergleiche. Die Metho-dik und das Design der Untersuchungen waren nicht primär darauf ausgelegt, Sui-zidalität als seltenes Ereignis im Langzeit-verlauf zu erfassen. Es besteht daher die Möglichkeit, dass diese Studien eine ge-ringe Sensitivität gegenüber der Erfassung von Suizidalität insbesondere im längeren Verlauf aufweisen.

Flexible Dosierung, kein Drug-Monitoring, Nicht-SSRI/-SNRIIn den einzelnen Studien wurden z. T. un-terschiedliche Dosierungen angewandt. Ein Drug-Monitoring wurde nicht durch-

geführt. Somit kann keine Aussage zur Dosis-Wirkungs-Beziehung in Hinblick auf das Risiko der Entwicklung von sui-zidalen Gedanken und Handlungen erfol-gen. Eine objektive Überprüfung der Me-dikamenteneinnahme ist ebenfalls nicht durchgeführt worden. Es besteht daher die Möglichkeit, dass die Patienten, die suizidale Gedanken und Handlungen ent-wickelten, ihre Medikation nicht zuverläs-sig eingenommen hatten. In diesem Fal-le könnte eine nachlassende oder ausblei-bende Wirkung der SSRI/SNRI als Ursa-che der Suizidalität angenommen werden.

Weiterhin ist darauf hinzuweisen, dass Studien mit Nicht-SSRI/-SNRI (Mirtaza-pin und Nefadozon) in die Metaanalyse von Bridge et al. [1] eingeschlossen wur-den. Die Vergleichbarkeit dieser Präparate mit den SSRI/SNRI ist problematisch, da sich das Wirkprinzip und das Nebenwir-kungsprofil von Mirtazapin, ein als nor-adrenerg und spezifisch serotonerg wir-kend geltendes Antidepressivum (NaSSA),

deutlich von dem der SSRI unterscheidet. Nefazodon, ein dualserotonerges Anti-depressivum (DSA), wurde bei geringer Wirksamkeit und schwerwiegenden Ne-benwirkungen (Leberversagen) bereits 2003 vom Markt genommen.

Leitliniengerechte Therapie

Für die Anwendung der SSRI/SNRI zur Behandlung der Depression sowie der Angst- und Zwangsstörungen im Kindes- und Jugendalter liegen Empfehlungen in den Leitlinien der Deutschen Gesell-schaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie (DGKJP) vor. Im Rahmen dieser Emp-fehlungen kann der Einsatz der SSRI/ SNRI als individueller Heilversuch be-gründet werden. Zur Übersicht sind die Inhalte der Empfehlungen bez. der medi-kamentösen Therapie in . Tab. 4 zusam-mengefasst.

Empfehlungen

Nach dem momentanen Wissenstand ist von einem geringen, aber signifikant er-höhten Risiko der Induktion von suizida-len Gedanken und Handlungen bei der Therapie mit SSRI und SNRI bei Kindern und Jugendlichen mit depressiver Stö-rung auszugehen. Demgegenüber gibt es keine eindeutigen Belege, dass eine SSRI-/ SNRI-Behandlung bei Kindern und Ju-gendlichen mit Zwangs- und Angststö-rungen zu erhöhter Suizidalität führt.

Bei der Nutzen-Risiko-Abwägung im Rahmen eines geplanten individuellen Heilversuchs muss die Wirksamkeit der SSRI-/SNRI-Behandlung betrachtet wer-den. Bei den Angst- und Zwangsstörun-gen im Kindes- und Jugendalter liegt ei-ne gute Wirksamkeit mit mittleren bis ho-hen Effektstärken vor. Die generelle Wirk-samkeit der SSRI/SNRI als alleinige Be-handlungsform der Depression bei Kin-dern und Jugendlichen muss bei Effekt-stärken zwischen 0,20 und 0,25 hingegen in Frage gestellt werden. Lediglich Fluoxe-tin hat sich mit einer Effektstärke von 0,46 als signifikant wirksamer gegenüber Pla-zebo erwiesen. Aus diesem Grunde sollte bei der Behandlung der Depression Flu-oxetin eingesetzt werden.

Insgesamt liegt über alle Störungs-bilder die NNT im schlechtesten Fall bei

Tab. 5  Empfehlungen zum Einsatz von SSRI/SNRI im Kindes- und Jugendalter

Depression

–  Antidepressivabehandlung nur zusammen mit Psychotherapie und bei ausgeprägter  Symptomatik

– SSRI/SNRI erhöhen geringfügig das Risiko für suizidale Gedanken und Handlungen– Behandlung mit Fluoxetin (einziges SSRI mit signifikanter Wirkung)– Fluoxetin hat geringen, aber signifikanten Nutzen–  Zulassung für Fluoxetin in Kombination mit Psychotherapie bei mittelgradigen bis schweren  

depressiven Episoden nach unzureichendem Ansprechen von ausschließlicher Psychotherapie– Bei Kindern ist Pharmakotherapie weniger effektiv als bei Jugendlichen

Zwangsstörungen

–  Antidepressivabehandlung zusammen mit Psychotherapie und/oder bei ausgeprägter  Symptomatik ggf. vorschalten

– Bisher kein Hinweis auf eine erhöhte Rate suizidaler Gedanken und Handlungen–  Clomipramin hat höhere Wirksamkeit, aber ungünstigeres Nebenwirkungsprofil im Vergleich  

zu SSRI (Geller et al. [3])–  Paroxetin, Sertralin, Fluoxetin und Fluvoxamin vergleichbar wirksam. Zulassung besteht nur  

für Fluvoxamin

Angststörungen

–  Antidepressivabehandlung zusammen mit Psychotherapie und/oder bei ausgeprägter  Symptomatik ggf. vorschalten

– Bisher kein Hinweis auf eine erhöhte Rate suizidaler Gedanken und Handlungen–  Aussagen zu einzelnen Präparaten schwierig, insgesamt kann derzeit von vergleichbarer  

Wirksamkeit von Fluvoxamin, Venlaflaxin, Fluoxetin, Paroxetin und Sertralin ausgegangen  werden. Derzeit keine Zulassung vorhanden

Tab. 6  Inhalte der Aufklärung über einen individuellen Heilversuch

In Leitlinien empfohlene Therapieverfahren bisher unbefriedigend wirksam

Schwerwiegende, den Therapieversuch rechtfertigende Erkrankung

Plausibler Behandlungsansatz aufgrund verfügbarer Daten (positive klinische Erfahrungen, positive Studienergebnisse, Empfehlungen in Leitlinien)

Nutzen-Risiko-Abwägung hinsichtlich der SSRI-/SNRI-Medikation positiv

Nutzen-Risiko-Abwägung gegenüber anderen Therapieoptionen (z. B. TCA)

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10 und die NNH bei mindestens 112. So-mit ist trotz z. T. geringer Wirksamkeit das Nutzen-Risiko-Verhältnis bei allen Störungsbildern als positiv zu bewerten. Dieses wird unterstützt durch die Tatsa-che, dass bei den 2800 untersuchten Pati-enten unter SSRI-/SNRI-Behandlung kein Suizid berichtet wurde.

Es ergeben sich derzeit keine Hinwei-se darauf, dass der Einsatz eines speziellen SSRI/SNRI zu einem besonders erhöhten oder erniedrigten Risiko für die Entwick-lung von suizidalen Gedanken und Hand-lungen führt. Durch gleichzeitige kogni-tiv-behaviorale Therapie kann das Risiko des Auftretens suizidaler Gedanken und Handlungen reduziert werden.

Die aus den dargestellten Studien ab-geleiteten Empfehlungen sind in . Tab. 5 zusammengefasst.

Aufklärung im Rahmen eines individuellen Heilversuches

In der derzeitigen Situation, in der viele Eltern aufgrund unkritischer Presse-reaktionen beunruhigt sind und einer SSRI-Behandlung kritisch gegenüberste-hen, kommt dem/der Arzt/Ärztin eine besondere Verantwortung im Rahmen der Aufklärung über den individuellen Heilversuch zu. Es erscheint wenig sinn-voll, den Eltern und Patienten alle verfüg-baren Informationen ungefiltert zu ver-mitteln. Hingegen sind den Patienten und Angehörigen die Gründe und die positive Nutzen-Risiko-Abwägung für den Ein-satz der SSRI/SNRI außerhalb der zuge- lassenen Indikation ausführlich und nach-vollziehbar darzulegen (. Tab. 6).

Die Schwere der Erkrankung und/oder die unbefriedigende Wirksamkeit der bis-herigen (Psycho-)Therapien sollten den Möglichkeiten und Risiken der SSRI-/ SNRI-Behandlung, aber auch denjeni-gen der evtl. in Frage kommenden alter-nativen Behandlungsmöglichkeiten (z. B. trizyklische Antidepressiva) gegenüber-gestellt werden. Zur rechtlichen Absiche-rung des Arztes/der Ärztin ist es unab-dingbar, den Aufklärungsprozess und In-halt schriftlich zu dokumentieren und sich dies durch Unterschrift der Eltern und Pa-tienten bestätigen zu lassen (. Abb. 2). Bei getrennt lebenden Eltern ist bei ge-

meinsamem Sorgerecht ein Einverständ-nis beider Elternteile einzuholen.

Fazit für die Praxis

Psychotherapeutische Interventionen stehen an erster Stelle der Behand-lung der Depression, der Zwangs- und der Angststörungen im Kindes- und Ju-gendalter. Die Kombination mit Phar-makotherapie mittels SSRI/SNRI sollte bei entsprechender Indikation im Rah-men einer kontinuierlichen kinder- und jugendpsychiatrischen Betreuung (ggf. auch stationär) erfolgen, um ein hinrei-chendes klinisches Monitoring der Pati-enten zu gewährleisten. Die Eltern und Patienten müssen adäquat und ausführ-lich über den möglichen Nutzen und die Risiken der SSRI-/SNRI-Behandlung auf-geklärt werden, und der Arzt sollte die Gründe für Entscheidung zur SSRI-/SN-RI-Therapie im Rahmen eines individu-ellen Heilversuchs nachvollziehbar do-kumentieren. Bei Einhaltung dieses Vor-gehens ergeben sich aus kinder- und ju-gendpsychiatrischer Sicht keine Einwän-de gegen die Anwendung von SSRI/SNRI im Kindes- und Jugendalter.

KorrespondenzadressePD Dr. K. HoltkampDRK Fachklinik für Kinder- und Jugendpsychia-trie, Psychotherapie/PsychosomatikLindenstraße 3–4, 53474 Bad [email protected]

Interessenkonflikt.  Der korrespondierende Autor weist auf folgende Beziehung hin: B. Herpertz-Dahl-mann ist Mitglied des Advisory Boards für das Präparat Atomoxetin bei ADHD der Firma Lilly, die auch das Prä-parat Fluoxetin vertritt.

Literatur

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