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Prof. Dr. Eberhard Seifert Stimm(-ungs)störungen: die funktionelle Dysphonie Prof. Dr. Eberhard Seifert Abteilung Phoniatrie, Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Kopf- und Halschirurgie

Stimm(-ungs)störungen: die funktionelle Dysphonie · Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie Cicero: lingua – spiritus – vocis sonus Einstellung eines Sprechers gegenüber

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Prof. Dr. Eberhard Seifert

Stimm(-ungs)störungen:die funktionelle Dysphonie

Prof. Dr. Eberhard Seifert

Abteilung Phoniatrie, Universitätsklinik und Poliklinik für Hals-, Nasen- und Ohrenkrankheiten, Kopf- und Halschirurgie

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Was bedeutet die Stimme für uns ?• Kommunikationsorgan.• Austausch von Informationen.• Ausdruck von Gefühlen, Emotionen

Die Stimme:

2Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

Stimmungen:• Freude, Fröhlichkeit, Glück, Ausgeglichenheit, Lust...

Verstimmungen:• Ärger, Wut, Angst, Trauer...

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Cicero: lingua – spiritus – vocis sonus

Einstellung eines Sprechers gegenüber dem Gesprächspartner:

Die Stimme in der Kommunikation

3Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

Gesprächsinhalt: 7%

Gesichtsausdruck: 55%

Stimme: 38% (nach Mehrabian 1972)

Tonbeispiel

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Erkennung von Emotionen in der Stimme

“…given the high recognition of emotions in speech, there must exist emotion specific patterns.“ (Johnstone and Scherer 2000)

Das Pferd frisst keinen Gurkensalat. (Philipp Reis 1861)

Erkennung von stimmlichen

4Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

• Freude

• Angst

• Trauer

• Wut

Erkennung von stimmlichen Emotionen in verschiedenen Kulturen

• Erkennungsrate 60%(Review, 30 Studien, Scherer 1989)

• Interkulturelle Studie:–8 europäische Staaten: 67%

–Indonesien: 52% (Scherer 1999)

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Zeitdauer Lautstärke Tonhöhe Klang

Freude 0.96 1.31 1.08 1.07

Wie werden Emotionen in der Stimme codiert?• Zeitdauer (Sprechgeschwindigkeit)• Lautstärke• Tonhöhe (Grundfrequenz, F0)• Klang (Anteil hochfrequenter Schallenergie: hell/dunkel)

5Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

Abweichungen akustischer Parameter von „neutral“ gesprochenem Testsatz(T. Scherer 2000)

Freude 0.96 1.31 1.08 1.07

Angst 0.95 0.94 0.99 0.93

Trauer 0.98 0.92 0.99 0.88

Wut 0.95 2.03 1.05 1.27

Akustische Parameter weisen mehr auf den Faktor „Erregung“ als auf eine spezifische Emotion hin.

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

� Atmung� Stimmgebung� Lautbildung� Zentrale Steuerung� Hörvermögen

Sprachlaute: Artikulationstrakt

Obertöne Formanten

Stimme und Sprache

6Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

� Hörvermögen

Lautsprache.

Kommunikation.

Stimm-Grundfrequenz

Veränderung des Artikulationstraktes = Veränderung des Sprachlautes.

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

3. Video-Laryngo-Stroboskopie

7Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

Indirekte Laryngoskopie(Garcia 1855)

Lupenlaryngoskopie

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Prinzip: Grundfrequenz (F0):

Stroboskopie: στροβος= Wirbel, σκοπειν= schauen

8Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

Prinzip:

- schnell ablaufende, periodische Vorgänge

- Blitzlicht- unterschiedliche Zeitpunkte des periodischen Vorgangs werden „beblitzt“.

- SL-Schwingungen: „Zeitlupenbild“

Grundfrequenz (F0): m = G-c (98-131 Hz)w = g-c1 (196-262 Hz)Kind = c1-d1 (262-294 Hz)

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Stimmstörung - Dysphonie

• Beeinträchtigung des Stimmklanges– Stimme heiser, rau, schwach, behaucht, gepresst...

– Veränderte mittlere Sprechstimmlage

• Verminderte stimmliche Leistungsfähigkeit– Stimme spricht nicht an

9Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

– Stimme spricht nicht an

– Stimmermüdung: Stimme wird leiser, bleibt weg...

– Stimmumfang reduziert

– Sprechen/Singen gelingt nur mit „Druck“

• Missempfindungen im Hals– „Kitzeln“, Fremdkörper-, Schleimgefühl („Chrott“) im Hals,

Räusperzwang(nach Wendler, Seidner 1996)

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Organische Dysphonie– Akute und chronische Entzündungen

(virale, bakterielle Laryngitis, Pilzinfektion, Reflux...) – Verletzungen – Rheumatische Erkrankungen– Lähmungen (N. laryngeus superior oder N. laryngeus recurrens)– Gutartige Tumoren (Papillome, Zysten, Polypen...)– Bösartige Tumoren– Hormonelle Umstellungen (insbesondere bei ♀♀♀♀)

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– Hormonelle Umstellungen (insbesondere bei ♀♀♀♀)– Lebensalter ….

Funktionelle Dysphonie– Ohne ursächliche organische Veränderungen am Kehlkopf– Aber: organische Veränderungen als Folge (z.B. Knötchen, Polyp)– Kontaktgranulom– Mutationsstimmstörung– Psychogene Dysphonie, Aphonie

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Funktionelle Stimmstörungen

Mensch für die Stimme besonders

empfindlich

Stimmorgan besonders empfindlich: locus

minoris resistentiae

Psychosoz. Stress,Emotionale

Belastungen

Überlastung der Stimme

Überlastung des Menschen

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Stimmstörung als Symptomeiner bio-psycho-sozialen Dysbalance

org. Veränderungen: Rötung, Verdickung, Knötchen, Polyp...

Hypofunktion - Hyperfunktion

Überlastung der Stimme

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

• 33jährige Lehrerin, z.Zt. Ingenieurbüro:

— hohe Stimmbelastung

— früher Chor, dann pausiert

— Jetzt wieder in den Chor eingestiegen

— Heiserkeit nach längerem Sprechen und nach den

Funktionelle Dysphonie

12Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

— Heiserkeit nach längerem Sprechen und nach den Chorproben

— Stimme verändere sich unter Stress, müsse dann „Druck auf die Stimme“ geben

— Eigene Anamnese: — Nikotin seit 8 J. nicht mehr, sonst leer

— Trennung vom LAP vor ½ Jahr

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

> Befund:— HNO-Status unauffällig— Kehlkopf morphologisch

unauffällig („o.B.“)— SL walzenförmig

Funktionelle Dysphonie

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> Stroboskopie:— Randkantenverschiebungen vermindert— Schwingungsamplituden verkürzt— physiologischer dorsaler Spalt

> Stimme:— R1B1H1

Hyperfunktionelle Dysphonie: Übermass an Spannung

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Veränderung – Körper:– Abbau unguter Spannungszustände:

•Entspannungs-, Lockerungs-, Atemübungen.– Aufbau einer gesunden Arbeitsspannung:

•Selbstwahrnehmung.•Spannungsregulierung des Körpers: Haltung,

Logopädische Stimmtherapie

14Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

•Spannungsregulierung des Körpers: Haltung, Bewegung...

•Verbesserung von Atmung - Stimmgebung -Aussprache: Stimm-, Sprech-, einfache Singübungen.

Verhaltensänderung:• Sensibilisierung für die Stimme: Schädigende Einflüsse,

Noxen, z.B. Stimmmissbrauch (Band), Rauch... vermeiden

• Verminderung der Überlastung des Individuums.

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

• 33jährige Lehrerin: logopädische Stimmtherapie — 2x12 Therapieeinheiten

– 1x/Woche über ¼ Jahr

– 1x/Monat über 1 Jahr

— Wahrnehmung der Körperspannung

Funktionelle Dysphonie

15Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

— Wahrnehmung der Körperspannung

— Spannungsgefühle verringern

— Kommunikationsverhalten:

– Lässt sich weniger verunsichern

– Kann ihren Standpunkt besser vertreten

— Vertrauen in ihre Stimme zurückgewonnen

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

• Kontrolluntersuchung 18 mon später: — keine Stimmermüdung nach längerem Sprechen— deutlich weniger Druck beim Sprechen— singt wieder im Chor ohne Probleme

> Stimme:

Funktionelle Dysphonie

16Curriculum Psychosomatik 14.06.2012

> Stimme:— R0B0H0

> Stroboskopie:— SL entspannter — RKV und Amplituden

o.B. mit Zunahme beicrescendo

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Patienten mit funktioneller Dysphonie: –Selbstwahrnehmung–Realitätswahrnehmung –Bedürfnisstruktur–Umgang mit Aggression

Studiengruppe–74 Patienten mit funktioneller Dysphonie

–Giessen Test –Picture Frustration Test

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–74 Patienten mit funktioneller Dysphonie

Kontrollgruppe–19 Pat. (6♂, 13♀, 55J+13J),

– Recurrensparese nach Ops bei nicht-maligner Erkrankung

–37♀ (40J+15J)– 30 „Hypo-/Hyperfunktion“– 7 psychogene Aphonie

–37♂ (47J+13J): – 12 „Hypo-/Hyperfunktion“ – 21 Kontaktgranulom

– 4 Mutationsstimmstörung

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Sonderformen der funktionellen Dysphonie: 1. Kontaktgranulom– Pachydermie am Proc. voc. des Aryknorpels

– Meist Angestellte (♂ 40-60J.) in leitender („Sandwich“-) Position

– Hammer-Amboss-Effekt

– Gastropharyngealer Reflux

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– verlängerter „Stimmbruch“ bei ca. 20% der Jungen

– Sprechstimme kippt im Oktavabstand plötzlich nach unten in das Brustregister oder aufwärts in das Fistelregister

– „auf dem Weg zum Mann“…

– Gastropharyngealer Reflux

– Stress

2. Mutationsstimmstörung

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

3. Psychogene Aphonie

– Meist ♀ betroffen

– Spontansprache nur Flüstern

– Hustenstoss klangvoll

– Räuspern stimmhaft

– Larynx ohne path. Organbefund

– normale Beweglichkeit der SL

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ICD10: F44 Dissoziative Störungen:

– Früher: „Konversionsneurose“

– Ursächlich psychogen

– Enge zeitliche Verbindung mit traumatisierenden Ereignissen,unlösbaren oder unerträglichen Konflikten

– normale Beweglichkeit der SL

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Giessen Test– 40 bipolare Aussagen– Einschätzung in einer Likert Skala von 1-7– 6 Skalen:

– Soziale Resonanz– Dominanz– Kontrolle– Grundstimmung

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– Grundstimmung– Durchlässigkeit– Soziale Potenz

Beispiel:

� Ich habe den Eindruck, ich bin eher ungeduldig (1) – geduldig (7)

� Item aus Skala 2: dominant resp. wenig dominant

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Sie hätten eben besser aufpassen müssen. Ich leihe Ihnen nichts mehr !!

Rosenzweig Picture Frustration Test (PFT)–24 Zeichnungen mit konfliktreichen Situationen–Patient soll antworten

Umgang mit aggressiven Impulsen:

� Aggression nach aussen

� Aggression nach innen

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Reaktion in sozialen Situationen:

� Verharren in der Frustration

� Abwehr

� Suche nach Lösung

Abwehr.

� Aggression nach innen

� Aggression wird umgangen

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

40

80

120

160

Schafft sich im Leben eher Bequemlichkeit (q24)

(p < 0.02)

Phantasievoll (q26)

(p < 0.01)

Skala Soziale Potenz:Ungesellig, befangen

(p < 0.02)

Ergebnisse GT:7 sign. UnterschiedeFD vs. OD

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40

FD

OD

Kann einem Partner viel Liebe schenken (q30)

(p < 0.01)

Ist in der Liebe sehr erlebnisfähig (q34)

(p < 0.001)

Skala Soziale Resonanz:Attraktiv, beliebt

(p < 0.02)

Skala Durchlässigkeit:

Unkommunikativ, zurückhaltend

(p < 0.05)

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

0

50

100

150

200

250

Frustration wird bagatellisiert oder gar als vorteilhaft umgedeutet (I')

Reaktionstyp:Lösungsansätze im Vordergrund (N-P)

Aggression gegen die Aussenwelt (E-E)

(p < 0.02)

(p < 0.02)

(p < 0.01)

Ergebnisse PFT:5 sign. UnterschiedeFD vs. OD

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Erwartet Lösungen von anderen (e)

Beschuldigung richtet sich gegen andere (E) FD

OD(p < 0.01)

(p < 0.001)

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

• Phantasievoll• Offen• Gesellig• Attraktiv• Erlebnisfähig in der Liebe• Können viel Liebe schenken

GT: Patienten mit FD sehen sich

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• Können viel Liebe schenken

• Eher gegenteilige Erfahrung • Gehemmt• Sorgen sich darum, was andere

von ihnen denken

In der Sprechstunde

?

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

• Wollen ihre Bedürfnisse erfüllen• Erkennen ihre Frustration • Erwarten von anderen, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen

und die Frustrationen aufzulösen• Bleiben so in der Frustration stehen

Erklärung: PFT

• Vermeiden von Konflikten

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• Vermeiden von Konflikten• Kontrollieren des Ärgers

• Stille Aggressivität gegen sich selbst• Fehlende Erkenntnis, dass sie selbst etwas zur Lösung

der Situation/des Konflikts beitragen können• Frustration bleibt als etwas Unabwendbares bestehen

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Funktionelle Dysphonie: Logopädische Stimmtherapie

– Standortbestimmung (biographisch, sozial)

– Kurz-Psychotherapie:

• Verstehen der äusseren und inneren Belastungen

Funktionelle Dysphonie: Logopädische Stimmtherapie plus

Stimmpsychologische Beratung

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• Verstehen der äusseren und inneren Belastungen

• Genaueres Erkennen der eigenen Stärken undliebenswerten Seiten

• Mut entwickeln zum Ausdrücken von „schwierigen“Gefühlen

Behandlung

auf funktioneller und emotionaler Ebene

Stimm(-ungs)störungen: Die funktionelle Dysphonie

Funktionelle Dysphonie

Überlastung des Menschen

„It is not so much a matter of whether a voice disorder is the result of vocal misuse or of psychosocial factors; rather, it is a “question of degree to which the underlying emotional stresses contribute to onset and perpetuation of the excessive laryngeal tension.” (Baker 2002)

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Überlastung der Stimme

Überlastung des Menschen

“If we do not ask about psychological problems, we do not hear about them. If we do not hear about them, we do not believe in them. And, if we do not believe in them, we do not ask about them.”

(Aronson 1990)