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ÖFFENTLICHES RECHT RA 2001, H EFT 1 -1- Öffentliches Recht Standort: Versammlungsrecht Problem: Zweckveranlasser BV ERFG, B ESCHLUSS VOM 01.09.2000 1 B VQ 24/00 (NVWZ 2000, 1406 = DVBL 2001, 62) Problemdarstellung: Das BVerfG nimmt im vorliegenden, nach § 32 BVerfGG im Eilverfahren ergangenen Beschluss kurz zur Rechtsfigur des sogen. “Zweckveranlassers” auf dem Gebiet des Versammlungsrechts Stellung. Sei zu befürchten, dass eine Versammlung gewaltbereite Ge- gendemonstrationen hervorrufe, sei die Polizei gehal- ten, zunächst gegen die unmittelbar für mögliche Ge- fahren für die öffentliche Sicherheit verantwortlichen Gegendemonstranten einzuschreiten. Es könne im Lichte des Art. 8 GG nicht angehen, dass durch ge- waltbereite Gegendemonstranten im Ergebnis die Ver- sammlungsfreiheit der (friedlichen) eigentlichen Ver- sammlung beeinträchtigt werde. Dies gelte wegen der Neutralitätspflicht des Staates auch und gerade für die Kundgabe politischer Inhalte, die von einer Mehrheit abgelehnt werden. Etwas anderes könne - vom BVerfG mangels konkre- ter Anhaltspunkte im zu entscheidenden Fall jedoch offen gelassen - allenfalls dann gelten, wenn ein Ein- schreiten gegen die Gegendemonstranten nicht möglich sei, also ein sogen. polizeilicher Notstand vorliege, oder es die Versammlungsteilnehmer ihrerseits, etwa durch Provokationen, auf Gewalttätigkeiten anlegten. Prüfungsrelevanz: Die Rechtsfigur des sogen. “Zweckveranlassers” spielt vor allem im Ordnungsrecht bei der Prüfung der Verhaltensstörereigenschaft eine Rolle. Hier geht die h.M. mit der “Theorie der unmittelbaren Verursa- chung” davon aus, dass nur derjenige eine Gefahr ver- ursacht (und damit Verhaltensstörer ist), der die letzte Ursache für den Gefahreneintritt gesetzt hat. Im Fall der Versammlungen mit Gegendemonstrationen sind dies die Gegendemonstranten, nicht die eigentlichen Versammlungsteilnehmer. Der Zweckveranlasser ist jedoch eine anerkannte Ausnahme von der “Theorie der unmittelbaren Verursachung”. Danach ist auch Verhaltensstörer, wer zwar nicht die letzte Ursache setzt, gleichwohl aber der Eintritt der Gefahr will (so die subjektive Theorie, Knemeyer, POR, Rz. 251 m.w.N.) bzw. trotz objektiver Vorhersehbarkeit der- selben handelt (so die objektive Theorie, Götz, POR, Rz. 207 m.w.N.). Dies kommt nach den vorliegenden Ausführungen des BVerfG etwa in Betracht, wenn die Versammlungsteilnehmer ihrerseits zwar nicht gewalt- tätig werden, Gewalttätigkeiten der Gegendemonst- ranten aber provozieren. Entsprechendes hatte in einer vielbeachteten, unbe- dingt lesenswerten Entscheidung bereits das OVG Lü- neburg (NVwZ 1988, 638) vertreten, welches seiner- zeit u.a. in der Wahl des Versammlungsortes (Bad Harzburg) wegen dessen historischer Belastung (Gründung der “Harzburger Front” 1931) eine gezielte Provokation Dritter durch die sich versammelnden ehemaligen Waffen-SS-Mitglieder gesehen hatte. Angemerkt sei noch zur Klarstellung, dass selbst bei Bejahung der Störereigenschaft der Versammlung die- se nicht automatisch verboten werden kann, sondern eine ermessensfehlerfreie Auswahl der Störer (Ver- sammlung oder Gegendemonstration) zu erfolgen hat, zudem mildere Maßnahmen (vgl. die vom BVerfG getroffenen Auflagen) zu erwägen sind usw. Umge- kehrt muss eine Verneinung der Verhaltensstörerei- genschaft nicht automatisch bedeuten, dass gegen die Versammlung nicht eingeschritten werden kann; es bleibt nämlich zu prüfen, ob diese als Notstandspflichti- ge in Anspruch genommen werden kann. Dafür ist nach den entsprechenden Regelungen des Gefahren- abwehrrechts der Länder jedoch stets Voraussetzung, dass ein Einschreiten gegen die Störer (Gegende- monstranten) nicht möglich ist (z.B. mangels zur Ver- fügung stehender Einsatzkräfte). Hierbei sind im Lich- te des Art. 8 GG der Versammlungsteilnehmer strenge Maßstäbe anzustellen; so ist die Polizei notfalls gehal- ten, Kräfte zusammenzuziehen, Amtshilfeersuchen zu stellen usw. Zum vorläufigen Rechtsschutz bei Versammlungsver- boten vgl. auch BVerfG, NJW 2000, 3051; NJW 2000, 3053; NdsVBl 2000, 298 Leitsatz (der Redaktion): Ein gegen die Versammlungsteilnehmer als Not- standspflichtige ergangenes Versammlungsver- bot kann jedenfalls dann nicht mit der Figur des sogen. “Zweckveranlassers” gerechtfertigt wer-

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ÖFFENTLICHES RECHT RA 2001, HEFT 1

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Öffentliches Recht

Standort: Versammlungsrecht Problem: Zweckveranlasser

BVERFG, BESCHLUSS VOM 01.09.2000

1 BVQ 24/00 (NVWZ 2000, 1406 = DVBL 2001, 62)

Problemdarstellung:

Das BVerfG nimmt im vorliegenden, nach § 32BVerfGG im Eilverfahren ergangenen Beschluss kurzzur Rechtsfigur des sogen. “Zweckveranlassers” aufdem Gebiet des Versammlungsrechts Stellung. Sei zubefürchten, dass eine Versammlung gewaltbereite Ge-gendemonstrationen hervorrufe, sei die Polizei gehal-ten, zunächst gegen die unmittelbar für mögliche Ge-fahren für die öffentliche Sicherheit verantwortlichenGegendemonstranten einzuschreiten. Es könne imLichte des Art. 8 GG nicht angehen, dass durch ge-waltbereite Gegendemonstranten im Ergebnis die Ver-sammlungsfreiheit der (friedlichen) eigentlichen Ver-sammlung beeinträchtigt werde. Dies gelte wegen derNeutralitätspflicht des Staates auch und gerade für dieKundgabe politischer Inhalte, die von einer Mehrheitabgelehnt werden.

Etwas anderes könne - vom BVerfG mangels konkre-ter Anhaltspunkte im zu entscheidenden Fall jedochoffen gelassen - allenfalls dann gelten, wenn ein Ein-schreiten gegen die Gegendemonstranten nicht möglichsei, also ein sogen. polizeilicher Notstand vorliege, oderes die Versammlungsteilnehmer ihrerseits, etwa durchProvokationen, auf Gewalttätigkeiten anlegten.

Prüfungsrelevanz:

Die Rechtsfigur des sogen. “Zweckveranlassers”spielt vor allem im Ordnungsrecht bei der Prüfung derVerhaltensstörereigenschaft eine Rolle. Hier geht dieh.M. mit der “Theorie der unmittelbaren Verursa-chung” davon aus, dass nur derjenige eine Gefahr ver-ursacht (und damit Verhaltensstörer ist), der die letzteUrsache für den Gefahreneintritt gesetzt hat. Im Fallder Versammlungen mit Gegendemonstrationen sinddies die Gegendemonstranten, nicht die eigentlichenVersammlungsteilnehmer. Der Zweckveranlasser istjedoch eine anerkannte Ausnahme von der “Theorieder unmittelbaren Verursachung”. Danach ist auchVerhaltensstörer, wer zwar nicht die letzte Ursachesetzt, gleichwohl aber der Eintritt der Gefahr will (sodie subjektive Theorie, Knemeyer, POR, Rz. 251

m.w.N.) bzw. trotz objektiver Vorhersehbarkeit der-selben handelt (so die objektive Theorie, Götz, POR,Rz. 207 m.w.N.). Dies kommt nach den vorliegendenAusführungen des BVerfG etwa in Betracht, wenn dieVersammlungsteilnehmer ihrerseits zwar nicht gewalt-tätig werden, Gewalttätigkeiten der Gegendemonst-ranten aber provozieren.

Entsprechendes hatte in einer vielbeachteten, unbe-dingt lesenswerten Entscheidung bereits das OVG Lü-neburg (NVwZ 1988, 638) vertreten, welches seiner-zeit u.a. in der Wahl des Versammlungsortes (BadHarzburg) wegen dessen historischer Belastung(Gründung der “Harzburger Front” 1931) eine gezielteProvokation Dritter durch die sich versammelndenehemaligen Waffen-SS-Mitglieder gesehen hatte.Angemerkt sei noch zur Klarstellung, dass selbst beiBejahung der Störereigenschaft der Versammlung die-se nicht automatisch verboten werden kann, sonderneine ermessensfehlerfreie Auswahl der Störer (Ver-sammlung oder Gegendemonstration) zu erfolgen hat,zudem mildere Maßnahmen (vgl. die vom BVerfGgetroffenen Auflagen) zu erwägen sind usw. Umge-kehrt muss eine Verneinung der Verhaltensstörerei-genschaft nicht automatisch bedeuten, dass gegen dieVersammlung nicht eingeschritten werden kann; esbleibt nämlich zu prüfen, ob diese als Notstandspflichti-ge in Anspruch genommen werden kann. Dafür istnach den entsprechenden Regelungen des Gefahren-abwehrrechts der Länder jedoch stets Voraussetzung,dass ein Einschreiten gegen die Störer (Gegende-monstranten) nicht möglich ist (z.B. mangels zur Ver-fügung stehender Einsatzkräfte). Hierbei sind im Lich-te des Art. 8 GG der Versammlungsteilnehmer strengeMaßstäbe anzustellen; so ist die Polizei notfalls gehal-ten, Kräfte zusammenzuziehen, Amtshilfeersuchen zustellen usw.

Zum vorläufigen Rechtsschutz bei Versammlungsver-boten vgl. auch BVerfG, NJW 2000, 3051; NJW 2000,3053; NdsVBl 2000, 298

Leitsatz (der Redaktion):Ein gegen die Versammlungsteilnehmer als Not-standspflichtige ergangenes Versammlungsver-bot kann jedenfalls dann nicht mit der Figur dessogen. “Zweckveranlassers” gerechtfertigt wer-

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den, wenn ein polizeiliches Einschreiten gegendie die Versammlung störenden Gegendemonst-ranten möglich ist und die Versammlungsteilneh-mer ihrerseits nicht durch provokante Begleit-umstände stören.

Sachverhalt: Der Ast. meldete am 25. 8. 2000 eine Demonstrationzum Thema "Erhaltet den Club 88" für Samstag, den 2.9. 2000 an, die sich gegen die von der Stadt Neumüns-ter beabsichtigte Schließung der Gaststätte "Club 88"richtete. Die Demonstration sollte in der Zeit von 12 -16 Uhr durch die Neumünsteraner Innenstadt führen,wobei Zwischenkundgebungen u.a. am sogen. “Groß-flecken” vor dem Rathaus geplant waren. Es wurdenetwa 200 Teilnehmer erwartet. Für den gleichen Tagwar um 10.30 Uhr eine Gegendemonstration angemel-det. Ab 15 Uhr sollte auf dem Großflecken das Stadt-fest "Weinköste" stattfinden. Nachdem die Stadt Neu-münster mit Bescheid vom 29. 8. 2000 die von demAst. angemeldete Demonstration untersagt hatte, stell-te das VG die aufschiebende Wirkung des Wider-spruchs des Ast. mit einigen Maßgaben wieder her.Zur Begründung verwies das VG u.a. darauf, dass,soweit die Versammlungsbehörde auf die angemeldeteGegendemonstration und die Gewaltbereitschaft mitder hieraus resultierenden Gefahr konkreter Gewaltta-ten verweise, es sich um nicht belegte Vermutungenhandele. Sollten gewalttätige Ausschreitungen von an-deren ausgehen, müssten behördliche Maßnahmen pri-mär gegen die Störer gerichtet werden, die Durchfüh-rung der Versammlung wäre zu schützen. Das pau-schale Vorbringen der Versammlungsbehörde, dassdie polizeilichen Möglichkeiten auf Grund anderer Ver-anstaltungen nachhaltig erschwert seien, rechtfertigedie Annahme eines polizeilieben Notstandes nicht.Auf den hiergegen gerichteten Antrag der Stadt Neu-münster auf Zulassung der Beschwerde ließ das OVGdiese zu, änderte den Beschluss des VG und lehnteden Antrag des Ast. auf Wiederherstellung der auf-schiebenden Wirkung seines Widerspruchs insgesamtab. Die Anmeldung einer Versammlung mit dem vomAst. gewählten Motto stelle eine gezielte Provokationder auf der anderen Seite des politischen Spektrumsangesiedelten Kräfte dar, die Reaktionen - unter Um-ständen auch gewaltbereiter Gruppierungen - heraus-fordern müsse und nach Überzeugung des Senats auchsolle. Bei solchen Gegebenheiten sei die Stadt berech-tigt, der auf solche Weise seitens des Ast. bewusst undgewollt initiierten Gefahr für die öffentliche Sicherheit,die er als "Zweckveranlasser" zu verantworten habe,durch die streitbefangene Verbotsverfügung entgegen-zuwirken.

Die Kammer stellte unter Ablehnung des Antrags imÜbrigen dieaufschiebende Wirkung des Widerspruchs des Ast.gegen die Verbotsverfügung der Stadt Neumünstervom 29. 8. 2000 mit folgenden Maßgaben wieder her:(a) Die Demonstration ist um 15 Uhr zu beenden.(b) Untersagt ist die Benutzung von Trommeln undFahnen - außer der Bundesflagge - und von Trans-parenten strafbaren Inhalts, die Verwendung vonKennzeichen verfassungswidriger Organisationen so-wie das Tragen von Uniformen, Uniformteilen odergleichartigen Kleidungsstücken als Ausdruck einer ge-meinsamen politischen Gesinnung.c) Möglichen weiteren von der Versammlungsbehördefür erforderlich gehaltenen Auflagen über dieStreckenführung ist Folge zu leisten.

Gründe: Der zulässige Antrag auf Erlass einer einstweiligenAnordnung hat zum Teil Erfolg.1. Nach § 32 I BVerfGG kann das BVerfG im Streit-fall einen Zustand durch einstweilige Anordnung vorläu-fig regeln, wenn dies zur Abwehr schwerer Nachteile,zur Verhinderung drohender Gewalt oder aus einemanderen wichtigen Grund zum gemeinen Wohl drin-gend geboten ist. Wegen der meist weit tragenden Fol-gen, die eine einstweilige Anordnung in einem verfas-sungsgerichtlichen Verfahren auslöst, ist bei der Prü-fung der Voraussetzungen des § 32 I BVerfGG einstrenger Maßstab anzulegen (vgl. BVerfGE 87, 107,lll; st. Rspr.). Dabei haben die Gründe, die für die Ver-fassungswidrigkeit des angegriffenen Hoheitsakts vor-getragen werden, grundsätzlich außer Betracht zu blei-ben, es sei denn, die Verfassungsbeschwerde erweistsich von vornherein als unzulässig oder offensichtlichunbegründet. Bei offenem Ausgang des Verfas-sungsbeschwerdeverfahrens muss das BVerfG dieFolgen, die eintreten würden, wenn eine einstweiligeAnordnung nicht erginge, die Verfassungsbeschwerdeaber Erfolg hätte, gegenüber den Nachteilen abwägen,die entständen, wenn die begehrte einstweilige Anord-nung erlassen würde, der Verfassungsbeschwerdeaber der Erfolg zu versagen wäre (vgl. BVerfGE 71,158, 161; 88, 185, 186; 91, 252, 257 f.; st. Rspr.). Hier-bei hat es mit Blick auf die einschlägigen Grundrechtesowohl der Bedeutung der jeweils betroffenen Schutz-güter als auch dem Grad der Wahrscheinlichkeit unddem Ausmaß möglicher Beeinträchtigungen Rechnungzu tragen.2. Eine Verfassungsbeschwerde wäre weder unzuläs-sig noch offensic htlich unbegründet. Es kann erst ineinem Hauptsacheverfahren abschließend geklärt wer-den, ob die Einschätzung des Geschehensablaufs und

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die Gefahrenprognose, auf die die Entscheidungen derBehörde und der VGe gestützt worden sind, den An-forderungen von Art. 8 GG genügten (vgl. hierzuBVerfGE 69, 315, 342 ff.; 87, 399, 406 ff.).3. Die demnach gebotene Beurteilung und Abwägungder Folgen, die im Falle des Erfolgs oder Misserfolgseiner Verfassungsbeschwerde einträten, fährt im vor-liegenden Verfahren zu einem Überwiegen derjenigenGründe, die für den Erlass einer einstweiligen Anord-nung sprechen, die die aufschiebende Wirkung desWiderspruchs begrenzt wieder herstellt.a) Bliebe die sofortige Vollziehbarkeit des Verbots derDemonstration in vollem Umfang bestehen, hätte eineVerfassungsbeschwerde aber später Erfolg, so wäreder Ast. um die Möglichkeit gebracht worden, vondem ihm zustehenden Grundrecht auf Versammlungs-freiheit in der gewünschten Weise Gebrauch zu ma-chen. Könnte die Versammlung wie geplant stattfin-den, erwiese sich eine Verfassungsbeschwerde späteraber als unbegründet, so wäre die Versammlung durch-geführt worden, obwohl von ihr erhebliche Gefahrenfür die öffentliche Sicherheit und Ordnung ausgingen,die die Behörde zum Erlass der Verbotsverfügung be-rechtigt haben. Im Zuge der anzustellenden Folgenab-wägung ist es in Verfahren der vorliegenden Art fürdas BVerfG regelmäßig ausgeschlossen, in eine eigen-ständige Ermittlung und Würdigung des dem Eilrechts-schutzbegehren zu Grunde liegenden Sachverhalts ein-zutreten. Dies gilt insbesondere dann, wenn es - wieauch im vorliegenden Verfahren - bereits aus Zeitgrün-den ausscheidet, behördliche und fachgerichtliche Ak-ten heranzuziehen sowie Stellungnahmen sämtlicherBeteiligter einzuholen und diese auszuwerten. In Fällendieser Art hat das BVerfG seiner Abwägung in allerR e g e l d i e T a t s a c h e n f e s t s t e l l u n g e n u n dTatsachenwürdigungen in den angegriffenen Entschei-dungen zu Grunde zu legen. Anderes gilt nur dann,wenn die getroffenen Tatsachenfeststellungen offen-sichtlich fehlsam sind oder die angestellte Tatsachen-würdigung unter Berücksichtigung der betroffenenGrundrechtsnorm offensichtlich nicht trägt. Dies istinsbesondere der Fall, wenn die Gefahrenprognose aufUmstände gestützt wird, deren Berücksichtigung demSchutzgehalt des Art. 8 GG offensichtlich wider-spricht.b) Vorliegend werden das Versammlungsverbot unddie Anordnung seiner sofortigen Vollziehung durch dievon der Versammlungsbehörde aufgeführten Gesichts-punkte nicht in vollem Ausmaß getragen.aa) Soweit die Versammlungsbehörde die Verbotsver-fügung auf die Prognose einer unmittelbaren Gefähr-dung der öffentlichen Sicherheit durch die Versamm-lungsteilnehmer selbst gestützt hat, fehlt es an der Be-

zeichnung konkreter Tatsachen, die diese Prognosebelegen. Dies ist von dem VG in nicht zu beanstanden-der Weise näher dargelegt worden. Das OVG hat demnichts entgegengesetzt.bb) Auch die von der Versammlungsbehörde imZusammenhang mit der angekündigten Gegendemon-stration befürchteten Gewalttätigkeiten rechtfertigendas Versammlungsverbot nicht. Drohen Gewalttatenals Gegenreaktion auf Versammlungen, so müssensich behördliche Maßnahmen primär gegen die Störerrichten (vgl. BVerfGE 69, 315, 360). Mit Art. 8 GGwäre nicht zu vereinbaren, dass bereits mit der Anmel-dung einer Gegendemonstration erreicht werden kann,dass dem Veranstalter der zuerst angemeldetenVersammlung die Möglichkeit genommen wird, seinDemonstrationsanliegen zu verwirklichen. Es ist Auf-gabe der zum Schutz der rechtsstaatlichen Ordnungberufenen Polizei, in unparteiischer Weise auf die Ver-wirklichung des Versammlungsrechts hinzuwirken.Gegen die Versammlung als Ganze darf in einer sol-chen Situation grundsätzlich nur unter den besonderenVoraussetzungen des polizeilichen Notstandes einge-schritten werden (vgl. BVerfGE 69, 315). Unter Be-achtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes muss dieVersammlungsbehörde insoweit auch prüfen, ob einpolizeilicher Notstand durch Modifikation der Ver-sammlungsmodalitäten entfallen kann, ohne dadurchden konkreten Zweck der Versammlung zu vereiteln.Gibt es solche Möglichkeiten, dann ist dies auch für dieFolgenabwägung im Rahmen des Eilverfahrens be-deutsam. Das BVerfG darf Folgen nicht berücksichti-gen, deren Eintritt bei entsprechenden hoheitlichenVorgaben vermeidbar ist. Vorliegend hat zunächst dasVG unter Beachtung dieser aus Art. 8 GG folgendenGrundsätze die aufschiebende Wirkung des Wider-spruchs des Ast. mit bestimmten Maßgaben wiederhergestellt, die auch nach Auffassung des BVerfGgeboten und demgemäß in den Tenor der einstweiligenAnordnung mit aufgenommen worden sind. Soweit dasOVG unter Verweis auf seine eigene Ortskenntnis er-gänzend auf die besondere Gefahrenlage im Zusam-menhang mit der vorgesehenen Wegstrecke hinweist,legt es in keiner Weise dar, inwieweit die - nunmehrdurch das BVerfG der Versammlungsbehörde ermög-lichte - Anordnung einer anderen Streckenführungnicht ausgereicht hätte, der Gefahr zu begegnen. Dieslag umso näher, als das OVG selbst eine alternativeStreckenführung erwogen hat.Das O VG hat das Versammlungsverbot im Übrigendeshalb als berechtigt angesehen, weil die Anmeldungder Versammlung mit dem vom Ast. gewählten Mottounter den spezifischen örtlichen Gegebenheiten einegezielte Provokation darstelle und er deshalb für die

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bewusst und gewollt initiierte Gefahr für die öffentlicheSicherheit als "Zweckveranlasser" verantwortlich sei.Im vorliegenden Zusammenhang braucht den Beden-ken, die gegen den Einsatz der Rechtsfigur desZweckveranlassers in einer Situation versammlungs-rechtlicher Konfrontation von Versammlung und Ge-gendemonstration vorgebracht werden (s. etwa Breit-bach/Deiseroth/Rühl, in: Ridder u. a., VersammlungsR,1992, § 15 Rdnr. 139; Herzog, in: Maunz/Dürig, GG,1987, Art. 8 Rdnr. 117 Fußn. 114; a. A. Die-tel/Gintzel/Kniesel, Demonstrations- und Versamm-lungsfreiheit, 12. Aufl. [2000], § 15 Rdnr. 31 m. w.Nachw.) nicht nachgegangen zu werden. Selbst wenndie Figur des Zweckveranlassers versammlungsrecht-lich herangezogen werden könnte, setzte ihre Anwen-dung doch konkrete Anhaltspunkte dafür voraus, dassder vom Veranstalter angegebene Zweck nur Vor-wand und die Provokation von Gegengewalt das ei-gentliche vom Veranstalter "objektiv" oder gar "subjek-tiv" bezweckte Vorhaben ist. Soweit die in der Ver-sammlung geäußerten Inhalte in einer Demokratietrotz ihrer Missbilligung etwa durch die Mehrheit derBevölkerung oder auch nur durch die Gegendemonst-

ranten verfassungsrechtlich zu tolerieren sind, könntedie Zweckveranlassung als Begründung für die Störer-eigenschaft des Ast. nicht auf diese Inhalte gestütztwerden. Vorauszusetzen wären vielmehr besondere,über den Inhalt hinausgehende provokative Begleitum-stände, die sich jedoch dem Beschluss des OVG nichtentnehmen lassen. Scheitert ein Versammlungsverbotauf der Grundlage polizeilichen Notstands wie hier amGrundsatz der Verhältnismäßigkeit, weil es andere,den Veranstalter und die Teilnehmer der Versamm-lung weniger belastende Möglichkeiten zur Gefahren-abwehr gibt, dann kann es ohne solche provokativenBegleitumstände keinesfalls stattdessen auf dieRechtsfigur des Zweckveranlassers gestützt werden.Bleiben daher die bei einer Modifikation derVersammlungsmodalitäten und dem Einsatz geeigneterpolizeilicher Mittel vermeidbaren Gefahren für die öf-fentliche Sicherheit in der Folgenabwägung außer Be-tracht, überwiegen diejenigen Nachteile, die bei einerSofortwirkung des Versammlungsverbots eintreten,solche Nachteile, die bei der Durchführung der Ver-sammlung auch für den Fall zu erwarten sind, dass dasVersammlungsverbot zu Recht ergangen ist.

Standort: Verfassungsbeschwerde Problem: Grundsatz der Subsidiarität

BVERFG, BESCHLUSS VOM 18.08.2000

BVR 1329/00 (NVWZ 2000, 1407)

Problemdarstellung:

Die Beschwerdeführer (Bf.) wollten mit ihren Verfas-sungsbeschwerden die sogen. “Kampfhundeverord-nung” des Landes Nordrhein-Westfalen (bzw. die da-rin enthaltenen Zuchtverbote, den Leinen- und Maul-korbzwang sowie die Genehmigungspflicht für dasHalten bestimmter Rassen) angreifen. Das BVerfGhält die Verfassungsbeschwerden nach dem aus § 90II BVerfGG abzuleitenden Grundsatz der Subsidiaritätfür unzulässig, weil die Bf. es unterlassen hatten, zuvoreine Inzidenter-Kontrolle der Verordnung vor den Ver-waltungsgerichten herbeizuführen.

Prüfungsrelevanz:

In der Zulässigkeit einer Vb. ist sauber zu unterschei-den zwischen der Rechtswegerschöpfung (in § 90 IIBVerfGG explizit normiert) und dem Grundsatz derSubsidiarität (richterrechtlich aus § 90 II BVerfGGentwickelt). Letzterer fordert über die Erschöpfungdes konkreten Rechtswegs hinaus, daß der Beschwer-deführer alle ihm zur Verfügung stehenden Mittel aus-schöpft, um eine Verfassungsbeschwerde überflüssig

zu machen, sei es durch andere Rechtsbehelfe, Wie-dereinsetzungsanträge, Nichtigkeitsklagen (§ 579ZPO) oder Gegenvorstellungen etc (vgl. bereits RA1999, 1 f.). Da es für den Bürger gegen Rechtsver-ordnungen jedenfalls in den Bundesländern, die § 47 INr. 2 VwGO nicht umgesetzt haben - zu diesen gehörtauch NRW - keinen Rechtsweg gibt, kommt als Zuläs-sigkeitsschranke bei Gesetzesverfassungsbeschwerdennur der Grundsatz der Subsidiarität in Betracht. Hierverlangt das BVerfG in st. Rspr. (vorliegend bestätigt) ,daß der Bf. vor Erhebung der Vb. eine Inzidenterkon-trolle der Norm durch die Verwaltungsgerichte vor-nehmen läßt, z.B. durch Erhebung einer Feststellungs-klage oder einer Anfechtungsklage gegen einen aufder von ihm für verfassungswidrig gehaltenen Normberuhenden VA. Allerdings soll dies nicht gelten, wenndem Bf. das Beschreiten des Verwaltungsrechtswegsunzumutbar ist. Dazu hat das BVerfG drei Fallgruppenherausgebildet:

- Der Bf. würde zu unwiderruflichen Entscheidungenoder Dispositionen gezwungen,- Die Verfassungsmäßigkeit der Norm wurde vomBVerwG bereits bejaht,

- Die Erschöpfung des Rechtswegs ist aus sonstigenGründen unzumutbar, insbesondere wegen der langen

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Verfahrensdauer oder weil der Bf. erst noch einesanktionsbewehrte Verwaltungsentscheidung gegensich ergehen lassen müßte.Die Lit. lehnt die vom BVerfG vorgenommene Aus-weitung des § 90 II BVerfGG i.Ü. zu recht ganz über-wiegend ab. Bereits § 93 III BVerfGG zeigt, dassVerfassungsbeschwerden unmittelbar gegen Gesetzemöglich sind. Diese Vorschrift würde umgangen, wennman über den Umweg einer Inzidenterkontrolle dochwieder eine Rechtswegerschöpfung einführt. Zudemwird die vom BVerfG angestrebte Filterfunktion jeden-falls bei einer Vb. gegen ein Parlamentsgesetz ohnehinnicht erreicht, da die Fachgerichte hierbei keine eigeneVerwerfungskompetenz besitzen, sondern gem. Art.100 GG dem BVerfG die Sache vorlegen müssen(“konkrete Normenkontrolle”).

Zu materiellen Fragen der Kampfhundeverordnungender Länder gibt es in der Zwischenzeit eine Fülle vonEntscheidungen, vgl. nur OVG Bremen, NVwZ 2000,1435; VGH Kassel, NVwZ 2000, 1438; OVG Lüne-burg, NVwZ 2000, 1440. Aus der älteren Rspr. vgl.OVG Saarlouis, NVwZ-RR 1992, 626; VGH Mann-heim, NVwZ 1992, 1105.

Leitsatz (der Redaktion):Der Grundsatz der Subsidiarität kann einer Ver-fassungsbeschwerde gegen die in der Kampfhun-deverordnung des Landes Nordrhein-Westfalennormierte Erlaubnispflicht für das Halten be-stimmter Hunde, den Leinen- und Maulkorb-zwang und die Ermächtigung zum Erlass einesHalteverbots entgegenstehen.

Sachverhalt: Der Bf. zu 1 ist Halter eines Hundes der Rasse “FilaBrasileiro”, die in Anlage 1 Nr. 9 der Ordnungsbehörd-lichen Verordnung des Landes Nordrhein-Westfalenüber das Halten, die Zucht, die Ausbildung und dasAbrichten bestimmter Hunde (Landeshundeverord-nung - NWLHV) vom 30. 6. 2000 aufgeführt ist. Nach§ 4 I NWLHV ist das Halten des Tieres erlaubnis-pflichtig. Die Zucht mit einem Hund seiner Rasse istnach § 4 V NWLHV verboten. Gem. § 6 I NWLHVsind derartige Hunde so zu halten, dass Menschen,Tiere oder Sachen nicht gefährdet werden. Innerhalbbefriedeten Besitztums sind sie nach § 6 II NWLHVso zu halten, dass sie das Besitztum nicht gegen denWillen des Hundehalters verlassen können. § 6 III 1und 2 NWLHV ordnet ferner für Hunde der genann-ten Art einen Leinen- und Maulkorbzwang an, wen siesich außerhalb befriedeten Besitztums aufhalten; diezuständige Behörde kann Ausnahmen zulassen, wenn

der Halter nachweist, dass eine Gefahr für die öffentli-che Sicherheit nicht zu befürchten ist (§ 6 IV 1NWLHV). § 7 I und 3 NWLHV ermächtigt die Be-hörde unter bestimmten Voraussetzungen, die Haltungvon Hunden der in Rede stehenden Art zu untersagen.Verstöße gegen § 4 V (Zuchtverbot) und § 6 IIINWLHV (Leinen- und Maulkorbzwang) können nach§ 10 I Nr. 7 und 9 NWLHV als Ordnungswidrigkeitgeahndet werden.Der Bf. zu II 1 ist ein gemeinnütziger Verein, der nachseinen Angaben die Zucht unter anderem der in An-lage 2 Nr. 2 und 3 NWLHV aufgeführten Hunderas-sen Berger de Brie (Briard) und Berger de Beauce(Beauceron) fördert und betreut. Die Bf. zu II 2 bis 7halten Hunde dieser Rassen. Darüber hinaus ist dieBf. zu II 4 Hundeausbilderin, der Bf. zu II 5 züchtetberuflich Beaucerons. Die Verfassungsbeschwerdenwurden nicht zur Entscheidung angenommen.

Gründe: Die Annahmevoraussetzungen des § 93 a II BVerfGGliegen nicht vor. Den Verfassungsbeschwerden kommtgrundsätzliche verfassungsrechtliche Bedeutung nichtzu. Ihre Annahme ist auch nicht zur Durchsetzung dervon den Bf. als verletzt gerügten Grundrechte ange-zeigt. Denn die Verfassungsbeschwerden haben keineAussicht auf Erfolg. Sie sind unzulässig. Der Zulässig-keit der Verfassungsbeschwerden steht, soweit diesesich gegen §§ 4 I, 6 III und 7 NWLHV richten, derGrundsatz der Subsidiarität der verfassungsgericht-lichen Rechtsbehelfe entgegen.Nach der Rechtsprechung des BVerfG findet dieserGrundsatz auch bei einer unmittelbar gegen Rechts-normen gerichteten Verfassungsbeschwerde Anwen-dung (vgl. BVerfGE 69, 122, 112 f.; 74, 69, 74; 90,128, 136 f.). Er verpflichtet den jeweiligen Bf., mit sei-nem Anliegen vor einer Anrufung des BVerfG grund-sätzlich die dafür allgemein zuständigen Gerichte zubefassen. Dadurch soll sichergestellt werden, dass dasBVerfG nicht auf ungesicherter Tatsachen- undRechtsgrundlage weit reichende Entscheidungen trifft.Bei der Rechtsanwendung durch die fachlich zuständi-gen und insoweit sachnäheren Gerichte können - aufGrund deren besseren Sachverstands - möglicherweisefür die verfassungsrechtliche Prüfung erhebliche Tat-sachen zutage gefördert werden, die dem BVerfG beiunmittelbarer Anrufung verschlossen blieben (vgl.BVerfG, NVwZ 1999, 867).Die Pflicht zur Beschreitung des Rechtswegs zu denzunächst zuständigen Gerichten besteht allerdings dannausnahmsweise nicht, wenn die angegriffene Regelungden Bf. zu Dispositionen zwingt, die später nicht mehrkorrigiert werden können, oder wenn die Beschreitung

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dieses Wegs dem Bf. nicht zuzumuten ist. Kann dermit dem Subsidiaritätsgrundsatz insbesondere verfolgteZweck, eine Klärung der verfassungsrechtlich relevan-ten Sach- und Rechtsfragen herbeizuführen, im ein-schlägigen Rechtsweg nicht erreicht werden, ist dievorherige Anrufung der dafür zuständigen Gerichtegleichfalls entbehrlich (vgl. BVerfGE 79, 1, 20). Nachdiesen Grundsätzen sind die Bf. auf den Rechtsweg zuverweisen, soweit sie §§ 4 I, 6 III und 7 NWLHV an-greifen.Nach § 4 I NWLHV bedarf das Halten von Hundender Anlagen 1 und 2 NWLHV der ordnungsbehördli-chen Erlaubnis. Den Bf. ist es zuzumuten, vor Inan-spruchnahme des BVerfG eine solche Erlaubnis zubeantragen und, falls sie ihnen auch im Widerspruchs-verfahren nicht erteilt wird, den Rechtsweg zu denVGen zu beschreiten, um dort die Verfassungswidrig-keit der Erlaubnispflicht geltend zu machen und so diebehauptete Grundrechtsverletzung abzuwenden. ImVerwaltungsstreitverfahren steht ihnen in erster Liniedie Möglichkeit der Verpflichtungsklage nach § 42 IVwGO zur Verfügung. Bleibt die Behörde untätig,können die Bf. nach Maßgabe des § 75 VwGO Un-tätigkeitsklage erheben. Schließlich kommt nach der inRechtsprechung und Literatur vertretenen Auffassungauch in Betracht, dass die Bf. nach § 43 I VwGO aufdie Feststellung der Erlaubnisfreiheit ihrer Hundehal-tung klagen, wenn sie die Regelung des § 4 I NWLHVfür verfassungswidrig und nichtig halten (vgl.BVerwGE 39, 247, 248; Kopp/Schenke, VwGO, 11.Aufl., § 43 Rdnr. 12). Dieser Weg ist auch in denBundesländern eröffnet, in denen der Gesetzgeber -wie in Nordrhein-Westfalen - von der Ermächtigungdes § 47 I Nr. 2 VwGO keinen Gebrauch gemacht hat(vgl. OVG Münster, NVwZ-RR 1995, 138). Kommendie angerufenen Gerichte zu der Überzeugung, § 4 INWLHV sei mit dem Grundgesetz unvereinbar, kön-nen sie die Verfassungswidrigkeit der Regelung fest-stellen und von deren Anwendung absehen (vgl. OVG

Lüneburg, NVwZ 1997, 816, 817 ff.; OVG Münster,NVwZ 1997, 806, 807; OVG Magdeburg, NVwZ1999, 321). Denn das Verwerfungsmonopol desBVerfG bezieht sich nur auf nachkonstitutionelle Ge-setze im formellen Sinne, nicht dagegen auf Rechts-verordnungen (vgl. BVerfGE 68, 319, 326; NJW 1999,2031).Entsprechendes gilt, soweit sich die Bf. gegen den Lei-nen- und Maulkorbzwang in § 6 III NWLHV wenden.Der Verordnungsgeber hat in § 6 IV NWLHV die zu-ständige Behörde ermächtigt, für Hunde der Anlagen 1und 2 NWLHV Ausnahmen vom Leinen- und Maul-korbzwang zuzulassen. Es ist den Bf. zuzumuten, einesolche Ausnahmegenehmigung zu erstreben. Sollte sieihnen nicht gewährt werden, steht ihnen wiederum derVerwaltungsrechtsweg offen, in dem sie geltend ma-chen können, dass der Leinen- und Maulkorbzwang -trotz der genannten Ausnahmeregelung - gegen dasGrundgesetz verstoßen.Auch hinsichtlich § 7 NWLHV sind die Verfas-sungsbeschwerden zum BVerfG subsidiär. Nach die-ser Vorschrift ist das Halten von Hunden der Anlagen1 und 2 NWLHV unter bestimmten Voraussetzungenund nach bestimmten Maßgaben zu untersagen oderes kann untersagt werden. In beiden Fällen ergeht ge-gen den Hundehalter eine ordnungsbehördliche Ver-fügung, gegen die dieser bei den Verwaltungsgerichtenmit der Anfechtungsklage nach § 42 I VwGO vorge-hen kann. Mit ihr können auch verfassungsrechtlicheBedenken gegen die angegriffene Regelung geltendgemacht werden, die von den Verwaltungsgerichtenverworfen werden kann, wenn sie diese Bedenken fürberechtigt halten.Es ist schließlich von den Bf. nicht geltend gemachtworden und auch sonst nicht ersichtlich, dass sie durchdie angegriffenen Regelungen zu Dispositionen ver-anlasse worden sind, die nicht mehr korrigiert werdenkönnen.

Standort: Verfassungsrecht Problem: Teilweise Ablehnung eines UA

VERFGH NRW, URTEIL VOM 17.10.2000

VERFGH 16/98 (NWVBL 2001, 12)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Fall hatte die CDU-Minderheit imLandtag NRW die Einsetzung eines Untersuchungs-ausschusses (UA) beantragt, der sich mit zwei näherformulierten, miteinander in Zusammenhang stehendenUntersuchungsfragen beschäftigen sollte. Bei der Be-schlussfassung des Landtags über die Einsetzung des

UA lehnte die Landtagsmehrheit aus SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen die zweite Untersuchungsfrage alszu unbestimmt und damit verfassungswidrig ab undsetzte den UA (nur) zur Klärung der ersten Frage ein.Der VerfGH NW sieht hierin einen Verstoß gegenArt. 41 LVerf NW; danach könne und müsse derLandtag zwar prüfen, ob die Einsetzung des UA ver-fassungskonform sei; sei dies nicht der Fall, könne siedie Einsetzung jedoch nur gänzlich ablehnen. Keines-falls dürfe sie durch Streichung bestimmter Fragen den

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Untersuchungsgegenstand so manipulieren, dass dievon der Minderheit angestrebte Untersuchung über die“Hintertür” der Verfassungskontrolle zu einer derMehrheit genehmen verkomme. Etwas anderes geltenur, wenn es sich um unwesentliche Korrekturen zuRandfragen handele, die für die Minderheit - auf derenSicht komme es an - erkennbar nicht von Bedeutungseien.

Prüfungsrelevanz:

Art. 41 I 1 LVerf NW ist (bis auf die hier nicht inter-essierende Stärke der erforderlichen Minderheit - imLand ein Fünftel, im Bund ein Viertel -) identisch mitArt. 44 I GG und zahlreichen Vorschriften in anderenLandesverfassungen. Die Entscheidung hat also bun-desweite Bedeutung. Demgemäß bezieht sich derVerfGH NW auch immer wieder auf Entscheidungendes BVerfG zu Art. 44 GG. Inhaltlich ist die Entschei-dung in zweierlei Hinsicht interessant:1. Prozessual kann die Minderheit sich gegen ein Fehl-verhalten der Mehrheit bei der Einsetzung eines UAmit einem Organstreitverfahren (im Bund: über Art. 93I Nr. 1 GG, §§ 13 Nr. 5, 63 ff. BVerfGG) wehren. DieParteifähigkeit der Abgeordneten endet dabei nicht mitdem Ablauf der Wahlperiode; insoweit kommt es nachübereinstimmender Rspr. des VerfGH NW und desBVerfG (Nachweise im Urteilstext) ausnahmsweisenicht auf den Zeitpunkt der Entscheidung, sondern dender Einleitung des Verfahrens an. Gleiches gilt für dasRechtsschutzbedürfnis, welches mit Ablauf der Wahl-periode jedenfalls dann nicht entfallen soll, wenn die zuklärende Rechtsfrage fortdauernde Bedeutung auchfür künftige Bundes- oder Landtage haben kann.

2. Inhaltlich sollte zur Kenntnis genommen werden,dass die “Pflicht” des Bundes- bzw. Landtags, aufAntrag einer qualifizierten Minderheit einen UA ein-zusetzen, nur die Rechtsfolge der Norm ist, deren Ein-tritt aber von einer (ungeschriebenen) tatbestandlichenVoraussetzung, nämlich der Verfassungskonformitätdes Untersuchungsgegenstandes, abhängt.

Untersuchungsausschüsse beschäftigen immer wiederdie Gerichte. Aus der aktuellen Rspr. vgl. BVerwG,NJW 2000, 160 (Landes-UA darf nur Gegenständemit Landesbezug untersuchen) sowie OVG Münster,NJW 1999, 80 (Auskunftsverweigerungsrechte vonZeugen vor dem UA).

Leitsätze:1. Der Landtag ist berechtigt und verpflichtet,vor der Beschlussfassung über den Antrag einerMinderheit auf Einsetzung eines Untersuchungs-ausschusses (Art. 41 Abs. 1 Satz 1 LV NRW) die

rechtliche Zulässigkeit dieses Antrags zu über-prüfen.2. Hält der Landtag eine von der Minderheit be-antragte Untersuchung in wesentlichen Teilen fürverfassungswidrig, so darf er den Einsetzungs-antrag nur insgesamt ablehnen. Er ist nicht be-fugt, die für verfassungswidrig gehaltenen Teileaus dem Minderheitsantrag zu streichen und demso geänderten Antrag stattzugeben.3. Ob die für verfassungswidrig gehaltenen Teilevon wesentlicher Bedeutung sind, ist aus derSicht der Minderheit zu bestimmen, soweit sie imEinsetzungsantrag zum Ausdruck kommt.

Sachverhalt:Im September 1998 beantragten 88 Abgeordnete derCDU-Landtagsfraktion die Einsetzung eines Untersu-chungsausschusses, der im Wesentlichen zwei Unter-suchungsziele verfolgen sollte. Erstens sollten "die Vor-gänge und Missstände im Fall HDO" (Technologiezen-trum High Definition Oberhausen) untersucht werden.Beantragt war zweitens die Untersuchung der "För-derpraxis im Bereich der Rundfunk-, Film- und Me-dienwirtschaft im Land NRW" seit 1990. Mit denStimmen der Mehrheitsfraktionen von SPD und Bünd-nis 90/Die Grünen wurde der zweite Teil des Untersu-chungsauftrags gestrichen; nach Auffassung derLandtagsmehrheit war dieser Teil wegen Verstoßesgegen das Bestimmtheitsgebot verfassungswidrig. We-gen dieser Teilstreichung des Untersuchungsauftragsleiteten die Abgeordneten der CDU-Landtagsfraktionein Organstreitverfahren ein und begehrten dieFeststellung, dass der Landtag NRW dadurch gegenArt. 41 Abs. 1 LV NRW verstoßen habe, dass er denbeantragten Untersuchungsausschuss mit einem geän-derten Untersuchungsauftrag eingesetzt habe. Danachhat der Landtag das Recht und auf Antrag eines Fünf-tels der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder die Pflicht,Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Der Antraghatte Erfolg.

Gründe:A. Der Antrag der Antragsteller ist sowohl nach sei-nem Wortlaut als auch nach seiner Begründung auf dieFeststellung gerichtet, dass nicht nur der Einsetzungs-beschluss, sondern auch der ihn erst ermöglichendeÄnderungsbeschluss der Landtagsmehrheit vom 24.September 1998 das Recht der Antragsteller aus Art.41 Abs. 1 Satz 1 LV verletzt hat. Dieser Antrag ist zu-lässig.1. Die Antragsteller sind parteifähig. Als Abgeordnete,die in ausreichender Zahl nach Art. 41 LV NRW dieEinsetzung eines Untersuchungsausschusses beantragt

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haben, sind sie ein mit eigenen Rechten ausgestatteterT e i l d e s L a n d t a g s u n d b e f u g t , i mverfassungsprozessualen Organstreit als Beteiligte auf-zutreten (vgl. BVerfGE 2, 143, 162; 49, 70, 77; 67, 100,124). Die Parteifähigkeit der Antragsteller ist nichtdeshalb entfallen, weil deren Mandate als Abgeordneteim 12. Landtag mit Ablauf der 12. Wahlperiode erlo-schen sind. Für die Zulässigkeit des Organstreits ge-nügt, dass die Antragsteller parteifähig waren, als siedas Verfahren eingeleitet haben (vgl. VerfGH NRW,NWVBl. 1997, 247, 249 m. w. N.; ferner BVerfG,Urteil vom 21. Juli 2000 - 2 BvH 3/91).2. Richtiger Antragsgegner ist der nordrhein-westfä-lische Landtag, der einen Untersuchungsausschuss miteinem Auftrag eingesetzt hat, der von dem Antrag derAntragsteller abweicht (vgl. VerfGH NRW, NWVBl.1999, 411).3. Die Antragsteller sind antragsbefugt. Sie könnengeltend machen, in ihrem in Art. 41 LV NRW verbürg-ten Minderheitsrecht dadurch verletzt zu sein, dass dernordrhein-westfälische Landtag den von ihnen bean-tragten Untersuchungsausschuss mit einem geändertenUntersuchungsauftrag beschlossen hat.4. Mit Ablauf der Wahlperiode ist auch nicht dasRechtsschutzinteresse für den gestellten Antrag entfal-len. Die begehrte Entscheidung des Verfassungsge-richtshofs bezieht sich nicht auf eine Fallgestaltung, diemaßgeblich durch die besonderen und deshalb nichtwiederholbaren Verhältnisse der abgelaufenen Wahl-periode geprägt wird. Es ist vielmehr von allgemeinerBedeutung, ob und unter welchen Voraussetzungen dieParlamentsmehrheit einen von ihr für verfassungswid-rig gehaltenen Antrag der Minderheit auf Einsetzungeines Untersuchungsausschusses ändern darf.B. Der Antrag ist begründet. Der Antragsgegner hatdie Antragsteller in ihrem Recht aus Art. 41 Abs. 1Satz 1 LV NRW verletzt, indem er in der Plenarsit-zung am 24. September 1998 den von den Antragstel-lern beantragten Untersuchungsaussc huss II (LT-Drs.12/3350) mit einem - entsprechend dem zuvor ange-nommenen Änderungsantrag der Fraktionen der SPDund Bündnis 90/Die Grünen (LT-Drs. 12/3352) - geän-derten Untersuchungsauftrag eingesetzt hat.Der Landtag war zwar berechtigt und verpflichtet zuprüfen, ob der Antrag der Antragsteller auf Einsetzungeines Untersuchungsausschusses rechtlich zulässigwar (unten 1.). Er war jedoch nicht befugt, den Min-derheitsantrag durch Streichung wesentlicher Teile, dieer für verfassungswidrig hielt, abzuändern und dem sogeänderten Antrag zuzustimmen (unten 2.).1. Nach Art. 41 Abs. 1 Satz 1 LV NRW hat der Land-tag das Recht und auf Antrag von einem Fünftel seinerMitglieder die Pflicht, einen Untersuchungsausschuss

einzusetzen. Der Landtag muss allerdings nur einemzulässigen Minderheitsantrag entsprechen, nicht einemAntrag, der auf eine verfassungs- oder rechtswidrigeUntersuchung gerichtet ist. Das parlamentarische Un-tersuchungsrecht ist von (verfassungs-)rechtlichenVoraussetzungen abhängig und auch (verfassungs-)rechtlich begrenzt. Der Landtag hat die Befugnis unddie Pflicht, einen Antrag der Minderheit abzulehnen,w enn die angestrebte Untersuchung im Ganzen oder inwesentlichen Teilen unzulässig ist.Der Landtag in seiner Gesamtheit ist Träger desUntersuchungsrechts und damit Herr des Verfahrens(vgl. BVerfGE 77, 1, 40 f.). Art. 41 Abs. 1 Satz 1 LVNRW räumt nicht der Landtagsminderheit das Rechtein, selbst einen Untersuchungsausschuss einzusetzen;vielmehr enthält die Vorschrift die Verpflichtung desLandtags in seiner Gesamtheit, auf Antrag der qualif i-zierten Minderheit einen Untersuchungsausschuss ein-zusetzen. Mit der Einsetzung des Untersuchungsaus-schusses macht der Landtag die beantragte Untersu-chung zu seiner Sache, auch wenn er damit nur demAntrag einer Minderheit folgt (vgl. BVerfGE 83, 175,180). Er trägt als entscheidendes Organ die Verant-wortung dafür, dass sein Einsetzungsbeschluss mit derVerfassung im Einklang steht. Bevor er einen Be-schluss über die Einsetzung des Untersuchungsaus-schusses fasst, ist er berechtigt und verpflichtet zu prü-fen, ob der entsprechende Minderheitsantrag zulässigist (allgemeine Auffassung, vgl. etwa StGH, RGZ 104,423 ff.; HessStGH, DÖV 1967, 51, 53 m. w. N.; Bay-VerfGH, VerfGHE 30, 48, 62; NVwZ 1995, 681, 682).2. In Ausübung dieses Prüfungsrechts war der An-tragsgegner allerdings nicht berechtigt, den Antrag derAntragsteller auf Einsetzung eines Untersuchungsaus-schusses in wesentlichen Teilen abzuändern und ihm inder geänderten Fassung zuzustimmen.a) Hält der Landtag eine von der Minderheit beantrag-te Untersuchung in wesentlichen Teilen für verfas-sungswidrig, so kann er den Antrag nur insgesamt ab-lehnen. Er ist nicht befugt, die für verfassungswidriggehaltenen Teile durch ausdrücklichen oder konkluden-ten Änderungsbeschluss aus dem Minderheitsantrag zustreichen und dem so geänderten Antrag stattzugeben;dieses Recht steht allein der Minderheit zu (vgl. zurUnzulässigkeit von Änderungsanträgen, die den Ge-genstand von Entschließungsanträgen auswechseln,VerfGH NRW, NWVBl. 1999, 411).Dies folgt aus Sinn und Zweck des in Art. 41 LVNRW gewährleisteten Minderheitsrechts auf Einset-zung eines Untersuchungsausschusses. Untersu-chungsverfahren erfüllen in der parlamentarischen De-mokratie eine wichtige Aufgabe. Sie ermöglichen denParlamenten, unabhängig von Regierung, Behörden

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und Gerichten mit hoheitlichen Mitteln selbstständig dieSachverhalte zu prüfen, die sie in Erfüllung ihres Ver-fassungsauftrags als Vertretung des Volkes für aufklä-rungsbedürftig halten. Schwerpunkt der Untersuchun-gen ist die parlamentarische Kontrolle von Regierungund Verwaltung, insbesondere die Aufklärung von inden Verantwortungsbereich der Regierung fallendenVorgängen, die auf Mängel oder Missstände hindeu-ten. Dieser Kontrolle kommt im Rahmen der Gewal-tenteilung besonderes Gewicht zu (vgl. BVerfGE 49,70, 85; 77, 1, 43). Dabei besteht das politischeSpannungs- und Kontrollverhältnis in der Regel nichtzwischen Regierung und Parlament, sondern zwischender Regierung und der sie tragenden Parlamentsmehr-heit einerseits und der Opposition andererseits. Dasdurch die Verfassung garantierte Recht der (qualifi-zierten) Minderheit auf Einsetzung eines Untersu-chungsausschusses dient vorrangig dazu, ihr die Kon-trolle der Regierung auch gegen den Willen der diesetragenden Parlamentsmehrheit zu ermöglichen. Die ungehinderte Ausübung des Kontrollrechts durchdie Minderheit ist aber nur hinreichend gewährleistet,wenn es der Minderheit überlassen bleibt, den Gegen-stand der von ihr beantragten Untersuchung festzule-gen. Der Untersuchungsgegenstand darf daher grund-sätzlich nicht von der Parlamentsmehrheit gegen denWillen der Minderheit verändert, eingeschränkt odererweitert werden (vgl. BVerfGE 49, 70, 86 f). Das Recht der Minderheit, Gegenstand und Ziel derangestrebten Untersuchung festzulegen, darf auchnicht dadurch angetastet werden, dass die Parlaments-mehrheit wesentliche Teile des Untersuchungsauf-trags, die sie für verfassungswidrig hält, streicht undden Untersuchungsgegenstand nur in einer Beschrän-kung zulässt, die die Minderheit nicht gewollt hat.Nach der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung istdie Parlamentsmehrheit nicht verpflichtet, den Einset-zungsantrag der Minderheit durch erhebliche Strei-chungen zulässig zu machen und auf diese Weise ei-nen Untersuchungsausschuss zu ermöglichen. DieMinderheitsrechte werden dadurch, dass die Mehrheitin wesentlichen Teilen unzulässige Einsetzungsanträgeinsgesamt ablehnt, nicht verletzt (vgl. StGH BW, NJW1977, 1872, 1873 L; BayVerfGH, DVBl. 1986, 233,235 (mit Sondervotum a.a.O.), NVwZ 1995, 681, 686;Hempfer, ZfP 1979, 294, 301 f.).Die Parlamentsmehrheit ist nicht einmal berechtigt,einen solchen Einsetzungsantrag durch erheblicheStreichungen zulässig zu machen und so einen Unter-suchungsausschuss zu ermöglichen, dessen Gegen-stand wegen des veränderten Umfangs des Prüfungs-stoffs quantitativ und gegebenenfalls auch qualitativ et-was anderes wäre, als die Minderheit ursprünglich

wollte (a. A. BayVerfGH, VerfGHE 30, 48, 62 f.;NVwZ 1995, 681, 686; offen lassend BayVerfGH,DVBl. 1986, 233, 235; StGH BW, Urteil vom 16. 04.1977, insoweit in NJW 1977, 1872 ff. nicht abge-druckt). Aufgabe des Parlaments in seiner Gesamtheitist es nur, eine verfassungswidrige Ausübung des par-lamentarischen Untersuchungsrechts zu verhindern,nicht jedoch, an Stelle der antragstellenden Minderheiteine Entscheidung darüber zu treffen, ob und mit wel-chem Inhalt das Untersuchungsziel weiter verfolgtwerden soll. Ob ein Untersuchungsausschuss mit einge-schränktem, verändertem oder neu gefasstem Unter-suchungsauftrag eingesetzt werden soll, hat grundsätz-lich allein die antragstellende Minderheit zu entschei-den. Sie muss darüber befinden, ob das mit demUntersuchungsausschuss von ihr bezweckte Ziel nocherreicht werden kann. Es liegt bei ihr, ob sie auf denUntersuchungsausschuss ganz verzichtet, ob sie denrechtlichen Bedenken der Mehrheit in der WeiseRechnung trägt, dass sie den Untersuchungsauftragkonkretisiert bzw. mit rechtlich unbedenklichen Fragenergänzt, oder ob sie das Untersuchungsziel in verrin-gertem Umfang aufrechterhält. Es wäre systemwidrig,würde die Parlamentsmehrheit diese Entscheidunggleichsam in Ausübung des grundsätzlich gegen sieselbst gerichteten Oppositionsrechts treffen. Die Min-d e r h e i t s e n q u e t e w i r d i n d e r R e g e lUntersuchungsgegenstände thematisieren, die nicht nurdie Regierung und die ihr nachgeordnete Exekutivebetreffen, sondern auch der Regierungsmehrheit imLandtag politisch nicht selten unwillkommen sein wer-den. Bei einem derartigen Interessenwiderstreit stehtes der Parlamentsmehrheit nicht zu, darüber zu ent-scheiden, mit welchem verfassungsrechtlich zulässigenInhalt ein Antrag der Minderheit auf Einsetzung einesUntersuchungsausschusses weiterverfolgt werden soll.b) In das Recht der Minderheit, Gegenstand und Zielder beantragten Untersuchung zu bestimmen, wirdallerdings dann nicht unzulässig eingegriffen, wenn dievon der Mehrheit für verfassungswidrig gehaltenenTeile lediglich von untergeordneter Bedeutung sind undder Einsetzungsantrag durch deren Streichung nichterheblich geändert wird. Ob die für verfassungswidriggehaltenen Teile von wesentlicher Bedeutung sind, istaus der Sicht der Minderheit zu bestimmen, soweit sieim Einsetzungsantrag zum Ausdruck kommt. Maßge-bend ist, ob die für verfassungswidrig gehaltenen Teileim Verhältnis zu dem mit dem Einsetzungsantrag er-kennbar verfolgten Anliegen von so geringfügiger Be-deutung sind, dass ihre Streichung Gegenstand und Zielder Untersuchung im Wesentlichen unbeeinträchtigtlassen würde. Auf die Frage der Teilbarkeit desUntersuchungsgegenstandes kommt es insoweit nicht

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an.c) Die Abänderung des Einsetzungsantrags der An-tragsteller durch die Parlamentsmehrheit und die an-schließende Zustimmung zu dem geänderten Antragwerden diesen Anforderungen nicht gerecht. Der von

der Parlamentsmehrheit für verfassungswidrig gehalte-ne Teil des Einsetzungsantrags war erkennbar für dieMinderheit von so wesentlicher Bedeutung, dass seineStreichung den Einsetzungsantrag in seinem Gegen-stand und Ziel verändert hat [wird ausgeführt].

Standort: § 80 V VwGO Problem: Reisebeschränkung von Hooligans

VG GELSENKIRCHEN, BESCHLUSS VOM 09.06.2000

17 L 1254/00 (NWVBL 2000, 395)

Problemdarstellung:

Anlässlich der Fußball-Europameisterschaft 2000 inden Niederlanden und Belgien erließen zahlreiche Be-hörden Beschränkungen der Reisepässe und Personal-ausweise bekannter Hooligans, um zu verhindern, dassdiese sich an Gewalttätigkeiten beteiligen und so dasAnsehen der BRD schädigen. Wegen der Kürze derZeit wurden diese Reisebeschränkungen i.d.R. gem. §80 II Nr. 4 VwGO für sofort vollziehbar erklärt. Vor-liegend hatte ein Betroffener - erfolglos - versucht, dieaufschiebende Wirkung des von ihm eingelegten Wi-derspruchs gerichtlich über § 80 V VwGO wiederher-stellen zu lassen. Die vom VG Gelsenkirchen in denGründen seines Ablehnungsbeschlusses durchgeprüfteBegründetheit eines solchen Rechtsbehelfs ist dabeigeradezu schulmäßig aufgebaut.

Prüfungsrelevanz:

Die vorstehend geschilderte Fallkonstellation und diehierzu ergangenen Gerichtsentscheidungen (vgl. nebendem hier wiedergegebenen Beschluss z.B. VGHMannheim, DVBl 2000, 1630) geben dem ansonstenim Examen eher wenig beachteten Passgesetz einegewisse Aktualität und damit Prüfungsrelevanz. Da dieFälle oftmals im Rahmen des § 80 V VwGO spielen,sollte auch die prozessuale Komponente des Fallesbeachtet werden. Beachtet werden sollte i.Ü., dass das Passgesetz dieordnungsrechtlichen Generalklauseln der Länder nichtausschließt. Wird also eine Regelung getroffen, die imPassgesetz nicht vorgesehen ist, kann diese auf dieGeneralklausel gestützt werden (z.B. eine Meldeaufla-ge, so im Fall des VGH Mannheim, a.a.O.). Zur Be-gründung wird angeführt, Maßnahmen nach demPassG schützten (nur) die innere und äußere Sicher-heit der BRD, nicht aber Individualrechtsgüter. Zu de-ren Schutz könne folglich nach landesrechtlichem Ord-nungsrecht vorgegangen werden.

Leitsätze:

Das öffentliche Interesse an einer Verhütung vonGewaltdelikten am Rande eines international be -achteten Sportereignisses kann - auch vor demHintergrund von Ausschreitungen deutscherHooligans anlässlich der Fußballweltmeister-schaft 1998 in Frankreich, die zu einer Ansehens-beeinträchtigung der Bundesrepublik Deutsch-land im Ausland geführt hat - als erheblicher Be-lang im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG angese-hen werden und die Beschränkung eines Reise-passes gemäß § 7 Abs. 2 PassG rechtfertigen.

Sachverhalt:Mit der Begründung, dass der Antragsteller nach poli-zeilichen Erkenntnissen der Szene der gewaltbereitenFußballfans ("Hooligans") zuzurechnen sei, ordnete derAntragsgegner mit Blick auf die bevorstehendeFußball-Europameisterschaft durch Bescheid vom 31.Mai 2000 die räumliche Beschränkung des Reisepas-ses des Antragstellers in der Weise an, dass der Rei-sepass den Antragsteller für die Zeit vom 9. Juni bis 2.Juli 2000 zur Einreise in alle Länder mit Ausnahme vonBelgien und den Niederlanden berechtigte. Die sofor-tige Vollziehung wurde angeordnet, ein Zwangsgeldfür den Fall, dass der Antragsteller den Pass nicht biszum 8. Juni 2000, 18.00 Uhr zur Eintragung der Be-schränkung vorlege, angedroht. Die zeitgleich erfolgteBeschränkung des Personalausweises war Gegen-stand des Parallelverfahrens 17 L 1253/00 (nicht ver-öffentlicht). Der Antrag auf Aussetzung der Vollzie-hung hatte keinen Erfolg.

Gründe:1. Soweit der Antrag sich gegen die räumliche Be-schränkung des Passes richtet, ist er als Antrag aufWiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach §80 Abs. 5 VwGO zulässig, aber nicht begründet.a. Die dem Bescheid beigefügte Vollziehungsanord-nung genügt den formellen Anforderungen gemäß § 80Abs. 3 VwGO, da der Antragsgegner die Anordnungder sofortigen Vollziehung in einer dem Ausnahmecha-rakter des § 80 Abs. 2 Satz 1 Nr. 4 VwGO Rechnungtragenden Weise begründet hat.b. Die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung

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des Widerspruchs in dem Verfahren nach § 80 Abs. 5VwGO kommt nur in Betracht, wenn eine Interessen-abwägung ergibt, dass das private Interesse des Be-troffenen an dem einstweiligen Nichtvollzug gegenüberdem öffentlichen Interesse an der sofortigen Vollzie-hung vorrangig erscheint. Dabei wird ein gegenüberden persönlichen Belangen des Betroffenen überwie-gendes Interesse an der sofortigen Vollziehung regel-mäßig dann angenommen, wenn der zu beurteilendeVerwaltungsakt offensichtlich rechtmäßig ist, währendein überwiegendes Interesse des Betroffenen amNichtvollzug in der Regel zu bejahen ist, wenn sich derVerwaltungsakt als offensichtlich rechtswidrig erweist.Vorliegend überwiegt das öffentliche Vollzugsinter-esse, weil die angefochtene Verfügung sich bei der indiesem Verfahren nur möglichen summarischen Prü-fung als jedenfalls nicht offensichtlich rechtswidrigdarstellt und das öffentliche Interesse an der sofortigenVollziehung eindeutig überwiegt.Die vom Antragsgegner herangezogene Ermächti-gungsgrundlage - § 7 Abs. 2 in Verbindung mit § 7Abs. 1 Nr. 1 des Passgesetzes (PassG) - ist keinendurchgreifenden (verfassungs-)rechtlichen Bedenkenausgesetzt, wobei nur angemerkt sei, dass dasgemeinschaftsrechtliche Freizügigkeitsrecht ebensowie das Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheitgemäß Art. 2 Abs. 1 GG, das die Ausreisefreiheitschützt (vgl. BVerfGE 6, 32), nicht schrankenlos ge-währleistet ist.In formeller Hinsicht mag dahin stehen, ob der Antrag-steller vor Erlass der Verfügung gemäß § 28 Abs. 1VwVfG NW hätte angehört werden müssen; den eineHeilung eines etwaigen hieraus resultierenden Fehlerswäre jedenfalls im Rahmen eines nachfolgendenRechtsbehelfsverfahrens gemäß § 45 Abs. 1 Nr. 3,Abs. 2 VwVfG möglich und zu erwarten.In materiell-rechtlicher Hinsicht spricht vieles für dieRechtmäßigkeit der Beschränkung des Passes. § 7Abs. 2 PassG ermächtigt zu einer Beschränkung desGeltungsbereiches oder der Gültigkeitsdauer einesPasses, wenn die Voraussetzungen für eine grundsätz-lich nicht im Ermessen der Behörde stehende Pass-versagung gemäß § 7 Abs. 1 PassG tatbestandlichvorliegen, die Passversagung (bzw. Passentziehunggemäß § 8 PassG) aber unverhältnismäßig erscheint.Danach kommt es letztlich entscheidend darauf an, obTatsachen die Annahme begründen, dass der Antrag-steller im Sinne von § 7 Abs. 1 Nr. 1 PassG die innereoder äußere Sicherheit oder sonstige erhebliche Be-lange der Bundesrepublik Deutschland gefährdet.Hierbei muss es sich um Belange handeln, die so er-heblich sind, dass sie der freiheitlichen Entwicklung inder Bundesrepublik aus zwingenden staatspolitischen

Gründen vorangestellt werden müssen (vgl. BVerwG,Buchholz 402.00 PassG § 7 Nr. 1). Die Kammer hat -auch vor dem Hintergrund der Ausschreitungen deut-scher Hooligans anlässlich der Fußballweltmeister-schaft 1998 in Frankreich, die zu einer Ansehensbeein-trächtigung der Bundesrepublik Deutschland im Aus-land geführt haben - keine Bedenken, dem hier in Re-de stehenden Interesse an einer Verhütung von Ge-waltdelikten am Rande eines international beachtetenSportereignisses eine derartige Erheblichkeit beizumes-sen.

Dem tritt auch der Antragsteller im Kern nicht ent-gegen. Er bestreitet vielmehr, dass in Bezug auf seinePerson ausreichende Anhaltspunkte dafür vorliegen, erwerde sich - wenn ihm die Gelegenheit dazu gegebenwird - an derartigen Taten beteiligen. Auch wenn dieKammer auf der Grundlage der zur Verfügung stehen-den Erkenntnisse die Berechtigung der vom Antrags-gegner vorgenommenen Prognose gegenwärtig nichtmit einer dem Maßstab der Offens ichtlichkeit genügen-den Sicherheit bestätigen kann, so ist jedenfalls festzu-halten, dass von einer offensichtlichen Fehlerhaftigkeitdes in dem angefochtenen Bescheid dargelegten Tat-sachenfundaments und der vom Antragsgegner hier-aus gezogenen Schlussfolgerungen nicht die Rede seinkann. Denn es steht fest und wird vom Antragstellerauch nicht bestritten, dass dieser in der Vergangenheitbereits in Zusammenhang mit Fußballspielen straf-rechtlich in Erscheinung getreten ist. Da er danachder Szene der gewaltbereiten "Fans" zuzurechnen war,ist gegen ihn auch ein bundesweites Stadionverbot ver-hängt worden. [...] Soweit der Antragsteller sich da-rauf beruft, er sei zumindest in den vergangenen 12Monaten nicht mehr strafrechtlich in Erscheinung ge-treten, steht dies der Prognose des Antragsgegners vordem Hintergrund der langjährigen Verstrickung desAntragstellers in die Szene nicht entgegen. Insoweitkann auch nicht unberücksichtigt bleiben, dass der An-tragsteller nach den unwidersprochen gebliebenen Aus-führungen in dem angefochtenen Bescheid anlässlichder Fußballweltmeisterschaft 1998 in Lens auf Licht-bildern in einer Gruppe deutscher Hooligans erkanntwurde.Auch die in der angefochtenen Verfügung zum Aus-druck gekommene Ermessensausübung, in die sowohlgeneral- als auch spezialpräventive Erwägungen einge-flossen sind, begegnet keinen rechtlichen Bedenken(vgl. zum Maßstab § 114 VwGO), da der Antragsgeg-ner die Maßnahme in räumlicher und zeitlicher Hin-sicht weitestmöglich beschränkt und damit dem Verhält-nismäßigkeitsgrundsatz in ausreichender Form Rech-nung getragen hat. Die Eintragung der Beschränkung

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in den Pass hat entgegen der Darstellung in dem Wi-derspruchsschreiben vom 8. Juni 2000 auch letztlichkeine dauerhafte "Stigmatisierung" des Antragstellerszur Folge, da diesem gemäß § 7 Abs. 2 Satz 3 PassGnach Ablauf der Geltungsdauer der Beschränkung aufAntrag ein neuer Pass ausgestellt werden kann.Nach alledem erscheint der Ausgang eines etwaigenHauptsacheverfahrens - aus Sicht des Antragstellers -bestenfalls als offen.Die Abwägung der gegenläufigen öffentlichen undprivaten Interessen zeigt ein eindeutiges Überwiegendes öffentlichen Interesses an der sofortigen Vollzie-hung. Denn es kann nicht bezweifelt werden, dass dieBundesrepublik Deutschland und ihre Bürger ein hohesInteresse daran haben, durch geeignete präventiveMaßnahmen die Schädigung ihres Ansehens durch Ge-walttäter bzw. deren gewaltbereite Begleiter aus denReihen sog. Fußballfans zu verhindern. Demegen-über hat der Antragsteller eine Absicht bzw. ein Inter-esse, während des betreffenden, ohnehin nur kurzenZeitraumes das Bundesgebiet zu verlassen und nach

Belgien oder in die Niederlande zu reisen, weder be-hauptet noch in geeigneter Weise dargelegt. Die ihntreffende Belastung dadurch, dass er die Be-schränkung seines Passes zunächst hinzunehmen undden Pass zur Eintragung der Beschränkung dem An-tragsgegner vorzulegen hat, erweist sich mithin als ge-ringfügig.2. Soweit der Antrag sich gegen die gemäß § 80 Abs.2 Satz 2 VwGO in Verbindung mit § 8 AG VwGONRW sofort vollziehbare Androhung eines Zwangs-geldes richtet, ist er als Antrag auf Anordnung der auf-schiebenden Wirkung des Widerspruchs gemäß § 80Abs. 5 VwGO ebenfalls zulässig, aber nicht begründet.Die Androhung findet ihre Rechtsgrundlage in §§ 60,63 VwVG NRW und ist rechtlich nicht zu beanstan-den. Die gesetzte Frist ist unter Berücksichtigung desbevorstehenden Beginns der Europameisterschaftangemessen; die Höhe des Zwangsgeldes (vgl. § 60Abs. 1 Satz 1 VwVG NRW) begegnet ebenfalls kei-nen Bedenken.

Standort: VwGO Problem: Verwaltungsrechtsweg

OVG MÜNSTER, BESCHLUSS VOM 30.06.2000

21 E 472/00 (NWVBL 2001, 19)

Problemdarstellung:

Das OVG Münster hatte darüber zu befinden, ob dieEntscheidung einer Gemeinde über die Auswahl unterverschiedenen Kaufbewerbern um ein gemeindeeige-nes Grundstück auf dem Verwaltungs- oder Zivil-rechtsweg zu überprüfen ist, d. h. eine öffentlich-rechtliche Streitigkeit i.S.d. § 40 I 1 VwGO vorliegt.Das Gericht hält eine öffentlich-rechtliche Streitigkeitjedenfalls dann für gegeben, wenn die Gemeinde fürihre Entscheidung Vergabekriterien (etwa in Form vonVerwaltungsvorschrif ten) aufgestel l t hat , dieöffentlich-rechtlichen Zwecken dienen. Das Gerichtbedient sich dabei der von Wolff (grundlegend: AöR76 (1950/51), S. 205 ff.) begründeten, sogen. “modifi-zierten Subjektstheorie” einerseits, der von Ipsen (Öf-fentliche Subventionierung Privater, 1956) entwickel-ten “Zwei-Stufen-Theorie” andererseits.

Prüfungsrelevanz:

Die Prüfung des Verwaltungsrechtswegs nach § 40 I1 VwGO ist - falls nicht eine speziellere, ausdrücklicheRechtswegzuweisung vorliegt - in nahezu allen ver-waltungsrechtlichen Prüfungsaufgaben, die in einenRechtsbehelf eingebunden sind, anzustellen. Fundierte

Kenntnisse hierzu sind wegen der überragenden Be-deutung dieser Thematik für das Examen unerlässlich.Vorliegend werden die modifizierte Subjektstheorieund die Zwei-Stufen-Theorie angesprochen.

1. Nach der modifizierten Subjektstheorie ist die Strei-tigkeit öffentlich-rechtlich, wenn der ihr zugrunde lie-gende Sachverhalt öffentlich-rechtlich geordnet ist.Hierfür kommt es wiederum auf die diesen prägenden,streitentscheidenden Normen an. Diese sind öffentlich-rechtlich, wenn sie abstrakt auf zumindest einer Seite(d.h. als berechtigtes oder verpflichtetes Zuordnungs-subjekt) einen Träger öffentlicher Gewalt aufweisen.Lässt sich hingegen nur ein Fall bilden, in dem dieNorm zwei Privatrechtssubjekte verbindet, ist dieStreitigkeit privatrechtlich. So ist z.B. der auch in dervorliegenden Entscheidung angesprochene Grund-stücksverkauf durch eine Gemeinde stets privatrecht-lich, da im konkreten Fall am Verpflic htungsgeschäftzwar ein Hoheitsträger (Gemeinde) beteiligt sein mag,§ 433 BGB dies aber nicht für alle Fälle (abstrakt) vor-sieht.2. Vorliegend ging es jedoch nicht um den Verkaufselbst (die “Abwicklung” des Geschäfts), sondern umdie Entscheidung darüber, an wen verkauft werdenwürde. Das “Ob” einer Entscheidung im Bereich desZugangs zu öffentlichen Einrichtungen oder - wie hier- der Subventionsvergabe (Verkauf verbilligter Grund-stücke ist auch eine Subvention) bleibt aber nach der

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“Zwei-Stufen-Theorie” stets öffentlich-rechtlich, auchwenn das “Wie” (die Abwicklungsstufe) privatrecht-lich ausgestaltet ist. Man will so verhindern, dass sichein Hoheitsträger durch die Wahl privatrechtlicherHandlungs- oder Organisat ionsformen seineröffentlich-rechtlichen Pflichten, insbes. der Grund-rechtsbindung entziehen kann (Stichwort: “KeineFlucht ins Privatrecht”). Zur Zwei-Stufen-Theorie vgl.bereits ausführlich RA 1999, 656 (Anm. zu VGHMünchen, NVwZ 1999, 1122).

Leitsätze:1. Die Entscheidung einer Gemeinde über dieAuswahl unter verschiedenen Kaufbewerbern umein gemeindeeigenes Grundstück nach Maßgabevon Vergabekriterien, die im öffentlichen Inter-esse unter anderem die Förderung eines be-stimmten Personenkreises durch die Gewährungeines nach Kinderzahl gestaffelten Nachlassesauf den Kaufpreis vorsehen, hat öffentlich-recht-lichen Charakter.2. Begehrt ein Kaufbewerber zur Verhinderung"vollendeter Tatsachen" vorläufigen Rechts-schutz gegen die Gemeinde, handelt es sich umeine öffentlich-rechtliche Streitigkeit im Sinnevon § 40 Abs. 1 VwGO.3. Zur Anwendbarkeit des § 17a Abs. 2 GVG aufVerfahren nach § 123 VwGO.

Sachverhalt:Im Rahmen eines Auswahlverfahrens für den Verkaufeines gemeindeeigenen Grundstückes hat die Antrags-gegnerin die zunächst zugunsten der Antragsteller ge-troffene Vergabeentscheidung aufgehoben und ent-schieden, dass das betreffende Grundstück an einenanderen Kaufbewerber verkauft werden soll. Im Hin-blick auf den bevorstehenden Abschluss des notariel-len Kaufvertrages der Antragsgegnerin mit dem Mit-bewerber haben die Antragsteller vorläufigen Rechts-schutz gegen die Antragsgegnerin nach § 123 Abs. 1VwGO begehrt. Das VG verwies das Verfahren ge-mäß § 17a Abs. 2 GVG an das LG. Auf die Be-schwerde der Antragsteller hob das OVG den Be-schluss auf.

Gründe:Die Beschwerde der Antragsteller hat Erfolg. Dabeikann hier dahinstehen, ob die Vorschrift des § 17aAbs. 2 GVG gemäß § 173 VwGO nicht nur auf dasverwaltungsgerichtliche Hauptsacheverfahren, sondernauch auf das Verfahren des vorläufigen Rechtsschut-zes entsprechend anwendbar ist; in Rechtsprechungund Fachschrifttum ist dies umstritten (vgl. zum Streit-

stand einerseits [auf Antragsverfahren nicht anwend-bar]: OVG Rh.-Pf, DÖV 1993, 351, 352; Redeker/vonOertzen, VwGO, 12. Aufl. 1997, Anh. § 41, § 17aGVG Anm. 5 m. w. N.; andererseits [auch auf Ver-fahren nach § 123 VwGO anwendbar]: OVG NRW,NVwZ 1994, 178; OVG Berlin, NVwZ 1992, 685;Hess. VGH, NJW 1996, 474). Denn die vom VG an-genommenen Voraussetzungen für eine Verweisungdes Verfahrens an die Zivilgerichtsbarkeit gemäß §173 VwGO i. V. m. § 17a Abs. 2 VwGO sind jeden-falls nicht erfüllt. Vorliegend handelt es sich um eineöffentlich-rechtliche Streitigkeit (nicht verfassungs-rechtlicher Art) im Sinne von § 40 Abs. 1 VwGO,nicht jedoch - wovon das VG im angefochtenen Be-schluss ausgegangen ist - um eine zivilrechtliche Strei-tigkeit.Ob eine Streitigkeit öffentlich-rechtlich oder pri-vatrechtlich ist, richtet sich, wenn - wie hier - eine aus-drückliche gesetzliche Rechtswegzuweisung fehlt,nach der Natur des Rechtsverhältnisses, aus dem derim Rechtsstreit geltend gemachte Anspruch hergeleitetwird (BVerwGE 75, 109, 112; 96, 71, 73).Öffentlich-rechtlich sind danach Streitigkeiten, wennsie sich als Folge eines Sachverhaltes darstellen, dernach öffentlichem Recht zu beurteilen ist. Der Cha-rakter des zu Grunde liegenden Rechtsverhältnissesbemisst sich nach dem erkennbaren Ziel des Rechts-schutzbegehrens und den vom Antragsteller vorgetra-genen Behauptungen tatsächlicher Art. Maßgeblichist allein die wirkliche Natur des behaupteten Rechts-verhältnisses, nicht dagegen die rechtliche Qualifizie-rung des geltend gemachten Anspruchs durch den An-tragsteller selbst. Unerheblich für die rechtliche Quali-fizierung des behaupteten Rechtsverhältnisses und desgeltend gemachten Anspruchs sind ferner die Einwen-dungen des Antragsgegners und deren rechtliche Be-gründung.Bei der Beurteilung der maßgeblichen Natur desRechtsverhältnisses sind im Zweifel auch Gesichts-punkte der Sachnähe zu öffentlich-rechtlich oder pri-vatrechtlich geregelten Rechtsverhältnissen und An-sprüchen zu berücksichtigen. Für die Annahme eineröffentlich-rechtlichen Streitigkeit im Sinne des § 40Abs. 1 VwGO und damit für die Zulässigkeit desVerwaltungsrechtsweges genügt es, dass für dasRechtsschutzbegehren eine Anspruchsgrundlage inBetracht kommt, die in dem beschrittenen Rechtswegzu verfolgen ist. Wesentliche Voraussetzung für dieZulässigkeit des Rechtsweges zu den Verwaltungs-gerichten ist damit, dass die für das Rechtsschutzbe-gehren in Betracht kommende Anspruchsgrundlagedem öffentlichen Recht zuzurechnen ist. Dies ist inder Regel dann der Fall, wenn für die begehrte

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Rechtsfolge Normen des öffentlichen Rechts maßgeb-lich sind. Rechtsschutzbegehren, die darauf gerichtetsind, einem Träger öffentlicher Verwaltung auf be-stehendes oder vermeintliches öffentliches Recht ge-stütztes Handeln zu gebieten oder zu verbieten, sind imZweifel als öffentlich-rechtlich zu qualifizieren, weilden Zivilgerichten die Möglichkeit zu entsprechendenEntscheidungen fehlt.Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt. Denn dasRechtsschutzbegehren der Antragsteller zielt darauf,der Antragsgegnerin aufzugeben, "es zu unterlassen,das Grundstück Nr. 19 an einen anderen Bewerber alsdie Antragsteller zu übertragen, bis über die Recht-mäßigkeit der Aufhebung des Beschlusses vom 15. 2.2000 rechtskräftig entschieden ist". Mit ihrem An-tragsbegehren versuchen die Antragsteller damit -einstweilen - zu verhindern, dass "vollendete Tatsa-chen" hinsichtlich des bezeichneten, im Eigentum derAntragsgegnerin stehenden Grundstücks geschaffenwerden. In der Sache machen sie geltend, die An-tragsgegnerin verletze mit der im Rahmen des § 2 i. V.m. § 90 Abs. 1 GO NW erfolgenden Veräußerung undÜbertragung des bezeichneten Vermögensgegenstan-des öffentlich-rechtliche Vorschriften, die zu ihrem,der Antragsteller, Schutz bestünden. Namentlich tra-gen sie vor, die Antragsgegnerin habe im Rahmen ei-nes Vergabeverfahrens für ihre gemeindeeigenenGrundstücke die von ihr, der Antragsgegnerin, selbstaufgestellten Auswahl- und Entscheidungskriterien("soziale Gesichtspunkte", "Förderung der heimischenWirtschaft", "Dringlichkeit des Bauvorhabens", "ausrei-chende Finanzierung") nicht eingehalten, indem dieAntragsgegnerin die zu Gunsten der Antragsteller am15. 2. 2000 getroffene, mit Schreiben vom 16.2.2000mitgeteilte Vergabeentscheidung durch Beschluss desAusschusses für Liegenschaften und Wirtschaftsför-derung vom 11. 4. 2000 wieder aufgehoben und be-schlossen habe, das bezeichnete Grundstück an einenanderen Bewerber zu übertragen. In der Entschei-dung des Ausschusses für Liegenschaften und Wirt-schaftsförderung der Antragsgegnerin sehen die An-tragsteller der Sache nach eine Verletzung von Vor-schriften des öffentlichen Rechts, namentlich ihresAnspruchs auf Gleichbehandlung nach Art. 3 GG.Damit geht der Streit zwischen den Beteiligten desvorliegenden Verfahrens im Kern darum, ob die am11. 4. 2000 vom Ausschuss für Liegenschaften undWirtschaftsförderung der Antragsgegnerin zu Lastender Antragsteller und zu Gunsten von Mitbewerbernum das Baugrundstück getroffene Entscheidung gegenden Anspruch der Antragsteller auf Gleichbehandlungaus Art. 3 GG in Verbindung mit den von der Antrags-gegnerin aufgestellten und praktizierten Vergabekrite-

rien verstößt und ob im Hinblick auf die in Kürze be-absichtigte Veräußerung und die Übertragung des inRede stehenden Baugrundstückes an Mitbewerber dieGefahr besteht, dass durch eine Veränderung des be-stehenden Zustandes die Verwirklichung eines Rechtsder Antragsteller vereitelt oder wesentlich erschwertwerden könnte. Die im vorliegenden Verfahren be-gehrte Rechtsfolge, nämlich der Erlass einer Siche-rungsanordnung nach § 123 Abs. 1 Satz 1 VwGO, be-zieht sich damit auf ein Recht der Antragsteller, dassich hinsichtlich seiner Rechtsnatur nach Normen desöffentlichen Rechts bemisst.Zwar ist ein Grundstücksgeschäft, das ein Träger öf-fentlicher Verwaltung im Rahmen fiskalischer Hilfs-geschäfte tätigt, etwa der Erwerb eines Grundstücksfür den Zweck der Errichtung eines Verwaltungsge-bäudes, ohne Zweifel privatrechtlich zu qualifizieren.Auch schließt nicht jede Verwirklichung öffentlicherZwecke - etwa im Rahmen der sog. Daseinsfürsorge- es aus, dass dies in privatrechtlichen Handlungsfor-men geschieht. Auch der Umstand, dass etwa wegender einschlägigen kommunalrechtlichen Organisations-vorschriften bei Rechtsgeschäften, die über die laufen-de Verwaltung hinausreichen, besondere kommunaleBeschlussgremien eingeschaltet sind, ändert amRechtscharakter entsprechender Grundstücksgeschäf-te als privatrechtlichen Geschäften nichts. In derRechtsprechung ist aber anerkannt, dass einer privat-rechtlichen "Abwicklungsstufe" einer Grundstücksver-äußerung und -übertragung die Stufe einer öffentlich-rechtlichen Entscheidung vorausgeht, wenn Trägeröffentlicher Verwaltung mit ihrer im Privatrecht ab-zuwickelnden Entscheidung hoheitliche Zwecke verfol-gen. Dieses ist insbesondere im Bereich der Vergabeöffentlicher Subventionen wie auch bei der Zulassungzu öffentlichen Einrichtungen anerkannt. Im Zweifelliegt bei solcher Art Aufgabenerfüllung ein Handelnauf dem Gebiet des öffentlichen Rechts vor (OVGRh.-Pf., DÖV 1993, 351, 352). Daran ändert nichts,dass Träger öffentlicher Verwaltung auch bei Hand-lungen im Rahmen des sog. Verwaltungsprivatrechtsohnehin nicht den besonderen Bindungen ausweichenkönnen, die sich für sie u.a. aus den Grundrechten undanderen öffentlich-rechtlichen Vorschriften ergeben(BGHZ 91, 84).Beim Handeln eines Trägers öffentlicher Verwaltung,bei dem eindeutig öffentlich-rechtliche Zwecke wiezum Beispiel die Subventionierung ortsansässiger Ge-werbetreibender, die Wohnungsbauförderung von Ge-meindebürgern, die Verbesserung der Gemeindeinfra-struktur oder sonst die Förderung bestimmter Perso-nengruppen im Vordergrund stehen, hat jedenfalls dieauf der Grundlage von § 2 i. V. m. § 90 Abs. 1 GO

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NW erfolgende (Auswahl-)Entscheidung über die Zu-teilung der zu veräußernden gemeindeeigenen Grund-stücke und damit die Auswahl unter den Bewerbernöffentlich-rechtlichen Charakter. Dies gilt auch dann,wenn die "Abwicklungsstufe", d. h. der Abschluss derGrundstückskaufverträge und die Übertragung desGrundeigentums, in der Folge dem Privatrecht unter-liegt.Dem steht auch nicht die Entscheidung des 8. Senatsdes BVerwG vom 26. 8. 1971 (BVerwGE 38, 281)entgegen. Denn in jener Entscheidung hatte dasBVerwG festgestellt, dass mit den seinerzeit maßgebli-chen Veräußerungsrichtlinien gerade "nicht der Zweckverfolgt wurde, einer bestimmten Personengruppe dasRecht auf Sondervergünstigungen einzuräumen, wiedies geschieht, wenn öffentlich-rechtliche Vorschrif tenaus Gründen des öffentlichen Interesses die Subventio-nierung von Personengruppen oder von deren Vorha-ben vorsehen" (vgl. BVerwGE 38, 281, 284). Hat dieEntscheidung über die Veräußerung von Vermögens-gegenständen durch einen Träger der öffentlichenVerwaltung dagegen - wie hier - Subventionscharak-ter, d. h. soll anders als im damals vom BVerwG ent-schiedenen Fall einer bestimmten Personengruppe imöffentlichen Interesse das Recht auf bestimmte Son-dervergünstigungen eingeräumt werden, spricht diesjedoch für den öffentlich-rechtlichen Charakter der zutreffenden Entscheidung. Dementsprechend hat auchdas BVerwG wiederholt entschieden, dass z. B. dieAbgabe verbilligter Butter an bestimmte Abnehmeraus Interventionsbeständen die Wahrnehmung eineröffentlich-rechtlichen Aufgabe darstellt und Subven-tionscharakter hat mit der Folge, dass die Maßnahmeals öffentlich-rechtlich einzuordnen ist (BVerwG, NJW1990, 1435, 1436; Ehlers, in: Schoch/Schmidt-Aß-mann/Pietzner, VwGO, 1999, § 40 Rdnr. 283).Auch im vorliegenden Fall betrifft die hier in Rede ste-hende Entscheidung der Antragsgegnerin über dieAuswahl zwischen den Bewerbern um gemeindeeige-ne Grundstücke die Wahrnehmung einer öffentlich-rechtlichen Aufgabe im Rahmen des örtlichen Wir-kungskreises nach § 2 i. V. m. § 90 Abs. 1 GO NW,wobei die in Rede stehende Maßnahme zugleichSubventionscharakter hat bzw. haben kann. Dennnach den von der Antragsgegnerin vorgelegten Unter-lagen werden bei Vorliegen der - in einem von der An-tragsgegnerin erstellten Merkblatt festgelegten - Vor-

aussetzungen Abschläge in Höhe von bis zu 30% aufden Kaufpreis gewährt. Bei einer Grundstücksgrößevon 500 qm und einem Quadratmeterpreis von 360DM ergibt sich daraus eine Kaufpreisermäßigung undmithin eine Subventionierung von über 50.000 DM.Am Subventionscharakter der für bestimmte Perso-nenkreise im Hinblick auf die Einkommensgrenze unddie Kinderzahl von der Antragsgegnerin in Aussichtgestellten Reduzierung des Kaufpreises für das zu ver-gehende Grundstück ändert sich auch nichts dadurch,dass diese als "Abschläge vom Kaufpreis", nicht je-doch ausdrücklich als Subvention oder Förderungslei-stung bezeichnet sind. Denn entscheidend ist, dass dieAntragsgegnerin gemeindeeigene Grundstücke an orts-ansässige Bewerber vergibt und dabei im öffentlichenInteresse u. a. aus sozialen Erwägungen die Grund-stücke zu einem günstigeren Kaufpreis abgibt, so dassim Ergebnis die Entscheidung über die Auswahl unterden Bewerbern zugleich eine Entscheidung über dieVergabe eines - gegenüber erzielbaren Kaufpreis -erheblich verbilligten Grundstückes darstellt.Der Umstand, dass die Antragsgegnerin, wie sie inihrem Schriftsatz vom 30.6.2000 ausdrücklich zumAusdruck gebracht hat, die Entscheidung über dieAuswahl zwischen den Bewerbern und damit auch dieam 15.2.2000 und am 11. 4.2000 von ihrem Ausschussfür Liegenschaften und Wirtschaftsförderung getrof-fenen Entscheidungen sowie die entsprechenden Mit-teilungen an die Antragsteller vom 16.2.2000 und vom12.4.2000 als "Teil der Anbahnung" eines zivilrecht-lichen Rechtsgeschäftes ansieht und demzufolge dievorliegende Streitigkeit als zivilrechtlich qualifiziert, dievor den Zivilgerichten auszutragen sei, ist demgegen-über nicht entscheidend. Es sind keine durchgreifen-den Anhaltspunkte ersichtlich, die es gebieten, vondem Grundsatz abzugehen, dass das Handeln einesTrägers öffentlicher Verwaltung zur Erfüllungöffentlich-rechtlicher Zwecke grundsätzlich auch alsöffentlich-rechtlich anzusehen ist und dass eineöffentlichrechtliche Aufgabe - wie hier die Wohnungs-bauförderung zu Gunsten von Gemeindebür-gern unterBevorzugung eines bestimmten Personenkreises u. a.aus sozialen Erwägungen - im Allgemeinen auch mitMitteln des öffentlichen Rechts wahrgenommen wird(BVerwGE 74, 368, 372).

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Zivilrecht

Standort: Zivilprozessrecht Problem: Zugang von Schreiben

LG POTSDAM , URTEIL VOM 27.07.2000

11 S 233/99 (NJW 2000, 3722)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Rechtsstreit stritten die Parteien umden rechtzeitigen Zugang einer Kündigungserklärung.Der kündigende Kl. war für den umstrittenen Zugangder Kündigung beweispflichtig (§ 130 BGB), abernicht in der Lage nachzuweisen, dass tatsächlich zumfraglichen Zeitpunkt der Zugang beim Bekl. erfolgtwar. Er konnte lediglich durch Zeugenvernehmungeiner Postangestellten nachweisen, dass das Kündi-gungsschreiben in der für den Zustellungsbezirk desBekl. zuständigen Postfiliale angenommen und bear-beitet worden ist. Diesen Beweis ließ das LandgerichtPotsdam aber letztlich nicht ausreichen. Insbesondereverneinte es eine tatsächliche Vermutung zugunstendes Kl. derart, dass nach der Lebenserfahrung von derAnnahme und Bearbeitung in der zuständigen Postfilia-le ohne weiteres auf einen erfolgreichen Zugang derPostsendung geschlossen werden kann. Der Zugangvon ordnungsgemäß aufgegebenen Postsendungenstellt keinen typischen Geschehensablauf dar, da jähr-lich eine gewisse, wenn auch prozentual geringe An-zahl von Postsendungen verloren geht. (vgl. BGHZ 24,308 [312]).

Prüfungsrelevanz:

Ob eine Partei einen Prozess gewinnt oder verliert,hängt oftmals davon ab, ob es ihr gelingt, die von ihrvorgetragenen Tatsachen auch ggf. zu beweisen. AlsFolge des Beibringungsgrundsatzes in der ZPO sindnämlich die Parteien für die Erhebung der Beweismit-tel verantwortlich, so dass ein Prozess schon deshalbverloren werden kann, weil man nicht den notwendi-gen Beweisstoff anbieten kann.In vielen Fällen hilft das Gesetz mit sog. Vermutungenweiter (z.B. §§ 891, 1006, 1362 BGB, 344 HGB, 739ZPO). Bei Vorliegen eines bestimmten Tatbestandeswird das Vorliegen einer bestimmten Rechtsfolge ver-mutet, so dass diese nicht mehr beweisbedürftig ist(z.B. § 1006 BGB: aus dem Besitz heraus wird dasEigentum vermutet). Neben diesen gesetzlichen Ver-mutungen lässt die Rechtsprechung aber auch sog.tatsächliche Vermutungen (Beweis des ersten An-

scheins) zu. Ein Anscheinsbeweis liegt vor, wenn einSachverhalt nach der Lebenserfahrung auf einen be-stimmten typischen Verlauf hinweist. Dann kann u.a.von einem feststehenden Erfolg auf eine bestimmteUrsache geschlossen und die Behauptung für bewie-sen angesehen werden (z.B. ein Auffahrunfall lässtnach der allgemeinen Lebenserfahrung den Rück-schluss zu, dass der Hintermann den notwendigen Si-cherheitsabstand nicht eingehalten hat und daherschuldhaft gehandelt hat.)

Leitsatz (der Redaktion):Bei Absendung eines Einwurfeinschreibensspricht selbst dann keinen Beweis des erstenAnscheins für dessen Zugang, wenn der Eingangbeim Empfangspostamt bewiesen ist.

Sachverhalt: Durch eine als Einwurfeinschreiben übersandte undangeblich am 19. 9. 1998 in den Hausbriefkasten derBekl. eingeworfene Erklärung hatte der Kl. das zwi-schen den Parteien bestehende Mietverhältnis gekün-digt und seine Kaution in Höhe von 2100 DM zurück-gefordert. Die Bekl. hat den Zugang der Kündigung imSeptember 1998 bestritten und die Kaution mit weite-ren Mietforderungen bis zum Ende des Mietverhältnis-ses auf Grund eines späteren Zugangs der Kündigungverrechnet.Das AG hat der Klage mit der Begründung stattgege-ben, dass der Beweis des ersten Anscheins für denZugang der Kündigung im September 1998 spreche.Die hiergegen gerichtete Berufung der Bekl. hatte Er-folg.

Gründe: Dem Kl. ist der ihm obliegende Nachweis, dass die aufden 17. 9. 1998 datierende Kündigungserklärung nichterst durch die unstreitig erfolgte Übergabe am 11. 12.1998, sondern bereits durch Einwurf in den Hausbrief-kasten der Bekl. am 19. 9. 1998 zugegangen ist, nichtgelungen.Die insoweit erstinstanzlich vernommene Zeugin, dieBriefzustellerin K, konnte konkret nicht bestätigen, dasstreitgegenständliche Kündigungsschreiben in denHausbriefkasten der Bekl. eingeworfen zu haben. De-ren Bestätigung, dass der Einwurf tatsächlich erfolgt

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sei, beruhte erkennbar auf einer Annahme, die wieder-um darauf gestützt war, dass sie - die Zeugin - denvom Kl. in Fotokopie zur Akte gereichten “Ausliefe-rungsbeleg" als solchen erkannte, den sie am 19. 9.1998 in der Postfiliale ausgefüllt und mit ihrer Unter-schrift versehen hatte. Auf Grund der weiteren Be-kundungen der Zeugin, wonach bei so genannten "Ein-wurfeinschreiben" der darauf befindliche Beleg noch inder Postfiliale abgenommen, ausgefüllt und die Postdann wie normale Post in die Fächer für die auszutra-gende Post gelegt werde, steht nicht fest, dass derBrief dann tatsächlic h am 19. 9. 1998 auch in denHerrschaftsbereich der Bekl. gelangt ist.Für den Kl. streitet in diesem Zusammenhang auchkeine tatsächliche Vermutung, weil nach der Lebens-erfahrung von dem auf Grund der erstinstanzlich durch-geführten Beweisaufnahme feststehenden Umstand,dass ein Schreiben des Kl. am 19. 9. 1998 jedenfalls inder für den Zustellungsbezirk der Bekl. zuständigenPostfiliale angenommen und dort bearbeitet worden ist,nicht ohne weiteres auf einen erfolgten Zugang derPostsendung beim Adressaten geschlossen werdenkann.Der Zugang von ordnungsgemäß aufgegebenenPostsendungen stellt - und insoweit folgt die Kammerden Ausführungen des BGH in BGHZ 24, 308 [312] =NJW 1957,1230 = LM § 130 BGB Nr. 3 - keinen typi-schen Geschehensablauf dar, nachdem jedes Jahr einegewisse, wenn auch prozentual gesehen geringfügige,Anzahl von Postsendungen verloren geht.Etwas anderes gilt auch dann nicht, wenn - wie hier -

anhand eines Auslieferungsbelegs festgestellt werdenkann, dass die zuzustellende Postsendung jedenfalls diefür die Zustellung an den Adressaten verantwortlichePoststelle erreicht hat. Eine Fehlleitung der Postsen-dung auch noch beim Vorgang des Einsortierens in dieZustellfächer - wie ihn die Zeugin im Rahmen ihrererstinstanzlichen Vernehmung beschrieben hat - oderbei der Entnahme bzw. beim Zutrag selbst kann nichtmit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden.Insoweit fehlen bereits gesicherte Erkenntnisse darü-ber, wie häufig es noch in der Postfiliale selbst beimVorgang des Einsortierens oder beim Vorgang derEntnahme von Post aus den Fächern zu Fehlernkommt. Zum anderen ist auch ein Verlust von Post-sendungen noch während des Zustellvorgangs selbstnach der Lebenserfahrung nicht ausgeschlossen. Auchhier kommt es, wie dies die Zeugin selbst eingeräumthat, durchaus dazu, dass Post etwa infolge desZusammenklebens von Briefen in den falschen Brief-kasten eingesteckt wird.Nach alledem sieht die Kammer einen Anschein fürden Zugang des Kündigungsschreibens bei der Bekl.,mit der Folge, dass diese den Anschein durch substan-ziierten Gegenvortrag entkräften müsste, als nicht ge-geben an. Es wird dabei nicht verkannt, dass dem Kl.auf diese Weise der Beweis des Zugang seines Kündi-gungsschreibens im September 1998 nahezu unmöglichwird. Dies ist jedoch im Hinblick darauf, dass dieserseine Beweisnot durch die Wahl eines sicheren Zu-gangsweges - wie etwa des Einschreibens mit Rück-schein - hätte vermeiden können, hinzunehmen.

Standort: Verbraucherrecht Problem: Einwendungsdurchgriff

BGH, URTEIL VOM 27.06.2000XI ZR 174/99 (NJW 2000, 3558)

Problemdarstellung:

In diesem Rechtsstreit hatte der BGH zwei Fragen zuklären. Zum einen wurde nach der Aufklärungspflichteiner finanzierenden Bank bezüglich der Risiken beider geplanten Darlehensverwendung gefragt. Nach st.Rspr. des BGH ist eine finanzierende Bank grundsätz-lich nicht verpflichtet, einen Darlehensnehmer über dieGefahren und Risiken der Verwendung eines Darle-hens aufzuklären bzw. davor zu warnen. Ausnahms-weise kann dann eine Aufklärungspflicht bestehen,wenn die Bank konkrete Kenntnis auf spezielle Risikender Darlehensverwendung hat, die ihrem Kunden nichtso ohne weiteres zugänglich ist, und sie diesen Wis-sensvorteil auch erkennen kann (BGH NJW-RR 1988,1071). In diesem Fall bestand eine solche Aufklärungs-

pflicht nicht.Zum anderen musste geklärt werden, wann ein Ein-wendungsdurchgriff gegen den Kreditvertrag gem. § 9III, IV VerbrKrG geltend gemacht werden kann, wenndie fragliche Einwendung gegen das finanzierte Ge-schäft in Form eines Gestaltungsrechts - hier: Kündi-gung eines Beitrittsvertrages - besteht. Dazu führt derBGH aus, dass erst mit Ausübung des Gestaltungs-rechts gegenüber dem finanzierten Geschäft dasselbeauch Auswirkungen gem. § 9 III, IV VerbrKrG fürden finanzierenden Kreditvertrag haben kann. DasRecht zur einredeweisen Geltendmachung von Ein-w endungen aus einem finanzierten Vertrag ist akzes-sorisch, also abhängig vom Rechtsverhältnis zwischendem Verbraucher und dem Dritten. Bedarf es danachzur Begründung der Einwendung einer Willenserklä-rung des Verbrauchers, besteht die Möglichkeit einesEinwendungsdurchgriffs erst, wenn diese Erklärung

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gegenüber dem Dritten abgegeben worden ist. Damitbestätigt der BGH die diesbezüglich vorherrschendeLiteraturmeinung (vgl. Habersack in: MünchKom., § 9VerbrKrG, Rdnr. 89; Staudinger/Kessal-Wulf, § 9VerbrKrG, Rdnr. 80, m.w.N.).

Prüfungsrelevanz:

Das Verbraucherschutzrecht erwirbt immer weiterePrüfungsrelevanz, da auch der Gesetzgeber auf die-sem Gebiet verstärkt tätig wird (zuletzt: FernAbsG).Dabei bereitet dem Examenskandidaten vor allem derEinwendungsdurchgriff gem. §§ 6 TzWrG, 4 FernAG,9 III VerbrKrG bei verbundenen Geschäften (sog.wirtschaftliche Einheit von finanzierendem und finan-ziertem Geschäft) Verständnis- und Anwendungspro-bleme. Aufgrund der Relativität der Schuldverhältnissekönnen Einwendungen und Einreden grundsätzlich nurin jenem Schuldverhältnis geltend gemacht werden, wosie auch entstanden sind. Der Einwendungsdurchgrifferlaubt es nunmehr dem Verbraucher, Einwendungenund Einreden aus dem einen Schuldverhältnis gleich-falls zu übertragen auf ein anderes Schuldverhältnis.Mit derselben Einwendung / Einrede kann sich derVerbraucher also gegenüber Verpflichtungen aus zweiverschiedenen Schuldverhältnissen wehren.

Die Voraussetzungen für das Vorliegen einer Einwen-dung / Einrede richten sich aber - was vom BGH indieser Entscheidung ausdrücklich bestätigt wurde -ausschließlich nach dem Schuldverhältnis, wo die Ein-wendung / Einrede ursprünglich entstanden ist.

Leitsätze:1. Zur Aufklärungspflicht der finanzierendenBank bei Immobilienfondsanteilen.2. Solange ein Schadensersatzanspruch aus Ver-schulden bei Vertragsschluss mangels Kündi-gung des Beitritts zu einer Immobilienfonds GbRgegenüber der Fondsgesellschaft nicht durchge-setzt werden kann, kann er nach den Regelnü b e r v e r b u n d e n e G e s c h ä f t e ( § 9 I I I , I VVerbrKrG) auch für den Darlehensvertrag, derzur Finanzierung der Fondsanteile geschlossenwurde, keine Wirkungen entfalten.

Sachverhalt: Die kl. Bank verlangt die Rückzahlung des restlichenDarlehens, das sie den bekl. Eheleuten zur Finanzie-rung ihrer Beteiligung an einer Immobilienfonds GbRgewährt hat. Die Bekl. begehren mit der Widerklagedie Rückzahlung geleisteter Zinsen, hilfsweise Zug umZug gegen Abtretung der Fondsanteile.

Auf Grund eines Werbegesprächs mit den VermittlernPe und P unterzeichneten die Bekl. am 19. 12. 1991eine Erklärung, durch die sie sich mit einer Einlage von70 000 DM, die fremdfinanziert werden sollte, zumBeitritt zur Grundstücks-GbR S-Str. 3 und 5, D., FondsNr. 11, verpflic hteten und ein auf den Abschluss einesTreuhandvertrags gerichtetes Angebot abgaben. ImHinblick auf den noch abzuschließenden Darlehens-vertrag unterschrieben die Bekl. eine Widerrufsbeleh-rung nach dem Verbraucherkreditgesetz. Der Vermitt-ler P wies die Bekl. im Januar 1992 darauf hin, dassdie Kl. sich zur Finanzierung des Fonds bereit erklärthabe. Am 24. 1. 1992 unterschrieben die Bekl. denbereits vollständig ausgefüllten, ihnen vom Vermittlervorgelegten formularmäßigen Darlehensvertrag über82 585 DM, der als Verwendungszweck für die Darle-henssumme den Erwerb von Anteilen an dem Fondsbezeichnete. Die Kl. unterzeichnete den Vertrag am25. 2. 1992.Mit Schreiben ihres Anwalts vom 28. 10. 1996 fochtendie Bekl. den Darlehensvertrag wegen Irrtums undarglistiger Täuschung an. Ferner machten sie gegen-über der Kl. Schadensersatzansprüche wegen derVerletzung von Aufklärungspflichten geltend, die siedem Darlehensrückzahlungsanspruch der Kl. entge-genhalten. Die Bekl. haben vorgetragen: Ihnen sei vor-gespiegelt worden, dass es sich bei der Fondsbeteili-gung um eine ausgezeichnete Kapitalanlage handele.Der Vermittler Pe habe unter Verwendung einer Wer-bebroschüre zum Fondsbeitritt damit geworben, dassdas von den Gesellschaftern aufzubringende Kapital inHöhe von 14,07 Mio. DM für den Grundstückserwerbund die Errichtung der Gebäude verwendet werdenwürde. Tatsächlich seien - wie sich aus dem Emis-sionsprospekt ergebe - hierfür nur 10 556 196 DM vor-gesehen gewesen. Dieser Prospekt, dessen Inhalt dieKl. gekannt habe, sei ihnen vorenthalten worden.Letztlich sei sogar nur ein Betrag von 6 133 196 DMfür Grundstück und Gebäude aufgewandt worden, wäh-rend 4 423 000 DM an den Fondsinitiator geflossenseien. Dies begründe gegen den Fonds einen Scha-densersatzanspruch wegen Verschuldens bei Ver-tragsschluss, den sie dem Darlehensrückzahlungsan-spruch entgegenhalten könnten, weil Fondsbeitritts-und Darlehensvertrag ein verbundenes Geschäft ge-wesen seien.Das LG hat die Bekl. als Gesamtschuldner zur Zah-lung von 68 150,42 DM nebst 5% Zinsen über demjeweiligen Diskontsatz der Deutschen Bundesbankverurteilt und die Widerklage abgewiesen. Das Ber-Ger. (WM 1999, 1818) hat die Klage abgewiesen unddie Kl. auf den Hilfsantrag der Widerklage hin zurZahlung von 8950,73 DM nebst 4% Zinsen Zug und

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Zug gegen Abtretung der Fondsanteile verurteilt. Mitder Revision begehrte die Kl. die Widerherstellung dererstinstanzlichen Entscheidung. Die Revision hatte Er-folg. Sie führte zur antragsgemäßen Verurteilung derBekl. und zur Abweisung der Widerklage.

Gründe: Das BerGer. hat zur Begründung seiner Entscheidungim Wesentlichen ausgeführt: Den Bekl. stehe gegen-über dem unstreitigen Darlehensrückzahlungsanspruchein Schadensersatzanspruch aus Verschulden bei Ver-tragsschluss wegen Verletzung einer Aufklärungs-pflicht zu, der dazu führe, dass die Bekl. die Erfüllungdes Darlehensvertrags verweigern könnten. Die Kl.selbst und deren Vermittler Pe und P, deren Verhaltensie sich zurechnen lassen müsse, hätten darauf hin-weisen müssen, dass die in den Immobilienfondsfließenden Gelder der Gesellschafter nur zu ca. 75%für den Erwerb der Grundstücke und die Errichtungder Gebäude verwendet werden sollten und dass damitdie zu erwerbenden Anteile an dem Immobilienfondsnicht so werthaltig waren, wie der Werbeprospekt vor-gespiegelt habe.Die Kl. habe den Emissionsprospekt gekannt. Dage-gen sei nicht bewiesen, dass dieser Prospekt bei derBeratung durch die Vermittler vorgelegen habe undden Bekl. übergeben worden sei. Wegen der unmittel-baren Haftung der Kl. könne dahinstehen, ob die Bekl.sich auf den Einwendungsdurchgriff nach § 9 IIIVerbrKrG berufen könnten.Die Widerklage sei teilweise begründet. Die Bekl.könnten von der Kl. Schadensersatz wegen Auf-klärungsverschuldens in Höhe der auf den Darlehens-vertrag entrichteten Zinsen von 8950,73 DM nebst 4%Zinsen seit Rechtshängigkeit Zug um Zug gegen Ab-tretung der Fondsanteile verlangen.Diese Beurteilung hält der rechtlichen Nachprüfungnicht stand.Entgegen der Auffassung des BerGer. können dieBekl. dem unstreitigen Darlehensrückzahlungs-anspruch der Kl. keinen Anspruch wegen Verletzungvon Aufklärungspflichten entgegenhalten.Zutreffend ist allerdings der rechtliche Ausgangspunktdes BerGer.: Eine finanzierende Bank ist nach ständi-ger Rechtsprechung des BGH grundsätzlich nicht ver-pflichtet, einen Darlehensnehmer über die Gefahrenund Risiken der Verwendung eines Darlehens aufzuklä-ren und vor dem Vertragsschluss zu warnen (BGH,NJW 1996, 663 = LM H. 4/1996 § 117 BGB Nr. 15 =WM 1996,196 [197]; NJW 1997, 1361 = LM H.6/1997 § 276 [Hb] BGB Nr. 75 = WM 1997, 662;NJW 1999, 2032 = NZM 1999, 1062 L = LM H. 7/1999 § 768 BGB Nr. 18 = WM 1999, 678 [679]).

Ausnahmsweise kann allerdings unter anderem danneine Aufklärungspflicht zu bejahen sein, wenn dieBank in Bezug auf spezielle Risiken des Vorhabenseine konkrete Kenntnis hat, die ihrem Kunden nichtohne weiteres zugänglich ist, und sie diesen Wissens-vorsprung auch erkennen kann (vgl. BGH, NJWRR1988, 1071 = WM 1988, 895 [898]; NJW-RR 1990,876 = LM § 276 [Cc], BGB . Nr. 26 = WM 19905 920[922]; NJW-RR 1992, 879 = LM H. 9/1992 § 276 [Cc]BGB Nr. 30 = WM 1992, 901 [902]; NJW 1992, 1820= LM H. 11/1992 § 276 [Cc] BGB Nr. 3l = WM 1992,977; WM 1997, 662; WM 1999, 678 [679]; NJW 2000,2352 = NZM 2000, 777 = LM H. 10/2000 § 3VerbrKrG Nr. 6 = WM 2000, l245 [1246]).Die tatsächlichen Voraussetzungen, die nach diesenGrundsätzen eine Aufklärungspflicht der Kl. begrün-den könnten, hat das BerGer. jedoch nicht festgestellt;sie sind auch sonst nicht ersichtlich. Von einem er-kennbaren Wissensvorsprung und einer daraus folgen-den Aufklärungspflicht kann schon deshalb keine Redesein, weil die Kl. bei der Kreditgewährung Anfang1992 davon ausgehen durfte, dass die Bekl. über denvom BerGer. als aufklärungsbedürftig erachteten, ausdem Emissionsprospekt ersichtlichen Umstand, dassnur etwa 75% der in den Immobilienfonds fließendenGelder für Grundstückserwerb und Errichtung der Ge-bäude verwendet werden sollten, informiert waren.Anhaltspunkte dafür, dass die Bekl. den Emissions-prospekt nicht erhalten oder entgegen der Erklärung imGesellschaftsbeitritt nicht zur Kenntnis genommen hat-ten, hatte die Kl. nicht. Es ist auch nicht festgestelltoder ersichtlich, dass der Kl. bekannt war, dass nurinsgesamt 6 133 196 DM in Grundstück und Gebäudeinvestiert werden sollten und ein Betrag von über 4Mio. DM für den Fondsinitiator bestimmt war. Ausdem Emissionsprospekt ergibt sich dies nicht.Von Rechtsirrtum beeinflusst ist auch die Ansicht desBerGer., die Kl. müsse sich zurechnen lassen, dass dieVermittler Pe und P die Bekl. nicht auf die aus demEmissionsprospekt ersichtlichen Nachteile der Fonds-beteiligung hingewiesen hätten. Zwar wurden Pe undP auch als Verhandlungsgehilfen der Kl. tätig, als sieden Bekl. eine Finanzierung durch die Kl. anboten.Zurechnen lassen muss sich die Bekl. deren Verhaltenaber nur, soweit es den Bereich der Anbahnung desKreditvertrags betrifft. Nur insoweit sind sie als Erfül-lungsgehilfen im Pflichtenkreis der in den Vertrieb derImmobilienanteile selbst nicht eingeschalteten Kl. tätiggeworden (§ 278 BGB; vgl. Senat, WM 1992, 602;OLG Hamm, WM 1998,1230 [1232]; OLG Braun-schweig, WM 1998, 1223 [1229]). Die Nachteile desAnteilserwerbs, auf die die Vermittler nach Ansichtdes BerGer. hätten hinweisen müssen, betrafen indes

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nicht das Kreditgeschäft, sondern den Beitritt zur Im-mobilienfonds GbR.Eine weitergehende Zurechnung ergibt sich entgegender Ansicht der Bekl. weder aus dem Senatsurteil vom24. 9. 1996 (NJW 1997, 651 L = NJW-RR 1997, 116 =LM H. 1/1997 § 278 BGB Nr. 130 = WM 1996, 2105[2106]) noch aus dem Urteil des III. Zivilsenats vom 9.7. 1998 (NJW 1998, 2898 = LM H. 2/1999 § 276 [Fa]BGB Nr. 153 = WM 1998, 1673). In dem der Senats-entscheidung zu Grunde liegenden Fall hatte ein Fi-nanzmakler den Kl. nach deren Behauptung vorgespie-gelt, die Finanzierung des Kaufpreises eines Hausesnur vermitteln zu können, wenn sie zunächst eine ver-mietete Eigentumswohnung als zusätzliche Besiche-rungsgrundlage erwürben. Die arglistige Täuschungbetraf also das Kreditgeschäft. In dem Fall, den derIII. Zivilsenat entschieden hat, hatte der Untervermitt-ler einer fremdfinanzierten Kapitallebensversicherungüber die damit verbundenen Verlustrisiken nicht aufge-klärt. Die Pflichtverletzung betraf also das Anlagege-schäft.Verkannt hat das BerGer. schließlich auch die Be-weislast, wenn es ausführt, die Kl. habe nicht bewie-sen, dass der Emissionsprospekt der Beratung durchdie Kreditvermittler vorgelegen habe und übergebenworden sei. Wer - wie die Bekl. - eine Pflichtverlet-zung der Bank behauptet, muss darlegen und bewei-sen, dass die Bank Aufklärungspflichten trafen unddass sie diese verletzt hat (vgl. BGH, NJW-RR 1990,1422 = LM § 536 BGB Nr. 37 = WM 1990, 1977[1978]; Baumgärtel/Laumen, Hdbd. Beweislast, 2.Aufl., § 282 Rdnrn. 25, 62).Die Entscheidung, der Klage stattzugeben, erweist sichauch nicht aus anderen Gründen als richtig (§ 563ZPO). Insbesondere steht den Bekl. derzeit nach denhier in Betracht zu ziehenden Regeln des so genanntenEinwendungsdurchgriffs (§ 9 III VerbrKrG) auchdann keine Einrede zu, wenn sie durch Täuschung zumFondsbeitritt veranlasse wurden.Es bedarf keiner Entscheidung, ob § 9 I bis IIIVerbrKrG entsprechend auch für Kredite gelten, diezur Finanzierung der Beteiligung an einer Immobilien-fonds GbR gewährt wurden (§ 9 IV VerbrKrG) undob eine in dem Beitrittsvertrag wurzelnde Einrede un-ter den Voraussetzungen von § 9 III und IVVerbrKrG auch Wirkungen hinsichtlich des Darlehens-vertrags entfalten könnte (Habersack, in: Münch-Komm, 3. Aufl., § 9 VerbrKrG, Rdnr. 18 a. E.;Bruchner/Ott/Wagner-Wieduwilt, VerbrKrG, 2. Aufl.,§ 9 Rdnr. 188). Die Bekl. können jedenfalls derzeit auseinem gegen die Fonds GbR gerichteten Schadens-ersatzanspruch keine Rechte herleiten. Dem stehendie Grundsätze über die fehlerhafte Gesellschaft ent-

gegen mit der Folge, dass der Anspruch auch für denDarlehensvertrag wirkungslos bleibt.Nach ständiger Rechtsprechung des BGH gelten diezur fehlerhaften Gesellschaft entwickelten Grundsätzeauch für den fehlerhaften Beitritt zu einer GbR. Da-nach ist eine fehlerhaft gegründete Gesellschaft oderein fehlerhaft. vollzogener Beitritt zu einer Gesellschaftregelmäßig nicht von Anfang an unwirksam, sondernwegen des Nichtigkeits- oder Anfechtungsgrunds nurmit Wirkung für die Zukunft vernichtbar (BGHZ 55, 5[8f.] = NJW 1971, 375 = LM § 126 BGB Nr. 4 L;BGH, NJW 1992, 1501 = LM H. 6/1992 § 705 BGBNr. 58 = WM 1992, 490 [491] m. w. Nachw.). Bis zurGeltendmachung des Fehlers sind die in Vollzug ge-setzte Gesellschaft und der vollzogene Beitritt grund-sätzlich voll wirksam. Ein Beitritt ist dann vollzogen,wenn Rechtstatsachen geschaffen worden sind, andenen die Rechtsordnung nicht vorbeigehen kann. Diesist der Fall, wenn der Beitretende Beiträge geleistetoder gesellschaftsvertragliche Rechte ausgeübt hat(BGH, NJW 1992, 1501 = WM 1992, 490 [492]). DieGrundsätze über die fehlerhafte Gesellschaft hinderneinen Mitgesellschafter bis zu einer auf sofortige Ab-wicklung gerichteten außerordentlichen Kündigung ander Durchsetzung eines auf Rückgewähr der Einlagegerichteten Schadensersatzanspruchs aus vorvertragli-chem Verschulden (BGH, NJW 1993, 2107 = LM H.11/1993 § 276 [Fa] BGB Nr. 132 = WM 1993, 1277[1279]).Danach kann ein den Bekl. wegen Verschuldens beiVertragsschluss zustehender Anspruch derzeit keineRechtswirkungen entfalten. Der Beitritt der Bekl. zumImmobilienfonds ist vollzogen. Die Bekl. haben die ausdem Gesellschaftsvertrag folgenden Rechte wahrge-nommen. Insbesondere wurden bis August 1995 an sieErträge des Fonds ausgeschüttet.Die Bekl. haben den vollzogenen Beitrittsvertrag bis-lang nicht gekündigt. Das ist weder ausdrücklich ge-schehen, noch durch eine entsprechend auszulegendesonstige Erklärung, die gegenüber der Fondsgesell-schaft abzugeben gewesen wäre (Habersack, in:MünchKomm, § 9 VerbrKrG, Rdnr. 89; Soer-gel/Häuser, BGB, 12. Aufl. [1997], § 9 VerbrKrG,Rdnr. 92; Staudinger/Kessal-Wulf, BGB, 13. Bearb., §9 VerbrKrG, Rdnr. 80; a.A. Bruchner/Ott/Wagner-Wieduwilt, VerbrKrG, 2. Aufl., § 9 Rdnrn. 114f.). DieBekl. haben eine Anfechtung wegen arglistiger Täu-schung nur hinsichtlich des Darlehensvertrags und nurgegenüber der Kl. erklärt. Eine wirksame Kündigungdes Gesellschaftsbeitritts kann darin schon deshalbnicht gesehen werden, weil nicht dargetan ist, dass dieKl. Empfangsvertreterin oder -botin der Fondsgesell-schaft war.

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Der hier in Betracht kommende Anspruch wegenVerschuldens bei Vertragsschluss rechtfertigt auchkeine ausnahmsweise Einschränkung der Anwendungder Grundsätze über die fehlerhafte Gesellschaft (vgl.dazu BGHZ 3, 285 [288] = NJW 1952, 97 = LM §133 HGB Nr. 1; BGHZ 26, 330 [335] = NJW 1958,668 = LM § 105 HGB Nr. 13; BGHZ 55, 5 [9] = NJW1971, 375). Schützenswerte Rechte der Allgemeinheitoder außenstehender Dritter werden dadurch nichtvereitelt.Da der Schadensersatzanspruch mangels Kündigungdes Gesellschaftsbeitritts gegenüber der F,ondsgesell-schaft bislang nicht durchgesetzt werden kann, kann ernach den Regeln über verbundene Geschäfte (§ 9III,IV VerbrKrG) auch für den Darlehensvertrag keineWirkungen entfalten. Das Recht zur einredeweisenGeltendmachung von Einwendungen aus einem finan-zierten Vertrag ist akzessorischer Natur. Deswegen isthinsichtlich der Entstehung der Einwendung allein dasVerhältnis zwischen dem Verbraucher und demVertragspartner des finanzierten Geschäfts maß-gebend (Habersack, in: MünchKomm, § 9 VerbrKrG,Rdnr. 89). Bedarf es danach zur Begründung der Ein-wendung einer rechtsgeschäftlichen Erklärung desVerbrauchers, besteht die Möglichkeit eines Einwen-dungsdurchgriffs erst, wenn die Einwendung durchAbgabe dieser Erklärung gegenüber dem Vertrags-

partner des finanzierten Geschäfts entstanden ist (Ha-bersack, in: MünchKomm, § 9 VerbrKrG, Rdnr. 89;S o e r g e l / H ä u s e r , § 9 V e r b r K r G , R d n r . 9 2 ;Staudinger/Kessal-Wulf, § 9 VerbrKrG, Rdnr. 80).Die Einwendung kann in einem Drittrechtsverhältniskeine stärkeren Wirkungen entfalten als in dem Rechts-verhältnis, dem sie entspringt. Der das Aufspaltungsri-siko tragende Kunde wird dadurch auch nicht unan-gemessen benachteiligt, weil er durch Abgabe der Ge-staltungserklärung gegenüber dem Vertragspartner desfinanzierten Geschäfts die Rechtsfolgen jederzeit ohneweiteres herbeiführen kann.Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und,da die Sache zur Endentscheidung reif ist (§ 565 IIINr. 1 ZPO), das Urteil des LG wiederherzustellen. Beider Bestimmung der auf § 11 I VerbrKrG gestütztenZinsen war zu berücksichtigen, dass mit der Einfüh-rung des "Euro" für die Berechnung von Zinsen undanderen Leis tungen auf Grund von § 1 I 1Diskontsatz-Überleitungs-Gesetz (= Art. 1 des Geset-zes zur Einführung des Euro v. 9. 6. 1998, BGBl 1,1242) für den Zeitraum vom 1. 1. 1999 bis zum Ablaufdes 31. 12. 2001 an die Stelle des Diskontsatzes derdeutschen Bundesbank der jeweilige Basiszinssatz ge-treten ist.

Standort: Verbraucherrecht Problem: Begriff der Privatwohnung im HWiG

BGH, URTEIL VOM 30.03.2000VII ZR 167/99 (NJW 2000, 3498)

Problemdarstellung:

Im vorliegenden Rechtsstreit ging es um die Anwend-barkeit des HWiG auf einen Vertragsabschluss, der inder Privatwohnung des Unternehmers zustande ge-kommen war. Nach § 1 I Nr. 1 HWiG hat der Ver-braucher ein Recht zum Widerruf seiner Willenserklä-rung, zu der er durch mündliche Verhandlung im Be-reich einer Privatwohnung bestimmt worden ist. Um-stritten ist in der Literatur die Frage, ob unter den Be-griff der Privatwohnung auch die Wohnung des Unter-nehmers zu zählen ist. Während dies teils bejaht wird(Palandt/Putzo, 59. Aufl., § 1 HWiG, Rd. 9) oder teilsgänzlich abgelehnt wird (Loewe, BB 1986, 812 [824]),werden auch vermittelnde Auffassungen vertreten. Sosoll die Privatwohnung des Unternehmers nur dannunter § 1 I HWiG fallen, wenn dort Verträge außer-halb der üblichen Geschäftszeiten geschlossen werden(Soergel/Wolf, 12. Aufl., § 1 HWiG, Rd. 17) oder

wenn dort ständig Geschäftsabschlüsse vorgenommenwerden.Nach der Rechtsansicht des BGH unterfällt die Privat-wohnung des Unternehmers dann nicht dem sachli-chen Anwendungsbereich des HWiG, wenn sie vomVerbraucher aufgesucht wird, um dort Vertragsver-handlungen durchzuführen. Der BGH begründet dieseAuslegung mit dem Gesetzeszweck des HWiG, wo-nach der Verbraucher vor bestimmten fallspezifischenÜberrumpelungssituationen beim Vertragsabschlussgeschützt werden soll, wo er in seiner rechtsgeschäftli-chen Entscheidungsfreiheit überfordert ist. Eine solcheSituation besteht jedoch nicht, wenn der Verbraucherden Unternehmer zu Vertragsverhandlungen in dessenPrivatwohnung aufsucht. Ein Überrumpelungseffektzulasten des Verbrauchers besteht in einem solchenFall.

Prüfungsrelevanz:

Bei der Prüfung der examensrelevanten Sondergeset-ze des Verbraucherschutzrechts (z.B. VerbrKrG,

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HWiG, FernAG, TzWrG) ist zu Beginn stets die An-wendbarkeit in zeitlicher, persönlicher und sachlicherHinsicht festzustellen. Der sachliche Anwendungs-bereich eines Verbrauchergesetzes richtet sich primärnach der Zielrichtung des einzelnen Schutzgesetzes.Manche Verbrauchergesetze wollen den Verbrauchervor bestimmten, ihn benachteiligenden Verhandlungs-situationen bewahren (z.B. HWiG, FernAG) oder vorbestimmten, komplexen und daher schwierigen Ver-tragsinhalten (z.B. VerbrKrG, TzWrG). Entsprechendmuss der Anwendungsbereich durch teleologischeAuslegung bestimmt werden, was - wie in diesem Fall- auch zu Einschränkungen der Anwendbarkeit desGesetzes führen kann.

Leitsatz:Der Kunde ist nicht zur Abgabe einer Willenser-klärung durch mündliche Verhandlungen im Be-reich einer Privatwohnung i. S. des § 1 I Nr. 1HWiG bestimmt, wenn er die Privatwohnung desVertragspartners zu Vertragsverhandlungen auf-sucht und dort der Vertrag geschlossen wird.

Sachverhalt: Der Kl., der Fertighäuser vertreibt, schloss mit dembekl. Ehepaar am 27. 2. 1994 in seiner Wohnung einenVertrag über die Errichtung eines Fertighauses. DieBekl. haben den Vertrag am 17. 5. 1995 gekündigt undihre Vertragserklärungen am 4. 10. 1995 unter Hin-weis auf das Haustürgeschäftewiderrufsgesetz(HWiG) widerrufen. Die Parteien streiten darüber, obder Widerruf wirksam ist. Der Kl. verlangt den verein-barten Werklohn abzüglich ersparter Aufwendungen.Das LG hat die Bekl. lediglich zur Zahlung der in denBesonderen Vertragsbedingungen des Kl. pauschalier-ten Vergütung von 7,5% der Vertragssumme, das sind16 987,50 DM, nebst Zinsen verurteilt. Gegen das Ur-teil haben beide Parteien Berufung eingelegt. Das Ber-Ger. hat die Klage abgewiesen. Dagegen richtete sichdie Revision des Kl., mit der er seinen Anspruch inHöhe von 90 356,52 DM nebst Zinsen weiter verfolg-te. Die Revision hatte Erfolg. Sie führte zur Aufhe-bung des Berufungsurteils und zur Zurückverweisungder Sache an das BerGer.

Gründe:Das BerGer. ist der Auffassung, die Bekl. hätten ihreVertragserklärungen wirksam widerrufen. Der Ver-trag sei in der Privatwohnung des Kl. abgeschlossenworden. Es sei anerkannt, dass auch die Privatwoh-nung des Vertragspartners des Kunden in den Anwen-dungsbereich des § 1 I Nr. 1 HWiG falle. Ihren Cha-rakter als Privatwohnung hätten die Räumlichkeiten im

Haus des Kl. auch dann nicht verloren, wenn in ihnenregelmäßig Geschäfte abgeschlossen würden. Ob et-was anderes gelte, wenn die Geschäfte in einem räum-lich funktionell abgetrennten Bereich geschlossen wür-den, könne dahinstehen. Der Kl. habe eine derartigeAufteilung der Wohnung nicht dargelegt.Dagegen wendet sich die Revision mit Erfolg.Nach § 1 I Nr. 1 HWiG hat der Kunde ein Recht zumWiderruf einer auf den Abschluss eines Vertrags übereine entgeltliche Leistung gerichteten Willenserklärung,zu der er durch mündliche Verhandlung im Bereicheiner Privatwohnung bestimmt worden ist. Es ist um-stritten, ob zum Bereich der Privatwohnung im Sinnedes Gesetzes auch die Privatwohnung des Vertrags-partners des Kunden gehört. Während ein Teil derLiteratur diese Frage grundsätzlich bejaht (Pa-landt/Putzo, BGB, 59. Aufl., § 1 HWiG, Rdnr. 9), wirdsie von einem anderen Teil verneint (Loewe, BB 1986,812 [824]; Goller, GewA 1986, 75; Teske, ZIP 1986,624 [628]). Es werden auch vermittelnde Auffassun-gen vertreten. So soll die Privatwohnung des Vertrags-partners nur dann unter § 1 I HWiG fallen, wenn dortVerträge außerhalb der üblichen Geschäftszeiten ge-schlossen werden (Soergel/Wolf, BGB, 12. Aufl., § 1HWiG, Rdnr. 17). Nach einer weiteren Meinungkommt es darauf an, ob die Wohnung ständig zu Ge-schäftsabschlüssen benutzt wird und aus diesem Grundals Geschäftsraum des Anbieters anzusehen sei. Indiesem Fall soll das Widerrufsrecht nicht bestehen (Er-man/Klingsporn, BGB, § 1 HWiG, Rdnr. 12).Nach Auffassung des Senats ist die Privatwohnungdes Vertragspartners jedenfalls dann keine Privatwoh-nung i. S. des § 1 I Nr. 1 HWiG, wenn sie vom Kun-den aufgesucht wird, um Vertragsverhandlungen zuführen (so auch Ulmer, in: MünchKomm, 3. Aufl., § 1HWiG, Rdnr. 20).Der Gesetzgeber wollte mit dem HWiG den Kundenvor übereilten Vertragsschlüssen unter typischen Be-dingungen schützen, die die Gefahr in sich bergen, dasser in seiner rechtsgeschäftlichen Entscheidungsfreiheitüberfordert wird, weil er zuvor in der Regel wederandere Angebote prüfen noch sich den Vertragsab-schluss hinreichend überlegen kann. Er hat bestimmteTatbestände geschaffen, in denen die für Laden-geschäfte typische Umkehrmöglichkeit und Überle-gungszeit fehlt. Diesen Tatbeständen ist gemein, dassder Kunde sich in einer Lage befindet, in der es ihmschwer fällt, die meist psychologisch geschulten Ver-handlungspartner abzuweisen (BT-DR 10/2876, S. 6,abgedr. in ZIP 1985, 376; vgl. auch BGH, NJW 1999,575 = LM H. 6/1999 HWiG Nr. 32 = BauR 1999, 257= ZfBR 1999, 152; BGHZ 110, 308 [309] = NJW1990, 1732).

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Eine derartige Situation besteht nicht, wenn der Kundeden Vertragspartner zu Vertragsverhandlungen in des-sen Privatwohnung aufsucht. In soweit befindet er sichgrundsätzlich in keiner anderen Situation als beim Be-such eines Geschäftslokals. Er hat die Möglichkeit, dieWohnung ohne weiteres zu verlassen und sich jeder-zeit aus freiem Entschluss der Einwirkung durch denVertragspartner zu entziehen. Das gilt auch dann,wenn er die Wohnung außerhalb der üblichen Ge-schäftszeit aufgesucht hat. Das Gesetz schützt nichtgenerell vor übereilten Willenserklärungen, sondernknüpft die Möglichkeit des Widerrufs an Situationen,die im besonderen Maße die Gefahr der Überrumpe-lung bergen. Der Bundesrat hat in der Begründung zuseinem Entwurf des Gesetzes ausdrücklich klar ge-stellt, dass Verträge, zu deren Abschluss der Kundeseinen geschäftsmäßig handelnden Vertragspartner indessen Privatwohnung aufsucht, nicht in denAnwendungsbereich des Gesetzes fallen:Benutze ein Gewerbetreibender seine Privatwohnungauch für Geschäftsabschlüsse, so handele es sich nichtum eine Privatwohnung im Sinne des Gesetzes. DieLage des Kunden sei hier nicht anders, als wenn erseinen Vertragspartner in ausschließlich zu gewerb-lichen Zwecken genutzten Räumen aufgesucht hätte(GE des BR, BT-DR 10/2876, S. 11 = ZIP 1985, 376[380]). Diesem Entwurf haben sich die Beschlussemp-fehlung und der Bericht des Rechtsausschusses ange-schlossen (BT-DR 10/4210, S. 9 = ZIP 1985, 1419).Er ist Gesetz geworden. Zurückgewiesen wurde damitnicht nur ein weiter gehender Antrag (BR-DR

10/584). Vielmehr wurden auch solche Vorschlägenicht mehr aufgegriffen, die eine Widerrufsmöglichkeitschon dann vorsahen, wenn die Willenserklärung desKunden durch “außerhalb eines ständigen Geschäfts-raums" der anderen Vertragspartei geführte mündlicheVerhandlungen bestimmt worden ist (GE des BR v.24. 2. 1977, BR-DR 8/130, S. 4; Gesetzesantrag derFreien Hansestadt Bremen v. 11. 6. 1975, BR-DR394/75, S. 5).Unbeschadet des Umstands, dass sie auf Bauverträgenicht anwendbar ist, Art. 3 II a, führt die Richtlinie desRates vom 20. 12. 1985 betreffend den Verbraucher-schutz im Falle von außerhalb von Geschäftsräumengeschlossenen Verträgen (85/577/EWG, ABlEG Nr. L372 v. 31. 12. 1985, S. 31) nicht zu einem anderen Ver-ständnis. Die Richtlinie gilt insoweit nur für Verträgeanlässlich eines Besuchs des Gewerbetreibenden inder Wohnung des Verbrauchers oder in der Wohnungeines anderen Verbrauchers.Das HWiG ist gem. § 5 I auch anwendbar, wenn seineVorschriften durch anderweitige Gestaltungen umgan-gen werden (vgl. auch Art. 1 III 1 der Richtlinie). Da-zu ist nichts festgestellt. Allein der Umstand, dass dieParteien den Vertrag in der Privatwohnung des Kl.abgeschlossen haben, ist keine Umgehung des Geset-zes.Da die Bekl. den Kl. unstreitig aufgesucht haben, umVertragsverhandlungen, mit ihm zu führen, können sieihre Vertragserklärung nicht widerrufen.Da weitere Feststellungen fehlen, ist die Sache an dasBerGer zurückzuverweisen. [...]

Standort: Verbraucherrecht Problem: Schuldbeitritt zum Kreditvertrag

BGH, VERSÄUMNISURTEIL VOM 27.06.2000XI ZR 322/98 (NJW 2000, 3496)

Problemdarstellung:

Anläßlich der Kreditgewährung zugunsten einer Bau-unternehmen GmbH unterzeichnete der Bekl. - einMitgesellschafter der GmbH - den Darlehensvertragals Mitschuldner. Später verweigerte er jedoch einepersönliche Rückzahlung des Kredits mit der Begrün-dung, sein Schuldbeitritt sei wegen Formwidrigkeitgem. §§ 4 I 4 Nr. 1e, 6 I VerbrKrG nichtig, da dereffektive Jahreszins im schriftlichen Vertrag nicht be-nannt worden war.

Zwar ist der Schuldbeitritt selbst kein Kreditvertraggem. § 1 II VerbrKrG; jedoch ist er nach gefestigterRechtsprechung des BGH (seit BGHZ 133, 71 [74])einem Kreditvertrag gleichzustellen und das VerbrKrGentsprechend anzuwenden, wenn der Beitritt zu einem

Kreditvertrag erfolgt. Umstritten ist jedoch, ob die ent-sprechende Anwendung des VerbrKrG auf denSchuldbeitritt es gebietet, auch die Formanforderungenund Mindestangaben gem. § 4 VerbrKrG gegenüberdem Schuldbeitretenden strikt zu beachten. (vgl. zumStreitstand in der Literatur: Ulmer in: MünchKomm., §4 VerbrKrG, Rdnr. 16; Staudinger/Kessal-Wulf, § 4VerbrKrG, Rdnr. 19; Bülow, § 1 VerbrKrG, Rdnr.114.) Der BGH entschied die Streitfrage dahin, dass an dieFormwirksamkeit eines Schuldbeitritts dieselben stren-gen Anforderungen zu stellen sind wie an einen Kre-ditvertrag selbst, auch im Hinblick auf die Angabe deseffektiven Jahreszinssatzes gem. § 4 I 4 Nr. 1eVerbrKrG. Diese Zinsangabe hat nämlich nicht nur dieAufgabe, dem kreditsuchenden Verbraucher einenKonditionenvergleich zu ermöglichen, sondern auch dieWarnfunktion, über die Gesamtbelastung der Kredit-

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aufnahme bzw. des Schuldbeitritts zu informieren.

Prüfungsrelevanz:

Ständige Problematik im Verbraucherschutzrecht istdie Beteiligung Dritter am Vertrag (Bürgschaft,Schuldbeitritt, § 1357 BGB, etc.). Die einzelnen Son-de rgese t ze zum Verb rauche r schu tz (HWiG,VerbrKrG, TzWrG, FernAG, etc.) gehen immer nurvon dem klassischen Zwei-Personen-Verhältnis zwi-schen Verbraucher und Unternehmer aus, regeln abernicht die Beteiligung von Dritten.

Bezüglich des VerbrKrG hat sich mittlerweile einegefestigte Meinung in Rechtsprechung und Literaturdazu gebildet. Während der Schuldbeitritt zu einemKreditvertrag durch eine entsprechende Anwendungdes VerbrKrG gleichfalls geschützt wird, wird für dieBürgschaft eine entsprechende Anwendung desVerbrKrG abgelehnt (vgl. RA 06/2000, S. 330).

Leitsatz:Der Schuldbeitritt eines Verbrauchers zu einemKreditvertrag erfüllt nur dann das Schriftformer-fordernis, wenn der Beitretende vor Begründungder Mithaftung über alle Kreditkonditionen i. S.des § 4 I 4 VerbrKrG informiert wird.

Sachverhalt: Der Kl. macht als Gesamtvollstreckungs-verwalterüber das Vermögen der B-Bauunternehmen GmbH(im Folgenden: Schuldnerin) Ansprüche aus einer vondem Bekl. für die Schuldnerin übernommenen Mithaf-tung geltend. Dem liegt folgender Sachverhalt zuGrunde: Im Februar 1994 beantragte die Schuldnerinbei der G für A-mbH (im Folgenden: G) einen Kreditüber 166 338,20 DM netto zur Finanzierung des Er-werbs von Transportfahrzeugen. Das Antragsformularenthielt hinsichtlich des Zinssatzes die Angabe: Zinsen7,0%, nicht aber eine Angabe des effektiven Jahres-zinses. Der Bekl., der an der Schuldnerin mit einemGesellschaftsanteil von 12% beteiligt war, unterzeich-nete den Darlehensvertrag als Mitschuldner. Die Gzahlte die Darlehenssumme vereinbarungsgemäß ausund erhielt als weitere Sicherheit die Transportfahr-z e u g e ü b e r e i g n e t . N a c h E r ö f f n u n g d e sGesamtvollstreckungsverfahrens im Dezember 1995verwertete die G die sicherungsübereigneten Fahrzeu-ge und erzielte dabei einen Kaufpreis von 109 250DM. Im April 1996 schloss sie das Darlehenskontounter Anrechnung des Erlöses auf einen Kreditsaldovon 107 116,65 DM ab und zahlte das Restguthabenan den Kl. Der Kl. ist der Ansicht, die vom Bekl. über-nommene Mithaftung stelle ein eigenkapitalersetzendes

Gesellschafterdarlehen dar, so dass er durc h die Til-gung des Darlehens haftendes Gesellschaftskapital zu-rückerhalten habe. Der Bekl. hält dem vor allem ent-gegen, der Schuldbeitritt habe zu keiner Zeit eigenkapi-talersetzenden Charakter gehabt. Außerdem genügeder Schuldbeitritt wegen der unterbliebenen Angabedes effektiven Jahreszinses nicht den Schriftformer-fo rde rn i s sen des Ve rb rauche rk red i tge se t ze s(VerbrKrG) und sei daher nichtig.Das LG hat die auf Zahlung von 107 116,65 DM zu-züglich Zinsen gerichtete Klage abgewiesen. Die Be-rufung des Kl. hatte keinen Erfolg (NZG 1999, 30).Die Revision hatte keinen Erfolg.

Gründe: Da der Bekl. in der mündlichen Verhandlung trotzrechtzeitiger Ladung zum Termin nicht vertreten war,war über die Revision des Kl. antragsgemäß durchVersäumnisurteil zu entscheiden. Das Urteil ist jedochkeine Folge der Säumnis, sondern beruht auf einerSachprüfung (vgl. BGHZ 37, 79 [81 ff.] = NJW 1962,1149).Das BerGer. hat zur Begründung im Wesentlichen aus-geführt: Ein Zahlungsanspruch des Kl. gegen denBekl. sei nicht gegeben. Dabei könne offen bleiben, obdie Voraussetzungen für eine entsprechende Anwen-dung der §§ 32 a, 32 b GmbHG erfüllt seien oder die§§ 30, 31 GmbHG das Klagebegehren rechtfertigten.Der Schuldbeitritt sei nämlich wegen Verstoßes gegendie Pflicht zur Angabe des effektiven Jahreszinses i. S.des § 4 I 4 Nr. 1 e VerbrKrG nach § 6 I Alt. 2V e r b r K r G n i c h t i g , s o d a s s e i n w i r k s a m e seigenkapitalersetzendes Gesellschafterdarlehen nichtvorliege. Der Schuldbeitritt gehöre zu den Kreditver-trägen. Der Bekl. sei bei Abgabe der unbeschränktenMithaftungserklärung auch Verbraucher gewesen.Seine Minderheitsbeteiligung an der Schuldnerin habeihn nicht zu einem Kaufmann oder Gewerbetreibendenwerden lassen. Zu einer Heilung des Formmangels seies mangels Auszahlung der Kreditmittel an den Bekl.persönlich nicht gekommen.Diese Ausführungen halten rechtlicher Nachprüfungstand. Der Schuldbeitritt des Bekl. ist wegen Nicht-angabe des effektiven Jahreszinses i. S. des § 4 I 4Nr. 1 e VerbrKrG gem. § 6 I Alt. 2 VerbrKrG (ana-log) i.V. mit § 125 BGB nichtig. Einer Anwendung derRegeln über das eigenkapitalersetzende Gesellschaf-terdarlehen ist damit die Grundlage entzogen.Das BerGer. hat auf den Schuldbeitritt zu Recht dasVerbraucherkreditgesetz angewandt. Zwar ist derSchuldbeitritt seinem Wesen nach selbst kein Kredit-vertrag i. S. des § 1 II VerbrKrG. Er ist aber nach dergefestigten Rechtsprechung des BGH (BGHZ 133, 71

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[74 f.] = NJW 1996, 2156 = LM H. 10/1996 § 1VerbrKrG Nr. 5; BGHZ 133, 220 [222 f.] = NJW1996, 2865 = LM H. 1/1997 § 1 VerbrKrG Nr. 6;BGHZ 134, 94 [97] = NJW 1997, 654 = LM H. 4/1997§ 1 VerbrKrG Nr. 7; BGHZ 138, 321 [325] = NJW1998, 1939 = LM H. 9/1998 § 765 BGB Nr. 126; Se-nat, NJW 1997, 1442 = LM H. 7/1997 § 3 VerbrKrGNr. 3 = WM 1997, 663 [664]; NJW 1997, 1443 = LMH. 7/1997 § 1 VerbrKrG Nr. 8 = WM 1997, 710;BGH, NJW 1997, 3169 = LM H. 3/1998 § 1VerbrKrG Nr. 9 = WM 1997, 2000 [2001]), der dieRevision ausdrücklich zustimmt, einem Kreditvertraggleichzustellen, wenn es sich - wie hier - bei dem Ver-trag, zu dem der Beitritt erklärt wird, um einen Kredit-vertrag handelt. Zwar wurde das Darlehen von derSchuldnerin zu gewerblichen Zwecken aufgenommen.Maßgebend sind insoweit aber allein die persönlichenVerhältnisse des Beitretenden zum Zeitpunkt der Mit-haftungserklärung (BGHZ 133, 71 [76f.] = NJW 1996,2156 = LM H.10/1996 § 1 VerbrKrG Nr. 5; BGHZ134, 94 [97] = NJW 1997, 654 = LM H. 4/1997 § 1VerbrKrG Nr. 7; Senat, NJW 1997, 1442 = WM1997,663; NJW 1997,1443 = WM 1997, 710; BGH,NJW 1997, 3169 = WM 1997, 2000). Der Bekl. war -wie das BerGer. zutreffend dargelegt hat - auch Ver-braucher, da das Halten eines GmbH-Anteils keinegewerbliche Tätigkeit, sondern reine Vermögensver-waltung darstellt (vgl. BGHZ 133, 71 [78] = NJW1996, 2156; BGHZ 133, 2201, 2231 = NJW 1996,2865).Die Revision wendet sich gegen die Auffassung desBerGer., der Schuldbeitritt sei wegen Verstoßes gegen§ 4 I 4 Nr. 1 e VerbrKrG nichtig. Sie ist der Meinung,es sei unberücksichtigt geblieben, dass das VerbrKrGauf den Schuldbeitritt eines Verbrauchers lediglich ent-sprechend angewendet werden könne. Dies sei vonentscheidender Bedeutung, weil die Angabe des effek-tiven Jahreszinses ausschließlich dazu diene, dem Kre-ditnehmer einen Vergleich mit konkurrierenden Ange-boten während der Widerrufsfrist des § 7 VerbrKrGzu ermöglichen. Für eine analoge Anwendung des § 4I 4 Nr. 1 e VerbrKrG fehle deshalb die notwendigeWertungsbasis. Dieser Betrachtungsweise folgt derSenat nicht.Ob der Schuldbeitritt nur dann wirksam ist, wenn derKreditgeber den Verbraucher vor Abgabe derMithaftungserklärung über alle wesentlichen Kredit-konditionen i. S. des § 4 I 4 VerbrKrG informiert, oderob auf bestimmte Pflichtangaben im Hinblick auf ihrenindividuellen Schutzzweck verzichtet werden kann, istvom BGH noch nicht entschieden worden. Der erken-nende Senat hat die Frage in der zitierten Entscheidungvom 12. 11. 1996 (BGHZ 134, 94 [98] = NJW 1997,

654) ausdrücklich offen gelassen. Zwar hat der VIII.Zivilsenat des BGH in seinem Urteil vom 26. 5. 1999(BGHZ 142, 23 [28 ff.] = NJW 1999, 2664 = LM H.11/1999 § 1 VerbrKrG Nr. 11/12) dargelegt, dass dieim Wege einer dreiseitigen Vereinbarung vorgenom-mene Übernahme eines Finanzierungsleasingvertragsdem Schriftformerfordernis des § 4 I 1 VerbrKrG nurdann genügt, wenn die schriftliche Übernahmeverein-barung des Verbrauchers den Inhalt des zu überneh-menden Vertrags vollständig wiedergibt. Dies schließtaber nicht aus, dass an die Formwirksamkeit einerSchuldmitübernahme weniger strenge Anforderungenzu stellen sind. In der Literatur werden dazu unter-schiedliche Ansichten vertreten.Ausgehend davon, dass die entsprechende Anwen-dung des Verbraucherkreditgesetzes auf den Schuld-beitritt oder vergleichbare Vereinbarungen eine Ver-brauchereigenschaft auch des Hauptschuldners vor-aussetze, ist nach der Ansicht von Ulmer (Ul-mer/Timmann, in. Festschr. f. Rowedder, S. 503 [517,520 f.]; Ulmer, in: MünchKomm, 3. Aufl., § 4VerbrKrG, Rdnr. 16) zu unterscheiden: Diene dieFormvorschrift vor allem der Warnung und demSchutz vor übereilten und unüberlegten Entscheidun-gen, so müsse sie grundsätzlich auch dem Beitretendenzugute kommen. Hierzu gehörten alle Angaben, dieAufschluss über die Höhe der Zahlungsverpflichtung,aber auch über die Zahlungsweise geben. Dagegenkönne auf die Pflichtangaben verzichtet werden, die -wie vor allem § 4 I 4 Nr. 1 e VerbrKrG - lediglich denVergleich mit den Konditionen anderer Kreditgeberermöglichen sollten. Für den Beitretenden stehe in die-sem Falle der Inhalt des Kreditvertrags zum Zeitpunktder Mithaftungserklärung fest; die Wahl zwischen ver-schiedenen Angeboten sei ihm verschlossen. Ein Ver-stoß gegen diese Formvorschriften löse daher für denSchuldbeitritt nicht die Nichtigkeitsfolge des § 6 I Alt.2 VerbrKrG aus. Dem haben sich weitere Autoren(Habersack, EWiR 1997, 237 [238]; Kurz, DNotZ1997, 552 [556 f.]; ähnl. Kabisch WM 1998, 535[540]) im Ergebnis und weit gehend auch in der Be-gründung angeschlossen.Dagegen beurteilt die in der Literatur herrschendeMeinung die Rechtslage anders. Unter Berücksichti-gung dessen, dass der Beitretende, ohne einen eigenenAnspruch auf Auszahlung der Darlehensvaluta zu be-s itzen, das wirtschaftliche Risiko des Kreditgeschäftsim Falle der Zahlungsunfähigkeit des Hauptschuldnersallein zu tragen habe, sei sein Schutzbedürfnis nichtgeringer als das eines Verbrauchers, der durch denAbschluss eines Kreditvertrags belastet wird. Eine Be-schränkung des Schriftformerfordernisses auf be-stimmte Pflichtangaben sei daher verfehlt (Staudin-

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ger/Kessal-Wulf, BGB, 13. Bearb., § 4 VerbrKrGRdnr. 19; Metz, VerbrKrG, § 1 Rdnr. 28, § 4 Rdnr. 10;Hagena, Drittschutz im VerbraucherkreditR, S. 40 ff.;Edenfeld, JZ 1997, 1034 [1038]; Graf v. Westphalen,MDR 1997, 307 [309]; ders., DB 1998, 295 [299 f.];Artz, VuR 1997, 227 [228 f.]; Hadding, WuB I, E 2. §6 VerbrKrG 1.97; Wolf, LM § 1 VerbrKrG Nr. 7; vgl.auch Bülow, VerbrKrG, 3. Aufl., § 1 Rdnr. 114).Der erkennende Senat entscheidet die Streitfrage da-hin, dass an die Formwirksamkeit des Schuldbeitrittsgrundsätzlich dieselben strengen Anforderungen zustellen sind wie an den Kreditvertrag selbst. Allerdingsist aus der entsprechenden Anwendung des § 4 I 1VerbrKrG nicht denknotwendigerweise auf eine Analo-giefähigkeit sämtlicher Pflichtangaben zu schließen.Indes sind gesetzliche Formvorschriften im Bereichdes bürgerlichen Rechts grundsätzlich strikt einzuhal-ten. Dies gilt in besonderem Maße für das Schriftfor-merfordernis des § 4 I VerbrKrG, das Informations-und Warnfunktion für den Verbraucher hat und ihmdie Entscheidung über die Ausübung des Widerrufs-rechts erleichtern will (vgl. BGHZ 142, 23 [33] = NJW1999, 2664 m. w. Nachw.). Dem wird ein Schuldbei-tritt nur dann gerecht, wenn dem Beitretenden bei Ab-gabe der Mithaftungserklärung sämtliche Kreditkondi-tionen i. S. des § 4 I 4 VerbrKrG klar und deutlich vorAugen geführt werden, damit er erkennen kann, aufwas er sich einlässt.Zwar hat die Angabe des effektiven Jahreszinses -wie die Pflichtangaben überhaupt - im Wesentlichendie Aufgabe, dem Verbraucher einen Konditionenver-gleich zu ermöglichen, auf den es dann nicht mehr an-kommt, wenn eine schon bestehende Schuld übernom-men oder einer bereits begründeten Schuld beigetretenwird. Darin erschöpft sich aber der Schutzzweck derAngabe des effektiven jahreszinses, die vom Gesetz-geber (vgl. BT-DR 11/5462, S. 19) für den "wichtigs-ten Bestandteil der Verbraucheraufklärung" gehaltenwurde, nicht. Die Angabe des effektiven Jahreszinsessoll den Verbraucher insbesondere in Gestalt eineseinzigen, nach festen Regeln (vgl. § 4 II VerbrKrG) zuermittelnden Prozentsatzes des Nettokreditbetragsüber die mit dem Darlehen einhergehende jährlicheGesamtbelastung und damit über dessen "Preis" unterEinbeziehung sämtlicher relevanter Kosten informieren(vgl. Staudinger/Kessal-Wulf, § 4 VerbrKrG, Rdnr.19; Graf v. Westphalen/Emmerich/v. Rottenburg,VerbrKrG, 2. Aufl., § 4 Rdnr. 118). Außerdem soll dieAngabe des effektiven jahreszinses gemeinsam mit derAngabe des Zinssatzes gem. § 4 I 4 Nr. 1 d VerbrKrGden Verbraucher vor dem Irrtum bewahren, es hande-le sich bei dem Nominalzins um die effektive Zinsbela-

stung. Nichts spricht dagegen, dass diese Infor-mations- und Warnfunktionen auch den Beitretendenvor übereilten und unüberlegten Willenserklärungenbewahren können. Die Möglichkeit, dass einzelne Bei-tretende nicht an einer vorvertraglichen Aufklärungüber den effektiven Jahreszins oder andere Kreditkon-ditionen interessiert sind, rechtfertigt keine andererechtliche Beurteilung, weil die Regelungen des § 4 I 4Nrn. 1 und 2 VerbrKrG nach ihrer Zielsetzung auf diet y p i s c h e n V e r h ä l t n i s s e u n d n i c h t a u f d i eSchutzbedürftigkeit des Verbrauchers im konkretenEinzelfall abheben (vgl. Staudinger/Kessal- Wulf, § 4VerbrKrG, Rdnr. 19).Es wäre schließlich auch ein Wertungswiderspruchund mit dem Prinzip der Rechtssicherheit nur schwerzu vereinbaren, wenn bei einer dreiseitigen Vereinba-rung über die Vertragsübernahme durch einen Ver-braucher sämtliche Formerfordernisse des § 4 I 1VerbrKrG erfüllt sein müssen (s. BGHZ 142, 23 [28ff.] = NJW 1999, 2664), für den Schuldbeitritt aberbestimmte Erfordernisse nicht gelten sollen. Zwar be-w irkt die Schuldmitübernahme lediglich eine Sicherungder Hauptschuld. Es entsteht keine gleichgründige, pari-tätische Verpflichtung, sondern die Schuldverhältnissebasieren auf unterschiedlichen Zweckbestimmungen(Ehmann, Die Gesamtschuld, S. 336, 337). Dies istaber für die hier interessierende Frage kein relevanterGesichtspunkt. Vielmehr ist es gerade die Bereitschaftdes Beitretenden, die unbeschränkte Mithaftung ohneeine Gegenleistung des Kreditgebers zu übernehmen,die ihn bei wertender Betrachtung genauso schutzwür-dig erscheinen lässt, als wenn er den betreffendenDarlehensvertrag selbst abgeschlossen hätte oder imWege einer Vertragsübernahmevereinbarung an dieStelle des ursprünglichen Kreditnehmers getreten wä-re.Der Formmangel ist nicht geheilt worden. Nach derständigen Rechtsprechung des BGH (BGHZ 134, 94[98 f.] = NJW 1997, 654 = LM H. 4/1997 § 1VerbrKrG Nr. 7; Senat, NJW 1997, 1443 = LM H.7/1997 § l VerbrKrG Nr. 8 = WM 1997, 710; NJW1997, 3169 = LM H. 3/1998 § 1 VerbrKrG Nr. 9 =WM 1997, 2000 [2001]) setzt eine entsprechende An-wendung der Heilungsvorschrift i. S. des § 6 IIVerbrKrG - wie auch das BerGer. nicht verkannt hat -grundsätzlich voraus, dass die Kreditmittel an den Bei-tretenden ausgezahlt werden. Daran fehlt es hier. An-dere Umstände oder Verhältnisse, die für eine Heilungdes Formfehlers sprechen könnten, sind nicht zu er-kennen und werden von der Revision nicht aufgezeigt.

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Standort: Schadensersatzrecht Problem: Rechtsanwaltshaftung

BGH, URTEIL VOM 21.09.2000IX ZR 439/99 (NJW 2000, 3560)

Problemdarstellung:

Im Rahmen des vorliegenden Rechtsstreits hatte derBGH zu den Voraussetzungen und Rechtsfolgen einerRechtsanwaltshaftung wegen fehlerhafter Prozess-führung Stellung zu nehmen. Ein Rechtsanwalt hatnach st. Rspr. zur Wahrnehmung der berechtigten In-teressen des Mandanten den relativ sichersten Weg zuwählen, wenn verschiedene Vorgehensweisen in Be-tracht kommen. In diesem Fall ging es um die Frage,wie ein Rechtsanwalt im Prozess einen vom Mandan-ten an einen Dritten abgetretenen Anspruch geltend zumachen hat. Der BGH führt dazu aus, dass nur beieiner stillen Zession der Altgläubiger ohne weiteresberechtigt ist, vom Schuldner nach wie vor Leistung ansich zu verlangen. Wird die Abtretung aber demSchuldner angezeigt (offene Zession), ist der Altgläubi-ger nur noch im Wege einer Prozessstandschaft be-rechtigt, Leistungen an den Neugläubiger zu fordern.Da in diesem Fall der Rechtsanwalt sich nicht an dieseAnforderungen gehalten hatte, machte er sich scha-densersatzpflichtig gegenüber seinem Mandanten(p.F.V. des Mandantenverhältnisses, § 675 BGB).

Bezüglich der Rechtsfolge eines solchen Schadens-ersatzanspruchs greift der BGH auf den Gedanken derNaturalrestitution gem. § 249 S. 1 BGB zurück. Da-nach ist ein Anwalt, dem ein Fehler unterläuft, ausdem seinem Mandanten ein Schaden droht, verpflichtetsein, zusätzliche honorarfreie Leistungen zu erbringen,sofern sich der Schadenseintritt auf diese Weise ver-hindern lässt, ggf. durch Aufnahme eines Zweitprozes-ses.

Prüfungsrelevanz:

Die Rechtsanwaltshaftung eignet sich als Examens-thema schon deshalb, weil in der schadensersatzrecht-lichen Einkleidung geklärt werden muss, ob diemateriell-rechtlichen Ansprüche des Mandanten vomAnwalt korrekt erkannt und verfolgt worden sind.

Das Verhältnis zwischen Mandanten und Anwalt istals entgeltlicher Geschäftsbesorgungsvertrag mitdienstrechtlichen Elementen zu verstehen, §§ 675, 611ff. BGB (Palandt/Thomas, § 675 BGB, Rdnr. 6). Dievertraglichen Pflichten des Anwalts bestimmen sichdabei nach dem Inhalt der Beauftragung. Grundsätz-lich ist der Anwalt zu einer umfassenden und möglichsterschöpfenden Belehrung des Mandanten verpflichtet

und hat bei der Betreuung seiner Rechtsangelegenhei-ten stets den sichersten Weg zu wählen (Pa-landt/Heinrichs, § 276 BGB, Rdnr. 39 ff.).

Leitsätze:1. Zu den Pflichten des Rechtsanwalts, der imProzess einen vom Mandanten an einen Drittenabgetretenen Anspruch geltend macht.2. Haftet der Rechtsanwalt dem Mandanten fürden durch Verlust eines Prozesses entstandenenSchaden, besteht jedoch berechtigte Aussicht,diesen durch die Führung eines weiteren Rechts-streits zu beseitigen oder zu vermindern, mussder Anwalt, sofern er seinen Auftraggeber nichtanderweitig schadlos stellt, diesen Rechtsstreitauf eigene Kosten und eigenes Risiko führen.

Sachverhalt: Der Kl. betreibt einen Telefonladen. Er beauftragteden bekl. Rechtsanwalt mit der Durchsetzung von An-sprüchen wegen eines Einbruchsdiebstahls gegen seineVersicherung. Der Bekl. erhob Klage auf Zahlung von176 146,38 DM zuzüglich Zinsen, hilfsweise auf Fest-s tellung, dass die Versicherung verpflichtet sei, demKl. Leistungen aus dem Schadensereignis zu gewäh-ren. Der Kl. hatte bereits vor Rechtshängigkeit derKlage seine Ansprüche gegen die Versicherung in Hö-he von 19 020,90 DM und von 11 466,52 DM an zweiGläubiger abgetreten. Im Prozess bestritt die Versi-cherung den behaupteten Einbruchsdiebstahl undwandte auch die Abtretung der genannten Ansprücheein. Das LG verurteilte die Versicherung zur Zahlungvon 138 656,96 DM zuzüglich Zinsen an den Kl. InH ö h e d e r a b g e t r e t e n e n B e t r ä g e w u r d e d e rZahlungsanspruch wegen fehlender Aktivlegitimationabgewiesen; das LG traf jedoch die Feststellung, dassder Bekl. verpflichtet sei, dem Kl. einen eventuell überden zugesprochenen Betrag hinausgehenden Schadenzu erstatten, weil nicht ausgeschlossen werden könne,dass die Rechtsbeziehungen zwischen den Parteiendurch die Entscheidung über die Leistungsklage nichterschöpfend geregelt seien. Das die Klage abweisendeBerufungsurteil wurde auf Revision des Kl. vom BGHaufgehoben. Im zweiten Berufungsverfahren erhobder weiterhin durch den Bekl. vertretene Kl. An-schlussberufung und beantragte, die Versicherung inHöhe der abgetretenen Beträge zur Zahlung an dieZessionare zu verurteilen. Das BerGer. bestätigte dieerstinstanzliche Entscheidung im Zahlungsausspruchund wies den weitergehenden Zahlungsantrag erneut

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ab. In der Folgezeit befriedigte der Kl. die Gläubigeraus den erhaltenen Versicherungsleistungen und ließsich die abgetretenen Ansprüche zurückübertragen.Die daraufhin gegen die Versicherung erhobene zwei-te Klage wurde wegen Verjährung der Ansprücheabgewiesen; die Berufung blieb erfolglos. Der Kl. be-gehrt vom Bekl. Ersatz des abgewiesenen Teilbetragesin Höhe von 37 489,42 DM sowie der ihm in beidenProzessen insgesamt entstandenen Kosten von 24344,74 DM. Er wirft dem Bekl. vor, dieser habe zuspät die Klage auf Leistung an die Zessionare umge-stellt, die Tatsachen nicht hinreichend vorgetragen, ausdenen sich die Ermächtigung zur Prozessführung er-geben habe, und die zweite Klage eingereicht, als derAnspruch bereits verjährt gewesen sei.Das LG hat der Klage stattgegeben, das BerGer. hatsie abgewiesen. Die Revision des Kl. hatte Erfolg undführte zur Aufhebung und Zurückverweisung.

Gründe: Das angefochtene Urteil kann schon deshalb nicht be-stehen bleiben, weil es keinen Tatbestand enthält. EinBerufungsurteil ohne Tatbestand muss grundsätzlichaufgehoben werden (BGHZ 73, 248 [251] = NJW1979, 927 = LM § 543 ZPO Nr. 1; BGH, NJW 1981,1848 = LM § 561 ZPO Nr. 47). Ausnahmsweise kannvon einer Aufhebung abgesehen werden, wenn sichder Sach- und Streitstand aus den Entscheidungsgrün-den des Berufungsurteils in einem für die rechtlicheBeurteilung erforderlichen Umfang hinreichend deut-lich ergibt (BGH, NJW 1983, 1901 = LM § 212 BGBNr. 5; NJW 1991, 3038 [3039] = LM H. 3/1992 § 313Abs. 2 ZPO Nr. 8; BGHR ZPO § 543 Abs. 2 Tatbe-stand, fehlender 11). Diese Voraussetzungen erfülltdas angefochtene Urteil nicht.Das BerGer., das irrig angenommen hat, der Wert derBeschwer des Kl. liege unter 60 000 DM, hat es fürsachgerecht gehalten, das von ihm zu Recht als sehrsorgfältig bezeichnete Urteil des LG durch eine in dasProtokoll diktierte Entscheidung aufzuheben, derenGründe kaum eine Seite umfassen und sich auf weni-ge, äußerst knapp dargestellte rechtliche Erwägungenbeschränken. Zwar sprechen Inhalt und Art der Argu-mentation dafür, dass das BerGer. von den Tatsachen-feststellungen des erstinstanzlichen Urteils ausgegan-gen ist. Hinreichend deutlich geht dies jedoch aus denwenigen Sätzen, mit denen die Klageabweisung be-gründet wurde, nicht hervor. Ein solches Urteil bildetkeine geeignete Grundlage für eine abschließendesachlich-rechtliche Beurteilung des Sach- und Streit-stands durch das RevGer.Das angefochtene Urteil muss daher aufgehoben unddie Sache zur neuen Verhandlung an das BerGer. zu-

rückverwiesen werden. Dabei macht der Senat vonder Möglichkeit des § 565 I 2 ZPO Gebrauch, weil dieArt und Weise, wie das BerGer. das Klagebegehrenbehandelt hat, geeignet ist, bei der betroffenen ParteiZweifel an der Unvoreingenommenheit der Richter zubegründen. Die Gerichtskosten des Berufungsurteilssowie des Revisionsverfahrens sind zudem wegen un-richtiger Sachbehandlung niederzuschlagen (§ 8 I 1GKG).Darüber hinaus geben die Rechtsausführungen desBerGer. Veranlassung, für das weitere Verfahren aufFolgendes hinzuweisen:Das BerGer. meint, dem Kl. könne daraus, dass er indem nach Zurückverweisung durch den BGH durch-geführten Berufungsverfahren den Antrag auf Zahlungan die Zessionare nicht näher begründet habe, keinSchuldvorwurf gemacht werden, weil er beide Abtre-tungen vorgelegt habe und aus ihnen hervorgegangensei, dass es sich um Sicherungszessionen gehandelthabe. Im Falle einer Sicherungszession bleibe der Ze-dent nach ständiger Rechtsprechung befugt, die abge-tretene Forderung einzuziehen.Diese Erwägungen tragen die Klageabweisung nicht.Auf der Grundlage der vom LG getroffenen Feststel-lungen fällt dem Bekl. vielmehr eine schuldhafte Ver-tragsverletzung zur Last.Lediglich bei einer stillen Zession bleibt der Zedentohne weiteres berechtigt, Leistung an sich zu verlange.Hier hatten die Gläubiger des Kl. jedoch die Abtretungder Versicherung angezeigt. Diese hatte sich daraufim Prozess berufen und fehlende Aktivlegitimation desKl. gerügt. Wird die Abtretung offen gelegt, ist derZedent in der Regel materiell-rechtlich nur noch be-fugt, Zahlung an den Abtretungsempfänger zu verlan-gen (BGH, NJW 1999, 2110 [2111] = LM H. 8/1999 §209 BGB Nr. 90 m. w. Nachw.). Es war daher rechts-fehlerhaft, trotz des von der Versicherung erhobenenEinwands der Abtretung zunächst weiterhin Zahlungan den Kl. zu verlangen.Der Bekl. hat zwar schließlich im zweiten Durchgangdes Berufungsverfahrens den sachgerechten Antragauf Leistung an die Abtretungsempfänger gestellt, die-sen aber nur unzureichend begründet. Allein mit derVorlage der Abtretungen ist er seinen Pflichten ausdem ihm vom Kl. erteilten Prozessauftrag nicht ge-recht geworden.Der Kl. konnte mit dem Antrag auf Leistung an dieAbtretungsempfänger nur durchdringen, wenn in sei-ner Person die Voraussetzungen einer gewillkürtenProzessstandschaft erfüllt waren. Dazu musste imRechtsstreit die vom Rechtsinhaber erteilte Prozess-führungsbefugnis dargelegt und gegebenenfalls bewie-sen werden (vgl. BGHZ 96, 151 [155] = NJW 1986,

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850 = LM § 51 ZPO Nr. 14; BGHZ 125, 196 [201] =NJW 1994, 2549 = LM H. 8/ 1994 § 237 Nrn. 7, 8;BGH, NJW 1999, 2110 [2111] = LM H. 8/1999 § 209BGB Nr. 90). Entsprechende Tatsachen hat der Bekl.nicht vorgetragen. Die Abtretungen enthielten zu die-sem Punkte keine ausdrückliche Regelung. Ob sie, wiedas BerGer. meint, in dem Sinne auszulegen waren,dass der Kl. auch nach Offenlegung der Abtretungberechtigt bleiben sollte, auf Leistung an die neuenGläubiger zu klagen, erscheint zweifelhaft. Selbstwenn diese Auslegung des BerGer. im Ergebnis recht-lich haltbar sein sollte, ist auf der Grundlage der ers-tinstanzlichen Feststellungen in der vom Kl. beanstan-deten Unterlassung durch den Bekl. eine schuldhafteVerletzung seiner Pflichten aus dem Anwaltsvertragzu sehen.Der Rechtsanwalt hat nach ständiger höchstrichterli-cher Rechtsprechung zur Wahrnehmung der berech-tigten Interessen des Mandanten, wenn verschiedeneVorgehensweisen in Betracht kommen, den relativsichersten Weg zu wählen. Im Prozess hat er die zuGunsten seiner Partei sprechenden tatsächlichen undrechtlichen Gesichtspunkte vorzutragen (BGH, NJW1996, 2648 [2649 f.] = LM H. 10/1996 § 675 BGB Nr.231). Der Bekl. hätte deshalb dem Mandanten emp-fehlen müssen, bei den Gläubigem anzufragen, ob sieihn ausdrücklich zur Prozessführung ermächtigen.Stimmte der Kl. einem solchen Vorgehen zu, hatte ersich zu bemühen, von den Zessionaren entsprechendeErklärungen zu erhalten, die dann in den Prozess ein-zuführen waren. Da die Versicherung sich schon inder Klageerwiderung auf die Abtretung berufen hatte,stand dem Bekl. für eine solche Verfahrensweise ge-nügend Zeit zur Verfügung,Erweist sich die Unterlassung der beschriebenen Maß-nahmen auch nach neuer Verhandlung als eine vomBekl. zu verantwortende Vertragsverletzung, sind ihmderen Folgen selbst dann zuzurechnen, wenn die Kla-geabweisung im Vorprozess zugleich auf einer unrich-tigen gerichtlichen Auslegung der Abtretungen beruht;denn einen solchen Fehler hätte der Anwalt geradedurch vertragsgerechtes Arbeiten Einholung und Vor-lage der Prozessführungsermächtigungen - verhindernmüssen (vgl. Senat, NJW 1996, 48 [51] = LM H.3/1996 § 675 BGB Nr. 223; BGH, NJW 1996, 2648[2650]; NJW 1998, 2048 [2050] = LM H. 9/1998 §675 BGB Nr. 253).Das BerGer. meint weiter, im zweiten Vorprozess sei-en die gegen die Versicherung gerichteten Ansprüchezu Unrecht wegen Verjährung abgewiesen worden.Ob dem zu folgen ist, kann dahingestellt bleiben; denndie Frage der Verjährung ist für den Regressanspruchdes Kl. gegen den bekl. Rechtsanwalt bedeutungslos.

Hat der Kl., was das LG als bewiesen angesehen hat,die Versicherung zu Recht wegen des von ihm be-haupteten Einbruchsdiebstahls in Anspruch genommen,so war der Schaden spätestens mit Rechtskraft derTeilabweisung im ersten Vorprozess insoweit entstan-den, als es um die abgetretenen Forderungsteile (37487,42 DM) und die aus jenem Rechtsstreit herrühren-de Kostenbelastung des Kl. geht (vgl. zum Zeitpunktdes Schadenseintritts Senat, NJW 2000, 1263 = LM H.6/2000 § 51 b BRAO Nr. 4 = WM 2000,959 [960] m.w. Nachw.). Der Schaden des Kl. bestand darin, dasser die Abtretungsempfänger nunmehr selbst befriedi-gen musste, weil er mit dem aus fremdem Recht gel-tend gemachten Anspruch gegen die Versicherungnicht durchgedrungen war, diese also mit Erfolg Lei-stungen an seine Gläubiger verweigert hatte. Der nachder Rückabtretung begonnene Zweitprozess dient le-diglich dem Ziel, den bereits eingetretenen Schadenwieder zu beseitigen, soweit es um den Abtretungs-betrag von 37 487,42 DM ging.Haftet der Bekl. für den mit dem Verlust des Erstpro-zesses entstandenen Schaden, kann der einmal begrün-dete Anspruch durch den für den Kl. ebenfalls ungüns-tig ausgegangenen Zweitprozess nicht nachträglichentfallen sein; denn der Bekl. hat keine Tatsachen vor-getragen, die eine eigene Verantwortung des Kl. fürdie ihm ungünstige Zweitentscheidung begründen unddaher geeignet sein könnten, ein gem. § 254 BGB an-rechenbares Mitverschulden zu begründen. Den durchdie Belastung mit den Kosten des Erstprozesses einge-tretenen finanziellen Nachteil konnte der zweiteRechtsstreit ohnehin nicht mehr beseitigen.Hat der Bekl. dem Kl. für den Verlust des Anspruchsgegen die Versicherung sowie die Kosten des Erst-prozesses einzustehen, haftet er für die Kosten desZweitprozesses nicht nur, wenn er dem Kl. wegen Ver-jährung von der Führung dieses Rechtsstreits hätteabraten müssen, sondern auch dann, wenn für den Kl.begründete Aussichten bestanden, gegenüber der Ver-sicherung zu obsiegen.Nach der Rechtsprechung des erkennenden Senatskann der Anwalt, dem ein Fehler unterläuft, aus demseinem Auftraggeber ein Schaden droht, verpflichtetsein, zusätzliche honorarfreie Leistungen zu erbringen,sofern sich der Schadenseintritt nur noch auf dieseWeise verhindern lässt (BGH, NJW 1994, 1472 [1473]= LM H. 7/1994 § 675 BGB Nr. 200). Ist der Schadenbereits aus vom Rechtsanwalt zu verantwortendenGründen eingetreten, besteht jedoch berechtigte Aus-sicht, ihn durch einen Zweitprozess zu beseitigen oderzu verringern, hat der Anwalt auf Grund der ihn gem.§ 249 BGB treffenden Ersatzpflicht seinem Mandan-ten die dafür erforderlichen Aufwendungen zur Verfü-

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gung zu stellen, sofern er ihn nicht auf andere Weiseschadlos stellt. Führt der Anwalt in einem solchen Fallden Zweitprozess, handelt er auf eigenes Risiko; dennder geschädigte Auftraggeber ist ihm gegenüber nichtverpflichtet, sich auf einen weiteren Rechtsstreit zurSchadensminderung oder -beseitigung einzulassen. Erkönnte stattdessen sofort vom Anwalt Ersatz verlan-gen Zug um Zug gegen Abtretung der gegen den Drit-ten gerichteten Ansprüche (§ 255 BGB). Sieht derMandant - in der Regel aus Rechtsunkenntnis - davonab, sofort den Anwalt in Anspruch zu nehmen, und

lässt sich stattdessen auf einen weiteren Rechtsstreitein, ist es nur sachgerecht, dass sein einmal entstande-ner Schadensersatzansprüch durch einen ungünstigenAusgang des Zweitprozesses nicht mehr beeinträchtigtwerden kann, er also nicht das Risiko einer eventuellengerichtlichen Fehlentscheidung zu tragen hat. Tatsa-chen, die geeignet sein können, hier das Verhalten derPartei im Zweitprozess als gem. § 254 BGB beacht-lichen Verstoß gegen die Schadensminderungspflichtzu werten, ergeben sich jedenfalls aus dem erstinstanz-lichen Urteil nicht.

IMPRESSUM

HERAUSGEBERIN: JURA INTENSIV VERLAGS-GMBH & CO. KG, Salzstraße 18, 48143 Münster

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von 2 Wochen nach Ablauf des Erscheinungsmonats reklamiert werden.

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Strafrecht

Standort: § 263 StGB Problem: Vermögensschaden

KG, Urteil vom 28.9.2000 1 Ss 44/00 (NJW 2001, 86)

Problemdarstellung:

Das KG hatte zu entsc heiden, ob sich ein Angeklagter,der sich vermeintlich bereit erklärt, die Ehefrau seinesAuftraggebers gegen Bezahlung zu töten, wegen Be-trugs strafbar macht, wenn er sich einen Vorschusszahlen lässt, obwohl er zu keiner Zeit vorhatte, die Tatdurchzuführen. Das KG kommt auf der Basis der sog.wirtschaftlichen Vermögenslehre zu dem Ergebnis,dass ein Vermögensschaden i. S. des § 263 StGB auchbei sittenwidrigen und rechtswidrigen Geschäften zubejahen sein kann. Ein Vermögensverlust könne auchnicht allein deshalb verneint werden, weil das Verlore-ne gem. § 817 S. 2 BGB nicht im Rechtsweg zurück-verlangt werden kann. Vielmehr müsse derjenige, dernicht die Möglichkeit habe, nachträglich einen Aus-gleich seines Verlusts zu erreichen, erst recht als ge-schädigt gelten.

Prüfungsrelevanz:

Der Streit um die zutreffende Vermögenslehre zählt zuden Standardproblemen des Besonderen Teils. Da dersog. juristische Vermögensbegriff heute nicht mehrvertreten wird und die sog. personale Vermögenslehrenur vereinzelt Anhänger gefunden hat, stehen sich imwesentlich der rein wirtschaftliche und der juristisch-ökonomisch Vermögensbegriff gegenüber. Beide An-sichten gehen von einer grundsätzlich wirtschaftlichenBetrachtungsweise aus, streiten sich aber darüber, obnur solche wirtschaftlich wertvollen Positionen ge-schützt sind, die dem Vermögensträger auch rechtlichzustehen. Die Rechtsprechung folgt grundsätzlich derwirtschaftlichen Vermögenslehre, macht aber gewisse(und damit ungewisse) “normative Einschränkungen”.Im einzelnen sind mehrere Fallgruppen zu unterschei-den, wobei es vorliegend weder um das Erschleichender Arbeitskraft zu sittenwidrigen oder verbotenenZwecken noch um die Frage geht, ob nichtige Ansprü-che Vermögenswert besitzen (vgl. dazu und zu denübrigen Fallgruppen Otto, Jura 1993, 424 ff.; Rengier,BT I, 13/56 ff.; Kühl, JuS 1989, 505 ff. ; Küper, BT, 3.Auflage, S. 332 ff.). Vielmehr ist der Fall des KG da-

durch gekennzeichnet, dass das Opfer Geld, welchesihm unstreitig rechtlich zustand, zu einem verbotenenZweck (Tötung der Ehefrau) hingegeben hat. Für die-se Konstellation nehmen nicht nur die Vertreter derwirtschaftlichen Vermögenslehre, sondern auch dieRechtsprechung und ein großer Teil der Vertreter desjuristisch-ökonomischen Vermögensbegriffes an, dasseine geldwerte Position grundsätzlich nicht dadurchschutzunwürdig wird, dass sie zur Verfolgung einesverbotenen Zwecks eingesetzt wird, da der Schädigerkeinen “Freibrief” erhalten dürfe, sich durch Täu-schung beliebig zu bereichern (vgl. zu dieser Fallgrup-pe insb. Bergmann/Freund, JR 1988, 191 ff.).

Leitsätze (der Redaktion):Ein Vermögensschaden i. S. des § 263 StGB istauch bei sittenwidrigen und rechtswidrigen Ge-schäften zu bejahen. Ein Vermögensverlust kannnicht deshalb verneint werden, weil das Verlore-ne gem. § 817 S. 2 BGB nicht im Rechtsweg zu-rückverlangt werden kann. Im Gegenteil mussderjenige, der nicht die Möglichkeit hat, nach-träglich einen Ausgleich seines Verlusts zu errei-chen, erst recht als geschädigt gelten.

Sachverhalt: Im Spätsommer 1995 lernte der Angekl. in einem Lo-kal in B. den Ingenieur K kennen. K hatte den Plangefasst, seine Ehefrau durch einen gedungenen Mör-der töten zu lassen, und suchte nun nach einer Person,die geeignet und bereit erschien, die Tat auszuführen.Der Angekl. traf sich in der Folgezeit mehrmals mit Kund erklärte sich schließlich zum Schein damit einver-standen, den Mordplan gegen Zahlung eines Lohnesvon 35.000 DM in die Tat umzusetzen. In Wahrheitwar der Angekl. jedoch zu keinem Zeitpunkt gewillt,das Verbrechen tatsächlich zu begehen. Gleichwohlließ er K in dem Glauben, dass er den Mordauftragausführen wolle, traf sich noch weitere Male mit ihm,um die Details der Tat zu besprechen, und forderteauch einen Vorschuss auf den vereinbarten Lohn. Beieinem letzten Treffen, das am 13. 10. 1995 in derGaststätte A in C. stattfand, überreichte K dem An-gekl. unter anderem einen Umschlag, der die als "An-zahlung" bezeichnete Geldsumme von 5.000 DM in bar

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enthielt. Der Angekl. nahm das Geld entgegen undverbrauchte es im Laufe der nächsten Tage für sich.Nach wenigen Wochen kam dem Angekl. die Befürch-tung, dass K über kurz oder lang einen anderen Täteranheuern werde, der den Mord dann tatsächlich aus-fuhren wolle. Er wandte sich deshalb zunächst an ei-nen Mitarbeiter der Zeitschrift "Stern", den er über diePläne K umfassend unterrichtete. Auf Veranlassungdes Journalisten zeigte er den Sachverhalt am 7. 11.1995 bei der Polizei an. K wurde einige Wochen spä-ter festgenommen und wegen versuchter Anstiftungzum Mord angeklagt.Das erweiterte Schöffengericht Tiergarten in Berlinhat den Angekl. vom Vorwurf des Betrugs freigespro-chen und ihn wegen Meineids zu einer Freiheitsstrafevon acht Monaten verurteilt, deren Vollstreckung zurBewährung ausgesetzt worden ist. Die Sprungrevisionder StA hatte Erfolg.

Gründe: 1. Die zum Freispruch führenden Erwägungen desSchöffengerichts halten der rechtlichen Nachprüfungnicht stand. Rechtsfehlerhaft hat es den Tatbestanddes Betrugs (§ 263 I StGB) als nicht erfüllt angesehen.Die Frage, ob ein Vermögensschaden i. S. des § 263StGB bei rechts- und sittenwidrigen Geschäften in Be-tracht kommen kann, ist umstritten.a) Ein Teil des Schrifttums (vgl. Cramer, in: Schön-ke/Schröder, StGB, 25. Aufl., § 263 Rdnrn. 82 f., 93,148 u. 150; Samson/Günther, in: SK-StGB, § 263 Rdnr.149; Tröndle/Fischer, StGB, 49. Aufl., § 263 Rdnr. 29a ; R e n z i k o w s k i , G A 1 9 9 2 , 1 5 9 [ 1 7 5 ] ;Freund/Bergmann, JR 1991, 357 [358]; Mainwald,NJW 1981, 2777 [2780 f.]) sowie das RG in früherenEntscheidungen (vgl. RGSt 19, 186 [190 f.]; 36, 334[343 f.]; 37, 161) haben diese Frage verneint. DerTatbestand des Betrugs setze einen Eingriff in dasrechtlich geschützte Vermögen anderer voraus. Er seinicht erfüllt, wenn der Getäuschte zu der tatsächlichsein Vermögen mindernden Aufwendung durch dieVorspiegelung einer Gegenleistung bestimmt wordensei, die eine unsittliche oder unerlaubte Handlungausmachen würde. Der Staat könne die Verletzungsolcher Verträge, denen er überhaupt die rechtlicheAnerkennung versage, nicht strafrechtlich ahnden (vgl.RGSt 19, 186 [190 f.]; 36, 334 [343]). Unter dem Ge-sichtspunkt der Einheit der Rechtsordnung käme es zuunauflösbaren Wertungswidersprüchen, wenn dasStrafrecht eine wirtschaftlich nutzbare Position alsVermögensbestandteil anerkenne, während andereTeile der Rechtsordnung deren Realisierung in jegli-cher Beziehung verbieten und missbilligen. Der Ge-täuschte schädige sich wegen seiner Kenntnis von der

rechtlichen Unwirksamkeit des Geschäfts bewusstselbst, leiste also wegen der Nichtigkeit des Vertragsauf eigene Gefahr (vgl. Cramer, in: Schön-ke/Schröder, § 263 Rdnrn. 83, 150). Anderenfalls wür-de die Betrugsstrafbarkeit das Vertrauen in die täu-schungsfreie Abwicklung etwa eines Mordkomplottsschützen. Die Rechtsordnung müsse vielmehr im Ge-genteil das Vertrauen des Auftraggebers in solchenFällen als rechtlich in keiner Weise schützenswert er-klären, weil es im Interesse des Vermeidung der inAussicht genommenen Rechtsgutverletzung dringenderforderlich sei, dass derartiges Vertrauen in jederHinsicht sanktionslos enttäuscht werden könne. Diessei auch die Funktion des § 817 S. 2 BGB (vgl.Freund/Bergmann, JR 1991, 357 [358]).b) Seit der Entscheidung der Vereinigten Strafsenatedes RG (RGSt 44, 230 [235 ff.]) ist die oben unter adargelegteAnsicht von der Rechtsprechung aufgegeben worden.Diese und ein Teil der Literatur gehen von einem wirt-schaftlichen Vermögensbegriff aus und bejahen dasVorliegen eines Betrugs auch bei sittenwidrigen undverbotenen Geschäften (vgl. BGHSt 2, 364 [367 f.];29, 300; OLG Köln, MDR 1972, 884 [885]; Lack-ner/Kühl, StGB, 23. Aufl., § 263 Rdnr. 35; Lackner,in: LK-StGB, 10. Aufl., § 263 Rdnr. 242; Krey,StrafR, BT, 12. Aufl., Rdnr. 434; Rengier, StrafR, BT,3. Aufl., § 13 Rdnr. 60; Otto, Jura 1993, 424 [426];Tenckhoff, JR 1988, 126 [127]; Bruns, JR 1984, 133[139], und Bruns, in: Festschr. f. Metzger, S. 335 [351ff.]). Dem schließt sich der Senat an, so dass im vor-liegenden Fall ein Betrug zum Nachteil des K gegebenist.Vermögen ist die Summe aller wirtschaftlichen Gütereiner Person. Ein Vermögensschaden liegt in der Min-derung der Wertsumme (vgl. Otto, Jura 1993, 424[425]), und zwar im vorliegenden Fall um 5000 DM,ohne eine Gegenleistung dafür erhalten zu haben.Dies gilt auch, wenn es sich um ein rechtswidriges Ge-schäft handelt. Ein Vermögensverlust kann nicht des-halb verneint werden, weil das Verlorene gem. § 817S. 2 BGB nicht im Rechtswege zurückverlangt werdenkann. Im Gegenteil muss derjenige, der nicht die Mög-lichkeit hat, nachträglich einen Ausgleich seines Ver-lusts zu erreichen, erst recht als geschädigt gelten.Die zivilrechtliche Betrachtungsweise darf dabei nichtirreführen. Wenn § 817 S. 2 BGB dem Leistendendas Rückforderungsrecht vorenthält, so kann es damitdie Tatsache des Verlustes nicht aus der Welt schaf-fen (vgl. RGSt 44, 230 [239 f.]). § 817 S. 2 BGB be-rührt die Schadensfrage als solche nicht. Die Vor-schrift versagt nach ihrem Zweck vielmehr nur dierechtliche Hilfe zur Rückabwicklung des verbotenen

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Geschäfts (vgl. Lackner, in: LK-StGB, § 263 Rdnr.242). Die Unterschiede zwischen dem Privat- undStrafrecht resultieren daraus, dass die Aufgabe derbeiden Rechtsordnungen verschiedenartig ist (vgl.RGSt 44, 230 [241]). Die Verfolgung verbotenerZwecke durch den Getäuschten kann kein Freibrief fürden Schädiger sein, sich die Vermögenswerte, die derGetäuschte zu unerlaubten Zwecken riskiert, zu eige-nem Nutzen zu verschaffen. In diesem Falle sind bei-de strafwürdig, auch wenn der Schutz des Strafrechtsdann unter Umständen einem Unwürdigen zugutekommen kann. Das darf jedoch kein Grund sein, denStrafanspruch des Staates einem Täter gegenüberpreiszugeben, der Strafe verdient hat. Wo die Staats-gewalt strafend eingreift, geschieht dies keineswegsallein um des verletzten Privatinteresses willen. Nichtdem einzelnen Geschädigten wird die strafrechtlicheSühne des Verbrechens als Genugtuung geschuldet,sondern der durch die Verbrechensbegehung gefähr-deten allgemeinen Rechtsordnung. Der Bruch derRechtsordnung im Falle des § 263 StGB bleibt dersel-be, ob der Angegriffene sich bei seinem Verhaltenseinerseits mit dem Gesetz im Einklang befunden hatoder nicht (vgl. RGSt 44, 230 [247f.]; BGHSt 2, 364[368]). Anderenfalls würde man im Verhältnis vonRechtsbrechern untereinander Betrug und Erpressunggutheißen (vgl. Krey, Rdnr. 434). Vielmehr gilt dieStrafrechtsordnung auch für und gegen Verbrecheruntereinander (vgl. Bruns in: Festschr. f. Metzger, S.335 [361]). Diese Grundsätze sind auf den vorliegen-den Fall anwendbar. Er ist insoweit insbesondere ver-gleichbar mit dem vom RG entschiedenen, bei dem derVerkäufer eines untauglichen Abtreibungsmittels einenBetrug begangen hat (RGSt 44, 230) und mit dem vomBGH entschiedenen Fall der Annahme von Geld unterVorspiegelung der Vornahme einer ungesetzlichenDiensthandlung (BGHSt 29, 300). Auch wenn in demhier zu beurteilenden Fall der Geschädigte die durchTäuschung veranlasste Vermögensverfügung im Rah-men des schwerer wiegenden Verbrechenstatbestandsder versuchten Anstiftung zum Mord vorgenommenhat, kann für das Vorliegen von Betrug nichts anderesgelten. Der freisprechende Teil des Urteils des Schöf-fengerichts war daher aufzuheben.2. Der Angekl. ist somit des Betrugs nach § 263 IStGB schuldig. Der Senat durfte hier unter entspre-

chender Anwendung von § 354 I StPO ausnahmswei-se in der Schuldfrage selbst entscheiden. Die Ver-urteilung eines vom Tatrichter freigesprochenen An-gekl. durch das RevGer. unter Zurückverweisung zurFestsetzung der Strafe wird unter bestimmten, engenVoraussetzungen ganz überwiegend für zulässig er-achtet (vgl. BGH, NJW 1952, 1263 [1264]; BGHSt36, 277 [282 f.]; Kleinknecht/Meyer-Goßner, StPO,44. Aufl., § 354 Rdnr. 23; Kuckein, in: KKStPO, 4.Aufl., § 354 Rdnr. 13; Hanack, in: Löwe/Rosenberg,StPO, 25. Aufl., § 354 Rdnr. 44). Dem schließt sichder Senat jedenfalls für eng begrenzte Ausnahmefälle,zu dem der vorliegende gehört, an. Denn das Schöf-fengericht hat hier alle entscheidungserheblichen Um-stände aufgeklärt. Das angefochtene Urteil enthält voll-ständige und rechtsfehlerfreie Feststellungen zum äuße-ren und inneren Tatbestand des Betrugs, die aus-schließlich auf dem umfassenden Geständnis des An-gekl. beruhen. Bei dieser Sachlage ist auszuschließen,dass dem Angekl. Rügemöglichkeiten abgeschnittenwerden und weitere für ihn günstigere Erkenntnisseauch im subjektiven Bereich getroffen werden könn-ten.Das Schöffengericht hat lediglich eine zu beurteilendeRechtsfrage abweichend von der dargestellten Auf-fassung des Senats bewertet. In diesem Ausnahmefallwäre es weder sinnvoll noch prozessökonomisch,wenn das RevGer. wegen eines bloßen Subsumtions-fehlers eine Sache an den Tatrichter zurückverweisenmüsste, dem dann nichts anderes übrig bliebe, als denSchuldspruch unter Berücksichtigung der Rechtsauf-fassung des RevGer. zu berichtigen (vgl. OLG Düssel-dorf, NJW 1991, 186 [187]; Hanack, in: Lö-we/Rosenberg, § 354 Rdnr. 44). Eines rechtlichenHinweises nach § 265 I StPO bedurfte es nicht, weilder Schuldspruch nicht von der Anklageschrift ab-weicht. Da die Verurteilung nicht durch eine vom tat-richterlichen Freispruch abweichende eigene Beweis-würdigung des RevGer. erfolgt, bestehen auch keineverfassungsrechtlichen Bedenken (BVerfG, StV 1991,545 [546]).Im Umfang der Aufhebung war die Sache gem. § 354II 1 StPO zur Verhandlung und Entscheidung über denStrafausspruch sowie die Kosten der Revision an eineandere Abteilung des AG Berlin-Tiergarten zurück-zuverweisen.

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Standort: § 264 StPO Problem: Nicht angeklagte Tat als Gegenstand des Urteils

BGH, URTEIL VOM 17.08.2000

4 STR 245/00 (NJW 2000, 3293)

Problemdarstellung:

In der nachstehenden Entscheidung hatte sich derBGH mit der Frage zu beschäftigen, ob nach Zulas-sung der Anklage eine Änderung des in der Anklage-schrift versehentlich angegebenen Tatzeitraums in Be-tracht kommt. Nachdem dem Vorsitzenden zu Beginnder Hauptverhandlung anhand einer Begleitverfügungaufgefallen war, dass der in der Anklageschrift ange-gebene Tatzeitraum offensichtlich fehlerhaft angege-ben war, wurde mit der Zustimmung der Staatsanwäl-tin die Anklageschrift entsprechend geändert. DerBGH hält eine solche Änderung für unzulässig, da dieVeränderung des Tatzeitraums eine Änderung vonangeklagter und abgeurteilter Tat mit sich bringt, wenn- wie hier - die in der Anklage beschriebene Tat nichtaufgrund anderer Merkmale hinreichend individualisiertist. Darüber hinaus sei eine korrigierende “Auslegung”der Anklageschrift ebenfalls nicht gestattet, da damitUnsicherheiten über den Verfahrensgegenstand ver-bunden seien.

Prüfungsrelevanz:

Die Entscheidung betrifft den examensrelevanten pro-zessualen Tatbegriff i.S. der §§ 155, 264 StPO. Ähn-lich wie im Zivlprozess das Gericht in seiner Überprü-fungskompetenz auf den mit der Klage beschriebenenStreitgegenstand beschränkt ist (vgl. §§ 253, 308ZPO), erstreckt sich auch der Umfang der strafge-richtlichen Untersuchung “nur auf die in der Klagebezeichnete Tat” (§ 155 I StPO; sogen. “Ankla-gegrundsatz”), wobei Tat im prozessualen Sinn dergesamte geschichtliche Lebensvorgang ist, soweit erbei natürlicher Betrachtung eine Einheit bildet. DerTatbegriff bestimmt den Prozeßgegenstand und ent-scheidet damit nicht nur über den Umfang der Rechts-hängigkeit, sondern insbesondere auch über die Reich-weite der Rechtskraft und einen etwaigen Strafklage-verbrauch (vgl. zur Übersicht Roxin, Lb., § 20 undNeuefeind, JA 2000, 791).Grundsätzlich ist der Beschreibung des Lebenssach-verhaltes nicht “statisch”, sondern in gewissem Um-fang auch Veränderungen zugänglich, solange nur dieSubstanz des angeklagten Vorganges erhalten bleibt(Roxin, a.a.O, § 20, Rn. 6 f. und ausführlich Puppe,NStZ 1982, 230). Insbesondere ist eine unrichtige Be-

zeichnung der Tatzeit oder des Tatortes unschädlich,wenn die Tat noch hinreichend individualisiert ist. Er-geben sich dabei Veränderungen des rechtlichen Ge-sichtspunktes, is t entsprechend § 265 StPO zu verfah-ren.

Da die Tat nach Ansicht des BGH vorliegend nichthinreichend invidualisiert war, hätte das Gericht vorErlass des Eröffnungsbeschlusses anhand des Akten-inhalts prüfen müssen, ob der Angeklagte innerhalbdes in der Anklage bezeichneten Tatzeitraums der ihmzur Last gelegten Tat hinreichend verdächtig ist undggfs. die Anklage an die StA zu einer “Nach-besserung” zurückgeben müssen.

Leitsätze:1. Eine Änderung der in der Anklageschrift ange-gebenen Tatzeiten, durch die bisher von der An-klage nicht erfasste Straftaten in die Strafverfol-gung einbezogen werden sollen, ist nach Zulas-sung der Anklage auch dann nicht zulässig, wennes sich bei den Angaben in der Anklageschriftum ein Versehen der Staatsanwaltschaft gehan-delt hat und diese der Änderung zustimmt.2. Ist eine nicht angeklagte Tat abgeurteilt wor-den, so unterliegt auch das freisprechende Urteilauf zulässige Revision der Staatsanwaltschaft derAufhebung. Das beim Landgericht geführte Ver-fahren ist einzustellen. Der Grundsatz des "Vor-rangs des Freispruchs vor der Einstellung" gilthier nicht.3. Hält der Tatrichter rechtsirrig eine Tat fürnicht angeklagt und sieht er daher von einer Ent-scheidung über diese Tat ab, so ist das Verfahrenin diesem Umfang weiterhin bei ihm anhängig;eine Entscheidungsbefugnis des Revisionsge-richts in der Sache besteht insoweit nicht.

Sachverhalt: Das LG hat den Angekl. von dem Vorwurf des sexu-ellen Missbrauchs eines Kindes in Tateinheit mit sexu-ellem Missbrauch einer Schutzbefohlenen in 324 Fällenfreigesprochen. Ferner hat es angeordnet, dass derAngekl. für die erlittene Untersuchungshaft zu entschä-digen ist. Mit ihrer hiergegen gerichteten Revision, mitder sie die Verletzung materiellen Rechts rügt, erstrebtdie StA die Aufhebung des freisprechenden Urteils.Das Rechtsmittel, das vom Generalbundesanwalt ver-treten wird, hatte teilweise Erfolg; im Übrigen war es

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unbegründet.Die - unverändert zugelassene - Anklage vom 24. 2.1997 hatte dem Angekl. zur Last gelegt, in der Zeit"von März 1994 bis Mai 1996" in 324 Fällen sexuelleHandlungen an der am 27. 1. 1985 geborenen C vor-genommen zu haben. Hierzu hat das LG in den Grün-den der angefochtenen Entscheidung ausgeführt:"Die vorbezeichnete Anklageschrift enthält insoweiteinen Fehler, als hier offensichtlich der Zeitraum März1993 bis Mai 1995 gemeint sein sollte. Dies ergibt sichaus der Begleitverfügung zur Anklageschrift Nr. 4.Hiernach beruht der Inhalt der Anklageschrift, soweitStraftaten zum Nachteil der C betroffen sind, auf derZeugenvernehrnung der C durch die sachbearbeitendeStaatsanwältin am 19. 12. 1996. Innerhalb dieser Zeu-genvernehmung hatte C bekundet, dass die sexuellenHandlungen des Angekl. vom zweiten Schuljahr an (imAlter von acht Jahren) begannen und bis zum Beginndes fünften Schuljahres andauerten; Jahreszahlennannte C hierbei nicht. Gemäß der oben genanntenBegleitverfügung wurde daher seitens der StA voneinem Tatzeitraum Mitte der zweiten Klasse (März1994) bis Ende der vierten Klasse (Mai 1996) ausge-gangen. Tatsächlich muss es sich dann aber um denZeitraum März 1993 bis Mai 1995 gehandelt haben, dasich C zum Zeitpunkt ihrer staatsanwaltschaftlichenVernehmung vom 19. 12. 1996 in der sechsten Klassebefand (gemäß der Zeugenvernehmung der T vom 19.12. 1996, die zum Zeitpunkt ihrer Vernehmung in diesechste Klasse ging, war C zum damaligen Zeitpunktihre Klassenkameradin). Im Übrigen hat C innerhalbder oben genannten staatsanwaltschaftlichen Verneh-mung bekundet, nach ihrer Verbringung in den Kinder-und Jugendnotdienst und anschließend in das E-W-Kinderheim habe es keine sexuellen Handlungen desAngekl ihr gegenüber mehr gegeben. Die Verbringungins Kinderheim fang jedoch, was bereits aus verschie-denen Aktenvermerken ersichtlich ist und auch durchdie Zeugin W (Heimerzieherin) in der Hauptverhand-lung bestätigt wurde, im September 1995 statt, wobeisich C vorher noch maximal zwei Monate in einerÜbergangseinrichtung des Kinder- und Jugendnotdien-stes aufgehalten hat. Bei dem in der Anklageschriftangenommenen Tatzeitraum März 1994 bis Mai 1996handelt es sich daher offensichtlich um einen Berech-nungsfehler der sachbearbeitenden Staatsanwältin,worauf vom Vorsitzenden gleich zu Beginn der Haupt-verhandlung hingewiesen wurde. Die sachbearbeiten-de Staatsanwältin, welche auch Sitzungsvertreterin derStA in der Hauptverhandlung war, hat dem zu-gestimmt."

Gründe:

Das LG hat den Angekl. auf der Grundlage, dass Ge-genstand der Anklage somit (ausschließlich) Straftatenzum Nachteil der C im Zeitraum März 1993 bis Mai1995 seien, aus tatsächlichen Gründen freigesprochen,da nicht festgestellt werden könne, dass es währenddieser Zeit zu sexuellen Übergriffen des Angekl. ge-genüber C gekommen sei. Es hat allerdings die Mög-lichkeit offen gelassen, dass der Angekl. sich im Jahre1995 in der damaligen Wohnung in der L.Straße mehr-fach an C vergangen hat. An der Aburteilung dieserStraftaten hat es sich jedoch gehindert gesehen, danicht ausgeschlossen werden könne, dass sie erst nachMai 1995 und somit außerhalb des angeklagten Zeit-raums begangen worden seien. Dies hält rechtlicherNachprüfung nicht stand. Die Bf. beanstandet im Er-gebnis zu Recht, dass das LG die von der Anklageumfassten Taten nicht erschöpfend abgeurteilt hat.1. Gegenstand der zugelassenen Anklage vom 24. 2.1997 sind 324 Missbrauchstaten, begangen in demZeitraum März 1994 bis Mai 1996. Auf diese Tatenerstreckte sich gem. § 264 StPO die Kognitionspflichtdes LG. Die in der Hauptverhandlung vorgenommene"Korrektur" des Tatzeitraums war rechtlich unzulässigund konnte daher, nicht den durch die Anklage vor-gegebenen Verfahrensgegenstand nachträglich än-dern.a) Zwar wird bei funktionellen Mängeln der Anklage-schrift, etwa bei unzureichender Identifizierung derTat(en), eine Behebung des Mangels durch eine ent-sprechende Klarstellung noch in der Hauptverhandlungfür zulässig erachtet (vgl. BGH, GA 1973, 111 [112];GA 1980, 108 [109]; Kleinknecht/Meyer-Goßner,StPO, 44. Aufl., § 201 Rdnr. 26 m. w. Nachw.). Soliegt der Fall hier jedoch nicht. Die Anklage vom 24. 2.1997, in der die Grundzüge der Art und Weise der Tat-begehung, ein bestimmter Tatzeitraum und die Anzahlder Missbrauchsfälle angegeben werden, erfüllt nochdie Anforderungen, die an die Tatkonkretisierung inFällen einer Vielzahl von sexuellen Übergriffen gegen-über einem Kind zu stellen sind (vgl. BGHSt 44, 153[154 f.]m.w.Nachw.). Zudem diente der Hinweis desGerichts hier nicht der näheren Tatkonkretisierung,vielmehr sollte der in der schriftlichen Anklage be-zeichnete Tatzeitraum durch einen anderen ersetztwerden.b) Allerdings braucht eine Veränderung des Tatzeit-raums die Identität zwischen Anklage und abgeurteilterTat nicht aufzuheben . Dies setzt aber voraus, dass diein der Anklage beschriebene Tat unabhängig von derTatzeit nach anderen Merkmalen individualisiert ist.Das ist hier nicht der Fall. Allein der Umstand, dassdie insgesamt 324 angeklagten sexuellen Übergriffe -ohne weitere nähere Zuordnung - in verschiedenen

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Wohnungen, in denen das Tatopfer zu den Tatzeit-punkten jeweils lebte, stattgefunden haben sollen, ge-nügt hierfür nicht.c) Ersichtlich war das LG der Auffassung, zu einer"Korrektur" des in der Anklage wiedergegebenen Tat-zeitraums anhand der "Begleitverfügung zur Ankla-geschrift" und des sonstigen Akteninhalts befugt zusein. Dem kann nicht gefolgt werden.aa) Zwar sind Prozesshandlungen, also auch Ankla-gen, auslegungsfähig. Allerdings darf der Inhalt sichnicht bloß aus völlig außerhalb der Erklärung liegendenUmständen ergeben (vgl. Roxin, StrafverfahrensR, 25.Aufl., § 22 Rdnr. 5). So ist es zwar zulässig, zur Ver-deutlichung und ergänzenden Erläuterung des Ankla-gesatzes auf das wesentliche Ergebnis der Ermittlun-gen zürückzugreifen (st. Rspr., vgl. BGHSt 5, 225[227]; BGH, GA 1973, 111; GA 1980, 108 [109]). DerRückgriff auf den sonstigen Akteninhalt ist jedochnicht statthaft (vgl. Rieß, in: Löwe/Rosenberg, StPO,24. Aufl., § 207 Rdnr. 57 sowie zum Ganzen auchPuppe, NStZ 1982, 230). Dies folgt schon aus derFunktion der Anklage im Strafverfahren. Ihr Inhaltbestimmt zusammen mit dem Eröffnungsbeschluss dieGrundlage der Hauptverhandlung. Aus ihr müssen dieVerfahrensbeteiligten, namentlich der Angekl. zumZwecke seiner Verteidigung, zweifelsfrei entnehmenkönnen, innerhalb welcher tatsächlicher Grenzen sichdie Hauptverhandlung und die Urteilsfindung gern. §§155, 264 StPO zu bewegen haben. Davon hängt auchab, welche tatsächlichen Vorgänge von der Rechts-kraft einer Verurteilung oder eines Freispruchs erfasstwerden. Bereits diese Gesichtspunkte zeigen, dasseine "Auslegung" der Anklage anhand des sonstigenAkteninhalts, die notwendigerweise zu Unsicherheitenüber den eigentlichen Verfahrensgegenstand führenwürde, rechtlich nicht zulässig sein kann. Dies gilt erstrecht - auch im Hinblick auf die Regelung in § 152 IStPO - für eine Korrektur des Anklagesatzes, wie siehier das LG vorgenommen hat. Das LG war vielmehrverpflichtet, vor Erlass des Eröffnungsbeschlusses an-hand des Akteninhalts zu prüfen, ob der Angekl. in-nerhalb des in der Anklage bezeichneten Tatzeitraumsder ihm zur Last gelegten Straftaten hinreichend ver-dächtig ist (§ 203 StPO). Bei Vorliegen eines "offen-sichtlichen Berechnungsfehlers" hätte es die Anklagean die StA zur "Nachbesserung" zurückgeben und -wenn eine solche verweigert würde - die Eröffnungdes Hauptverfahrens (teilweise) ablehnen müssen.bb) An dem aufgezeigten Ergebnis ändert auch nichts,dass - wie das Urteil mitteilt - die sachbearbeitendeStaatsanwältin, die auch Sitzungsvertreterin in derHauptverhandlung war, der Änderung des Tat-zeitraums zugestimmt hat. Mit der Eröffnung des

Hauptverfahrens kann die öffentliche Klage nichtmehr zurückgenommen werden (§ 156 StPO). Damitverliert die StA die Dispositionsbefugnis über die Kla-ge (BGHSt 29, 224 [229]). Sie kann daher auch nichtmehr die angeklagte prozessuale Tat "auswechseln".Ist dem Angekl. nach Eröffnung des gerichtlichenVerfahrens im Rahmen der in der Anklage bezeich-neten Tat(en) strafbares Verhalten nicht nachzuwei-sen, so ist er freizusprechen. Erscheint der Angekl. derStA stattdessen anderer Straftaten (i. S. des § 264StPO) hinreichend verdächtig, so wird die StA diese -gegebenenfalls im Wege der Nachtragsanklage (§ 266StPO) - (neu) anzuklagen haben.2. Der aufgezeigte Rechtsfehler wirkt sich auf denBestand der angefochtenen Entscheidung wie folgtaus:a) Soweit der Angekl. von Missbrauchstaten, began-gen in dem von der Anklage vom 24. 2. 1997 nichtumfassten Tatzeitraum März 1993 bis Februar 1994,freigesprochen worden ist, mangelt es dem erstinstanz-lichen Verfahren an den Prozessvoraussetzungen einerAnklage und eines Eröffnungsbeschlusses. Dies führtinsoweit zur Aufhebung des Urteils; zugleich ist das indiesem Umfang beim LG geführte Verfahren einzu-stellen (BGHSt 27, 115 [117]). Allerdings wird in deroberlandesgerichtlichen Rechtsprechung die Auffas-sung vertreten, in einem solchen Fall, in dem über einenicht angeklagte Tat befunden werde, sei für eine Ein-stellung neben der Urteilsaufhebung kein Raum. Einerfolgreiches Rechtsmittel führe nämlich grundsätzlichdazu, dass die Entscheidung hergestellt werde, die beirichtiger Sachbehandlung schon der in der Vorinstanztätig gewesene Richter hätte treffen müssen; eine da-rüber hinausgehende Einstellung des Verfahrens schei-de aus, weil eine weitere Tat nicht Gegenstand desVerfahren geworden sei (BayObLG, VRS 57, 39;BayObLG, VRS 58, 432; KG, VRS 64, 42; OLG Ko-blenz, VRS 63, 372; OLG Stuttgart, VRS 71, 294). Dasist zwar an sich zutreffend, dabei wird aber übersehen,dass auch das beim LG (teilweise) ohne Anklage ge-führte Verfahren zu einem ordnungsgemäßen Ab-schluss gebracht werden muss. Anderenfalls könntesonst keine dem Angekl. günstige Entscheidung überdie - erstinstanzlichen - Kosten des Verfahrens undseine notwendigen Auslagen getroffen werden.Der Grundsatz des "Vorrangs des Freispruchs vor derVerfahrenseinstellung" steht der Einstellung nicht ent-gegen. Zwar ist in der Rechtsprechung anerkannt,dass bei Vorliegen bestimmter Verfahrenshindernissedie an sich gebotene Einstellung des Verfahrens dannnicht in Betracht kommt, wenn die Hauptverhandlungbereits ergeben hat, dass der Angekl. aus tatsächlichenoder rechtlichen Gründen freizusprechen wäre. Dies

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hat der BGH im Anschluss an das RG (vgl. RGSt 66,51 [53]; 72, 296 [300]; anders aber noch RGSt 42, 399[401]) erstmals bei Fehlen des erforderlichen Strafan-trags so entschieden (BGHSt 1, 231 [235]; 7, 256[261]) und in der Folge bei Eingreifen eines Straffrei-heitsgesetzes (BGHSt 13, 268 [272 f.]) und für denFall der Verneinung des öffentlichen Interesses imKartellbußgeldverfahren (BGHSt 20, 333 [335]) soausgesprochen. In jüngeren Entscheidungen ist die Gül-tigkeit dieses "Grundsatzes" auch für die Fälle des Ein-tritts von Verfolgungsverjährung (vgl. BGHSt 44, 209[219]; BGH, NStZ-RR 1996, 299) bejaht worden. Ausden bisher entschiedenen Einzelfällen kann jedochnicht ohne weiteres ein allgemeiner, für alle Prozess-voraussetzungen geltender Grundsatz hergeleitet wer-den (zweifelnd schon BayObLGSt 1963, 44 [47]). ImFall der Amnestie liegt es auf der Hand, dass bei einerEinstellung trotz Spruchreife im Sinne eines Frei-spruchs sich letztlich der Sinn und Zweck des Straf-freiheitsgesetzes ins Gegenteil verkehren, eine zuGunsten des Angekl. gedachte Anordnung sich im Er-gebnis zu seinen Ungunsten auswirken würde (vgl.BGHSt 13, 273). Ähnlich verhält es sich auch in denübrigen bisher entschiedenen Fällen. Ihnen ist gemein-sam, dass der Angeklagte auf Grund ihn begünstigen-der gesetzlicher Regelungen in Bezug auf einzelneStraftatbestände von einer (weiteren) Strafverfolgungausgenommen wird. Das gerichtliche Verfahren kannaber im Übrigen - etwa wegen der tateinheitlichenVerwirklichung weiterer Delikte - gegebenenfalls fort-geführt werden.Hier liegt es jedoch anders: Die Anklage stellt, wie dieBestimmungen der §§ 151, 155 I, 264 I StPO zeigen,die Grundlage und unabdingbare Voraussetzung fürdas gerichtliche Verfahren insgesamt dar. Durch siewird das Verfahren erst bei Gericht anhängig, ohne siedarf eine Sachentscheidung nicht, und zwar unter kei-nem rechtlichen Gesichtspunkt, ergehen. Dass es hier-bei nicht um die Frage "Einstellung oder Freispruch"geht, zeigt sich schon daran, dass - wie ausgeführt -hier nicht das gesamte mit einer Anklage eingeleiteteVerfahren eingestellt wird, sondern nur das fehlerhaftohne Anklage beim LG durchgeführte Verfahren. Je-denfalls dann, wenn es - wie hier - an einer Anklagevöllig fehlt, ist somit für einen Freispruch kein Raum;über eine Sache, die beim Tatgericht nicht anhängig

geworden ist, kann und darf auch das Rechtsmittelge-richt nicht in der Sache selbst entscheiden.b) Das Urteil unterliegt auch der Aufhebung, soweitder Angekl. von dem Vorwurf freigesprochen wordenist, sich vor Juni 1995 in der Wohnung L.-Straße andem Kind C sexuell vergangen zu haben. Das LG warder Auffassung, den Angekl. insoweit unter Anwen-dung des Grundsatzes "in dubio pro reo" freisprechenzu müssen, da nicht ausgeschlossen werden könne,dass die dort begangenen Taten erst nach Mai 1995uni damit außerhalb des von ihm angenommenen An-klagezeitraums begangen worden seien. Die Anwen-dung des Zweifelsatzes musste hier jedoch ausschei-den, da - wie bereits dargelegt - auch der Zeitraumnach Mai 1995 bis einschließlich Mai 1996 von derAnklage mitumfasst ist.3. Das Urteil hat Bestand, soweit der Angekl. hinsicht-lich der angeblich ab März 1994 bis Mai 1995 began-genen Straftaten, soweit sie sich nicht in der WohnungL.-Straße ereignet haben sollen, freigesprochen wor-den ist. Insoweit hat die Nachprüfung des Urteils aufGrund der Revisionsrechtfertigung keinen Rechtsfehlerergeben. Insbesondere genügt das Urteil - entgegendem Revisionsvorbringen - diesbezüglich noch den An-forderungen, die an ein freisprechendes Erkenntnis zustellen sind.4. Hinsichtlich der möglicherweise im Zeitraum Juni1995 bis Mai 1995 begangenen Straftaten hatte dasLG - aus seiner Sicher konsequent - von einer Ent-scheidung abgesehen, da Straftaten, die in diesen Zeit-raum fallen würden, nach seiner (irrigen) Meinungnicht “Gegenstand der Anklage [waren] und in diesemVerfahren auch nicht abgeurteilt werden konnten”.Das LG hat somit nur über die dem Angeklagten zurLast gelegten Taten im Tatzeitraum März 1993 bisMai 1995 eine freisprechende Entscheidung gefällt. Daaber - wie dargelegt - der dem Mai 1995 nachfolgendeZeitraum ebenfalls von der Anklage umfasst wurde, istauch hierüber eine Entscheidung zu treffen. Diesbe-züglich ist das Verfahren beim LG anhängig geblieben;insoweit besteht für das Revisionsgericht keine Ent-scheidungsbefugnis. Es ist aber geboten, dieses - nochbei der bisherigen Jugenschutzkammer anhängig ge-bliebene - Verfahren zu dem zurückverwiesenen Ver-fahren entsprechend § 4 StPO hinzuzuverbinden. [...]

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Standort: § 212 StGB Problem: Ursächlichkeit bei Tötungsdelikt

BGH, Urteil vom 30.08.2000

2 StR 204/00 (NStZ 2001, 29)

Problemdarstellung:

Auf der Grundlage eines dramatischen Sachverhalteshatte der BGH sich in der nachstehenden Entschei-dung mit Problemen der Kausalität und des Irrtumsüber den Kausalverlauf zu befassen. Nachdem dieAngeklagte ihr Opfer mit zahlreichen und wuchtigenMesserstichen so stark verletzt hatte, dass sie dachte,es sei tot, erkannte ihr herbeigerufener Freund, dassdas Opfer noch lebte und versetzte ihm weitere Schlä-ge, die das Stirnbein der später Verstorbenen zersplit-tern ließen. Da sich nicht mehr klären lässt, ob die Sti-che der Angeklagten oder die Schläge durch ihrenFreund den Tod des Opfers verursacht haben, hat dasLG jeweils nur eine Verurteilung wegen Versuchsausgesprochen. Der Senat sieht in der Verurteilungder Angeklagten eine Verkennung des maßgebendenUrsachenbegriffes, da deren Ursächlichkeit i.S. derÄquivalenztheorie nicht dadurch entfalle, dass ein Drit-ter an der Herbeiführung des Erfolges mitgewirkt ha-be. Da auch kein Irrtum über den wesentlichen Kau-salverlauf gegeben sei, sei die Angeklagte wegen Voll-endung zu bestrafen. Dagegen sei die Verurteilung desAngekl. aufgrund des in-dubio-Satzes zutreffend.

Prüfungsrelevanz:

Das Urteil enthält examensrelevante Ausführungen zuden Problemkreisen der Kausalität und des Irrtumsüber den Kausalverlauf. Der BGH bestätigt die inRechtsprechung und Literatur nahezu einhellig ver-tretene Meinung, dass die nach der Bedingungstheoriezu bestimmende Kausalität nicht dadurch “unterbro-chen” werde, dass der Erfolg letztlich erst durch ein andas Täterverhalten anknüpfendes Dritt- oder Opfer-verhalten eintrete. Eine Unterbrechung des Kausal-zusammenhangs kommt lediglich dann in Betracht,wenn der später Handelnde unabhängig vom Ersthan-delnden einen neuen Kausalverlauf in Gang setzt, wieetwa wenn dem Opfer bereits ein langsam wirkendesGift beigebracht worden ist, es, bevor dies wirkenkann, aber von einem Dritten erschossen wird. Knüpftder Dritte hingegen an das Verhalten des Ersttäters anoder wird er gar von diesem zu seinem Tun veranlasst,ist die Kausalität des Ersttäters nicht unterbrochen, dader Dritte nicht ohne diesen gehandelt hätte (sog. fort-wirkende oder anknüpfende Kausalität; S/S/Lenckner,Vor § 13, Rn. 77, 78).

Auf dem Boden der in der Literatur herrschendenLehre von der objektiven Zurechnung ist allerdings zuprüfen, ob beim Dazwischentreten eines Dritten nichteine sog. Unterbrechung des Zurechnungszusammen-hangs anzunehmen ist. Das wäre der Fall, wenn sich indem durch das Drittverhalten vermittelnden Erfolgnicht die vom Ersttäter geschaffene unerlaubte Gefahrverwirklicht hat (vgl. Roxin, AT-1, 11/59 ff.). Die da-bei vorzunehmende Beurteilung entspricht im wesentli-chen derjenigen, die der BGH ausgehend von seinemnaturalistischen Tatbestandsverständnis im Rahmender Prüfung des Irrtums über den wesentlichen Kau-salverlauf anstellt, da es in beiden Fällen letztlich umAdaequanzgesichtspunkte geht (vgl. zur Position derRechtsprechung Tröndle/Fischer, vor § 13, Rn. 18).Entsprechend der Einschätzung des BGH dürften wohlauch die Vertreter von der Lehre der obj. Zurechnungvon einer vorhersehbaren und damit zurechenbarenAbweichung ausgehen (vgl. Wessels/Hillenkamp, AT,Rn. 189 a). Zu einem vergleichbaren Fall aus dem Be-reich der erfolgsqualifizierten Delikte (sog. Hammer-schlag-Fall) siehe BGH, NStZ 1992, 333 m. Anm.Dencker, NStZ 1992, 313.

Leitsätze (der Redaktion):1. Ursächlich bleibt ein Täterhandeln selbst dann,wenn ein später handelnder Dritter durch ein aufdenselben Erfolg gerichtetes Tun vorsätzlich zudessen Herbeiführung beiträgt, sofern er nur da-bei an das Handeln des Täters anknüpft, diesesalso die Bedingung seines eigenen Eingreifensist. 2. Abweichungen des tatsächlichen vom vorge-stellten Kausalverlauf sind rechtlich bedeutungs-los, wenn sie sich innerhalb der Grenzen desnach allgemeiner Lebenserfahrung Voraussehba-ren halten und keine andere Bewertung der Tatrechtfertigen.

Sachverhalt: Die beiden Angeklagten, die damals 17-jährige R. Sund ihr seinerzeit 20 Jahre alter Freund Sa. W, lebtenzusammen in einem kleinen Haus, das ihnen Rs Pfle-gemutter zur Verfügunggestellt hatte; sie selbst bewohnte mit weiteren Pflege-kindern, darunter der 15-jährigen J. K. ein größeresHaus in der Nähe. Zwischen der Angeklagten und Jtraten im Laufe der Zeit Spannungen auf. Die Ange-klagte nahm es J insbesondere übel, dass diese derPflegemutter Rs Schwangerschaft offenbart und sie

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einmal zu Unrecht verdächtigt hatte, der Pflegemutter20,- DM gestohlen zu haben; sie sann daher auf eineGelegenheit, J eine "gründliche Abreibung" zu verpas-sen. Diese Gelegenheit bot sich, als die Pflegemutterein Sängerfest im Dorf besuchte und J in deren Hausallein war. Die Angeklagte ging am Abend zu ihr, trafsie an und begann einen Streit. Die beiden Frauenrauften sich in den Haaren. Die Angeklagte schlugdabei J zu Boden und brachte ihr mit einem Klappmes-ser insgesamt 16 Stichverletzungen bei. Anfangs stachsie ihr in den Bauch und in den Rücken. Mit weiterenStichen fügte sie ihr Verletzungen an den Armen, derlinken Hand und am Halse zu. Schließlich versetzte sieihr in Tötungsabsicht mehrere wuchtige Messersticheins Gesicht, von denen einer das Nasenbein zertrüm-merte, ein anderer den Oberkiefer durchtrennte und 3Zähne herausbrach. Beim letzten Stich blieb das Mes-ser so fest im Gesicht stecken, dass die Angeklagte esnicht mehr herausziehen konnte. J lebte zwar noch,war aber so zugerichtet, dass die Angeklagte sie fürtot hielt.Anschließend lief die Angeklagte nach Hause und be-richtete ihrem Freund, dem Angeklagten, sie habe Jerstochen. Beide kehrten daraufhin zum Tatort zurück,um die Spuren der Tat zu beseitigen. Während die An-geklagte draußen blieb, drang der Angeklagte in dasHaus ein und fand dort J, die mit blutüberströmtemKopf regungslos auf dem Rücken lag. Da sie Geräu-sche von sich gab, die sich wie ein Röcheln anhörten,nahm der Angeklagte zutreffend an, dass sie noch le-be. Er zog ihr das Messer aus dem Gesicht, wuschsich die Hände und suchte nach einem Gegenstand,um die - wie er annahm - bereits Sterbende zu töten.Mit einer beidhändig gehaltenen Wasserflasche schluger auf ihren Kopf ein, so dass ihr Stirnbein zersplitter-te. Das röchelähnliche Geräusch hielt jedoch an - Jwar noch nicht tot. Der Angeklagte legte daraufhineine Jeansjacke über ihr Gesicht, warf sich mit seinemganzen Gewicht auf sie und würgte sie dann. Danachversuchte er, ihren Körper aus dem Zimmer zu schaf-fen, gab dies jedoch alsbald wieder auf. J starb entwe-der in Folge der - möglicherweise den Sterbevorgangverkürzenden - Schläge mit der Wasserflasche oderaber nach diesen Schlägen in Folge der Messerstichedurch Verbluten.Das LG hat beide Angeklagten des versuchten Tot-schlags schuldig gesprochen. Mit ihrer Revision er-strebte die StA die Verurteilung beider Angeklagtenwegen vollendeten Mordes. Das Rechtsmittel hatteüberwiegend Erfolg.

Gründe: Das angefochtene Urteil hält rechtlicher Prüfung nicht

stand. Der Schuldspruch weist Rechtsfehler zum Vor-teil der Angeklagten auf; sie betreffen bei der Ange-klagten S die Annahme eines nur versuchten Tötungs-verbrechens und die Vorsatzform, außerdem bei bei-den Angeklagten die Verneinung von Mordmerkmalen.1. Was die Verurteilung der Angeklagten S angeht, soergibt die rechtliche Prüfung:a) Zu Unrecht hat die Jugk die Angeklagte nur einesversuchten statt eines vollendeten Tötungsverbrechensschuldig gesprochen. Zur Begründung hat sie ausge-führt: Zwar sei jeder der "Tatbeiträge" der Angeklag-ten für sich genommen geeignet gewesen, den Tod desOpfers herbeizuführen - doch habe sich nicht feststel-len lassen, "ob der Tod durch Verbluten allein durchdie von der Angeklagten S gesetzten Messersticheeingetreten ist oder aber die Schläge mit der Wasser-flasche den von ihr in Gang gesetzten Kausalverlaufunterbrochen haben". Daher sei nach dem Zweifels-satz zu Gunsten jedes Angeklagten zu unterstellen,dass sein Tatbeitrag nicht den Tod herbeigeführt habe.Dem kann nicht gefolgt werden. Die Jugk hat damitden strafrechtlich maßgebenden Ursachenbegriff ver-kannt. Ursächlich ist jede Bedingung, die den Erfolgherbeigeführt hat; dabei ist gleichgültig, ob neben derTathandlung noch andere Umstände, Ereignisse oderGeschehensabläufe zur Herbeiführung des Erfolgsbeigetragen haben. Anders verhält es sich allerdings,wenn ein späteres Ereignis ihre Wirkung beseitigt undunter Eröffnung einer neuen Kausalreihe den Erfolgallein herbeiführt. Dagegen schließt es die Ursächlich-keit des Täterhandelns nicht aus, dass ein weiteresVerhalten, sei es des Täters, sei es des Opfers, sei esauch Dritter, an der Herbeiführung des Erfolgs mitge-wirkt hat (st. Rspr. und h. M. im Schrifttum; zusam-menfassende Darstellung mwN in BGHSt 39, 195, 197f.). Ursächlich bleibt das Täterhandeln selbst dann,wenn ein später handelnder Dritter durch ein auf den-selben Erfolg gerichtetes Tun vorsätzlich zu dessenHerbeiführung beiträgt, sofern er nur dabei an dasHandeln des Täters anknüpft, dieses also die Bedin-gung seines eigenen Eingreifens ist. Auch dies ent-spricht gefestigter Auffassung in Rechtsprechung (vgl.die Nachw. BGH aaO) und Schrifttum (Lackner/Kühl23. Aufl., vor § 13 Rn 11; Tröndle/Fischer 49. Aufl.,vor § 13 Rn 18 a; S/S-Lenckner 25. Aufl. , Vorb. §§ 13ff. Rn 77; SKStGB-Rudolphi vor § 1 Rn 49; LK-Je-s c h e c k 1 1 . A u f l . , v o r § 1 3 R n 5 8 ; B a u -mann/Weber/Mitsc h StrafR AT, 10. Aufl., § 14 Rn 33ff., 36; Maurach/Zipf StrafR AT, Teilb. 1, 7. Aufl., §18 IV Rn 61 ff.). Demgemäß ist wegen vollendetenTötungsverbrechens auch zu bestrafen, wer jemandenmit Tötungsvorsatz niedergeschossen und dadurch ei-nen Dritten dazu veranlasse hat, dem Verletzten den

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"Gnadenschuss" zu geben (OGHSt 2, 352,354 f.; BGHbei Dallinger MDR 1956, 526; LK-Jähnke 10. Aufl., §212 Rn 3).Soweit der 1. Strafsenat des BGH in einer älteren,vereinzelt gebliebenen Entscheidung (NJW 1966,1823)zu einem Ergebnis gelangt ist, das hiermit in Wider-spruch steht (Hertel NJW 1966, 2418; Kion JuS 1967,499; LK-Jähnke aaO, Rn 3), kann schon zweifelhaftsein, ob in der Begründung dieses Urteils überhaupteine abweichende Rechtsauffassung zum Ausdruckgekommen ist; Ausführungen desselben Senats in ei-ner jüngeren Entscheidung (BGH NJW 1989, 2479 f.)machen jedenfalls deutlich, dass er eine solche Rechts-auffassung nicht oder zumindest nicht mehr vertritt.Für eine Anfrage nach § 132 III 1 GVG besteht daherkein Anlass.Danach hat die Angeklagte durch die Messersticheden Tod des J verursacht. Daran ändert es nichts, dassder später zum Tatort gekommene Angeklagte demOpfer durch Schläge mit der Wasserflasche weitereVerletzungen zugefügt hat, die gleichfalls geeignet wa-ren, den Tod herbeizuführen. Es kommt nicht daraufan, ob die Messerstiche oder die Schläge mit der Was-serflasche jeweils für sich genommen den Tod desOpfers bewirkt hätten oder J erst in Folge des Zusam-menwirkens der ihr von beiden Angeklagten bei-gebrachten Verletzungen gestorben ist. Die Angeklag-te hat mit den von ihr geführten Messerstichen jeden-falls eine Bedingung für den Tod des Opfers gesetzt;denn ohne diese, ihr von der Angeklagten beigebrach-ten Verletzungen wäre es nicht dazu gekommen, dassder Angeklagte eingriff und - an das Handeln seinerFreundin anknüpfend - J mit der Wasserflasche aufden Kopf schlug, um das von der Angeklagten begon-nene Tötungswerk zu vollenden. Für die Annahme, derAngeklagte habe mit seinen Schlägen die todesursäch-liche Wirkung der von seiner Freundin gesetzten Mes-serstiche beseitigt und stattdessen einen neuen, davonunabhängig zum Tod fahrenden Kausalverlauf in Ganggesetzt, ist hiernach kein Raum.Die strafrechtliche Haftung der Angeklagten i. S. ei-nes vollendeten Tötungsverbrechens entfällt auch nichtunter dem Gesichtspunkt einer Abweichung des tat-sächlichen Kausalverlaufs vom vorgestellten. Eine sol-che Abweichung ist zwar zu bejahen, soweit zu Guns-ten der Angeklagten unterstellt werden muss, dass diedem Tatopfer vom Angeklagten W zugefügten Verlet-zungen den Eintritt des Todes beschleunigt haben. Ab-weichungen vom vorgestellten Kausalverlauf sind je-doch rechtlich bedeutungslos, wenn sie sic h innerhalbder Grenzen des nach allgemeiner LebenserfahrungVoraussehbaren halten und keine andere Bewertungder Tat rechtfertigen (BGHSt 38, 32, 34 mwN). So

liegt es hier. Der Tod des Opfers ist nicht etwa Folgeeiner außerhalb jeder Wahrscheinlichkeit liegendenVerkettung unglücklicher Umstände, bei der eine Haf-tung der Angeklagten für den Erfolg ausscheiden wür-de. Die Abweichung vom vorgestellten Kausalverlaufist vielmehr unwesentlich und rechtfertigt auch keineandere Bewertung der Tat.b) Rechtsfehlerhaft ist es ferner, dass die Kammer beider rechtlichen Bewertung des Handelns der Ange-klagten nur bedingten Tötungsvorsatz angenommenhat; in den Urteilsgründen heißt es dazu, ihr Vorsatzsei "bei Beginn der Stiche in den Kopf zumindest in derForm des dolus eventualis - eines bewussten Inkauf-nehmens des Todes - vorhanden" gewesen. Dies stehtin Widerspruch zu der Feststellung, dass die Angeklag-te bei den letzten, in das Gesicht geführten Stichen "inTötungsabsic ht", also mit direktem Vorsatz, gehandelthat.c) Darüber hinaus hält auch die Verneinung des Mord-merkmals der niedrigen Beweggründe rechtlicher Prü-fung nicht stand....2. Die Verurteilung des Angeklagten W weist eben-falls Rechtsfehler auf.a) Die Annahme eines nur versuchten Tötungsverbre-chens ist bei ihm allerdings rechtlich nicht zu beanstan-den. Auf die Beurteilung seiner Tat hat sich derRechtsfehler, der die Bewertung der Ursächlichkeitdes Handelns der Angeklagten S betrifft, nicht ausge-wirkt. Gleiches gilt für die von der Kammer offenbarvorausgesetzte, aber unrichtige Annahme, der Tod desOpfers könne - alternativ - nur entweder dem einenoder dem anderen Angeklagten als von ihm verursach-ter Handlungserfolg zurechenbar sein. Denn die Kam-mer hat jedenfalls nicht verkannt, dass der Angeklagteden Tod J's verursacht und mithin ein vollendetes Tö-tungsverbrechen begangen hätte, wenn durch seinHandeln der Eintritt des womöglich ohnehin schon na-henden - Todes nur noch beschleunigt worden wäre(BGHSt 7, 287 f.; 21, 59, 61; BGH NStZ 1981, 218 f.;1985, 26 f.). Den Urteilsausführungen ist zu entneh-men, dass sie eine den Todeseintritt beschleunigendeWirkung der vom Angeklagten gegen den Kopf J's ge-führten Schläge nicht festzustellen vermochte. Dieskommt in der Tatschilderung des Urteils dadurch zumAusdruck, dass dort diesen Schlägen nur eine denSterbevorgang "möglicherweise" verkürzende Wirkungzuerkannt wird, und gründet sich auf die Ausführungendes rechtsmedizinischen Sachverständigen, der - wiedas Urteil ebenfalls mitteilt - erklärt hatte, durch dieSchläge "könne" auch eine deutlich verkürzte Lebens-erwartung bewirkt worden sein. Wenn die Kammersich hiernach außerstande gesehen hat, eine Beschleu-nigung des Todeseintritts als Folge der mit der

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RA 2001, HEFT 1 STRAFRECHT

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Wasserflasche geführten Schläge festzustellen, so liegtdarin auch kein selbständiger, der Beweiswürdigunganhaftender Rechtsfehler. Weder widerspricht dasErgebnis - wie die Revision meint - Erfahrungssätzen,noch weisen die Urteilsausführungen zu diesem Punkt- wie sie ebenfalls rügt - Lücken auf. Die Bezugnahmeauf das vorbereitende schriftliche Gutachten desrechtsmedizinischen Sachverständigen ist im Rahmender allein erhobenen Sachrüge unzulässig, ganz abge-sehen davon, dass der zitierte Abschnitt des Gutach-tens für die Deutung, der Sachverständige habe eineBeschleunigung des Todeseintritts als Folge der Schlä-

ge für gesichert erachtet, nichts hergibt.Konnte die Kammer aber nicht ausschließen, dass Jauch ohne das Eingreifen des Angeklagten zur selbenZeit gestorben wäre, zu der ihr Tod tatsächlich eintrat,dann musste sie nach dem Zweifelssatz von dieserMöglichkeit ausgehen und durfte den Angeklagten -wie geschehen - nur wegen eines versuchten Tötungs-verbrechens verurteilen.b) Dagegen ist die Ablehnung des Mordmerkmals derVerdeckungsabsicht rechtsfehlerhaft; das Urteil beruhtinsoweit auf einem Beweiswürdigungsmangel. [wirdausgeführt].

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URTEILE IN FALLSTRUKTUR RA 2001, HEFT 1

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Urteile in Fallstruktur

Standort: VwGO Problem: Entscheidungserheblicher Zeitpunkt für Anfechtung

BAYVGH, BESCHLUSS VOM 31.08.1999

7 ZS 99.2168 (BAYVBL 2000, 761)

Problemdarstellung:

Der vorliegende Beschluss des BayVGH hatte einVerfahren zum Gegenstand, in dem die Gemeinde ei-nem Kind aus einer Nachbargemeinde einen Kinder-gartenplatz zugewiesen, diese Zuweisung später je-doch wegen des aufgekommenen Bedarfs für orts-ansässige Kinder und der angeblichen Kapazitätser-schöpfung widerrufen hatte. Die Besonderheit lag vorallem darin, dass die Behörde verkannt hatte, dass imZeitpunkt des Widerrufs tatsächlich noch andere Kin-dergartenplätze frei waren, die Kapazitätserschöpfungaber während des laufenden Gerichtsverfahrens einge-treten war. Es stellte sich folglich die Frage, ob diesnoch Berücksichtigung finden kann bzw. - anders for-muliert - ob entscheidungserheblicher Zeitpunkt derAbschluss der Gerichtsverhandlung (so der BayVGH)oder bereits die letzte Behördenentscheidung (so grds.eine Gegenansicht in der Literatur; Nachweise zu bei-den Auffassungen in der Lösung) ist.

Darüber hinaus finden sich interessante Ausführungenzum Willkürverbot beim Erlass von kommunalen Sat-zungen sowie zum Widerruf von VAen nach § 49VwVfG.

Prüfungsrelevanz:

Die Frage des entscheidungserheblichen Zeitpunktsder Anfechtungsklage war erst kürzlich Gegenstandeiner Entscheidung des BVerwG (RA 2000, 665 =DVBl 2000, 1614). Dort hat sich das BVerwG - eben-so wie das OVG Münster als Vorinstanz - der Auf-fassung angeschlossen, dass die letzte Behördenent-scheidung maßgeblich sei, wenn nicht das materielleRecht etwas anderes bestimme und/oder ein sogen.Dauer-VA vorliege. Die Vertreter der Gegenansicht,welche auf den Zeitpunkt der letzten mündlichen Ver-handlung vor Gericht abstellen, berufen sich jedochz.T. ebenfalls - nach der o.g. Entscheidung wohl zuUnrecht - auf das BVerwG (vgl. nur Kopp/Schenke,

VwGO, § 113 Rz. 33). Die Aktualität der Problematiksowie die Tatsache, dass sich selbige hervorragend inExamensarbeiten einbauen lässt, verleihen ihr beson-dere Prüfungsrelevanz.

Leitsätze (der Redaktion):

1. “Rechtsvorschrift” im Sinne des Art. 49 II 1Nr. 1 BayVwVfG kann auch eine kommunale Sat-zung sein.2. Zum maßgeblichen Zeitpunkt für die Entschei-dung über ein Anfechtungsbegehren (hier: imVerfahren nach § 80 V VwGO).3. Zur Zulässigkeit des Widerrufs eines Kinder-gartenplatzes für nicht gemeindezugehörige Kin-der bei nachträglicher Kapazitätserschöpfung.

Sachverhalt:Die bayerische Gemeinde G unterhält auf ihrem Ge-meindegebiet insgesamt drei Kindergärten, von deneneiner an der E.-H.-Straße liegt. In diesen wurde derdamals dreijährige K, der mit seinen Eltern in derNachbargemeinde N lebt, mit Bescheid vom 10.5.1998unbefristet aufgenommen. Nach nunmehr fast zweiJahren wird der von K belegte Platz jedoch für Kindervon Einwohnern der Gemeinde G beansprucht, da dieKapazität des Kindergartens mittlerweile erschöpft ist.In § 4 IV der einschlägigen Satzung der Gemeinde Gist bestimmt, dass die Aufnahme von ortsfremden Kin-dern in Kindergärten der G von dieser binnen ange-messener Frist widerrufen werden kann, wenn derPlatz für ein in der Gemeinde wohnendes Kind benö-tigt wird. Demgemäß widerrief die G mit formell ord-nungsgemäßem Bescheid vom Juli 2000 gegenüber Kden ihm zugewiesenen Kindergartenplatz. Zur Begrün-dung wurde auf die Kapazitätserschöpfung sowie dieTatsache verwiesen, dass der Platz des K für ein an-deres, in der Gemeinde wohnendes Kind benötigt wer-de.K, vertreten durch seine Eltern, hält diesen Bescheidfür rechtswidrig. In seiner nach erfolglosem Vorver-fahren erhobenen Klage weist er - zutreffend - daraufhin, dass im Zeitpunkt des Widerrufs zwar in dem Kin-

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dergarten in der E.-H.-Straße kein Platz mehr frei ge-wesen sei, wohl aber in den beiden anderen Kinder-gärten der Gemeinde. Auch sei es unverhältnismäßig,ihn nach über zw ei Jahren aus einer Gruppe herauszu-reißen, in die er voll integriert sei.Ist die zulässige Anfechtungsklage gegen den Wider-ruf begründet, wenn während des laufenden Klage-verfahrens auch die Plätze in den anderen Kindergär-ten noch belegt werden, so dass im Zeitpunkt der letz-ten mündlichen Verhandlung die Kapazität tatsächlichvoll erschöpft ist?

Lösung:Die Klage ist begründet, soweit der angegriffene Ver-waltungsakt (im Folgenden: VA) rechtswidrig ist undden Kläger in seinen Rechten verletzt, § 113 I 1VwGO. Fraglich ist mithin zunächst, ob der an K ge-richtete Widerruf rechtswidrig ist.

A. ErmächtigungsgrundlageAls Ermächtigungsgrundlage kommt Art. 49 I, II Nr. 1,1. Fall BayVwVfG in Betracht. danach kann ein be-günstigender VA mit Wirkung für die Zukunft widerru-fen werden, wenn der Widerruf durch Rechtsvor-schrift zugelassen worden ist. Eine solche Rechtsvor-schrift kann auch eine (kommunale) Satzung sein(Kopp, VwVfG, 6. Aufl. 1996, § 49 RdNr. 25m.w.N.). Nach § 4 Abs. 4 der einschlägigen Satzungder Gemeinde G kann die Aufnahme von nicht in derGemeinde wohnenden Kindern [...] ”unter Einhaltungeiner angemessenen Frist widerrufen werden, wennder Platz für ein in der Gemeinde wohnendes Kindbenötigt wird”.

[Anm.: Art. 49 BayVwVfG entspricht nach Wortlautund Inhalt § 49 VwVfG des Bundes und damit auchden entsprechenden Vorschriften der Verwaltungs-verfahrensgesetze der übrigen Bundesländer.]

B. Formelle RechtmäßigkeitNach dem Sachverhalt erging der Widerrufsbescheidin formell ordnungsgemäßer Weise.

C. Materielle RechtmäßigkeitFraglich ist, ob der Widerruf auch materiell rechtmäßigwar. Dann müßte der Tatbestand der Ermächtigungs-grundlage erfüllt und die richtige Rechtsfolge gewähltworden sein.

I. Tatbestand

1. VerwaltungsaktGegenstand des Widerrufs nach Art. 49 BayVwVfGkann nur ein VA i.S.d. Art. 35 BayVwVfG sein. Einsolcher liegt mit der Zuweisung des Kindergartenplat-zes an K vom 10.5.1998 vor.

2. RechtmäßigkeitNach dem Wortlaut des Art. 49 BayVwVfG muss derzu widerrufende VA ferner rechtmäßig sein. In Recht-sprechung und Literatur ist streitig, ob es sich bei die-sem Kriterium tatsächlich um ein Tatbestandsmerkmalhandelt, oder ob § 49 VwVfG nicht “erst recht” aufrechtswidrige VAe anzuwenden ist (vgl. Knack-Klappstein, VwVfG, 6. Aufl. Anm. 1.4.4. zu § 49m.w.N.). Dieser Streit mag vorliegend jedoch auf sichberuhen, da die Zuweisung des Kindergartenplatzesjedenfalls rechtmäßig war; es standen entsprechendeKapazitäten zur Verfügung und es ist keine Rechtsvor-schrift ersichtlich, welche die Vergabe an ortsfremdeKinder ausschließen würde. Aus einem Umkehr-schluss zu § 4 IV der Satzung ergibt sich im Gegenteil,dass diese zunächst zulässig ist.

3. BegünstigungBegünstigende VAe unterliegen in ihrer Widerruflich-keit für die Zukunft ferner den weiteren Einschränkun-gen des Art. 49 II BayVwVfG. Begünstigend ist einVerwaltungsakt, der ein Recht oder einen rechtlicherhebl ichen Vor te i l gewähr t , vg l . Ar t . 48 IBayVwVfG. Die Zuweisung des Kindergartenplatzesan K ist für diesen begünstigend, da er dadurch in denGenuss der Nutzung des Kindergartens und der dorti-gen Betreuungs- und Erziehungsmaßnahmen kommt.Mithin müsste ein Widerrufsgrund i.S.d. Art. 49 IIBayVwVfG vorliegen. Diesbezüglich kommt - wieoben erwähnt - nur Art. 49 II Nr. 1, 1. FallBayVwVfG in Betracht.

4. Widerruf durch Rechtsvorschrift zugelassenNach Art. 49 II Nr. 1, 1. Fall BayVwVfG kann einVA widerrufen werden, wenn dies durch Rechtsvor-schrift zugelassen ist. Dass hierzu auch eine Satzunggenügen kann, wurde bereits ausgeführt. § 4 IV derSatzung der G lässt einen Widerruf gegenüber orts-fremden Kindern zu, wenn ortsansässige Kinder denbelegten Platz benötigen, weil die Kapazitäten er-schöpft sind.

a. Wirksamkeit der SatzungDie Satzung kann allerdings nur dann “Rechtsvor-schrift” i.S.d. Art. 49 II Nr. 1, 1. Fall BayVwVfG sein,

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wenn sie ihrerseits wirksam ist. Hieran könnten wegender Bevorzugung der ortsansässigen Kinder gegenüberden Ortsfremden im Hinblick auf den Gleichbehand-lungsgrundsatz des Art. 3 I GG Zweifel bestehen.Dann müsste eine willkürliche, sachlich nicht gerecht-fertigte Ungleichbehandlung vorliegen.

aa. UngleichbehandlungHierzu führt der BayVGH aus: “Diese Satzungsrege-lungen sind im Rahmen der hier vorzunehmenden Inzi-dentprüfung [...] nicht als nichtig anzusehen. Entschei-det sich eine Gemeinde beim Betrieb einer öffentlichenEinrichtung gemäß Art. 21 GO wie hier für dieöffentlich-rechtliche Ausgestaltung des Benutzungs-verhältnisses, so ist sie grundsätzlich verpflichtet, die-ses durch Satzung zu regeln. Aufgrund der Satzungs-autonomie des Art. 23 GO kommt ihr hierbei ein Ge-staltungsspielraum zu. [Die Gemeinde G] hat in § 4Abs. 4 der Satzung in der Gemeinde wohnenden Kin-dern den Vorrang vor auswärtigen Kindern einräumenwollen. Dies ergibt sich sowohl aus dem Wortlaut alsauch dem Sinn und Zweck der genannten Bestimmun-gen. Aus den genannten Regelungen [ist] deutlich er-sichtlich, dass den einheimischen Kindern grundsätzlichein Vorrang bei der Aufnahme in die Kindertagesein-richtung zukommen soll.”

bb. WillkürDas Gericht hält diese Ungleichbehandlung jedochnicht für willkürlich: “[Diese Ungleichbehandlung] ist -vom Grundsatz her - rechtlich nicht zu beanstanden.Gemäß Art. 21 Abs. 1 S. 1 GO sind alle Gemeindean-gehörigen nach den bestehenden allgemeinen Vor-schrif ten berechtigt, die öffentlichen (also gewidmeten)Einrichtungen zu benutzen. Hieraus folgt ein subjektiv-öffentliches Recht der Gemeindeangehörigen auf Be-nutzung der öffentlichen Einrichtung. Auswärtigensteht dieser Rechtsanspruch, soweit sie wie hier nichtunter die Bestimmungen des Art. 21 Abs. 3 bis 5 GOfallen, grundsätzlich nicht zu, wenngleich sie von denEinrichtungen der Gemeinde Gebrauch machen kön-nen. Diese Grundsätze gelten auch für die Vergabevon Kindergartenplätzen. Die unterschiedliche Be-handlung von in der Gemeinde wohnenden und auswär-tigen Kindern verstößt insbesondere nicht gegen denGleichbehandlungsgrundsatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Esentspricht der völlig herrschenden Meinung, dass einsachliches Unterscheidungskriterium, das gerade imkommunalen Bereich Bedeutung hat, die Herkunft(hier: des Kindes) aus der Gemeinde ist (Bauer/Böh-le/Masson/Samper, Art.21 BayGO Rz. 23). Demzufol-

ge sind Gemeinden grundsätzlich nicht zur Aufnahmevon Kindern verpflichtet, die außerhalb des durch denBedarfsplan bezeichneten Einzugsgebiets des Kinder-gartens bzw. außerhalb des Gemeindegebiets wohnen(vgl. auch BayVGH, BayVBl. 1995, 112). Nimmt dieGemeinde wie hier gleichwohl nicht ortsansässige Kin-der in den Kindergarten auf, so kann daraus alleinnoch kein Anspruch auf den weiteren Verbleib herge-leitet werden. Im Gegenteil ist die Gemeinde sogarverpflichtet, darauf zu achten, dass durch die Zulas-sung gemeindefremder Personen, denen keinZulassungsanspruch zusteht, nicht der Zulassungsan-spruch der Gemeindeangehörigen unzulässigerweisebeschränkt wird. Aus diesen Gründen dürfengemeindefremde Kinder grundsätzlich nicht in einengemeindlichen Kindergarten aufgenommen werden,solange dort nicht die gemeindeangehörigen Kinderuntergebracht sind.Diesen Grundsätzen hat der Antragsgegner mit dengenannten Satzungsbestimmungen Rechnung getragen.Zu Recht hat er deshalb in [...] § 4 Abs. 4 der Satzungfür den Fall des nachträglichen Bedarfs einheimischerKinder eine Widerrufsmöglichkeit nach Ermessen ge-regelt und es hiermit ermöglicht, die Interessen aufge-nommener auswärtiger Kinder dabei zu berücksichti-gen.”

b. KapazitätserschöpfungIst § 4 IV der Satzung somit wirksam, ist fraglich, obdessen Voraussetzungen, namentlich die Kapazitäts-erschöpfung, erfüllt sind. Hieran könnten Zweifel be-stehen, da zwar nicht im Kindergarten des K, wohlaber in anderen Kindergärten im Zeitpunkt des Erlas-ses des Widerrufs noch Plätze frei waren.

aa. Berücksichtigung der anderen Kindergärten“Der Senat [ist] der Auffassung, dass die Meinung desAntragsgegners, es komme ausschließlich auf die Ka-pazitätserschöpfung im gemeindlichen Kindergarten ander E.-H.-Straße an, rechtsfehlerhaft ist. Denn es be-steht weder nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GO noch nachArt. 6 Abs. 2 GG noch nach Kindergartenrecht einRechtsanspruch auf Aufnahme eines Kindes in einenbestimmten Kindergarten im Gemeindegebiet. Ins-besondere folgt ein derartiger Rechtsanspruch nichtaus dem BayKiG [wird ausgeführt]. Aus Art. 6 Abs.2GG kann allenfalls ein Bestimmungsrecht der Elternauf die Wahl des Kindergartentyps, nicht aber auf dieAuswahl eines bestimmten Kindergartens unter meh-reren gleichwertigen Kindergärten hergeleitet werden(vgl. VGH Mannheim, NVwZ 1986, 1040, 1041).

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Dies bedeutet für den vorliegenden Fall, dass die neuaufzunehmenden einheimischen Kinder von vornhereinkeinen Rechtsanspruch auf Aufnahme gerade in denKindergarten "E.-H.-Straße" haben, sondern lediglicheinen der freien Kindergartenplätze im Gemeindege-biet beanspruchen können.” Zur Kapazitätserschöp-fung ist also erforderlich, dass überhaupt kein Kinder-gartenplatz mehr frei war. Dies war zumindest imZeitpunkt des Widerrufs nicht der Fall.

bb. Nachträgliche KapazitätserschöpfungWährend des verwaltungsgerichtlichen Verfahrenswurden jedoch alle noch freien Plätze nachträglichbelegt, so dass tatsächlich ein Kapazitätsmangel ein-trat. Fraglich ist, ob dieser Umstand noch zu berück-sichtigen ist. Das hängt davon ab, welcher Zeitpunktfür die Entscheidung über die Anfechtungsklage maß-geblich ist.

(1). Letzte mündliche VerhandlungNach einer Ansicht soll der Zeitpunkt der letztenmündlichen Verhandlung vor Gericht maßgeblich sein(Kopp/Schenke, VwGO, § 113 Rz. 35 m.w.N.). AlsArgument wird vor allem der Wortlaut des § 113 I 1VwGO herangezogen, wonach der VA aufgehobenwird, soweit er rechtswidrig ist. Auch die Prozessöko-nomie spreche dafür, Veränderungen zwischen Behör-denentscheidung und mündlicher Verhandlung schonim laufenden Prozess zu berücksichtigen und die Be-teiligten nicht auf einen neuen Prozess zu verweisen.

(2). Letzte BehördenentscheidungNach der Gegenansicht soll maßgeblich hingegen grds.die letzte Behördenentscheidung sein, also i.d.R. derErlass des Widerspruchsbescheids (Nachweise beiKopp/Schenke, VwGO, § 113 Rz. 31). Es gehe bei derAnfechtungsklage darum, ein behördliches Verhaltenzu überprüfen; dann könne maßgebliche Sach- undRechtslage aber nur die sein, welche auch die Behördeim Entscheidungszeitpunkt vorgefunden habe. Ver-änderungen seien nach §§ 48, 49 VwVfG bzw. not-falls in einem neuen, anderen Klageverfahren (Ver-pflichtungsklage auf Aufhebung des rechtswidrig ge-wordenen VAs) zu berücksichtigen. Eine Ausnahmesoll allerdings für Dauer-VAe gelten, da die Behördehier eine besondere Beobachtungspflicht treffe; in die-sen Fällen soll ausnahmsweise auch der Zeitpunkt derletzten mündlichen Verhandlung vor Gericht maßgeb-lich sein.

(3). Materielles Recht maßgeblich

Das BVerwG sucht die Antwort auf die Frage nachdem maßgeblichen Entscheidungszeitpunkt hingegenzunächst im materiellen Recht (BVerwGE 97, 81 f. =NJW 1995, 3068; vgl. neuerdings BVerwG, RA 2000,665 = DVBl 2000, 1614, wonach das BVerwG sich beifehlender materieller Regelung der zweiten Ansicht -letzte Behördenentscheidung, außer bei Dauer-VA -anschließt). Sieht dieses für die Berücksichtigung neu-er Tatsachen besondere Regeln vor, kann die Verän-derung der Sach- oder Rechtslage nicht automatisch,sondern nur unter den geregelten Voraussetzungenberücksichtigt werden (Klassiker: Wiedergestattungeines Gewerbes nach § 35 VI GewO hängt von einemAntrag des Gewerbetreibenden an die Behörde ab).Dieser Auffassung schließt sich auch der BayVGHan, wobei es dem materiellen Recht entnimmt, dass -wie nach den vorstehenden Ansichten - hier der Zeit-punkt der letzten mündlichen Verhandlung vor Gerichtmaßgeblich sein soll:“Diese Änderung der Sachlage ist auch berücksichti-gungsfähig, da sich der maßgebliche Zeitpunkt für diegerichtliche Entscheidung nach der Rechtsprechungdes Bundesverwaltungsgerichts (Nachw. vgl .Kopp/Schenke, VwGO, RdNrn. 29 ff. zu § 113) ausdem zugrunde liegenden materiellen Recht ergibt. Ausdiesem, nämlich dem grundsätzlichen Rechtsanspruchder gemeindeangehörigen Kinder aus Art. 21 Abs. 1GO, folgt jedoch, dass es auf die tatsächlichen undrechtlichen Verhältnisse im Zeitpunkt der gerichtlichenEntscheidung ankommt, da es nicht angehen kann,dass den einheimischen Kindern wegen einer evtl. erstwährend des Gerichtsverfahrens eingetretenen Kapazi-tätserschöpfung in allen Kindergärten des Gemeinde-gebiets überhaupt kein Kindergartenplatz mehr zurVerfügung stünde. Das Risiko einer zu Lasten der[Kläger] eintretenden Entwicklung haben die [Kläger]zu tragen.”

[Anm.: Der Beschluss des BayVGH ist im Original-fall im Verfahren des vorläufigen Rechtsschutzesnach § 80 V VwGO ergangen; für dieses gelten diev o r s t e h e n d e n Ü b e r l e g u n g e n f o l g l i c h e n t -sprechend.]

Dem BayVGH folgend ist die nachträgliche Kapazi-tätserschöpfung also zu berücksichtigen. Demzufolgeliegt auch der Widerrufsgrund des Art. 49 II Nr. 1, 1.Fall BayVwVfG vor.

5. WiderrufsfristFür Fristprobleme (Art. 49 II a.E. i.V.m. 48 IV

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BayVwVfG) gibt der Sachverhalt auch nichts her.

Der Tatbestand der Ermächtigungsgrundlage ist damitinsgesamt erfüllt.

II. RechtsfolgeFraglich ist, ob die Gemeinde nach pflichtgemäßemErmessen gehandelt hat. Das Gericht ist hierbei aufeine Ermessensfehlerkontrolle beschränkt, § 114 S. 1VwGO. Der BayVGH hält die Ermessensausübungi.E. für fehlerfrei:“Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungs-gerichts ist in Fällen des Vorliegens der Tatbestands-voraussetzungen des Art. 49 Abs. 2 BayVwVfG imRegelfall von einem sog. “intendierten Überwiegen”des öffentlichen Interesses am Widerruf auszugehen(BVerwG, NVwZ 1992, 565; a.A. Kopp, VwVfG, §49 RdNr. 20). Der Senat ist der Auffassung, dass dieErmessenserwägungen [der Gemeinde G] letztlichrechtlich nicht beanstandet werden können. Zwar [hatder K] durch den zweijährigen Besuch der sog. "Kat-zengruppe" im Kindergarten viele soziale Kontakteentwickelt; auch müsste er sich lediglich für ein weite-res Kindergartenjahr noch in eine neue Gruppe in ei-nem anderen Kindergarten eingewöhnen. Zu Rechthebt [er] auch den Grundsatz hervor, dass es sich beieinem Kindergarten nicht um eine "Bewahranstalt",sondern um eine Einrichtung im vorschulischen Be-reich handelt, die der Erziehung und Bildung der Kin-der dient. Auch hätte [die Gemeinde] im Rahmen ih-

rer Ermessenserwägungen berücksichtigen müssen,dass einheimische Kinder bei freier Kapazität auch imVerhältnis zu bereits aufgenommenen externen Kin-dern auf einen unter Umständen entfernter liegendenKindergarten verwiesen werden dürfen. Gleichwohl istdie Ermessensentscheidung des Antragsgegners jeden-falls im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden. Diepädagogischen Aspekte überwiegen die Verpflichtungdes Antragsgegners, bei Kapazitätserschöpfung [fürdie ortsansässigen Kinder Platz zur Verfügung zu stel-len und notfalls zu schaffen] nicht [wird ausgeführt].Der Senat geht davon aus, dass eine [gleichwertige]Vorschulausbildung auch in anderen Kindergärten,insbesondere auch in [der Heimatgemeinde des K],stattfindet. Ermessensfehlerhaft sind auch nicht dieErwägungen [der Gemeinde G], dass [K] voraussicht-lich nicht die Schule in [G] besuchen wird und sichdeshalb auch beim Schulbeginn einen neuen Freundes-kreis suchen müsste. Die Erwägungen [der Gemein-de], [K] könnte bei einem Besuch eines Kindergartens[in seiner Heimatgemeinde] mit künftigen Schulkame-raden zusammenwachsen, erscheinen insoweit nichtermessensfehlerhaft. Zu Recht weist [die GemeindeG] schließlich darauf hin, dass sie vor dem Hintergrunddes Rechtsanspruchs nach Art. 21 Abs. 1 Satz 1 GOinsbesondere pädagogische und soziale Rücksichtenauf die Ortsansässigen zu wahren hat.”

Mithin ist der Widerruf rechtmäßig, die Klage somitunbegründet.

Standort: Bereicherungsrecht Problem: Anwendungsbereich der Saldotheorie

BGH, URTEIL VOM 29.09.2000

V ZR 305/99 (NJW 2000, 3562)

Problemdarstellung:

Bei dem vorliegenden Fall musste sich der BGH mitden Grenzen im Anwendungsbereich der bereiche-rungsrechtlichen Saldotheorie auseinander setzen. DieParteien hatten einen notariellen Grundstückskaufver-trag abgeschlossen und abgewickelt, bevor festgestelltwurde, dass der Käufer infolge einer geistigen Erkran-kung bei Vertragsabschluss geschäftsunfähig war (§§104, 105 BGB). Im Rahmen der bereicherungsrecht-lichen Rückabwicklung der bereits erbrachten Leistungstellte sich nun die Frage, ob zulasten des Geschäfts-unfähigen die Saldotheorie anzuwenden sei.

Der BGH lehnte dies unmissverständlich ab. Zum

Schutze des Geschäftsunfähigen soll die Saldotheoriein solchen Fällen nicht zur Anwendung kommen. Diedie Saldierung rechtfertigende Verknüpfung der bei-derseitigen Leistungen durch den Austauschzweck(sog. faktisches Synallagma) kann bei fehlender Ge-schäftsfähigkeit von vornherein nicht erzielt werden.Wenn ein Geschäftsunfähiger schon keine wirksameWillenserklärung abgeben kann, dann kann er mit sei-nem Vertragspartner auch keinen Austauschzweckwirksam vereinbaren. Folglich kann das fehlgeschlage-ne Austauschverhältnis auf die Rückabwicklung kei-nen Einfluss haben. In solchen Fällen gilt dann dieZweikondiktionenlehre, d.h. jeder Vertragspartner hateinen selbständigen Anspruch auf Herausgabe desseinerseits Geleisteten, unabhängig vom Schicksal desBereicherungsanspruchs der Gegenseite.

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URTEILE IN FALLSTRUKTURRA 2001, HEFT 1

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Eine frühere, anders lautende Entscheidung des BGH(NJW 1988, 3011) hat sich damit überholt.

Prüfungsrelevanz:

Im Rahmen der bereicherungsrechtlichen Rückab-wicklung von gegenseitigen Verträgen wird schon seijeher diskutiert, wie die Gegenleistung, die der Emp-fänger für das Erlangte bewirkt hat, zu berücksichtigenist. Heutzutage folgen Rechtsprechung und Literaturfast einhellig der sog. Saldotheorie. Die Saldotheorie istdie logische Folge des Synallagmas beim gegenseitigenVertrag, denn trotz ihrer Rechtsgrundlosigkeit bleibendie beiderseitigen Leistungen durch den Austausch-zweck unmittelbar miteinander verbunden. Damit be-steht von vornherein nur ein einheitlicher Anspruch aufAusgleich der beiderseitigen Vermögensverschiebun-gen, der auf Herausgabe des jeweiligen Saldos gerich-tet ist. Es sind damit die erbrachte Leistung und Ge-genleistung automatisch zu verrechnen. Die Saldotheo-rie wird jedoch u.a. nicht angewendet, wenn nur eineder beiden Vertragsparteien bisher geleistet hat (Vor-leistung), eine arglistige Täuschung des anderen Ver-tragspartners vorgelegen oder der andere Vertrags-partner die Verantwortung für den Untergang oder dieVerschlechterung der Gegenleistung zu tragen hat(Palandt/Thomas, BGB, § 818, Rz. 46 ff.).

Leitsatz:

Auf die bereicherungsrechtliche Rückabwicklungeines Vertrags, der mangels Geschäftsfähigkeiteines Vertragspartners nichtig ist, findet die Sal-dotheorie keine Anwendung (im Anschluss anBGHZ 126, 105 = NJW 1994, 2021 = LM H.10/1994 § 818 III BGB Nr. 37, und unter Aufga-be von BGH, NJW 1988, 3011).

Sachverhalt: Mit notariellem Vertrag vom 15. 9. 1995 kaufte der Kl.von der Bekl. ein Hausgrundstück für 230 000 DM,das er mit einem grundschuldgesicherten Darlehen derStreithelferin der Bekl. vom 10. 10. 1995 finanzierte.Der Notar war angewiesen, aus dem hinterlegtenKaufpreis 30 000 DM an den Sohn der Bekl. zu über-weisen. Der Kl. hat geltend gemacht, er sei bei Ver-tragsschluss wegen einer geistigen Erkrankung ge-schäftsunfähig gewesen und hat nach seiner Genesungdie Rückzahlung des Kaufpreises Zug um Zug gegendie Verschaffung des Eigentums verlangt.Das LG hat nach Beweiserhebung der Klage Zug umZug gegen die lastenfreie Eigentumsverschaffung

stattgegeben. Auf die Anschlussberufung des Kl. hatdas OLG diese Entscheidung nach weiterer Beweis-erhebung teilweise abgeändert und entsprechend demletzten Antrag des Kl. der Klage ohne Einschränkungstattgegeben.

Hat eine von der Bekl. form- und fristgerecht einge-legte Revision Aussicht auf Erfolg?

Lösung: Eine von der Bekl. eingelegte Revision gegen das Be-rufungsurteil des OLG wird erfolgreich sein, wenn siezulässig und begründet ist.

A. Zulässigkeit

I. StatthaftigkeitGegen das Berufungsurteil des OLG ist gem. §§ 545 I,546 I 1 ZPO die Revision statthaft, wenn der Wert derBeschwer 60.000 DM übersteigt. Die Beschwer gibtregelmäßig das Rechtsschutzbegehren für die Anru-fung der höheren Instanz . Es kommt damit darauf an,ob der rechtskraftfähige Inhalt der angefochtenen Ent-scheidung wertmäßig mehr als 60.000 DM die Bekl.belastet (Thomas/Putzo, § 546 ZPO, Rdnr. 8). Durchdas Berufungsurteil wurde die Bekl. zur vollständigenRückzahlung des Kaufpreises von 230.000 DM ohneEinschränkung verurteilt. Die Revision ist damit statt-haft.

II. ZuständigkeitGem. § 133 Nr. 1 GVG ist der BGH für die Verhand-lung und Entscheidung über das Rechtsmittel der Revi-sion gegen Endurteile der Oberlandesgerichte zustän-dig.

III. Form und FristDie für die Einlegung und Begründung einer Revisionmaßgeblichen Form- und Fristvorschriften gem. §§552 - 554 ZPO sind beachtet worden.

IV. ProzessfähigkeitZu den parteibezogenen Zulässigkeitsvoraussetzungengehört u.a. die Prozessfähigkeit gem. §§ 51, 52 ZPO.Sie muss von Amts wegen geprüft werden und fürjede Instanz vorliegen (Thomas/Putzo, § 52 ZPO,Rdnr. 6). Prozessfähigkeit ist die Fähigkeit, Prozess-handlungen selbst oder durch einen selbstbestelltenVertreter wirksam vorzunehmen; nicht prozessfähigePersonen bedürfen eines gesetzlichen Vertreters (Tho-mas/Putzo, § 51 ZPO, Rdnr. 2 ff.). Dabei richtet sich

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die Prozessfähigkeit nach der materiell-rechtlichenGeschäftsfähigkeit, die in der Person des Kl. wegenseiner früheren geistigen Erkrankung problematischerscheint. Jedoch kommt es für die Feststellung derProzessfähigkeit nur auf den letzten mündlichen Ver-handlungstermin an (Thomas/Putzo, § 52 ZPO, Rdnr.6). Inzwischen ist der Kl. aber wieder genesen.Der BGH führt dazu aber aus: “Zu Unrecht vermisst die Revision eine Prüfung derProzessfähigkeit im vorliegenden Verfahren. Dafürgab es keinen Anhaltspunkt, weil der Kl. nach denFeststellungen des Sachverständigen seit 1996 wiedersachgerecht medikamentös behandelt wird, dadurchsein Zustand stabilisiert ist und er auch wieder seinenBeruf als Schiffbauingenieur ausüben kann. Die Revi-sion macht auch nicht geltend, dass sich daran wiederetwas geändert habe.” Damit bestehen an der Pro-zessfähigkeit des Kl. keine Zweifel.

V. Ergebnis zur ZulässigkeitDie von der Bekl. eingelegte Revision ist zulässig.

B. BegründetheitGem. §§ 549 I, 550 ZPO kann die Revision nur daraufgestützt werden, daß die angegriffene Entscheidu n g -hier: das Berufungsurteil des OLG - auf der Verlet-zung des Bundesrechts oder einer Vorschrift beruht,deren Geltungsbereich sich über den Bezirk einesOberlandesgerichtes hinaus erstreckt. Eine Gesetzes-vorschrift ist verletzt, wenn eine Rechtsnorm nichtoder nicht richtig angewendet worden ist. Damit über-nimmt die Revision die Aufgabe einer Rechtfehlerkon-trolle. Es ist daher zu prüfen, ob das OLG Rechtsfeh-ler bei der Beurteilung von Zulässigkeit und Begrün-detheit der Berufung begangen hat.

I. Zulässigkeit der Berufung

1. Statthaftigkeit Gem. §§ 511, 511 a ZPO findet die Berufung gegendie im Rechtszuge erlassenen Endurteile statt, wennder Wert des Beschwerdegegenstandes 1.500 DMnicht übersteigt. Durch das Urteil des LG wurde dieBekl. zur Rückzahlung des Kaufpreises i.H.v. 230.000DM Zug um Zug gegen die lastenfreie Eigentumsver-schaffung am Grundstück verurteilt. Die Berufung wardamit statthaft.

2. ZuständigkeitGem. § 119 I Nr. 3 GVG sind die Oberlandesgerichtezuständig für die Verhandlung und Entscheidung über

das Rechtsmittel der Berufung gegen die Endurteileder Landgerichte.

3. Form- und fristgerechte EinlegungDie Berufung wurde von der Bekl. form- und fristge-recht gem. §§ 516 - 519 ZPO eingelegt.Der Kl. hat sich form- und fristgerecht gem. §§ 521 -522 a ZPO dieser Berufung angeschlossen.

II. Begründetheit der BerufungDas Berufungsurteil ist begründeterweise erfolgt,wenn der Kl. einen unbeschränkten Anspruch aufRückzahlung des Kaufpreises hat.Der Kl. könnte gegen die Bekl. einen Anspruch aufRückzahlung von 230.000 DM gem. § 812 I 1 1. FallBGB haben.

1. Anspruch entstanden

a. Leistung eines “etwas”Der Kl. müsste etwas an die Bekl. geleistet haben. Als“etwas” genügt jeder Vermögensvortei l (Pa-landt/Thomas, § 812 BGB, Rdnr. 16) und Leistung istjede bewusste und zweckgerichte Mehrung fremdenVermögens (Palandt/Thomas, § 812 BGB, Rdnr. 3).Der Kl. hat an die Bekl. 230.000 DM gezahlt, um sei-nen Verpflichtungen als Käufer aus dem Kaufvertragzu erfüllen. Damit hat er eine vermögenswerte Lei-stung an die Bekl. erbracht.Irrelevant ist dabei, dass ein Betrag von 30.000 DMvom Notar an den Sohn der Bekl. überwiesen wordensind. Der BGH führt dazu aus:“Entgegen der Meinung der Revision mindert sich derRückzahlungsbetrag nicht um 30 000 DM. Die Verein-barung über die Weiterleitung dieses Betrags betrafEinrichtungsgegenstände, die der Sohn der Bekl. undseine Lebensgefährtin in dem Kaufobjekt zurücklassenwollten. Insoweit war in der Treuhandvereinbarungfestgelegt, dass der Notar diese Summe aus dem hin-terlegten Kaufpreis an den Sohn auszahlen sollte. Diesführte aber entgegen der Meinung der Revision nichtdazu, dass der Kl. seine Leistung teilweise an denSohn zu erbringen hatte. Er schuldete und bezahlte dengesamten Kaufpreis von 230 000 DM nur an seineVertragspartnerin, deren Absprachen mit ihrem Sohnihn nicht betrafen.”

b. Ohne RechtsgrundVoraussetzung ist weiterhin, dass der die Vermögens-verschiebung objektiv rechtfertigende Grund fehlt.Häufigster Fall ist dabei das Fehlen einer gültigen Kau-

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salvereinbarung für die erbrachte Leistung (Pa-landt/Thomas, § 812 BGB, Rdnr. 68, 71). Grundlagefür die Zahlung von 230.000 DM war der zwischenden Parteien geschlossene Grundstückskaufvertrag.Die diesem Kaufvertrag zugrunde liegende Willens-erklärung des Kl. könnte allerdings gem. §§ 104 Nr. 2,105 BGB nichtig sein, weil der Kl. zum Zeitpunkt desVertragsabschlusses geschäftsunfähig war. Nach §104 Nr. 2 BGB ist derjenige geschäftsunfähig, wersich in einem die freie Willensbestimmung aus-schließenden Zustand krankhafter Störung der Geis-testätigkeit befindet, soweit nicht dieser Zustand seinerNatur nach ein vorübergehender ist. Durch Beweis-erhebung mittels eines Sachverständigen ist eine durchGeisteskrankheit bedingte Geschäftsunfähigkeit desKl. festgestellt worden. Der BGH führt dazu aus:“Die Auffassung der Revision, der Sachverständigehabe einen falschen Ansatzpunkt gewählt und denRechtsbegriff der Geschäftsunfähigkeit verkannt, trifftnicht zu. Richtig ist zwar, dass der Sachverständige inseinem ersten Gutachten, das sich im Wesentlichennur auf die schriftlichen Krankenberichte der behan-delnden Ärzte stützte, eine Formulierung verwendethat, die auf die Annahme einer auf “größere geschäftli-che Vorgänge" beschränkte "wahrscheinliche" Ge-schäftsunfähigkeit hindeutet. Dies gilt aber nicht fürdie abschließende Beurteilung vom 19. 7. 1999, diesich auf den gesamten Inhalt der Beweisaufnahme vordem LG und dem OLG gestützt hat. Der Einwand derRevision, Psychopathien seien in der Regel keinekrankhafte Störung der Geistestätigkeit, trifft in dieserAllgemeinheit nicht zu, da diese Frage nur im Einzelfallnach Art und Umfang der festgestellten Symptomesachverständig zu bewerten ist. Die in der Beweisauf-nahme festgestellten Wahnvorstellungen des Kl. überseinen Arbeitsplatz und die norddeutsche Werftindu-strie, seine Vorstellungen über die Verfolgung durchinternationale Geheimdienste und die Veränderungseiner medizinischen Betreuung und Versorgung vordem Vertragsabschluss führten zu der Feststellung desSachverständigen, dass der Kl. sich in dieser Zeit imZustand eines systematisierten Wahns mit erheblicherDynamik befunden habe, bei dem eine freie Willens-bestimmung nicht mehr möglich gewesen sei. Darausergab sich für ihn der Schluss, dass der Kl. bei Ver-tragsabschluss zu einem realitätsbezogenen und ver-nunftgeprägten Handeln mit Sicherheit nicht in der La-ge gewesen sei. Entgegen der Meinung der Revisiongeht es insoweit nicht darum, ob diese Wahnvorstel-lungen sich gerade auf den konkreten Grundstückskaufbezogen haben, sondern nur darum, ob sie Merkmale

eines krankhaften Zustands sind, der als Geistesstö-rung zu bewerten ist. Dies aber hat der Sachverständi-ge eindeutig festgestellt.”Infolgedessen war die Willenserklärung des Kl. zumKaufvertrag vom 15.09.1995 nichtig gem. §§ 104 Nr.2, 105 BGB und damit der gesamte Vertag hinfällig.Für eine Kaufpreiszahlung fehlte es damit Rechts-grund.

c. ErgebnisDer Anspruch auf Rückzahlung von 230.000 DM gem.§ 812 I 1 1. Fall BGB ist entstanden.

2. Anspruch untergegangenGem. § 818 III BGB könnte dieser Rückzahlungsan-spruch untergegangen sein, wenn die Bekl. gänzlichoder teilweise nicht mehr bereichert ist. Nach der vor-herrschenden Saldotheorie ist ein Bereicherungs-schuldner bei der Rückabwic klung eines gegenseitigenVertrages auch dann nicht mehr bereichert, wenn derBereicherungsgläubiger die seinerseits empfangeneGegenleistung gänzlich oder teilweise nicht mehr zu-rückgewähren kann (Palandt/Thomas, § 818 BGB,Rdnr. 47). Die von der Bekl. erbrachte Gegenleistung(Übereignung des Hausgrundstücks) gehört zu denKosten für den Erwerb des Leistungsgegenstandes(Kaufpreis von 230.000 DM) und ist als Nachteil beimBereicherungsausgleich zu berücksichtigen. In diesemFall kann der Kl. das Hausgrundstück nicht mehr sounbelastet zurückgewähren wie er es empfangen hat,da am 10.10.1995 eine Sicherungsgrundschuld zuguns-ten der Streithelferin daran begründet wurde. Damitstellt sich die Frage, ob der Kl. den Kaufpreis in derursprünglichen Höhe zurückverlangen kann, wenn erselber nicht in der Lage ist, die Gegenleistung in derursprünglichen Form zurückzugewähren. Dazu müsstedie Saldotheorie auch auf den vorliegenden Fall an-wendbar sein. Der BGH führt dazu aus:“Zu Recht rügt die Revision aber, dass das BerGer.die Bekl. zur uneingeschränkten Zurückzahlung desKaufpreises verurteilt hat. Nicht zu beanstanden istallerdings der rechtliche Ausgangspunkt, dass auf diebereicherungsrechtliche Rückabwicklung eines Ver-trages, der mangels Geschäftsfähigkeit eines Vertrags-partners nichtig ist, die Saldotheorie keine Anwendungfindet (BGHZ 126, 105 [108] = NJW 1994, 2021 = LMH. 10/1994 § 818 III BGB Nr. 37). Soweit das Urteildes Senats vom 11. 3. 1988 (NJW 1988, 3011) dementgegensieht, wird daran nicht festgehalten, weil diedie Saldierung rechtfertigende Verknüpfung derbeiderseitigen Leistungen durch den Austauschzweck

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bei fehlender Geschäftsfähigkeit von vornherein nichteintreten konnte und deswegen auch nicht die Rückab-wicklung bestimmen kann.”Da die Saldotheorie im vorliegenden Fall nicht an-wendbar ist, kann sich die Bekl. wegen der zwischen-zeitlichen Belastung des Grundstücks durch eine Si-cherungsgrundschuld nicht auf Entreicherung gem. §818 III BGB berufen.

3. Anspruch durchsetzbarDer bereicherungsrechtliche Rückforderungsanspruchkönnte aber nicht durchsetzbar sein, wenn die Bekl.ein Zurückbehaltungsrecht gem. § 273 I BGB geltendmachen könnte. Hat der Schuldner aus demselbenrechtichen Verhältnis, auf dem seine Verpflichtungberuht, einen fälligen Anspruch gegen den Gläubiger(Konnexität), so kann er gem. § 273 I BGB die ge-schuldete Leistung verweigern, bis die ihm gebührendeLeistung bewirkt wird. Der Bekl. steht aus dem fehl-geschlagenen Kaufvertrag gegenüber dem Kl. gem. §812 I 1 1. Fall BGB ein Anspruch auf Rückübereig-nung des belasteten Grundstücks. Aufgrund diesesGegenanspruchs kann sie gegenüber der Rückzah-lungsforderung des Kl. ein Zurückbehaltungsrechtgem. § 273 I BGB geltend machen. Der BGH führtdazu aus:“Dies (die Nichtanwendbarkeit der Saldotheorie)führt aber nicht dazu, dass die geschäftsunfähige Par-

tei die von ihr empfangene und noch vorhandene Lei-stung (hier die grundbuchmäßige Eigentümerposition)behalten dürfte. Sie muss sie nur nicht von sich ausanbieten, sondern kann abwarten, ob der Vertragspart-ner insoweit ein Zurückbehaltungsrecht geltend macht(§ 273 BGB). Dies hat die Bekl. getan, wie die Revisi-on zutreffend rügt. Das hat das BerGer. übersehen.”Gem. § 274 BGB kann damit der Rückzahlungsklagedes Kl. nicht uneingeschränkt entsprochen werden wiees das OLG mit seinem Berufungsurteil getan hat.Vielmehr hätte die Verurteilung zur Rückzahlung desKaufpreises Zug um Zug gegen Rückübereignung desbelasteten Hausgrundstücks erfolgen müssen.Das Berufungsurteil des OLG verletzt das Zurückbe-haltungsrecht der Bekl. gem. §§ 273 I, 274 BGB undist insoweit rechtsfehlerhaft.

Endergebnis:Die Revision ist zulässig und teilweise begründet. Dasangegriffene Berufungsurteil ist dahingehend abzuän-dern, dass die Bekl. nicht uneingeschränkt zur Rück-zahlung von 230.000 DM, sondern nur Zug um Zuggegen Rückübereignung des belasteten Grundstücksverurteilt wird.Da es weiterer Sachaufklärung nicht bedarf und dieSache daher zur Endentscheidung reif ist (§ 565 IIINr. 1 ZPO), kann der BGH diese Abänderung selbstvornehmen.

Standort: §§ 267, 22 StGB Problem: Zusammengesetzte Fotokopien als Urkunden

OLG DÜSSELDORF, BESCHLUSS VOM 14.09.2000

2 B SS 222/00 (NJW 2001, 167)

Problemdarstellung:

Das OLG Düsseldorf hatte über die Strafbarkeit einesAngeklagten zu entscheiden, der Teile verschiedenerSchriftstücke auf einem Kopierer zusammengelegt undvon dieser Collage eine Kopie angefertigt hatte, umeinen vermeintlichen Einkommensnachweis beibringenzu können. Das AG hat den Angekl wegen versuchtenBetrugs zu zwei Monaten (!) Freiheistsrafe verurteilt.Die Berufung des Angekl. hat das LG mit der Maßga-be verworfen, dass der Angekl. der versuchten Urkun-denfälschung schuldig sei. Die Revision des Angekl.hatte Erfolg und führte mit der Sachrüge zum Frei-spruch. Das OLG Düsseldorf geht mit der ganz herr-schenden Meinung davon aus, dass Fotokopien grund-sätzlich keine Urkundenqualität besitzen und auch die

vom Angeklagten angefertigte Collage kein tauglichesTatobjekt i.S. des § 267 I StGB. Eine Strafbarkeit we-gen versuchten Urkundenfälschung lehnt der Senat ab,da es sich dann, wenn der Angeklagte geglaubt habensollte, die Collage und die Kopie besässen Urkunden-eigenschaft, nicht - wie das LG meint - um einen straf-baren untauglichen Versuch, sondern um ein straflosesWahndelikt handele.

Prüfungsrelevanz:

Das Urteil ist als besonders prüfungsrelevant einzustu-fen, da es die “klassischen” Examensprobleme derUrkundenqualität von Fotokopien und der Abgrenzungdes untauglichen Versuchs vom Wahndelikt im Be-reich der normativen Tatbestandsmerkmale betrifft.

Entsprechend den (einfachen) Abschriften besitzenFotokopien nach h.M. grundsätzlich keine Urkunden-qualität, da sie als “bildliche Wiedergabe des Originals”

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möglicherweise schon keine menschliche Gedanken-erklärung verkörpern, häufig keinen Beweiswert besit-zen und regelmäßig nicht den - nach der sog. Geitigs-keitstheorie zu bestimmenden - Aussteller der Erklä-rung erkennen lassen. Von diesem Grundsatz werdenvon der überwiegenden Ansicht - in unterschiedlichemAusmaß - Ausnahmen zugelassen (vgl. zur ÜbersichtKüper, BT, 3. Auflage, S. 286 f.; Geppert, Jura 1990,271), wozu insbesondere die Annahme einer sog.Scheinurkunde gehört, wenn die Kopie den Anscheineines Originals erweckt. Da die Kopie im vorliegendenFall lediglich den Anschein einer Kopie vom Original(!) erweckte, mithin für den Rechtsverkehr nicht derAnschein entstand, es handele sich um ein Original,verneinte das OLG zutreffend die Urkundenqualitätder Kopie. Soweit die h.M. davon ausgeht, die Vorlageeiner Kopie könne das (mittelbare) Gebrauchen einesunechten oder verfälschten Originals darstellen (vgl.Küper, a.a.O., S. 294 f.) , konnte dies für den vorlie-genden Fall ebenfalls nicht gelten, weil insoweit stetserforderlich ist, dass eine unechte/verfälschte Original-urkunde vorhanden ist, was mangels Urkundeneigen-schaft der Collage aber ebenfalls nicht der Fall ist.

Mangels Vollendung stellte sich die Frage einer Straf-barkeit wegen versuchter Urkundenfälschung, wobeiwegen der irrigen Annahme der Urkundeneigenschaftallein ein untauglicher Versuch in Betracht kommt. Dieinsoweit erforderliche Abgrenzung zum (straflosen)Wahndelikt dürfte im Bereich der normativen Tatbe-standsmerkmale zu den schwierigsten Problemen desAllgemeinen Teils zählen (vgl. zur Übersicht Roxin, JZ1996, 981; Schönke/Schröder/Eser, § 22, Rn. 68 ff.und die Klausur von Heuchemer, JA 2000, 946). Diewohl h.M., der sich - entgegen dem zweiten Leitsatz -auch das OLG Düsseldorf anschließt, folgt der sog.Lehre vom Umkehrprinzip, wonach der untauglicheVersuch als sog. umgekehrter Tatbestandsirrtum unddas Wahndelikt als sog. umgekehrter Verbotsirrtum zuverstehen ist. Danach ist bei einem Irrtum, der im Falleder Unkenntnis einen Tatbestandsirrtum gem. § 16 IStGB darstellen würde, bei irriger Annahme von einemstrafbaren untauglichen Versuch auszugehen, da derVorsatzgegenstand bei Vollendung und Versuch gleichzu bestimmen sei. Im Hinblick auf normative Tatbe-standsmerkmale (z.B. fremd, Urkunde, Vermögen) istdaher Voraussetzung für die Strafbarkeit eine zutref-fende Parallelwertung in der Laiensphäre, mithin diedem Tatbestand entsprechende Erfassung desrechtlic h-sozialen Bedeutungsgehalt des Tuns. Nimmtder Täter irrig an, eine Collage oder eine Kopie sei

eine Urkunde, hat er nach Laienart hingegen den nor-mativen Gehalt des Merkmals nicht erkannt, sondernvielmehr eine eigene Vorstellung vom Begriff der Ur-kunde entwickelt. Da der er damit eine Verbotsnormangenommen habe, die tatsächlich nicht bestehe, müs-se er schon wegen Art. 103 II GG bei einem solchemumgekehrten Verbotsirrtum (Subsumtionsirrtum) straf-los bleiben.

Dem wird in der Literatur insbesondere für den Fallder sog. Vorfeldirrtümer entgegenhalten, dass sichhäufig nicht bestimmen lasse, ob der Täter, der etwadavon ausging, dass das Vortäuschen der Zahlungs-bereitschaft beim Telefonsex nach § 263 StGB straf-bar sei, eine zutreffende Parallelwertung bei unzutref-fender Bewertung der Vorfrage (im Beispiel: bezüglichder Wirksamkeit des Vertrages) vorgenommen habe,oder ob er sich über die “Reichweite des Tatbestan-des” (im Beispiel: über den Vermögensbegriff) geirrthabe. Deshalb wird zum Teil vorgeschlagen, bei jedem“umgekehrten Rechtsirrtum” von einem Wahndeliktauszugehen (grundlegend: Burkhardt, JZ 1981, 681ff.). Andere wollen Vorfeldirrtümern generell ver-suchsbegründende Kraft zusprechen bzw. danach dif-ferenzieren, ob es sich bei den normativen Tat-bestandsmerkmalen um “Verweisungsbegriffe” oder“Sammelbegriffe” handelt (vgl. Herzberg, JuS 1980,469; Roxin, a.a.O.).

Leitsätze:

Durch das Herstellen und Gebrauchen einer Fo-tokopie, die durch Zusammensetzen und Fotoko-pieren von Teilen mehrerer Schriftstücke erstelltworden ist, wird der Tatbestand der vollendetenUrkundenfälschung nicht erfüllt; eine solche Col-lage ist nämlich keine Urkunde im Rechtssinne.In einem solchen Fall liegt eine versuchte Urkun-denfälschung vor, wenn der Täter glaubt oder fürmöglich hält und billigend in Kauf nimmt, dass essich bei dem Produkt seiner Manipulation umeine Urkunde im Rechtssinne handelt.

Sachverhalt: Der Angekl. A bewarb sich im Februar 1998 um eineMietwohnung in Neuss, konnte aber den gewünschtenEinkommensnachweis aus seinem Handel mit ge-brauchten Kraftfahrzeugen nicht führen. "Deshalb" -so die Feststellungen des LG - "konstruierte der An-gekl. aus bei ihm verbliebenen Blankoformularen undaus alten Schriftstücken seines früheren Steuerbera-ters ... (einen) auf den 8. 2. 1998 datierten Einkom-

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mensnachweis, wobei der Angekl. mit einer Papier-schneidemaschine mehrere Einzelstücke aus anderenSchriftstücken herausgeschnitten ... (,) diese heraus-geschnittenen Einzelstücke auf einem Fotokopiergerätzusammengelegt und dann fotokopiert hatte; nachmehrfacher Wiederholung des Fotokopiervorgangs sahdas erzielte Produkt aus wie die Fotokopie eines Origi-nals. Diese Kopie legte der Angekl. dem Vermieter alsEinkommensnachweis vor. Zum Abschluss eines Miet-vertrags kam es nicht, weil der Vermieter auf Anfragevon dem Steuerberater erfuhr, dass dieser den Angekl.nicht mehr betreute und keinen Einkommensnachweisaufgesetzt hatte. A erzielte mit seinem Kfz-Handel ein Nettoeinkommenvon 2.000 DM. Für die Wohnung hätte ein Mietzinsvon 1.000 DM inclusive Nebenkosten entrichtet wer-den müssen.

Strafbarkeit des A?

Lösung:A. Strafbarkeit des A wegen Urkundenfälschunggem. § 267 I, 1. Fall StGB durch das Erstellen derCollage und das Anfertigen der Fotokopie

I. TatbestandAls er die Collage erstellte und anschließend eine Fo-tokopie anfertigte, könnte A jeweils gem. § 267 I, 1.Fall StGB eine unechte Urkunde hergestellt haben.Voraussetzung ist, dass es sich bei der Collage bzw.der Fotokopie um eine Urkunde handelt. Dazu führt das OLG aus: “Zu Recht ist das LG davonausgegangen, dass der Angekl. keine vollendete Ur-kundenfälschung, § 267 I StGB, begangen hat. DerAngekl. hat mit der Vorlage der Ablichtung des “Ein-kommensnachweises" keine unechte Urkunde ge-braucht. Weder die dem Vermieter vorgelegte Fotoko-pie noch die ihr zu Grunde liegende Vorlage warenUrkunden.1. Urkunden im Sinne des Strafrechts sind verkörperteErklärungen, die ihrem gedanklichen Inhalt nach ge-eignet und bestimmt sind, für ein Rechtsverhältnis Be-weis zu erbringen, und die ihren Aussteller erkennenlassen. Eine Fotokopie enthält dagegen lediglich diebildliche Wiedergabe der in einem anderen Schrift-stück verkörperten Erklärung. Die Ablichtung als sol-che umfasst regelmäßig nicht die wesentlichenMerkmale einer Urkunde. Eine Beweisbedeutungkommt ihr nicht ohne weiteres zu. Sie weist vor allemihren Aussteller nicht aus. Ihr kann daher auch die -einer Urkunde grundsätzlich eigene - Garantiefunktion

für die Richtigkeit des Inhalts nicht schlechthin zuer-kannt werden (BGHSt 20, 17 [18]; 24, 140; MDR [H]1976, 813; BGH, wistra 1993, 225 u. 341; Trönd-le/Fischer, StGB, 49. Aufl. [1999], § 267 Rdnr. 12 b;Beckemper, JuS 2000, 123; jew. m. w. Nachw.). Nurwenn die Kopie als Original erscheinen soll, ist sie alsUrkunde i. S. von § 267 StGB anzusehen (Bay0bLG,NJW 1989, 2553; Tröndle/Fischer, § 267 Rdnr. 12 b).So war es hier aber nicht. Nach den Feststellungensah das dem Vermieter vorgelegte Schreiben aus "wiedie Fotokopie eines Originals".2. Vorlage für den "Einkommensnachweis", den derAngekl. dem Vermieter vorgelegt hat, waren "Einzel-s tücke" gewesen, die der Angekl. zusammengelegt undanschließend mehrfach fotokopiert hatte (Collage).Eine derartige Collage ist keine Urkunde (BGHSt 24,140 ; BGH, wistra 1993, 341; a. A. Mitsch, NStZ 1994,88), die Vorlage einer Kopie der Collage kein Gebrau-chen i. S. des § 267 StGB (BGH, wistra 1993, 341).Dies gilt jedenfalls dann, wenn - wie hier - ersichtlichkein Original, sondern eine Kopie vorgelegt wird.”

II. ErgebnisA hat sich nicht wegen vollendeter Urkundenfälschungstrafbar gemacht.

B. Strafbarkeit des A wegen versuchter Urkunden-fälschung gem. §§ 267 I, II, 22, 23 I StGB durchdas Erstellen der Collage und Anfertigen der Foto-kopie

I. VorprüfungMangels Vollendung könnte sich A wegen einer ver-suchten Urkundenfälschung strafbar gemacht haben,die gem. §§ 267 II, 23 I, 12 I StGB mit Strafe bedrohtist.

II. TatentschlussZum erforderlichen Tatentschluss führt der Senat aus:“Die Verurteilung des Angekl. wegen versuchterUrkundenfälschung, § 267 II StGB, in der Form einesuntauglichen Versuchs ist rechtsfehlerhaft.Nach § 22 StGB versucht eine Straftat, wer nach sei-ner Vorstellung von der Tat zur Verwirklichung desTatbestands unmittelbar ansetzt. Beim - strafbaren -so genannten untauglichen Versuch befindet der Tätersich in einem "umgekehrten Tatbestandsirrtum": Erstellt sich einen nicht vorhandenen Umstand, an dessenFehlen die Vollendung des vorgestellten Tatbestandszwangsläufig scheitern muss, als gegeben vor (BGHSt42, 268 [272 f.] = NJW 1997, 750 431 m. Anm. Kud-

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lich = JR 1997, 468 m. Anm. Arzt). Für die Strafbar-keit kommt es damit allein auf die subjektive Vorstel-lung des Täters an (BGHSt 42, 268 [272 f.]; BGH,wistra 1999, 180).Hier scheiterte die vollendete Urkundenfälschungzwangsläufig daran, dass die Collage, die der Angekl.dem Vermieter als Einkommensnachweis vorlegte,keine Urkunde und ihre Vorlage kein Gebrauchen i. S.des § 267 StGB war. Demnach hätte der Angekl. nurdann eine versuchte Urkundenfälschung in der Formeines untauglichen Versuchs begangen, wenn er ge-glaubt oder für möglich gehalten und billigend in Kaufgenommen hätte, dass es sich bei dem “Produkt” sei-ner Manipulation um eine Urkunde im Rechtssinnehandelte.Das Tatbestandsmerkmal "Urkunde" in § 267 StGB istnicht sinnlich wahrnehmbar, sondern ein "Gebilde derGedankenwelt" (Schroeder, in: LK-StGB, 11. Aufl.[1994], § 16 Rdnr. 5). Bei solchen Tatbestandsmerk-malen ist Vorausetzung der Strafbarkeit, dass der Tä-ter eine "Parallelbewertung in Laiensphäre" vorgenom-men und die Erfüllung des Tatbestands zumindest fürmöglich gehalten und billigend in Kauf genommen hat(Schroeder, in: LK-StGB, § 16 Rdnr. 43; Cramer, in:Schönke/Schröder, StGB, 25. Aufl. [1997], § 15Rdnrn. 20, 43 a).Das LG hat keine tatsächlichen Umstände festgestelltdie den Schluss zulassen, dass der Angekl. es für mög-lich gehalten und billigend in Kauf genommen hat,durch seine Manipulation eine Urkunde im Rechtssinneherzustellen oder zu gebrauchen. Dass er dem Ver-mieter vortäuschen wollte, sein Steuerberater habe ihmsein Einkommen bescheinigt, steht außer Frage. Auchkonnte aus der Sicht des Angekl. nicht zweifelhaftsein, dass sein Vorgehen zu missbilligen war. Ein all-gemein gehaltenes Unrechtsbewusstsein des Tätersreicht aber nicht aus, um sein Verhalten strafbar zumachen.Hinzu kommen muss, dass der Täter zumindest nachseiner subjektiven Vorstellung einen konkreten Straf-tatbestand zu verwirklichen sucht. Hier ist nach denFeststellungen jedoch nicht auszuschließen, dass derAngekl. nur ein Original für eine Urkunde im Rechts-sinne gehalten und - vergeblich - gehofft hat, der Ver-mieter werde sich mit einer Fotokopie, die als solchezu erkennen war, begnügen.Dass mit der zunehmenden Verbreitung der Kopierge-täte und der gestiegenen Qualität der Kopien die Foto-kopie "im Rechtsverkehr weit gehend an die Stelle derUrschrift getreten" sei (Freund, JuS 1991, 725; Mitsch,NStZ 1994, 88), mag richtig sein. Es ist aber nicht

Aufgabe der Gerichte, im Wege der Rechtsfortbildung- die im Übrigen bedenklich wäre (BGH, MDR [H]1976, 813) - die Fotokopie in den Strafschutz des § 267StGB einzubeziehen; das wäre Sache des Gesetzge-bers (BGHSt 24, 140 [1142]). Bis dahin gilt, dass aufstrafrechtlichen Schutz nicht angewiesen ist, wer sichmit einer Fotokopie zufrieden gibt (Beckemper, JuS2000, 123).”

III. ErgebnisA hat sich nicht wegen versuchter Urkundenfälschungstrafbar gemacht.

C. Strafbarkeit des A wegen Herstellens einer un-echten technischen Aufzeichnung § 268 I Nr. 1, 1.Fall StGB durch das Anfertigen der Fotokopie

I. TatbestandEs müsste sich bei der Fotokopie um eine tec hnischeAufzeichnung gem. § 268 II StGB handeln. Techni-sche Aufzeichnung ist eine Darstellung von Daten u.a.,die durch ein technisches Gerät ganz oder zum Teilselbsttätig bewirkt wird, den Gegenstand der Aufzeich-nung allgemein oder für Eingeweihte erkennen lässtund zum Beweis einer rechtlich erheblichen Tatsacheist. Durch das Gerät ganz oder zum teil selbsttätig bewirktwird die Darstellung, wenn dessen Leistung darin be-steht, aufgrund eines in Konstruktion oder Program-mierung festgelegten automatischen Ablaufs den Auf-zeichnungsinhalt konkret zu gestalten und eine Dar-stellung mit neuen Informationsgehalt hervorzubringen(Küper, BT, 3. Auflage, S. 25 m. w. N.). Da Fotoko-pien keine neuen Informationen produzieren, sondernlediglich vorhandene Informationen reproduzieren,werden sie nicht vom Gerät selbsttätig bewirkt undstellen daher auch keine technischen Aufzeichnungendar (h.M., vgl. BGHSt 24, 141, 142; Tröndle/Fischer, §2 6 8 , R n . 7 m . w . N . ; a . A . e t w a S c h ö n -ke/Schröder/Cramer, § 268, Rn. 17). Selbst wenn man von einem tauglichen Tatobjekt i.S.des § 268 II StGB ausgehen wollte, fehlt es an derUnechtheit, da das Gerät die Vorlagen störungsfrei soaufzeichnet hat, wie sie dem Gerät eingegeben wordensind (vgl. S/S/Cramer, § 268, Rn. 17).

II. ErgebnisA hat sich daher auch nicht wegen des Herstellenseiner unechten technischen Aufzeichnung strafbar ge-macht.

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URTEILE IN FALLSTRUKTUR RA 2001, HEFT 1

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D. Strafbarkeit des A wegen versuchten Betrugsgem. §§ 263 I, II, 22, 23 I StGB durch die Vorlagedes vermeintlichen Einkommensnachweises

I. VorprüfungDa es nicht zum Abschluss eines Mietvertrages ge-kommen ist, scheidet ein vollendeter Betrug aus. DerVersuch des Betrugs ist gem. §§ 263 I, II, 22, 23 IStGB mit Strafe bedroht.

II. TatentschlussA wollte den Vermieter täuschen und bei diesem einenIrrtum über die Höhe seines Einkommens erregen.Der Vermieter sollte irrtumsbedingt über sein Vermö-gen verfügen, indem er dem A die Wohnung mietwei-se überlässt. Fraglich ist, ob A auch mit dem Ent-schluss handelte, das Vermögen des Vermieters zuschädigen. In Betracht kommt eine konkrete Vermö-gensgefährdung durch Abschluss des Mietvertrages(sog. Eingehungsbetrug). Dazu müsste sich A vorge-stellt haben, dass der Anspruch des Vermieters auf

den Mietzins bei wirtschaftlicher Betrachtung wenigerwert ist, als der eigene Anspruch des A. Der Senatführt dazu aus: “Aus Rechtsgründen nicht zu beanstan-den ist, dass das LG den Angekl. nicht wegen ver-suchten Betrugs, § 263 I, II StGB, verurteilt hat. Beieinem Nettoeinkommen von 2000 DM hätten dem An-gekl. nach Abzug von 1000 DM "Bruttomiete" (d. h.einschließlich Nebenkosten) monatlich 1000 DM fürden laufenden Bedarf zur Verfügung gestanden. Daswar fast das Doppelte des Regelsatzes der Sozialhilfe(ohne Unterkunft), der von Juli 1997 bis Juni 1998 beieinem Alleinstehenden 539 DM monatlich betrug.Deshalb ist es jedenfalls nicht rechtsfehlerhaft, dassdas LG nicht zur der Überzeugung gelangt ist, der an-gestrebte Abschluss eines Mietvertrags hätte das Ver-mögen des Vermieters gefährdet.”

III. ErgebnisA hat sich nicht wegen versuchten Betrugs strafbargemacht.