6
Katarakt | Der Ophthalmologe 102000 676 Zusammenfassung Hintergrund. Zur Zeit (Stand März 1998) wird bei versicherungsrechtlichen Fragen davon ausgegangen, dass Pseudophakie zu einer Minderung des Stereosehens führt. Ob dies zutrifft, sollte anhand einer prospek- tiven Studie überprüft werden. Patienten und Methode. Bei 50 Patienten mit einer Katarakt und einem Visus des schlechteren Auges von mindestens 0,4 und ohne wesentliche anderweitige ophthalmo- logische Erkrankungen wurde das Stereose- hen mit dem Titmus-Test und dem Lang-Test untersucht. Ergebnisse. Der Median des Stereosehens der initial beidseitig phaken Patienten lag präoperativ und postoperativ bei 60’’. Der Median der präoperativ einseitig pseudop- haken Patienten lag bei 100’’.Postoperativ, also bei beidseitiger Pseudophakie, lag er bei 50’’. Die Ergebnisse des Lang-Stereotestes waren in allen Gruppen uneinheitlich und damit für die Auswertung nur bedingt geeignet. Schlussfolgerung. Bei guten funktionellen Voraussetzungen eines Auges wird das Stereosehen in der Nähe durch die Erzeu- gung einer einseitigen oder sogar beidseiti- gen Hinterkammerlinsenpseudophakie bei entsprechender Nahkorrektur auch des anderen Auges nicht verschlechtert. Es er- scheint somit nicht berechtigt, allein durch eine Hinterkammerlinsenpseudophakie von einer Minderung des Stereosehens in der Nähe auszugehen. Schlüsselwörter Stereosehen · Pseudophakie · Titmus-Test · Lang-Test · Begutachtung Durch eine Kataraktoperation wird nach herkömmlicher Ansicht (Stand Ja- nuar 1999) das Stereosehen vermindert [3]. Wenn also bei einem jungen Mann mit traumatischer Katarakt die einge- trübte Linse entfernt und nach heutigem Standard durch eine endokapsulär plat- zierte Kunststoffhinterkammerlinse er- setzt wird, so ist ein postoperativ be- merktes vermindertes Stereosehen mit in den visusbestimmten Tabellenwerten der Minderung der Erwerbs- bzw. Ge- brauchsfähigkeit enthalten. Der Tabel- lenwert müsste lediglich dann um einen vom Gutachter festzusetzenden Betrag verringert werden, wenn bekannt ist, dass das Stereosehen schon vor der Pseudophakie vermindert war. Da einerseits festgestellt wurde, dass der Visus nicht alleine entscheidend für das Stereosehen ist [4, 12], andererseits je- doch das Stereosehen in seiner Qualität mit dem Visus korreliert [8, 10], erschien es uns nicht einleuchtend, warum die Pseudophakie nach heutigem Standard ausgerechnet zur Verminderung des Ste- reosehens führen sollte. Während frühe- re skeptische Äußerungen bezüglich des Stereosehens nach einer Kataraktoperati- on [2, 11, 13] vor dem Hintergrund der da- mals schlechteren Operationsbedingun- gen und hiermit verbundenen subopti- malen postoperativen Ergebnisse ver- ständlich erscheinen, kann heute durch ei- ne Operation in ca. 90% von einer visuel- len Restitutio ad integrum ausgegangen werden. Die Abbildung wird von allen Pa- tienten mit ansonstem gesunden Auge postoperativ als farblich brillant beschrie- ben. Der Visus ist i.Allg. sehr gut.Wie soll- te also die für das Stereosehen entschei- dende unterschiedliche querdisparate Bild- lage durch eine optisch gute Abbildung ei- nes Auges negativ beeinflusst werden? Methode Es wurden konsekutiv 50 Patienten für die Studie ausgewählt. Einschlusskriterien waren: Präoperativer Visus auf jedem Auge in der Ferne und Nähe mindestens 0,4. Zur Visusbestimmung wurde eine objektive Refraktometrie und anschließend subjektive Refraktions- bestimmung zur Ermittlung der op- timalen Fernkorrektur durchgeführt. Mit dieser Korrektur wurde der Fernvisus in 5 m mittels Projektions- verfahrens bestimmt. Als richtig erkannt galt die Visusstufe, bei der mindestens 3 von 4 Zahlen richtig benannt wurden. Der Nahvisus wur- de nach Addition von +2,50 dpt sph zur optimalen Fernkorrektur in 40 cm Distanz mittels der Oculus- Lesetafeln ermittelt. Ein regelrechter Verlauf der Kata- raktoperation, insbesondere ohne visusbeeinträchtigende Komplikatio- nen (z. B. postoperatives Stroma- ödem). Folgende Operationstechnik wurde von insgesamt 2 Operateuren angewendet: korneoskleraler Zugang, Phakoemulsifikation, intrakapsuläre Hinterkammerlinsen- implantation. Katarakt Ophthalmologe 2000 · 97:676–681 © Springer-Verlag 2000 J. Sucker 1 · M. Zvizdic 2 · H. Vogten 3 1 Augenarztpraxis, Oberndorf am Neckar 2 Augenklinik des Zentralklinikums Augsburg 3 Augenabteilung des Kantons-Spitals, Aarau Stereosehen vor und nach Kataraktextraktion mit Kunst- stofflinsenimplantation Vortrag gehalten auf der 97.Tagung der deutschen Ophthalmologischen Gesellschaft Dr. Jens Sucker Hauptstraße 10, 78727 Oberndorf, E-Mail: [email protected]

Stereosehen vor und nach Kataraktextraktion mit Kunststofflinsenimplantation

Embed Size (px)

Citation preview

Page 1: Stereosehen vor und nach Kataraktextraktion mit Kunststofflinsenimplantation

Katarakt

| Der Ophthalmologe 10•2000676

Zusammenfassung

Hintergrund. Zur Zeit (Stand März 1998)wird bei versicherungsrechtlichen Fragendavon ausgegangen, dass Pseudophakie zueiner Minderung des Stereosehens führt. Obdies zutrifft, sollte anhand einer prospek-tiven Studie überprüft werden.Patienten und Methode. Bei 50 Patientenmit einer Katarakt und einem Visus desschlechteren Auges von mindestens 0,4 undohne wesentliche anderweitige ophthalmo-logische Erkrankungen wurde das Stereose-hen mit dem Titmus-Test und dem Lang-Testuntersucht.Ergebnisse. Der Median des Stereosehensder initial beidseitig phaken Patienten lagpräoperativ und postoperativ bei 60’’. DerMedian der präoperativ einseitig pseudop-haken Patienten lag bei 100’’. Postoperativ,also bei beidseitiger Pseudophakie, lag er bei50’’. Die Ergebnisse des Lang-Stereotesteswaren in allen Gruppen uneinheitlich unddamit für die Auswertung nur bedingtgeeignet.Schlussfolgerung. Bei guten funktionellenVoraussetzungen eines Auges wird dasStereosehen in der Nähe durch die Erzeu-gung einer einseitigen oder sogar beidseiti-gen Hinterkammerlinsenpseudophakie beientsprechender Nahkorrektur auch desanderen Auges nicht verschlechtert. Es er-scheint somit nicht berechtigt, allein durcheine Hinterkammerlinsenpseudophakie voneiner Minderung des Stereosehens in derNähe auszugehen.

Schlüsselwörter

Stereosehen · Pseudophakie · Titmus-Test ·Lang-Test · Begutachtung

Durch eine Kataraktoperation wirdnach herkömmlicher Ansicht (Stand Ja-nuar 1999) das Stereosehen vermindert[3]. Wenn also bei einem jungen Mannmit traumatischer Katarakt die einge-trübte Linse entfernt und nach heutigemStandard durch eine endokapsulär plat-zierte Kunststoffhinterkammerlinse er-setzt wird, so ist ein postoperativ be-merktes vermindertes Stereosehen mitin den visusbestimmten Tabellenwertender Minderung der Erwerbs- bzw. Ge-brauchsfähigkeit enthalten. Der Tabel-lenwert müsste lediglich dann um einenvom Gutachter festzusetzenden Betragverringert werden, wenn bekannt ist,dass das Stereosehen schon vor derPseudophakie vermindert war.

Da einerseits festgestellt wurde, dassder Visus nicht alleine entscheidend fürdas Stereosehen ist [4,12],andererseits je-doch das Stereosehen in seiner Qualitätmit dem Visus korreliert [8, 10], erschienes uns nicht einleuchtend, warum diePseudophakie nach heutigem Standardausgerechnet zur Verminderung des Ste-reosehens führen sollte. Während frühe-re skeptische Äußerungen bezüglich desStereosehens nach einer Kataraktoperati-on [2, 11, 13] vor dem Hintergrund der da-mals schlechteren Operationsbedingun-gen und hiermit verbundenen subopti-malen postoperativen Ergebnisse ver-ständlich erscheinen,kann heute durch ei-ne Operation in ca. 90% von einer visuel-len Restitutio ad integrum ausgegangenwerden.Die Abbildung wird von allen Pa-tienten mit ansonstem gesunden Augepostoperativ als farblich brillant beschrie-ben.Der Visus ist i.Allg.sehr gut.Wie soll-te also die für das Stereosehen entschei-dende unterschiedliche querdisparate Bild-lage durch eine optisch gute Abbildung ei-nes Auges negativ beeinflusst werden?

Methode

Es wurden konsekutiv 50 Patienten fürdie Studie ausgewählt.

Einschlusskriterien waren:

◗ Präoperativer Visus auf jedem Augein der Ferne und Nähe mindestens0,4. Zur Visusbestimmung wurdeeine objektive Refraktometrie undanschließend subjektive Refraktions-bestimmung zur Ermittlung der op-timalen Fernkorrektur durchgeführt.Mit dieser Korrektur wurde derFernvisus in 5 m mittels Projektions-verfahrens bestimmt. Als richtigerkannt galt die Visusstufe, bei dermindestens 3 von 4 Zahlen richtigbenannt wurden. Der Nahvisus wur-de nach Addition von +2,50 dpt sphzur optimalen Fernkorrektur in40 cm Distanz mittels der Oculus-Lesetafeln ermittelt.

◗ Ein regelrechter Verlauf der Kata-raktoperation, insbesondere ohnevisusbeeinträchtigende Komplikatio-nen (z. B. postoperatives Stroma-ödem). Folgende Operationstechnikwurde von insgesamt 2 Operateurenangewendet: korneoskleralerZugang, Phakoemulsifikation,intrakapsuläre Hinterkammerlinsen-implantation.

KataraktOphthalmologe2000 · 97:676–681 © Springer-Verlag 2000

J. Sucker1 · M. Zvizdic2 · H.Vogten3

1 Augenarztpraxis, Oberndorf am Neckar2 Augenklinik des Zentralklinikums Augsburg3 Augenabteilung des Kantons-Spitals, Aarau

Stereosehen vor und nach Kataraktextraktion mit Kunst-stofflinsenimplantation

Vortrag gehalten auf der 97.Tagung derdeutschen Ophthalmologischen Gesellschaft

Dr. Jens SuckerHauptstraße 10, 78727 Oberndorf,E-Mail: [email protected]

Page 2: Stereosehen vor und nach Kataraktextraktion mit Kunststofflinsenimplantation

Der Ophthalmologe 10•2000 | 677

J. Sucker · M. Zvizdic · H.Vogten

Stereoacuity before and after cataractsurgery

Abstract

Background. Based on current insurancedata patients with pseudophakia can beexpected to suffer reduced stereoacuity.A prospective study was carried out to testthis relationship.Patients and methods. Stereoacuity wasmeasured by Titmus and Lang tests in 50 pa-tients with cataracts who had no other ocu-lar complaints and a minimal visual acuity ofthe more impaired eye of 20/50. Examina-tions were carried out before and for 3 daysafter cataract surgery (phacoemulsification,posterior chamber lens).Results. Median stereoacuity improvedfrom 60’’ preoperatively to 50’’ postopera-tively in patients with bilateral phakia, from90’’ to 45’’ in those with unilateral phakia.Results of the Lang test were difficult tointerpret.Conclusion. Near stereoacuity is not wors-ened by unilateral or bilateral pseudophakiaif there are no other complaints, and if theeyes are corrected for reading distance.

Keywords

Stereoacuity · Cataract surgery · Titmus test ·Lang test

Ausschlusskriterien waren:

◗ Nach Anamnese und Befund nebender Katarakt andere erkennbareschwerwiegende Augenerkrankun-gen (z. B. diabetische Makulopathie,fortgeschrittenes Glaukom) oderneurologische Erkrankungen (z. B.Hemianopsie, Morbus Alzheimer).

◗ Das anamnestische Vorliegen einerAmblyopie bzw. eines Strabismus.

◗ Eine prä- oder postoperative Aniso-metropie von mehr als 2,5 dpt.

An diesem Kollektiv wurde prä- undpostoperativ (1.–3. Tag) unter gleichenBedingungen neben dem Visus das Ste-reosehen in der Nähe mit dem Titmus-Test („Flächentest“) und dem Lang-Test Iund II („Random-Dot-Test“) bestimmt.

Bezüglich der Untersuchung desStereosehens ist anzumerken, dass dieTitmus-Ringe den Nachteil haben, bei400’’ und 800’’ bereits einäugig diskri-miniert werden zu können [5, 10]. Ein-zelne Personen können sogar noch Rin-ge 4, also 200’’ einäugig erkennen [5].Außerdem ist die Ratewahrscheinlich-keit mit 1:4 relativ hoch. Nicht uner-wähnt bleiben soll, dass der Titmus-Testnur bis 40’’ misst, Personen mit norma-lem beidäugigen Sehen jedoch auch5–10’’ auflösen können [4]. Eine echteEndpunktbestimmung mit möglicherMittelwertbildung hat also nicht stattge-funden. Die Wahl fiel dennoch auf denTitmus-Test, weil er nach unseren Er-kenntnissen von den meisten Kollegenneben dem TNO-Test als leicht zu erklä-render und schnell durchzuführenderTest bei entsprechender Fragestellungangewendet wird.

Die Auswertung erfolgte zum einenbezüglich des Medians des Stereosehens

der einzelnen Gruppen (phak, einseitigpseudophak, beidseitig pseudophak)und andererseits im direkten prä- undpostoperativen Vergleich (phak – einsei-tig pseudophak; einseitig pseudophak –beidseitig pseudophak).Weiterhin wur-den der Fern- und Nahvisus (logarith-mieren aller Visuswerte und anschlie-ßend delogarithmieren des Mittelwer-tes) und die Visusdifferenz beider Augen(Mittelwert der Einzelwerte in Dezibel(dB)) mit dem Stereosehen korreliert.

Der Lang-Test wurde gewählt, weiler als Random-Dot-Test eine andereTestart darstellt. Ihm ist allerdings anzu-lasten,dass er meistens weit überschwel-lig misst. Bei der Auswertung der Lang-Tests wurde daher unterschieden zwi-schen „gesehen“ bei korrekter Benen-nung von 2 der 3 Abbildungen und „nichtgesehen“.

Ein Patient mit noch erhaltener Ak-kommodationsfähigkeit wurde mit undohne Nahkorrektur untersucht.

Ergebnisse

Das Alter der in die Studie aufgenomme-nen Patienten lag zwischen 36,6 und88,7 Jahren (Median 76,6 Jahre).

Eine Altersabhängigkeit des Stereo-sehens konnte nicht festgestellt werden(r=0,041).

Die Werte für das Stereosehen inder Nähe lagen präoperativ zwischen 40und 400 Winkelsekunden (‘’) und post-operativ zwischen 40 und 200’’. Präope-rativ lag der Median bei 80’’ und post-operativ bei 55’’. Insgesamt hatte sich al-so eine Verbesserung des Stereosehensdurch die Operation ergeben.

Es war kein eindeutiger Zusam-menhang zwischen dem mittleren Visusoder der Visusdifferenz beider Augen

Ophthalmologe2000 · 97:676–681 © Springer-Verlag 2000

Abb. 1 � Zusammenhang zwischen Fernvisus und Stereosehen in der Nähe. Es ergibt sich für denKorrelationskoeffizienten r=0,243

Page 3: Stereosehen vor und nach Kataraktextraktion mit Kunststofflinsenimplantation

Katarakt

| Der Ophthalmologe 10•2000678

und dem erreichten Stereosehen zu er-kennen (Tabelle 1 und Abb. 1 und 2). Al-lerdings fiel auf,dass bei schlechtem Ste-reosehen (200’’ und 400’’) auch schlech-te Fern- und Nahvisuswerte vorlagen.

Wurden die Werte nach präoperativphak (n=29; Tabelle 2) und präoperativeinseitig pseudophak (n=21; Tabelle 3)getrennt, so ergab sich das gleiche Bild.Immerhin fand sich in der Gruppe derpräoperativ einseitig pseudophaken Pa-tienten der beste Visus beim besten ge-prüften Stereosehen und der schlechte-ste Visus beim geringsten Stereosehen.

Die Dauer der präoperativ einseiti-gen Pseudophakie betrug durchschnitt-lich 5,2 Monate (1–19 Monate).

Der Median des im Titmus-Test(Ringe) erreichten Stereosehens bei einerNahvisusdifferenz von präoperativ 0 dB(n=20) lag ebenso wie der einer Nahvi-susdifferenz von präoperativ mindestens3 dB (n=5) bei 80’’. Unter Zusammenfas-sung der prä- und postoperativen Werteergaben sich 35 Fälle mit einer Nahvisus-differenz von 0 dB und einem Median desStereosehens von 80’’. Bei 8 Patienten lagdie Nahvisusdifferenz bei 3 dB und derMedian des Stereosehens bei 70’’ (!). So-mit war in unserem Kollektiv kein Ein-fluss der Nahvisusdifferenz auf das Ste-reosehen zu erkennen.Auffällig war hier-bei, dass alle Patienten mit einer präope-rativen Nahvisusdifferenz von 3 dB ausder Gruppe der einseitig Pseudophakenstammten. Weiterhin fiel auf, dass es nursehr wenige Patienten mit großer Nahvi-susdifferenz in unserem Kollektiv gab.

Die Verteilung des Stereosehens derverschiedenen Gruppen im Vergleichzeigen die Abb. 3a und b.

Der Unterschied zwischen prä- undpostoperativem Stereosehen der präope-rativ phaken Patienten war im Wilcoxon-Rangtest nicht signifikant.Die präoperativeinseitig pseudophaken Patienten wiesen

allerdings postoperativ – also beidseitigpseudophak – auf dem 5%-Niveau signifi-kant bessere Werte im Stereosehen auf.

Wurden alle Patienten zusammen-gefasst, so ergab sich insgesamt eine

Tabelle 1Verteilung des mittleren Visus aller Patienten in der Ferne und Nähe sowie der mittleren Visusdifferenz in dB in den einzelnenKlassen des im Titmus-Test erreichten Stereosehens

Stereosehen Präoperativ Postoperativ

n Visus Ferne Visusdifferenz Visus Nähe Visusdifferenz n Visus Ferne Visusdifferenz Visus Nähe Visusdifferenz

40’’ 11 0,58 1,3 0,61 0,7 19 0,69 1,1 0,72 1,250’’ 6 0,66 1,4 0,65 2,0 6 0,65 1,7 0,63 0,760’’ 7 0,56 1,6 0,66 1,6 11 0,68 1,7 0,69 1,580’’ 5 0,52 1,5 0,62 1,0 4 0,62 1,0 0,69 0,8

100’’ 11 0,56 1,8 0,62 1,2 3 0,44 2,5 0,55 0,8140’’ 5 0,55 1,0 0,63 0,8 4 0,52 0,9 0,58 0,3200’’ 4 0,55 0,8 0,54 1,3 3 0,64 1,1 0,54 1,3400’’ 1 0,45 1,0 0,45 1,0 Kein Patient

Abb. 2a,b � Zusammenhang zwischen präoperativer Nahvisusdifferenz (a) sowie präoperativer Fernvisusdifferenz (b) und dem Stereosehen in der Nähe. Eingezeichnet ist die Trendlinie (Regressionsgerade)

Page 4: Stereosehen vor und nach Kataraktextraktion mit Kunststofflinsenimplantation

Der Ophthalmologe 10•2000 | 679

leichte Verbesserung des Stereosehensdurch die Operation (Abb. 4).

Die Auswertung der Ergebnisse derLang-Tests war aus folgenden Gründenerschwert:

◗ Problem des Endpunktes: die gering-ste Querdisparation lag bei 200’’,wodurch alle Veränderungen im Be-reich des besseren Stereosehens nichterfasst wurden;

◗ Problem des Abbruchkriteriums: Eserkannten viele ältere Patienten ohneProbleme z. B. den Mond (200’’) imLang-II-Test, nicht jedoch das Auto(400’’). Auch war es schwierig, einenBefund zu bewerten, bei dem derElefant als Bär bezeichnet wurde.

Wir entschieden uns, zunächst alle Er-gebnisse nach dem besten Stereosehenim Lang-Test zu bewerten.

In der Gruppe der präoperativ pha-ken Patienten ergab sich hierbei imLang-Test (I/II) bei 12/15,4% eine Ver-schlechterung, bei 73/65,4% keine Ver-änderung und bei 15/19,2% eine Verbes-serung des Stereosehens durch die Ope-ration. Die präoperativ pseudophakenPatienten zeigten in 5/10% eine Ver-schlechterung, in 80/50% einen unver-änderten Befund und in 15/40% eineVerbesserung des Stereosehens. Zwi-schen der Visusdifferenz beider Augenund dem Stereosehen im Lang-Test fandsich keine aussagekräftige Korrelation.

Anschließend wurde nach dem Kri-terium „gesehen“ (s. Methode) ausge-wertet. Hierbei gab es kaum Verände-rungen zwischen prä- und postoperati-ven Werten: Lang I präoperativ 88,5%und postoperativ 84,6% positiv undLang II 69% bzw. 77%. Dabei war trotzder Überschwelligkeit beim Lang-II-Test

ein deutlicher Abfall ab 80’’ im Titmus-Test zu verzeichnen. Ab 100’’ wurde derLang-II-Test nicht mehr „gesehen“.

Abschließend sollen noch die Be-funde eines 47-jährigen Mannes wieder-gegeben werden: Vor der Operation derlinksseitigen Katarakt bestand rechtssei-tig eine Hinterkammerlinsenpseudo-phakie von 4 Monaten Dauer. Der Fern-visus betrug R/L 1,0/0,5 und der Nahvi-sus R/L 1,0/0,63. Unter Ausgleich derFernrefraktion betrug der Nahvisus R/L0,32/0,2. Die Akkommodationsbreite laglinks bei knapp 2 dpt. Mit einem Nahzu-satz von R/L +2,50 dpt und auch ohnejegliche Nahkorrektur beidseits wurden40’’ erreicht und alle Figuren im Lang-I-Test erkannt.Wurde nur am bereits ope-rierten und damit akkommodationslo-sen rechten Auge eine Nahkorrekturdurchgeführt und links die Fernkorrek-tur, so lag das Stereosehen bei 800’’, der

Tabelle 2Verteilung des mittleren Visus der präoperativ phaken Patienten in der Ferne und Nähe sowie der mittleren Visusdifferenz indB in den einzelnen Klassen des im Titmus-Test erreichten Stereosehens

Stereosehen Präoperativ phak Postoperativ einseitig pseudophak

n Visus Ferne Visusdifferenz Visus Nähe Visusdifferenz n Visus Ferne Visusdifferenz Visus Nähe Visusdifferenz

40’’ 7 0,50 1,2 0,55 0,6 9 0,62 1,4 0,66 1,050’’ 2 0,56 0,5 0,56 1,0 4 0,60 1,6 0,63 0,560’’ 6 0,54 1,7 0,66 1,3 6 0,68 1,7 0,72 1,280’’ 4 0,49 1,3 0,60 0,5 2 0,59 1,5 0,67 0,5

100’’ 4 0,55 0,8 0,58 0,7 3 0,44 2,5 0,55 0,8140’’ 3 0,48 0,3 0,56 0,3 3 0,54 0,9 0,56 0,3200’’ 2 0,52 0,4 0,53 0,5 2 0,62 0,3 0,53 0,5400’’ 1 0,45 1,0 0,45 1,0 Kein Patient

Tabelle 3Verteilung des mittleren Visus der präoperativ einseitig pseudophaken Patienten in der Ferne und Nähe sowie der mittlerenVisusdifferenz in dB in den einzelnen Klassen des im Titmus-Test erreichten Stereosehens

Stereosehen Präoperativ einseitig pseudophak Postoperativ beidseitig pseudophak

n Visus Ferne Visusdifferenz Visus Nähe Visusdifferenz n Visus Ferne Visusdifferenz Visus Nähe Visusdifferenz

40’’ 4 0,73 1,5 0,71 1,0 10 0,76 0,8 0,78 1,050’’ 4 0,72 1,9 0,71 2,5 2 0,77 1,8 0,63 1,060’’ 1 0,69 1,2 0,71 3,0 5 0,67 1,7 0,65 1,880’’ 1 0,67 2,6 0,71 3,0 2 0,64 0,6 0,71 1,0100’’ 7 0,56 2,4 0,65 1,4 1 0,45 1,0 0,63 0,0140’’ 2 0,67 2,0 0,75 1,5 1 0,67 2,6 0,57 3,0200’’ 2 0,54 0,7 0,60 1,5 Kein Patient400’’ Kein Patient Kein Patient

Page 5: Stereosehen vor und nach Kataraktextraktion mit Kunststofflinsenimplantation

Katarakt

| Der Ophthalmologe 10•2000680

Lang-Test fiel negativ aus. Es ist aller-dings anzumerken,dass der Mann in derFerne rechts ohne Korrektion am bestensah und die Fernkorrektur des linkenAuges –1,75 sph komb. mit –0,25/164°lautete. Bei Nahzusatz lediglich am rech-ten Auge ergab sich somit eine Anisome-tropie von 4,375 dpt.

Diskussion

Bei der Wahl der Methodik soll kritischangemerkt werden, dass wir die Visus-werte mangels entsprechenden Gerätesnicht mit Landolt-Ringen sondern mit

Zahlen erhoben haben.Ein negativer Ein-fluss auf die Ergebnisse war allerdingsnicht zu erwarten,da alle Patienten untergleichen Bedingungen untersucht wur-den. Lediglich die Vergleichbarkeit mitErgebnissen, die streng nach DIN 58220gewonnen werden, ist infrage gestellt.

Das Ausschlusskriterium einer An-isometropie von mehr als 2,5 dpt muss-ten wir wählen, da mehrere Autoren ei-nen negativen Einfluss derselben auf dasStereosehen durch Erzeugung einer An-iseikonie feststellen konnten. Highman[5] berichtete, dass bis zu 20% Anisei-konie toleriert wurden. Katsumi et al. [6,

7] fanden keine Korrelation zwischenAniseikonie und Stereosehen. Ab einerAniseikonie von 3% wäre allerdings diebinokulare Funktion beeinträchtigt.

Wir konnten keine Altersabhängig-keit des Stereosehens feststellen, wassich mit den Ergebnissen von Highman[5] deckt. Allerdings handelte es sich inunserem Kollektiv überwiegend um äl-tere Patienten, so dass nicht das gesam-te Altersspektrum zur Verfügung stand.Von einem schlechten Stereosehen imAlter konnte jedoch im Gegensatz zuden Ergebnissen von Wright [14] nichtdie Rede sein.

Es erstaunte uns, dass die Ergebnis-se postoperativ grundsätzlich etwas bes-ser waren als präoperativ. Wir hattenzwar schwere operative Komplikationenals Ausschlusskriterium gewählt, aberdennoch so früh postoperativ eher miteinem negativen Einfluss durch die Ope-ration gerechnet. Die Ergebnisse spre-chen daher für die Qualität der durchge-führten Operationen.

Interessanterweise wiesen die ein-seitig pseudophaken Patienten ein bes-seres Stereosehen auf, wenn sie frischoperiert waren. Lag die Operation län-ger zurück (durchschnittlich 5,2 Mona-te), war das Stereosehen deutlichschlechter (Median: 100’’) als bei denfrisch einseitig Pseudophaken (Median:60’’). Der durchschnittliche Visus aufdem bereits operierten Auge war mit0,78 für die Ferne und 0,83 für die Nähegut und sicherlich nicht ursächlich. Ausdiesem guten Visus des bereits operier-ten Auges ergab sich als Folge eine rela-tiv große Visusdifferenz zum noch nichtoperierten Auge (Tabelle 3). Diese könn-te also ursächlich für das relativ schlech-tere Stereosehen sein.

Die beidseitig Pseudophaken (Me-dian: 50’’) wiesen einen guten beidseiti-gen Visus und eine geringe Visusdiffe-renz auf. Hierdurch könnte sich das be-ste Ergebnis bezüglich des Stereosehenserklären.

Schlecht abzuschätzen ist derÜbungseffekt der Gruppen: Präoperativführten alle zum ersten Mal den Stereo-test durch, postoperativ alle zum zwei-ten Mal. Selbst wenn postoperativ ein-zelne Figuren nicht sicher erkannt wor-den wären, hätte die Erinnerung zu ei-nem besseren Ergebnis verholfen. Beiden Titmus-Ringen ist allerdings von ei-nem Merken der Position der Ringenicht auszugehen. Hier könnte lediglich

Abb. 3a,b � Die Verteilung des Stereosehens prä- und postoperativ bei denpräoperativ phaken (a) bzw. pseudophaken (b) Patienten

Page 6: Stereosehen vor und nach Kataraktextraktion mit Kunststofflinsenimplantation

Der Ophthalmologe 10•2000 | 681

die bereits bekannte Untersuchungsan-ordnung zu einem besseren Ergebnisverholfen haben. Bei zukünftigen Unter-suchungen könnte dieser Übungseffektverringert werden, indem der Test prä-operativ mehrfach durchgeführt würde.

Schwer zu erklären ist, warum wireinerseits einen tendenziellen Zusam-menhang zwischen Visusdifferenz undStereosehen erkennen konnten (s.oben),andererseits eine deutliche Korrelationnicht ableitbar war. Die Ergebnisse vonRoggenkämper [12] und Levy et al. [10]waren diesbezüglich eindeutig. Ein Un-terschied zu unserer Untersuchung be-stand darin, dass beide gesunde Perso-nen untersucht haben, denen ein Augekünstlich vernebelt wurde. Hierdurchkam es zu einer ganz gleichmäßigenTrübung, die plötzlich einsetzte. Bei derlangsamen Entstehung einer Kataraktmit ihren irregulären Trübungen derLinse liegt eine ganz andere Ausgangs-lage vor.

Immerhin konnten wir nach Um-rechnung des Stereosehens in Bruchtei-le des Maximums von 40’’ (s. [10]) einenPearson-Korrelationskoeffizienten von0,6008 erhalten. Das kommt den Ergeb-nissen von Levy et al. [10] mit einemKorrelationskoeffizienten von 0,83 nahe.Dieser Wert konnte nur durch die Kor-relation mit dem Kehrwert erreicht wer-den. Ohne diese „Maßnahme“ betrugder Korrelationskoeffizient bei unserenDaten 0,4948.

Die Untersuchung von Roggenkäm-per [12] lässt jedoch keinen Zweifel dar-an, dass eine einseitige Visusminderungdurch Sichtokklusive einen negativenEinfluss auf das Stereosehen hat. Aberauch er hat junge Individuen abruptkünstlich im Visus gemindert.Eine mög-liche Erklärung für die Differenz zu un-seren Ergebnissen wäre also das langsa-me Entstehen der Visusdifferenz durcheine Katarakt und die dann einsetzendenAdaptationsvorgänge des Gehirns.

Die Versuchung ist groß, das Stereo-sehen allein mit dem Visus zu korrelie-ren. Es scheint uns jedoch kein wesentli-cher Zusammenhang zwischen Visusund Stereosehen zu bestehen,zumindestsolange der Visus nicht unter die Gren-ze von 0,4 absinkt.Es gibt Hinweise,dassdie Visusdifferenz zwischen beiden Au-gen einen Einfluss auf das Stereosehenhat. Bei guten funktionellen Vorausset-zungen wird das Stereosehen in der Nä-he durch die Erzeugung einer einseiti-gen oder sogar beidseitigen Hinterkam-merlinsenpseudophakie nicht ver-schlechtert, solange eine entsprechendeNahkorrektur getragen wird. Zu diesemErgebnis kamen auch Kwapiszeski et al.[8] sowie Laidlaw u. Harrad [9].

Einige Autoren [1,11] messen der Ak-kommodationsfähigkeit des phaken Au-ges bei einseitiger Pseudophakie eine ent-scheidende Bedeutung für die Beeinträch-tigung des Stereosehens bei.Leider konn-ten weder sie noch wir eine ausreichende

Anzahl junger Individuen beibringen,umdiese Annahme zu stützen oder zu wider-legen.Hier ist weitere Arbeit erforderlich.Interessant wäre in diesem Zusammen-hang auch die Untersuchung von Patien-ten mit Multifokallinsen,durch die diesesProblem minimiert werden müsste.

Zusammenfassend dürfte bei derBegutachtung daher ein schlechtes Ste-reosehen bei sonst optimalem Ergebnisnicht auf die Pseudophakie zurückge-führt werden. Sollte bei den bisher (Ja-nuar 1999) gültigen Tabellen tatsächlichdas Stereosehen mit berücksichtigt wor-den sein, so müsste nun die MdE bzw.MdG für die reine Pseudophakie verrin-gert werden.Andernfalls müsste zum vi-susbestimmten Tabellenwert ein Betragaddiert werden, um ein vermindertesStereosehen zu würdigen.

Literatur1. Ehrich W, Kolbegger K (1975) Posttraumatische

einseitige Aphakie und Kontaktlinse – binokulare Funktionen beim Erwachsenen.Graefes Arch Klin Exp Ophthal 197:177–192

2. Galin MA, Baras I (1978) Stereoscopic acuitymeasurement in aphakia. Am J Ophthalmol86:825–827

3. Gramberg-Danielsen B (1999) RechtlicheGrundlagen der augenärztlichen Tätigkeit.Enke, Stuttgart, S 2/127a

4. Herzau V (1995) Sensorik des Binokularsehens.In: Kaufmann H (Hrsg) Strabismus. Enke,Stuttgart, S 118–160

5. Highman VN (1977) Stereopsis and aniseikoniain uniocular aphakia.Br J Ophthalmol 61:30–33

6. Katsumi O, Miyajima H, Ogawa T, Hirose T(1992) Aniseikonia and stereoacuity inpseudophakic patients. Unilateral and bilateralcases. Ophthalmology 99:1270–1277

7. Katsumi O, Miyanaga Y, Hirose T, Okuno H,Asaoka I (1988) Binocular function in unilateralaphakia. Ophthalmology 95:1088–1093

8. Kwapiszeski BR, Gallagher CC, Holmes JM(1996) Improved stereoacuity: an indication forunilateral cataract surgery.J Cataract Refract Surg 22:441–445

9. Laidlaw A, Harrad R (1993) Can second eyecataract extraction be justified? Eye 7:680–686

10. Levy NS, Glick EB (1974) Stereoscopic perception and Snellen visual acuity.Am J Ophthalmol 78:722–724

11. Oggel K, Neuhann T (1982) Binokularseheneinseitig Aphaker in Abhängigkeit vom Typ desLinsenersatzes. Ophthalmologica 184:162–168

12. Roggenkämper P (1983) Stereosehen beivermindertem Visus. Klin Monatsbl Augenheilk183:105–109

13. Scarpatetti A (1983) Binocular Vision after lensimplantation. Acta Ophthalmol 61:844–850

14. Wright LA,Wormald RPL (1992) Stereopsis andageing. Eye 6:473–476

Abb. 4 � Dargestellt sind die postoperativen Werte für das Stereosehen in Abhängigkeit von ihrenpräoperativen Werten. Alle Punkte oberhalb der 45°-Geraden stellen also eine Verbesserung und diedarunter eine Verschlechterung durch die Operation dar