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Lebensstil und Migration von Heiko BERNER U nter der wissenschaftlichen Leitung von Univ.-Prof. Dr. Reinhold Popp veröffentlicht das Zentrum für Zukunftsstudien regelmäßig Beiträge seiner MitarbeiterInnen zu aktuellen Themen der Zukunftsforschung. Das ZfZ hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich wissenschaftlich mit möglichen, wahrscheinlichen und wünschenswerten zukünftigen Entwicklungen in Gesell- schaft, Ökonomie und Politik zu befassen. Das Ziel der am ZfZ realisierten Forschungsarbeit ist es, im hier und heute Orientierung für zukunftsbezogenes Entscheiden und Handeln zu geben. Dafür ist das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterschieden, tiefgreifen- de und länger anhaltende Entwicklungen müssen von kurzfristigen Moden ge- trennt betrachtet werden. Die interdisziplinäre Zusammenstellung des For- schungsteams bietet die Möglichkeit einer multiperspektivischen Betrachtung der vom ZfZ untersuchten Zukunftsfragen. Z der Fachhochschule Salzburg GmbH entrumfür ukunftsstudien Stilblüten 3 Nr.11

Stilblüten 3 Lebensstil und Migration · etwas sperrig erscheinende Definition ist sinnvoll, da nur so deutsche StaatsbürgerInnen mit Migrationshintergrund überhaupt erfasst werden

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Lebensstil und Migrationvon Heiko Berner

Unter der wissenschaftlichen Leitung von Univ.-Prof. Dr. reinhold Popp veröffentlicht das Zentrum für Zukunftsstudien regelmäßig Beiträge seiner MitarbeiterInnen zu aktuellen Themen der Zukunftsforschung.

Das ZfZ hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich wissenschaftlich mit möglichen, wahrscheinlichen und wünschenswerten zukünftigen Entwicklungen in Gesell-schaft, Ökonomie und Politik zu befassen. Das Ziel der am ZfZ realisierten Forschungsarbeit ist es, im hier und heute Orientierung für zukunftsbezogenes entscheiden und Handeln zu geben. Dafür ist das Wesentliche vom Unwesentlichen zu unterschieden, tiefgreifen-de und länger anhaltende Entwicklungen müssen von kurzfristigen Moden ge-trennt betrachtet werden. Die interdisziplinäre Zusammenstellung des For-schungsteams bietet die Möglichkeit einer multiperspektivischen Betrachtung der vom ZfZ untersuchten Zukunftsfragen.

Zder Fachhochschule Salzburg GmbH

entrumfürukunftsstudien

Stilblüten 3

Nr.11

Stilblüten3–LebensstilundMigration HeikoBerner

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Stilblüten3LebensstilundMigrationBeitragfürdenZfZ‐WissenspoolAutor:HeikoBerner

Stilblüten3–LebensstilundMigration HeikoBerner

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Abstract

„Stilblüten3–LebensstilundMigration“verbindet–wiederTitelschonsagt–zweiThemenbereiche,die

indenGesellschaftswissenschaftenselteninKombinationauftreten.Migrationwirdmeistalsmehroder

weniger problematischer Bereich, verbunden mit dem Themenkomplex der Integration, variiert.

Lebensstilforschung steht dagegen oft im Verdacht eine Art „Gesellschaftswissenschaft light“ zu

repräsentieren, bei der es weniger um das Aufspüren von Ursachen gesellschaftlich relevanter

Phänomenegeht, alsumFragenvonFreizeitaktivitäteneinerGesamtgesellschaft,die– sodieAnnahme

desSoziologenUlrichBeck–mitimmermehrfreiverfügbarerZeitundimmermehrfinanziellenMitteln

ausgestattetist.

Die „Migrantenstudie“vonSinusSociovision istderVersuch, eine „migrantischeSozialstruktur“ anhand

vonberuflich‐ökonomischenSchichteninVerbindungmitWerten,Einstellungen,kulturellenMerkmalen

undPraktikenzuerstellen.DieseStudiewirdimfolgendenBeitragvorgestelltundvordemHintergrund

vonPierreBourdieusHabituskonzeptkritischreflektiert.

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Stilblüten3

LebensstilundMigration

Wenn über das Thema Migration berichtet wird, ist schnell von Problemsituationen oder von

IntegrationsschwierigkeitendieRede.DabeiliegtdieAnnahmenahe,dasssichnichtalleMigrantInnenin

sozialschwierigenLagenbefindenundsichMigrationdahervielbreiterdiskutierenließe,alsdiesineiner

einseitigen medialen Berichterstattung vermittelt wird. Eine von mehreren Einrichtungen1 in Auftrag

gegebeneStudieversuchtdieseeinseitigeSichtmithilfeeinesSozialstrukturmodells zu relativieren,das

neben den – beruflichen bzw. ökonomischen – Schichten auch kulturelle Elemente, Werte und

Einstellungen von MigrantInnen berücksichtigt. Die zentrale übergeordnete Frage, mit der sich diese

Studiebefasstlautet:WelcheLebensstilehabenMigrantInneninbestimmtenMilieus?

1. DieStudie

ImJahr2009veröffentlichtedieCaritasinihrerHauszeitschrift„neuecaritas“ersteErgebnissederbeider

Sinus Sociovision in Auftrag gegebenen Studie zur Sozialstruktur von MigrantInnen in Deutschland

(Becker2009,Vorhoff2009aundb). ImZeitraumvon2006bis2007 führteSinusSociovisionzunächst

qualitative Erhebungen durch und überprüfte anschließend die ermittelten Ergebnisse und Kategorien

quantitativ anhand einer Befragung von 2072 Migranten und Migrantinnen. Schließlich wurden die

Ergebnisse, die ermittelten Gruppen also, in eine zweidimensionale Sozialstruktur eingeordnet. Diese

orientiert sich – auf der vertikalen Achse, der y‐Achse – an drei Schichten, die die beruflichen und

ökonomischenStatusbeschreiben.AufderhorizontalenAchse,derx‐Achse,werdenWertvorstellungen,

Konsum‐undFreizeitverhaltengebündeltund inGruppenzusammengefasst.AufdieseWeisewirdeine

(typische) Sinus‐Grafik konstruiert, die die gesellschaftliche Schichtung der Befragten – hier also

MigrantInnen in Deutschland 2008 – sichtbar macht. Sie orientiert sich damit am Vorbild einer

Sozialstruktur,wie sie Pierre Bourdieu in den 1970er Jahren etablierte (Bourdieu 1987), ohne freilich

allzugenau auf Hintergründe von Habitualisierungen und auf Dynamiken bei Änderungen und

EntwicklungendersozialenGruppeneinzugehen.

1DeutscherCaritasverband,BundesministeriumfürFamilie,Senioren,FrauenundJugend,DerMinisterpräsidentdesLandesNordrhein‐Westfalen,AbteilungKultur,MWMalteserWerkegGmbH,StatistischesAmt/SchulreferatderLandeshauptstadtMünchen,SWRSüdwestrundfunk,Medienforschung/Programmstrategie,vhwBundesverbandfürWohneigentumundStadtentwicklunge.V.

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DieermitteltenWertebildensichinfolgenderGrafikab:

Grafik1:Vorhoff2009a,S.33

SinusSociovisionselbstbeschreibtdieMilieusineinerkurzen,veöffentlichtenVersionwiefolgt:

SinusA3 (Religiös‐verwurzeltesMilieu) Archaisches,bäuerlichgeprägtesMilieu,verhaftetindensozialenundreligiösenTraditionenderHerkunftsregion

SinusA23 (TraditionellesGastarbeitermilieu)

TraditionellesBlueCollar‐MilieuderArbeitsmigranten,dasdenTraumeinerRückkehrindieHeimataufgegebenhat

SinusB2 (StatusorientiertesMilieu) KlassischaufstiegsorientiertesMilieu,das–auskleinenVerhältnissenkommend–fürsichundseineKinderetwasBessereserreichenwill

SinusB3 (EntwurzeltesMilieu) Sozialundkulturellentwurzeltes(traumatisiertes)Flüchtlingsmilieu–starkmaterialistischgeprägtundohneIntegrationsperspektive

SinusB12 (Intellektuell‐kosmopolitischesMilieu)

Aufgeklärtes,nachSelbstverwirklichungstrebendesBildungsmilieumiteinerweltoffen‐tolerantenGrundhaltungundvielfältigenintellektuellenInteressen

SinusB23 (AdaptivesIntegrationsmilieu) DiepragmatischemoderneMittederMigrantenpopulation,dienachsozialerIntegrationundeinemharmonischenLebeningesichertenVerhältnissenstrebt

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SinusBC2 (MultikulturellesPerformermilieu)

Junges,flexiblesundleistungsorientiertesMilieumitbi‐bzw.multikulturellemSelbstbewusstsein,dasnachAutonomie,beruflichemErfolgundintensivemLebenstrebt

SinusBC3 (Hedonistisch‐subkulturellesMilieu)

DieunangepasstezweiteGenerationmitdefizitärerIdentitätundPerspektive,dieSpaßhabenwillundsichdenErwartungenderMehrheitsgesellschaftverweigert

Tabelle1:(http://www.sinus‐institut.de/uploads/tx_mpdownloadcenter/Zentrale_Ergebnisse_16102007.pdf,Zugriffam10.12.2011.)

Zwar scheinen dieBeschreibungen sehr rudimentär und beinahe stilisiert, immerhin erlauben sie aber

einen weiteren Blickwinkel auf das Thema Migration, als dies im öffentlichen Diskurs oft der Fall ist.

Wesentlich erscheint vor allem, dass keine der beschriebenen Gruppen von einer einzigen Ethnie

dominiertwird.

2. DieZielgruppe

DieZielgruppewurde, sodie „neue caritas“, ingenügendhoherZahlund inRelationzudenwirklichen

VerteilungenderethnischenGruppen inDeutschlanderhoben,d.h. siewurderepräsentativerfasst.Aus

den Artikeln der Caritaszeitschrift wird allerdings nicht ersichtlich, wie die Zielgruppe genau definiert

wurde: einmal ist die Rede von Migranten und Migrantinnen, ein anderes Mal von Personen mit

Migrationshintergrund. Sinus Sociovision selbst definiert die Gruppe etwas präziser: „Grundgesamtheit

derStudiesindnebendeninDeutschlandlebendenAusländernalleinDeutschlandlebendenZuwanderer

(u.a.Spätaussiedler,Eingebürgerte)undihreinDeutschlandlebendenNachkommen.“2SpäteristimText

auchvoneinerdrittenGenerationdieRede.FolgtmanderDefinitiongemäßderUNECE(vgl.z.B.Statistik

Austria 2009, S. 25) wird deutlich, warum die Sinus‐Definition nicht klar genug ist. Die UN‐Definition

versteht „Menschen mit Migrationshintergrund“ als Überbegriff von MigrantInnen (erster Generation)

undMigrantInnen zweiterGeneration. Sie bezeichnetdiejenigenMenschenalsMigrantInnen, die selbst

wanderten,währendMigrantInnenderzweitenGenerationalsKindervon immigriertenElternteilen im

Gastgeberlandgeborenwurden.DieStaatsbürgerschaftspielthierbeikeineRolle.EinedritteGeneration

ist in dieserDefinitionnicht vorgesehen, da bei dieser in derPraxis immermindestens einElternteil –

unabhängig von der Staatsbürgerschaft – im Gastgeberland geborenwurde. Diese auf den ersten Blick

etwas sperrig erscheinende Definition ist sinnvoll, da nur so deutsche StaatsbürgerInnen mit

Migrationshintergrund überhaupt erfasst werden können und darüberhinaus zwischen den

Eingewanderten selbst und ihren Kindern differenziert werden kann. So können Situationen erfasst

werden,diebeideGenerationenbetreffen,odereskönnen,fallsgegeben,spezifischeSituationen,dienur

für die jeweilige Generation gültig sind, erklärbar gemacht werden. Diese Problematik wird in der

Beschreibungder Sinus‐Studienicht aufgenommen.Vielmehr vereinfachtdie kurzeMilieubeschreibung

dasThemaderzweitenGeneration, indemessienuraneinerStelleexpliziterwähnt–alsMilieu„Sinus 2http://www.sinus‐institut.de/uploads/tx_mpdownloadcenter/Zentrale_Ergebnisse_16102007.pdf,13.12.2011.

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BC3“(s.o.):„DieunangepasstezweiteGenerationmitdefizitärerIdentitätundPerspektive,dieSpaßhaben

willundsichdenErwartungenderMehrheitsgesellschaftverweigert.“ZurtheoretischenFundierungder

EntwicklungzwischenersterundzweiterGenerationwäredasobenangesprocheneHabituskonzeptvon

Pierre Bourdieu sicherlich geeignet, das die Einschreibungen vorhandener kultureller Muster,

ökonomischer Positionen und lebensweltlicher – besonders schulischer – Rahmenbedingungen in die

Individuen sichtbarmacht (Bourdieu 1987, S. 277 ff.). Gerade bei den spezifischen Problematiken der

zweitenGenerationvonMigrantInnen,diesichjastetszwischendentradiertenHabitusdesElternhauses

undeinerneuenUmgebungorientierenmüssen,wäreBourdieusKonzeptalsAnalyseinstrumenthilfreich.

KonkretsprichtBourdieudieKluftzwischenHabitusundsichänderndemsozialenFeldmitdemBegriff

derHysteresis an (Bourdieu 1987, S. 237 f.). Damit ist eine gewisse Trägheit derHabitus gemeint, die

nicht unmittelbar auf sich änderndeFelder reagierenkönnen.DieserEffekt, sokönntemanannehmen,

trifftbesondersaufMenschenzu,diesichdurchMigrationingänzlichneuesozialeFelderbegebenbzw.

auf Menschen, die als MigrantInnen zweiter Generation zwischen den Habitus der Eltern und den

Gegebenheiten eines neuen sozialen Feldes aufwachsen. Hiermit ist auch das Erlernen von

habitualisiertemVerhalten gemeint, das in schulischenoder anderenBildungseinrichtungen stattfinden

kann–undzwarwenigerinFormvonAneignungfaktischenWissens,alsvielmehrininformellerWeisein

Räumen des tätigen, spielerischen Erprobens von Verhaltensweisen (vgl. hierzu auch Krais/Gebauer

2010,S.61ff.).

3. ErgebnissederStudie

DieermittelteVerteilungnachHerkunftsländernsiehtdie folgendenamstärkstenvertretenenGruppen

vor:

Ex‐Sowjetunion 21%

Türkei 19%

Südeuropa(Italien,Spanien,

Portugal,Griechenland) 12%

Polen 11%

Ex‐Jugoslawien 10%

Tabelle2(Vorhoff2009a,S.31)

DieZahlenbestätigenandereStudienweitgehend(besonders:StatistischesBundesamt2010,S.64auch:

BerlinInstitutfürBevölkerungundEntwicklung2009,S.16ff.).

Auch andere Ergebnisse bestätigen Bekanntes: „Je höher das Bildungsniveau und je urbaner die

Herkunftsregion,destoleichterundbessergelingt[dieEtablierungindieAufnahmegesellschaft,Anm.d.

Verf.]“(Vorhoff2009a,S.33),oder:„EinwichtigerIntegrationsfaktoristdieBeherrschungderdeutschen

Sprache – so sehen es auch die allermeistenMigrant(inn)en.“ (ebd., S. 33)Der zweite Teilsatz, der die

SelbstsichtvielerbefragterMigrantInnenabbildet,wirdnichtnähererörtert.EineInterpretationkönnte

dahin gehen, dass es sichumeinen vernünftigenAnspruch an sich selbst handle – nämlichDeutsch zu

lernen–andererseitsließesichauchdenken,dasshierlediglicheinegewünschteAntwortaufSeitender

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BefragtengemutmaßtwurdeoderschlichtwegbreitangelegteMedienkampagnenwiediederdeutschen

BundesregierungihreWirkungzeigen3.GenerelletwaszuoptimistischerscheinendiejenigenErgebnisse,

diedieMotivationodereinenbesonderenEiferderBefragtenbetreffen–beispielsweisewennkonstatiert

wird, „dasseinGroßteilderMigrant(inn)endieNotwendigkeit zurVeränderunganerkennt. Siebringen

dieBereitschaft,FlexibilitätundbikulturelleKompetenzdazuaufbeziehungsweisehabensieimLaufedes

Prozessesentwickelt.“ (ebd.,S32)Mankönnteauchvermuten,dassesanderseinfachnichtgeht,wenn

manineinfremdesLandkommt.

Sinus Sociovision fasst darüberhinaus unter den wichtigsten Ergebnissen zusammen, dass zwischen

HerkunftskulturundMilieukeinZusammenhangbesteht,d.h.mannichtausdemjeweiligenMilieuaufdie

Herkunftskultur schließen kann und vice versa4. Ein weiteres Ergebnis lautet: „Die Migrantenmilieus

unterscheidensichwenigernachethnischerHerkunftundsozialerLagealsnachihrenWertvorstellungen,

Lebensstilen und ästhetischen Vorlieben. […] Menschen des gleichen Milieus mit unterschiedlichem

Migrationshintergrund verbindet mehr miteinander als mit dem Rest ihrer Landsleute aus anderen

Milieus.“(ebd.,S.31)EineFrageleitetsichausdieserBeobachtungab:GiltsieauchfürAutochthone,d.h.

sehen Autochthone ihremigrantischenMitbewohnerInnen auch eher als Teil bestimmterMilieus oder

definieren sie sie eher über die Ethnie und werfen sie gewissermaßen in einen großen Topf? Dafür

spräche, dass zumindest unter vielenMigrantInnen genaudieser Eindruck vorherrscht, denn „etwa ein

Viertel der Befragten fühlt sich isoliert und ausgegrenzt – insbesondere die Angehörigen der

unterschichtigen Milieus. In den oberschichtigen und (post‐)modernen Milieus kann diese Erfahrung

umschlagen in eine geringere Identifikation und Fixierung auf Deutschland als neue und dauerhafte

Heimat.“(ebd.,S.32)

EineinigermaßenüberraschendesErgebnisstelltdieverhältnismäßigkleineGruppedeseinzigenMilieus

dar, das stark religiös geprägt ist. Auffallend ist, dass dieses kulturell besonders vonReligion geprägte

Milieu (A3), mit 7% nicht übermäßig stark ausfällt. Meist sind hier Muslime bzw. Personen aus der

türkischen MigrantInnengruppe vertreten (diese sind allerdings auch in bürgerlichen, modernen oder

postmodernenMilieusvertreten).AndersalsoftvondenMassenmedienberichtet,sindreligiöseMotive

alsonurfüreineMinderheitinbesonderemMaßeidentitätsstiftend.

AusdenErgebnisseninsgesamtresultierteinewesentlicheStärkederStudie,dieinderRelativierungder

öffentlich oftmals wahrgenommenen, vielfach einseitig medial wiedergegebenen Positionen der

betroffenenPersoneninder(hier:deutschen)Gesellschaftliegt.ZwarscheintdieunteresozialeLage–die

ärmere, sozial schwächere, schlechter ausgebildete also – tatsächlich quantitativ stärker als die der

vergleichbarenGruppenderEinheimischen,dochsindauchdiehöherangesiedeltenMittelschichtlerInnen

bis hin zu den „oberen Zehntausend“ vertreten und als soziale Großgruppen sichtbar. So ergibt sich

insgesamt ein optimistischeres Bild „der MigrantInnen“ in Deutschland, als man vielleicht aufgrund

vermeintlicherAlltagserfahrungenannehmenkönnte.

3„ErfolgreicheKampagnezumErlernenderdeutschenSprache“,http://www.bundesregierung.de/nn_56546/Content/DE/Artikel/IB/Artikel/BildungUndAusbildung/2011‐05‐03‐kampagne‐erlernen‐deutscher‐sprache.html,Zugriffam27.12.2011.4Wahrscheinlichmüssteeseher„Herkunftsland“oder„Herkunftsethnie“heißen,dazweiMenschenausdemselbenLandjadurchausausunterschiedlichenKulturen(Stadtvs.Land,armvs.reich)stammenkönnen.

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DieCaritasformuliertdiesso(ebd.,S.31):

„Die Studie zeigt ein facettenreiches Bild der in Deutschland lebenden Menschen mitMigrationshintergrund. Diese ‚Migranten‐Population‘ ist keine soziokulturell homogene Gruppe, dasheißt, sie stellt inderGesellschaftwederein insichspezifischesnocheineinheitlichesSegmentdar.Vielmehrzeigtsich–wie inderBevölkerungohneMigrationshintergrundauch–einevielfältigeunddifferenzierte Milieulandschaft: Insgesamt acht Migrant(inn)en‐Milieus mit jeweils ganzunterschiedlichen Lebensauffassungen und Lebensweisen konnten identifiziert, beschrieben undquantitativbestätigtwerden.“

FürdieCaritasistdiesesErgebnisinsofernäußerstrelevant,alsdasseszurAusarbeitungeinerStrategie

der besseren Integration benachteiligter Personen, also potentiellMigrantInnen der unteren Schichten,

genutztwerdenkann.

4. OffeneFragen

Andieser Stelle sollen drei Fragen kurz besprochenwerden, die sich aus denAusführungender „neue

caritas“undderSinusSociovisionselbstzuden„Migrantenmilieus“ableitenlassen.DieStudieselbsthatte

sicherlich nicht den Anspruch, all den offenen Punkten nachzugehen, vielmehr lagen konkrete

Fragestellungen vor, die mithilfe der Sinusstudie beantwortet werden sollten. Die folgenden Fragen

weisen insofern auf mögliche zukünftige Forschungsfragen hin, denen die Migrantenmilieu‐Studie als

Fundamentdienenkann.

4.1. GeschmackalsMerkmalderDistinktion

Die gesellschaftstheoretische Tiefe, die sich aus der Wahrnehmung von Lebensstilelementen wie

„Geschmack“ als Einheiten einer symbolischen Gesellschaftsordnung ergibt (vgl. Bourdieu 1987,

besondersS.362 ff., S. 405 ff.),wird inderStudienichtnäherdiskutiert. Zwarwerdengeschmackliche

Präferenzenberücksichtigt,wiediesbeiSinus‐Studienüblichist,dochihr(symbolischer)WertalsFaktor

der Grenzziehung zwischen den Milieus wird – zumindest in den veröffentlichten Besprechungen der

Studieinder„neuecaritas“–späternichterörtert.DabeikönntehierinfürdieCaritaseinMehrwertaus

den Ergebnissen gewonnen werden, da sie unter anderem nach neuen Möglichkeiten des Zugangs zu

niedrigerpositioniertenMilieussuchen,wieausfolgenderPassagehervorgeht:„UmdenBesonderheiten

der Menschen mit Migrationshintergrund gerecht zu werden, ist auf der Ebene der Dienste und

Einrichtungen wie auch für die Öffentlichkeitsarbeit eine Reflexion der Ergebnisse geboten, um

spezifische Wege, Formen und Tonalitäten der Ansprache und Aktivierung zu entwickeln und die

Angebote passgenau zu machen.“ (Vorhoff 2009a, S. 38) Über Geschmacksfragen, die neben ihrer

eigentlichenBedeutung auch stets die Ebene derDistinktion betreffen,wäre hier sicher einmöglicher,

gangbarer Weg eröffnet, der auch unmittelbar mit prägenden Einrichtungen, wie

Migrantenselbstorganisationenzutunhat.Dem„Geschmackfolgenheißt,dieGüterorten,diedereigenen

sozialen Position objektiv zugeordnet sind, und die miteinander harmonieren, weil sie ungefähr

gleichrangigsind–unddiesmitHilfevonInstitutionen,Geschäften,Theaterhäusern,Kritikern,Zeitungen

und Zeitschriften, deren Wahl übrigens demselben Prinzip unterliegt und die definiert durch ihren

Stellenwert in einem bestimmten Feld, ihrerseits Gegenstand einer die Unterschiede aufspürenden

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Ordnung zu sein haben.“ (Bourdieu 1987, S. 366)5 Migrantenselbstorganisationen als Orte der

Geschmacksausformung,alsOrtederFormungvonLebensstilenwärensicherlichdenkbarePartner,wenn

esumFragenvonHabitualisierunggeht,diestetsauchFragenerfolgreicherIntegration–imSinneeiner

chancengerechtenÜberschreitungvonMilieugrenzen–sind.

4.2. Mobilität

VonderStudiebleibt inZusammenhangzurobenangeführtenGenerationenproblematikdieFragenach

einerEntwicklungderBetroffenenunbeantwortet:Weder lässtsichdieursprünglicheQualifikationder

BetroffenenmitihrertatsächlichensozialenLagevergleichen,nochkönnenRückschlüsseaufdiesoziale

(Aufwärts‐ oder Abwärts‐) Mobilität derMigrantInnen zweiter Generation gezogen werden. Sind oder

warenihreElternqualifizierttätig?WelcheKinderdererstenGenerationändertendassozialeMilieuim

Vergleich zu ihrem ererbtenMilieu, also demdes Elternhauses? EinenHinweis auf die berufliche bzw.

soziale Mobilität könnte aus den erhobenen Stellungnahmen der MigrantInnen geschlossen werden:

„Mehr als zwei Drittel zeigen ein modernes, individualisiertes Leistungsethos. 69 Prozent sind der

Meinung:Jeder,dersichanstrengt,kannsichhocharbeiten.“(Vorhoff2009a,S.32)Allein:derWilleführt,

was die Schichtung betrifft, zu keinen „besseren“ Ergebnissen, als diejenigen, die die deutsche

Bevölkerunghat: „ImErgebnissindhingegendieUnterschiede indersozialenLage,dasheißtbezüglich

Einkommen und Bildungsniveau, zwischenMigrant(inn)en und Einheimsichen nicht sehr groß.“ (ebd.)

Immerhin scheinen sie bei allerAnstrengungauchnicht kleiner zu sein. Verzicht undAnstrengungder

sich Hocharbeitenden werden schon von Bourdieu als Prinzipien beschrieben und erklärt: „Dort wo

anderewirklicheGarantien,Geld,BildungoderBeziehungenfürsichsprechenlassenkönnen,hatsie[die

aufsteigendeKleinbourgeoisie,Anm.d.Verf.]nurmoralischeGarantienauf ihrerSeite; verhältnismäßig

armanökonomischem,kulturellenundsozialemKapital,kannsieihre‚Ansprüche‘nur‚nachweisen‘und

sichdamitAussichtenaufderenRealisierungeröffnen,wenn siebereit ist, dafürdurchOpfer,Verzicht,

Entsagung,Eifer,Dankbarkeit–kurz:durchTugendzuzahlen‘(Bourdieu1987,S.528).“

FürdieBeurteilungzukünftigerEntwicklungenwäredasThemaMobilitätzubeachten,dennnurausder

Berücksichtigung vergangener Veränderungen heraus – seien es die sich änderndenMilieugrenzen als

solche, oder die Wanderung der Betroffenen zwischen den Milieus – lässt sich eine Vorausschau auf

folgende Entwicklungen plausibel erstellen. Diese Frage betrifft, wie oben in der Diskussion um die

Definition der Zielgruppe schon angeführt wurde, die Differenzierung in erste, zweite und folgende

GenerationenunddiedarausresultierendenunterschiedlichenHabitualisierungenundLernprozessemit

ihrenspezifischenMustern.

4.3. ParalleleStrukturen?

Eine letzteFragewurdebishernurkurzangesprochen:WelcheBerührungspunktegibteszwischender

autochthonen und der migrantischen Bevölkerung zwischen jeweils vergleichbaren Milieus. Das heißt

zum Beispiel: Haben Migranten aus einem bürgerlichen Milieu Kontakt zu Autochthonen aus einem

5Dassdiese„tiefere,bourdieusche“DimensionvonkulturellenMerkmaleninderSinusstudiezwarmitschwingt,abernichtexplizitreflektiertwird,istinsofernschade,alsdasssiesymbolischeMachtverhältnissebetrifft,diesicherlichfürdasFeldderMigrationundIntegrationäußerstvirulentsind.

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vergleichbaren bürgerlichen Milieu und wenn ja, wie gestaltet sich dieser Kontakt? Sind die Kontakte

zwischenunterschiedlichenMilieusunterschiedlichausgestaltet?InwelchenMilieusbestehenKontakte,

die zu einer gelungeneren sozialen Integration beitragen, wo verhindern die Kontakte eher die

Integration? Visuell wäre es denkbar, ein „autochthones“ Sinus‐Strukturmodell hinter das hier

vorgestellte „migrantische“ zu legen und nach den Formen der – nun auf einer dritten, einer z‐Achse

liegenden–VerbindungenzwischendenGruppenzufragen.

Modellhaftkönntediessoaussehen:

Grafik 2: Eigene Grafik (unter Verwendung von Vorhoff 2009a, S. 33 und http://www.sinus‐

institut.de/fileadmin/dokumente/Infobereich_fuer_Studierende/Kartoffel_Studentenversion_2010.jpg)

WesentlichwärenindiesemModelldieVerbindungendieserbeidenparallelenStrukturmodellebzw.ihre

Absenz.WokoexistierenähnlichgelagerteMilieusohneKontakt,ohneeigentlicheSozialintegrationalso,

undwofindeteineIntegrationderGruppenstatt?AuchdieseÜberlegungenkönntenzueinerPerspektive

gelungenerIntegrationbeitragen,dasieeserlaubten,gezieltEinflussaufDefiziteinderKommunikation

zwischengesellschaftlichenGruppenzunehmenundsozurgesellschaftlichenIntegrationbeizutragen.An

dieserStelleseibeispielhaftdieStudie„InSippenhaft.NegativeKlassifikationeninethnischenKonflikten“

von Ferdinand Sutterlüty (2010) genannt, die einen solchen Zugang wählt. Der enorme Umfang der

Feldforschung, die dieser Studie zugrunde lag und der Aufwand, der hinter einer Sinus‐Studie steht,

machenallerdingdeutlich,dasssolcheAnsätzenichtineinemumfassendenProjektverwirklichtwerden

können und daherweniger in Konkurrenz zueinander zu sehen sind, als vielmehr als sich ergänzende

BlickwinkelzueinerThematik.DieKlammer,diedieAnsätzeverbindetliegtinPierreBourdieusLogikder

Sozialstruktur,diebeidenzugrundeliegt.

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Literatur:

Becker,Thomas (2009): ‚Bestens ausgebildet, gutbezahlt‘ –Migranten inDeutschland, in: neue caritas,4/2009,S.9–12.

Berlin Institut für Bevölkerung und Entwicklung (Hrsg.) 2009: Ungenutzte Potenziale. Zur Lage derIntegrationinDeutschland,2009.

Bourdieu,Pierre (1987):Die feinenUnterschiede.Kritikder gesellschaftlichenUrteilskraft, Frankfurt a.M.:SurhkampVerlag.

Krais,Beate;Gebauer,Gunter(2010):Habitus,transcriptVerlag,Bielefeld.

Statistik Austria (Hrsg.) (2009): Arbeits‐ und Lebenssituation von Migrantinnen und Migranten inÖsterreich.ModulderArbeitskräfteerhebung2008,Wien.

Statistisches Bundesamt (Hrsg.) (2010): Bevölkerung und Erwerbstätigkeit. Bevölkerung mitMigrationshintergrund.ErgebnissedesMikrozensus2010.Unter:http://www.destatis.de/jetspeed/portal/cms/Sites/destatis/Internet/DE/Content/Publikationen/Fachveroeffentlichungen/Bevoelkerung/MigrationIntegration/Migrationshintergrund2010220107004,property=file.pdf,Zugriffam7.12.2011.

Sutterlüty (2010): In Sippenhaft. Negative Klassifikationen in ethnischen Konflikten, Frankfurt a. M.:CampusVerlag.

Vorhoff, Karin (2009a): Sinus‐Studie zu Migrantenmilieus. Zentrale Ergebnisse, Bewertung,Handlungsbedarf,in:neuecaritas,7/2009,S.31–39.

Vorhoff,Karin(2009b):MigrantensuchenKompetenzundZugang,in:neuecaritas,8/2009,26–29.