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Leseprobe Brunner, José Die Politik des Traumas Gewalterfahrungen und psychisches Leid in den USA, in Deutschland und im Israel/Palästina-Konflikt Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2009 © Suhrkamp Verlag 978-3-518-58559-7 Suhrkamp Verlag

Suhrkamp Verlag...redigierte Ursula Kömen das Manuskript, bevor es an Suhrkamp ging. Mit scharfem Blick korrigierte sie nicht nur mein Deutsch, sondern machte mich auch auf Lücken

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Leseprobe

Brunner, José

Die Politik des Traumas

Gewalterfahrungen und psychisches Leid in den USA, in Deutschland und im

Israel/Palästina-Konflikt

Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2009

© Suhrkamp Verlag

978-3-518-58559-7

Suhrkamp Verlag

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José Brunner

Die Politik des TraumasGewalterfahrungen und psychisches Leid

in den USA, in Deutschlandund im Israel/Palästina-Konflikt

Frankfurter Adorno-Vorlesungen 2009

Suhrkamp

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Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie;detaillierte bibliografische Daten sind im Internet

über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Erste Auflage 2014© Suhrkamp Verlag Berlin 2014

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet,vervielfältigt oder verbreitet werden.

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH,WaldbüttelbrunnDruck & Bindung: Druckhaus Nomos, Sinzheim

Printed in GermanyISBN 978-3-518-58559-7

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

1 Psychische Wunden und Politisches Ethos. Einleitung . 12

Ungeschriebene Verträge – unsichtbare Verletzungen . . . 15Schreckensszenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25Fäden, Stränge, Knäuel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41Leid im Königsmantel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46Übersetzer als Gastgeber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50

2 Nach Vietnam. Amerikanerinnen und Amerikanerringen um gesellschaftliche Glaubwürdigkeit . . . . . . . 55

Die wilden Siebziger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58Karriere eines Gegensyndroms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 62Protest als Selbsttherapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77Eine normale Störung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84Zwei Studien – Zwei Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97Entwicklungen und Komplikationen . . . . . . . . . . . . . . . 103Eine gescheiterte Revolution . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109Die Leere füllen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115

3 Im Schatten Afghanistans. Dimensionen deutscherVerantwortung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

Barbarische Gewalt in deutschen Soldatenseelen . . . . . . . 127Amerikanische Spielfilm-Veteranen . . . . . . . . . . . . . . . . 138Therapie-Politik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144Dunkle Ziffern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160Therapeutische Riten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167Jenseits von Bildungsroman und sozialem Drama . . . . . . 173

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Der Kriegskinder-Diskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175Die Stasi-Opfer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186

4 Im Israel/Palästina-Konflikt. Zwei verfeindeteNationen auf der Suche nach innerer Stärke . . . . . . . . 192

Der Preis des Widerstands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 197Die Träger des palästinensischen Trauma-Diskurses . . . . 207Die Kriegstraumata israelischer Soldaten . . . . . . . . . . . . 212Soldaten zwischen Schuld und Scham . . . . . . . . . . . . . . 216Psychologen zwischen Dienst und Moral . . . . . . . . . . . . 223Überleben in einer traumasaturierten Welt . . . . . . . . . . . 232Ein Exkurs nach Nordamerika: Von der individuellen

Verletzlichkeit zur nationalen Stärke . . . . . . . . . . . . . 239Lebensfreude im Lande des Traumas . . . . . . . . . . . . . . . 247Von der Praxis zur Theorie und zurück . . . . . . . . . . . . . 260Eine positive Seite der politischen Gewalt? . . . . . . . . . . 269

5 Im Prisma der Übersetzung. Schlussbemerkungen . . . . 277

Weder Entdeckung noch Erfindung . . . . . . . . . . . . . . . . 279

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Vorwort

Seit über hundert Jahren wenden sich Betroffene mit ihren psy-chischen Wunden an Psychologen und Psychiater in der Hoff-nung auf Linderung ihres Leidens,und Therapeuten versehen seit-her diese Patienten mit entsprechenden Diagnosen und Behand-lungen. Genauso lange zirkulieren Trauma-Diskurse in allen Be-reichen der westlichen Gesellschaften. Fallstudien, epidemiologi-sche Daten, Definitionen und Theorien finden auf FachtagungenVerbreitung und werden in Handbüchern und wissenschaftlichenZeitschriften publiziert. Anlaufstellen sowie andere Einrichtun-gen der Zivilgesellschaft entstehen, an die sich Betroffene wen-den können, die Medien transportieren dramatisierte Bilder vonTraumatisierten und geben ihnen und Fachleuten die Gelegen-heit, ihre Anliegen und Positionen zu formulieren. Klagen we-gen psychischer Schädigung werden vor Gericht eingereichtund verhandelt, Entschädigungsansprüche formuliert, Verursa-cher bestraft. Infolgedessen sind auch staatliche Institutionenwie Polizei und Armee und ebenso das Parlament und das Ge-sundheitswesen sowohl in Friedens- als auch in Kriegszeitenmit den Ursachen und Folgen von traumatischen Erlebnissen kon-frontiert.

Wo von seelischen Wunden und Verwundbarkeit die Rede ist,kommen immer auch Gewalt, Ungerechtigkeit und Hilflosigkeitzur Sprache, ebenso wie gesellschaftliche und staatliche Verant-wortlichkeit thematisiert werden. Deshalb sind Trauma-Diskurseimmer auch politisch – lassen sich dabei jedoch nie auf den FaktorPolitik reduzieren. Im ersten Kapitel dieses Bandes wird dieseImmer-auch-Perspektive theoretisch und historisch umrissen. An-schließend werden anhand aktueller Beispiele verschiedene poli-tische Ursprünge, Rahmen, Inhalte und Implikationen von Trau-ma-Diskursen aufgezeigt. So wird analysiert:– wie die Diagnose des Rape-Trauma-Syndroms in den 1970er

Jahren in den USA im Zusammenhang mit den Aktivitäten der

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feministischen Bewegung entstand, um die allzu oft angezwei-felte Glaubwürdigkeit der Opfer sexueller Gewalt in ame-rikanischen Gerichtsverfahren zu stärken;

– wie der Versuch, traumatisierten Vietnam-Veteranen zu Ver-sorgungsleistungen durch die Veterans Administration zu ver-helfen, zur Definition des heute prominentesten Trauma-Kon-zepts, der posttraumatischen Belastungsstörung, führte undwie sich dieses Konzept im weiteren Verlauf in der amerikani-schen Psychiatrie, bis hin zur Veröffentlichung der neuesten Auf-lage des Leitfadens der amerikanischen psychiatrischen Ver-einigung, des DSM-5 (Mai 2013), entwickelte;

– wie die psychischen Wunden, mit denen die Afghanistan-Heim-kehrer der Bundeswehr nach Hause kamen,durch die deutschenMedien in ein politisch-moralisches Narrativ eingebundenwurden, das eine für die Heilung notwendige verantwortungs-bewusste Haltung aller involvierten Akteure – des Staates, derGesellschaft, der Fachleute und auch der Heimkehrer selbst –formuliert;

– wie die Experten auf beiden Seiten des Israel/Palästina-Kon-flikts Konzepte der psychischen Vulnerabilität, der Resilienzund des posttraumatischen Wachstums ausarbeiteten und wei-terentwickelten, nicht nur um die Folgen von Krieg, Militär-besatzung und Terror für die Betroffenen zu erklären, sondernauch in dem Bestreben, Praktiken zu entwickeln, die die innereStärke der jeweiligen Nation fördern sollen.

In diesen aktuellen Fallstudien werden umfangreiche und vielfäl-tige Diskurse untersucht, wobei es allerdings nicht bei den Einzel-darstellungen bleibt. Diese Studien sollen nicht nur Erkenntnissezu der spezifischen Form vermitteln, die die Politik des Traumasin den jeweiligen Fällen annimmt. Indem sie die unterschied-lichen Ursprünge, Entwicklungen, Funktionen, Zusammensetzun-gen und Schwerpunkte verschiedener Trauma-Diskurse betont,unterstreicht die Analyse die Vielfalt, die die Politik des Traumasauszeichnet. Letztlich dienen die Fallstudien auch als Beispiele,mit deren Hilfe Trauma-Diskurse und ihre politischen Dimensio-nen und Verknüpfungen prinzipiell neu gedacht werden, inner-halb eines analytischen Rahmens, der die Wissensbilder der Seele

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weder als Entdeckungen noch als Erfindungen, sondern als Über-setzungen versteht.

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Die Basis für dieses Projekt wurde schon 1998-1999 gelegt, als ichein Jahr als Visiting Hannah Foundation Professor am Depart-ment for the Social Studies of Medicine der McGill Universityin Montreal weilte und zusammen mit dem Medizinanthro-pologen Allan Young ein Seminar zur Politik des Traumas leitete.Der gemeinsame Unterricht und die vielen Gespräche, nicht nur inseinem Arbeitszimmer, sondern auch in den darauffolgenden Jah-ren an den verschiedensten Ecken und Enden der Welt, habenmich in dieses Forschungsfeld eingeführt; sie waren für mich im-mer ein Genuss.

Seither hatte ich Gelegenheit, Aspekte der in diesem Band be-handelten Thematik in verschiedenen Rahmen weiter in meinenUnterricht einzubeziehen. Mehrere Semester gab ich an der rechts-wissenschaftlichen Fakultät der Universität Tel Aviv einen Kurs,der sich allgemein mit der Verknüpfung von Recht, Gesellschaftund Trauma befasste; darüber hinaus hielt ich ebendort am CohnInstitut für Wissenschaftsgeschichte und -philosophie ein Semi-nar zur »Politik des Traumas in Israel/Palästina« ab. Hinzu kamenVorlesungen und Diskussionen in verschiedenen Rahmen undStädten, unter ihnen Berlin, Florenz, Jerusalem, Rom, St. Moritzund Wien. Ich bin allen Studierenden und Kollegen für das Interes-se an meinem Projekt dankbar, auf das ich bei diesen Gelegenhei-ten gestoßen bin.

Von herausragender Bedeutung war natürlich die von AxelHonneth ausgesprochene Einladung, im November 2009 dieAdorno-Vorlesungen an der Johann Wolfgang Goethe-Univer-sität in Frankfurt am Main zu diesem Thema zu halten. Als Mit-glied des internationalen Beirats bin ich mit dem Institut für So-zialforschung, in dessen Namen die Einladung ausgesprochenwurde, schon seit vielen Jahren verbunden. Deshalb war es mir ei-ne besondere Freude, diese Gelegenheit nutzen zu können, meineFrankfurter Kollegen an meiner Arbeit teilnehmen zu lassen und

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Kommentare und Kritik von ihnen zu erhalten. Axel erwies sichbei dieser Gelegenheit nicht nur als Gastgeber, sondern auch alsäußerst kritischer und dennoch immer warmherziger Gesprächs-partner. Durch die Adorno-Vorlesungen lernte ich auch die Künst-lerin Maren Flößer kennen, die es durch ihre Gabe, kreativ mitSprache umzugehen, schaffte, mir Einsichten in meine eigene Ana-lyse zu vermitteln, deren ich mir nicht richtig bewusst war, dienun aber im Buch ausformuliert sind.

Obwohl die Abfolge der Kapitel im Großen und Ganzen dendrei Abenden entspricht, an denen die Adorno-Vorlesungen abge-halten wurden, sind sie doch seither vollständig überarbeitet. Da-mals fehlte mir noch der übersetzungszentrierte theoretische An-satz, der hier meine Erläuterungen leitet; auch sprach ich damalsnicht über die Politik des Traumas im Zusammenhang mit demIsrael/Palästina-Konflikt.Letzteres ließsichglücklicherweisenach-holen, als ich im Herbst 2011, im Rahmen einer Gastprofessurzu »Wissenschaft und Judentum« am Kompetenz-Zentrum Ge-schichte des Wissens an der ETH-Zürich zu dieser Problematiklehrte. Dafür, dass sie mir die Gelegenheit gegeben haben, einenAspekt meiner Arbeit in meiner Heimatstadt zu unterrichten,bin ich Michael Hagner und Andreas Kilcher sehr dankbar.

2011 gründete ich auch, zusammen mit Galia Plotkin Amrami,die Arbeitsgruppe »Therapy in Translation«, die seither am Miner-va-Zentrum für Geisteswissenschaften an der Tel Aviver Univer-sität tätig ist. Der rege Gedankenaustausch mit den Teilnehmernund Teilnehmerinnen dieser Gruppe erlaubte mir, am theoreti-schen Ansatz zu feilen, der dieses Buch prägt.

Wenn man so lange mit der Veröffentlichung gewartet hat, sindes zu viele Kollegen und Freunde, bei denen man in der Schuldsteht, um alle namentlich erwähnen zu können. Dennoch möchteich noch drei benennen,denen ich besonders verpflichtet bin. Mitdem Berliner Sozialpsychologen David Becker verbindet michschon ein knappes Jahrzehnt ein ebenso freundschaftlicher wieherausfordernder Dialog, in dem es mehrheitlich um Politik undTrauma geht und der mich immer wieder dazu bringt, meine Ideenneu zu überdenken. Der Zürcher Psychoanalytiker und PhilosophDaniel Strassberg ist ein Weggefährte im wahrsten Sinne des Wor-

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tes; seit unserer Gymnasialzeit veranlassen und beeinflussen unse-re Gespräche vieles in meinem Denken. Doch ohne die ausführ-lichen Diskussionen mit meiner Frau, der Psychoanalytikerin Ar-nona Zahavi, die mir halfen, Probleme meiner Arbeit zu erwägenund Lösungen für sie zu finden, wäre dieser Band nicht so gewor-den, wie er nun vorliegt. Ihr gilt, wie immer, mein größter Dank.

*

Alle fremdsprachigen, im Text zitierten Quellen wurden von mirins Deutsche übersetzt. Bei englischen Quellenangaben wurdeder Originaltitel beibehalten, die hebräischen übertrug ich insDeutsche. Hierbei ist zu bemerken, dass Deutsch zwar meineMuttersprache ist, ich jedoch schon seit vier Jahrzehnten nichtmehr im deutschen Sprachraum lebe. Deshalb war für mich dieredaktionelle Unterstützung, die ich bei der Abfassung dieses Bu-ches erhielt,von mehr als nur stilistischer Bedeutung. Liliane Gra-nierer leistete mir einen außerordentlichen Freundschaftsdienstmit ihrer Hilfebei der Formulierung meiner Vorlesungen. Mit gro-ßem Engagement und einer höchst eindrucksvollen Kompetenzredigierte Ursula Kömen das Manuskript, bevor es an Suhrkampging. Mit scharfem Blick korrigierte sie nicht nur mein Deutsch,sondern machte mich auch auf Lücken und Unklarheiten in mei-ner Argumentation aufmerksam. Bei Suhrkamp betreuten michEva Gilmer und Philipp Hölzing mit Sorgfalt,Wohlwollen und un-endlicher Geduld. Philipp Hölzing verlieh dem Manuskript zu-dem auch den letzten Schliff.

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Psychische Wunden undPolitisches Ethos.

Einleitung

»We are translated men«, schrieb der indisch-britische Autor Sal-man Rushdie.1 Auch wenn der Zusammenhang, in dem er dieseWorte formulierte, ein anderer war, so können sie – unter der Vor-aussetzung, dass sie Frauen mit einbeziehen – doch als Motto die-ses Buches gelten, denn die vorliegende Studie verfolgt die Ab-sicht, Experten- und Mediendiskurse zu psychischen Traumataals Praktiken der Übersetzung zu analysieren und auf diese Wei-se einen Zugang zu ihren politischen Ursprüngen, Kontexten,Werten und Zielen zu eröffnen. Trauma-Diskurse werden hierals Phänomene verstanden, die einerseits wissenschaftliche undtherapeutische Dimensionen aufweisen, andererseits jedoch im-mer auch politische.

Der Begriff der Politik, der der hier entwickelten Analyse vonTrauma-Diskursen zu Grunde liegt, umfasst nicht nur Institutio-nen wie Staat, Regierung, Parlament und Parteien, sondern auchkulturelle, habituelle und mentale Dimensionen. Diese inkludie-ren die politischen Werte, Interessen und Dispositionen, die dieöffentlichen Diskurse wie auch das politische Bewusstsein undVerhalten der Bürger prägen. Dabei geht es weniger um spezi-fische Inhalte und Meinungen als vielmehr um dauerhafte undfundamentale Gesinnungen und Werteordnungen,die hier als kul-turelle Grundlagen des Politischen verstanden werden sollen.Gemeinsam formen sie das, was man als »politisches Ethos« be-zeichnen kann, und entsprechen weitgehend dem, was heute in

1 Salman Rushdie, Imaginary Homelands. Essays and Criticism 1981-91, Lon-don 1991, S. 16.

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der Politologie im weitesten Sinne unter dem Konzept der »poli-tischen Kultur« bekannt ist.2

Einerseits fasst hier der Terminus Politik also bedeutend mehrals das, was in den Korridoren, Hallen und Sitzungszimmern derInstitutionen verhandelt wird, in denen Politik gemacht wird. An-dererseits soll der Begriff der Politik durch seine Ausweitung insKulturelle nicht beliebig ausgedehnt werden. Deshalb wird hierein Ethos nur insofern als politisch verstanden, als es mit der De-finition und dem Verständnis von Recht und Unrecht zu tun hat;sich mit Konflikten zwischen Klassen, Nationen und anderenKollektiven auseinandersetzt, sich von ihnen prägen lässt oderauf sie einzuwirken versucht; dominante Ideale des Gemeinwohlsund politische Tugenden wie Solidarität und Toleranz stützt, auf-nimmt oder angreift; etablierte Dynamiken von Macht, Herrschaftund Autorität rechtfertigt oder sie in Frage stellt; der Legitimie-rung von politischer Verpflichtung und Verantwortung, oder demWiderstand gegen sie dient; gesellschaftliche Grundrechte undGrundwerte wie Freiheit,Gleichheit und Gerechtigkeit affirmiertoder problematisiert.3

Das schließt zwar viel ein, aber nicht alles. Als politisch wird indieser Lesart zum Beispiel die Funktion der Massenmedien dannverstanden, wenn diese die unsichtbare innere Welt der Psycheund ihrer Wunden so abbilden, dass dem Staat Verantwortungfür deren Heilung abverlangt wird oder er davon freigesprochenwird. Politisch ist ein Fachdiskurs der Psychiater und Psycholo-

2 Karl Rohe, »Politische Kultur und ihre Analyse. Probleme und Perspektiven derPolitischen Kulturforschung«, in: Historische Zeitschrift, 250, 1990, S. 321-346; ders., »Politische Kultur: Zum Verständnis eines theoretischen Konzepts«,in: Oskar Niedermayer und Klaus von Beyme (Hg.), Politische Kultur in Ost-und Westdeutschland, Opladen 1996, S. 1-21. Der Begriff der politischen Kul-tur entstammt dem Klassiker der amerikanischen Politologie von GabrielAlmond und Sidney Verba, The Civic Culture, Princeton 1963. In den 1970erund 1980er Jahren vielfach als überholt und wenig weiterführend demontiert,erlebt der Begriff seit Mitte der 1990er Jahre eine Renaissance. Vgl. Lane Cro-thers und Charles Lockhart (Hg.), Culture and Politics: A Reader, New York2000; Jeffrey C. Goldfarb, Reinventing Political Culture: The Power of Cul-ture versus the Culture of Power, Malden, MA, 2012; Stephen Welch, TheTheory of Political Culture, Oxford 2013.

3 Für eine frühere, ausführliche Definition des Politischen aus der Perspektive desAutors siehe José Brunner, Psyche und Macht. Freud politisch lesen, aus demEnglischen von Helga Haase, Stuttgart 2001, S. 35-41.

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gen, wenn die sozialen Werte der Akteure diese veranlassen, ge-wissen Personengruppen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Iden-tität zu staatlicher Anerkennung als psychisch Verletzte zu ver-helfen und ihnen damit Zugang zu Behandlungen, Entschädi-gungsleistungen oder Renten zu verschaffen – oder sie als Simu-lanten zu stigmatisieren.4 Politisch ist ein Diskurs ebenfalls,wenn er in Reaktion auf ein entscheidendes politisches Ereignisentsteht oder auf eine gesellschaftliche Veränderung, diese rezi-piert und naturalisierend deren langfristige Folgen für die Seelender Betroffenen ausführt oder beschönigt. Ein professionellerTrauma-Diskurs erfüllt eine politische Funktion, wenn er in derÖffentlichkeit weitverbreitete Opfer/Täter- und Freund/Feind-Di-chotomien aufnimmt, untermauert oder untergräbt und damit be-wusst ein politisches Programm stützt oder in Frage stellt. Trau-ma-Diskurse entfalten des Weiteren eine politische Wirkung,wenn sie Rechts- und Unrechtsauffassungen medizinisch absi-chern oder negieren, indem sie Freiräume des Widerstands gegenherrschende Diskursformen der Zivilgesellschaft und Macht-strukturen des Staates legitimieren oder ihnen Sinn und Logik ab-sprechen.

Diese und weitere politische Aspekte von Trauma-Diskursenwerden im Verlauf dieser Studie ihre Relevanz erweisen, denndie Politik des Traumas ist vielschichtig und mehrdimensional.Sie berührt staatliche und zivilgesellschaftliche Einrichtungen,die Massenmedien, die Fachleute und natürlich die unmittelbarBetroffenen, die an psychischen Verletzungen leiden. Es wird hierjedoch keine spezifische Beziehung zwischen Trauma-Diskursenund Politik vorausgesetzt. Darin unterscheidet sich die hier ver-tretene methodische Perspektive von zwei anderen prominentenSichtweisen,die sich mit der Analyse des Verhältnisses von Politikeinerseits und der Psychiatrie oder der Psychologie andererseitsbeschäftigen – und die man mit den Schlagworten der »Instru-mentalisierung« oder der »Kolonisierung« kennzeichnen kann.Es wird hier ausdrücklich nicht behauptet, die Politik instrumen-

4 Vgl. dazu ausführlicher: José Brunner, »Identifications, Suspicions, and the His-tory of Traumatic Disorders«, in: Harvard Review of Psychiatry, 10, 2002,S. 179-184.

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talisiere Fachgebiete, die eigentlich unpolitisch seien und es auchsein sollten. Genauso wenig wird hier vorausgesetzt, dass, wennPolitik und Psychiatrie ineinanderfließen, das, was eigentlich indie Sphäre des Politischen gehöre und dort auch bleiben sollte,von einer sich imperial gebärdenden Wissenschaft in entfrem-dende medizinische oder psychologische Kategorien gezwängtwürde.

Obwohl hier von einer unentrinnbaren Verknotung von Trau-ma und Politik ausgegangen wird, die es zu erforschen gilt, wird,im Gegensatz zu den beiden Sichtweisen, die diskursive Hierar-chien postulieren, keine Kausalität oder Rangordnung zwischendiesen beiden Domänen vorausgesetzt,und die diskursive Verkno-tung wird auch nicht a priori pejorativ beurteilt. Diese Unvorein-genommenheit wird in den folgenden Kapiteln in einer Anzahlvon Fallstudien ihren Niederschlag finden.

Ungeschriebene Verträge – unsichtbare Verletzungen

Dieses einführende Kapitel verfolgt ein doppeltes Ziel: Zum einenskizziert es in einer kurzen historischen Übersicht Ursprung undHintergrund der heutigen Politik des Traumas, zum anderen wer-den in ihm Voraussetzungen und Systematik der Methodologie er-läutert, die in den folgenden Kapiteln zur Anwendung kommenwird.

Trauma-Diskurse entstanden während der so genannten zwei-ten industriellen Revolution, die die westliche Welt nach Mittedes 19. Jahrhunderts prägte. Zuvor wurden in traditionellerenGesellschaften körperliche und psychische Leiden als weitgehendunabwendbar akzeptiert und oft als Bestandteil eines läuterndenProzesses interpretiert,der den Betroffenen helfen sollte, die Gren-zen ihrer Individualität zu überwinden. Eine Verletzung, gleichwelcher Art, wurde zwar wie heute gesellschaftlich als selbst-oder fremdverschuldet betrachtet, sollte zugleich aber vor allemvon den Betroffenen als göttliche Fügung, im Sinne einer Prüfung,aufgefasst werden, also als Manifestation einer überirdischenKraft und damit eines unausweichlichen Schicksals. In diesem kul-turellen Kontext hatte körperliches wie seelisches Leiden nicht

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nur eine persönliche, gesellschaftliche und rechtliche Bedeutung –es wohnte ihm auch ein transzendenter Sinn inne.5

Dieser Sinn wurde durch die rasch voranschreitenden technolo-gischen Entwicklungen und die mit ihnen einhergehende wissen-schaftliche Rationalität untergraben, die, um mit Max Weber zusprechen, im Verlauf des 19. Jahrhunderts die Welt »entzauber-ten«. Statt von geheimnisvollen transzendenten Kräften gelenkt,erschien sie zunehmend in berechenbare und nüchtern kausale Er-klärungen eingebunden.6 Man litt nicht länger für einen höherenZweck oder tieferen Sinn, es verbarg sich hinter einem Leiden kei-ne für Sterbliche schwer verständliche Absicht mehr. Stattdessenentstand es nunmehr aus dem persönlichen Schicksal der Einzel-nen, barg in sich die Geschichte seiner Entstehung, die in Formindividueller Erlebnisse und Erfahrungen erzählt wurde. Das Indi-viduum war nicht länger primär Bestandteil eines Stammes, einerGemeinschaft oder einer Großfamilie, das heißt eines natürlichgewachsenen Kollektivs. Es wandelte sich zum universellen Men-schen, zum Angehörigen einer Nation und eben auch zum Bürgereines modernen Staates, und damit zu einem Träger von unver-äußerlichen Rechten – von Menschenrechten und Zivilrechten.Im Verlauf dieses Wandels innerhalb der westlichen politischenKultur wurden Individuen zu Mitgliedern einer liberalen undtechnologisch-industriellen Gesellschaft, die wissenschaftlich ver-bürgte Mittel und Wege zu entwickeln versprach, um die Bedürf-nisse aller zu stillen und Leiden drastisch zu mindern.

In dieser Zeit liegen auch die Ursprünge der modernen Sozial-wissenschaften und der im Entstehen begriffenen Wissenschaftvon der Psyche, die nach kausalen Erklärungen für die verschiede-nen seelischen Leidensformen und nach Maßnahmen zu derenMinderung suchte. Durch die beschleunigte Industrialisierungder westlichen Gesellschaften kamen immer mehr Menschen inKontakt mit moderner Technologie, die einerseits gesellschaft-

5 James L. Nolan, The Therapeutic State. Justifying Government at Century’sEnd, New York 1998, S. 15-16.

6 Max Weber, »Wissenschaft als Beruf« (zuerst 1919), in: ders., Gesammelte Auf-sätze zur Wissenschaftslehre, 4., erneut durchgesehene Aufl., hg. von JohannesWinckelmann, Tübingen 1973, S. 582-613, hier S. 594.

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liches Zusammenleben effizienter gestalten sollte, andererseitsaber auch selbst neue Formen des Leids und Leidens hervorbrach-te. Nur die Nation, für die man nach wie vor bei Bedarf in denKrieg und damit unter Umständen in den Tod zog, diente weiter-hin als ein dem Individuum übergeordneter Rahmen, für den zuleiden einen Sinn ergeben sollte.

Im 17. und 18. Jahrhundert war die Entstehung des modernennationalstaatlichen Denkens – und der entsprechenden politischenWertcodes und Institutionen – einhergegangen mit der von mo-dernen Staatsphilosophen und Vertragstheoretikern wie ThomasHobbes, John Locke und Jean-Jacques Rousseau eingeführten Me-tapher vom Gesellschaftsvertrag. Dieser hatte dazu gedient, staat-liche Strukturen zu legitimieren und eine Theorie grundlegenderRechte zu formulieren, die zumindest theoretisch allen, in Wirk-lichkeit aber nur den dafür wertbefundenen Mitgliedern der Na-tion Mitsprache in den Angelegenheiten des Staates und – nachdamaligem Verständnis – gleichwertige Lebenschancen in einergrundsätzlich gewaltfreien Gesellschaft ermöglichen sollten. Sowar gemeinsam mit der modernen Idee von der Nation, derenstaatlichen Organen man sich unterzuordnen hatte, auch die vonden unantastbaren Rechten des Einzelnen entstanden. Im Prinzipbegründen die westlichen Industrienationen bis heute ihre de-mokratischen Grundrechte auf der Basis dieser Vorstellung voneinem Gesellschaftsvertrag, der ihren Bürgern politische Rechteund Pflichten ebenso wie Schutz vor Willkür und Gewalt ver-spricht. Diesen Schutz der Einzelnen zu garantieren, ist Aufgabeder verschiedenen Staatsgewalten.

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, inmitten des tiefgreifenden Wandels der westlichen Gesellschaft der gerade umris-sen wurde, entstanden die Konturen eines zweiten, ungeschrie-benen Gesellschaftsvertrags, der sich mit den persönlichen Er-lebnissen und Erfahrungen wie auch den Bedingungen des Wohl-ergehens der Gesellschaftsmitglieder befasste. In diesem zweitenGesellschaftsvertrag – dessen Wurzeln natürlich in den ersten rei-chen, der aber im Gegensatz zu diesem niemals als solcher dekla-riert wurde – verhießen die modernen westlichen Staaten ihrenBürgern nicht nur Rechte, sondern auch die Aussicht auf Min-

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derung des allgemeinen sozialen, psychischen und körperlichenLeidens. Im Gegenzug verlangten sie ihnen jedoch eine eigenver-antwortliche Lebensweise ab. Was hier als zweiter Gesellschafts-vertrag bezeichnet wird, fußt wie der erste auf dem menschlichenStreben nach Glück und Gerechtigkeit, zu dem seit der zweitenHälfte des 19. Jahrhunderts auch der Bereich der Gesundheitzählte. Über den Rahmen der staatlichen Strukturen und Gesetzehinaus involvierte er nun vermehrt auch das Streben nach wissen-schaftlichen Erkenntnissen und deren praktischer Anwendung,das seit der Aufklärung das westliche politische Denken prägt.

Doch weder die staatlichen Obrigkeiten noch die junge Wissen-schaft der Psyche des späten 19. Jahrhunderts, die nun auch psy-chisches Leiden zu mindern versuchte, konnten halten, was sieversprachen. Naturgewalten wie Erdbeben,Überschwemmungenund Unwetter hatten – und haben bis heute – auch weiterhin er-schreckende und verheerende Auswirkungen, die nicht nur kör-perliches, sondern auch psychisches Leiden verursachten unddenen sich der Mensch trotz aller technologischen Errungen-schaften weitgehend hilflos ausgesetzt sah. Zudem versprach diemoderne Technik nicht nur Lösungen zur Minderung von Leiden.Die industrielle Gesellschaft entwickelte zwar eine Produktivität,die aus der Perspektive der Zeitgenossen ein gigantisches Ausmaßannahm, aber ihre technischen Innovationen bargen auch enormekörperliche und psychische Gefahren für die sie Handhabenden.Schon Friedrich Engels schilderte in seiner Studie über die eng-lische Arbeiterschaft detailliert, dass die moderne Fabrikarbeit dieArbeiter »verkrüppelt«.7 Auch die mechanisierten Kriege, nun-mehr mit hochexplosiven Sprengstoffen und Panzern geführt,wurden um ein Vielfaches tödlicher und zerstörerischer – und da-mit erschreckender –, als die bis dahin bekannte Kriegsführung esgewesen war.

Die moderne Industriegesellschaft brachte zwar ein Wohlstands-wachstum nie dagewesenen Ausmaßes hervor, doch physischeund psychische Verletzungen wurden dadurch nicht unbedingtweniger wahrscheinlich, sondern nur sinnloser. Sie wurden als

7 Friedrich Engels, Die Lage der arbeitenden Klasse in England, Leipzig 1845.

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unvermeidbare Risiken des modernen Lebens betrachtet, derenWahrscheinlichkeit und Kosten man mit der ebenfalls neuen sta-tistischen Methodik schon im Voraus berechnen konnte. Aus die-ser Logik entstand gegen Ende des 19. Jahrhunderts das politi-sche Versprechen, dass Bürger, die trotz oder aufgrund modernerTechnologien gesundheitliche Schäden erlitten – wovon mit einergewissen Wahrscheinlichkeit auszugehen war –, von der Gesell-schaft, also vom Staat, wenigstens nachträglich, unter Inanspruch-nahme des entsprechenden Expertenwissens, mit einer Minde-rung ihres Leidens rechnen durften.8

Dies war – in den groben Zügen skizziert, auf die es hier alleinankommt – der politisch-kulturelle Hintergrund,vor dem die pro-fessionellen psychiatrisch-psychologischen Diskurse zu Trauma-ta entstanden. Sie befassten sich mit psychischem Leiden, dasMenschen in der Folge erschreckender Ereignisse in der Außen-welt widerfuhr und an dem sie möglicherweise erkrankten. In die-ser Zeit wurden Sorge und Verantwortung für das psychischeWohlergehen einzelner Menschen wie auch die psychische Ge-sundheit der Gesellschaft als Ganze an eine spezielle Gruppe vonÄrzten übertragen, die sich ausschließlich mit Krankheiten derPsyche – zunächst hieß es: der Nerven – befasste. Doch damitwar ihr Tätigkeitsfeld bei weitem noch nicht abgesteckt: Im glei-chen Zug wurde ihnen aufgetragen, in enger Zusammenarbeitmit den Juristen die Gesellschaft vor jenen Individuen zu schüt-zen, deren Nerven oder Psyche infolge ihrer Erkrankung derartaus dem Gleichgewicht geraten waren, dass sie als verantwor-tungslos, unberechenbar und gefährlich einzustufen waren.9 Dar-über hinaus oblag es diesen medizinischen Fachleuten, die Gesell-schaft vor Forderungen solcher Menschen zu bewahren, die einepsychische oder Nervenkrankheit lediglich simulierten, um von

8 François Ewald, L’État providence, Paris 1986; Anson Rabinbach, »SocialKnowledge, Social Risk, and the Politics of Industrial Accidents in Germanyand France«, in: Dietrich Rueschenmeyer und Theda Skocpol (Hg.), States, So-cial Knowledge and the Origins of Modern Social Policies, Princeton, NJ, 1996,S. 48-79.

9 Michel Foucault, »About the Concept of the ›Dangerous Individual‹ in 19th Cen-tury Legal Psychiatry«, in: International Journal of Law and Psychiatry, 1,1978, S. 1-18.

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den Rechten zu profitieren, die den tatsächlich Erkrankten imRahmen moderner Gesellschaften zustanden.

In diesem zweiten, ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag ver-sprach der Staat also nicht nur, seine Bürger vor Gewalt zu schüt-zen und ihnen politische Rechte zu gewähren, sondern auch dieVerantwortung für die Minderung ihrer psychischen und körper-lichen Leiden zu übernehmen. In der Praxis bürdete dieser zweiteGesellschaftsvertrag den neuen Professionen der klinischen Psy-chologie und der Psychiatrie eine komplexe Aufgabe auf, solltensie doch zugleich Heiler moderner Individuen sein und diese kon-trollieren, um das moderne Kollektiv zu beschützen. Für die Bür-ger bedeutete dies, dass diejenigen, die eigenverantwortlich leb-ten und sich nicht nur gesetzestreu, sondern auch den gesundheits-präventiven und sittlichen Regeln entsprechend verhielten, Ver-trauen in den Schutz des Staates genießen konnten. Dieser subjek-tive, psychologische Aspekt des zweiten Gesellschaftsvertrags trugdazu bei, Menschen auch ohne transzendente Werte zu loyalenBürgern zu machen. Er hielt sie an, im Einverständnis mit ihrenMitbürgern zu leben, und ermutigte sie,Verpflichtungen einzuge-hen sowie diese auch einzuhalten.10 In einer zunehmend säkulari-sierten Welt baute der Glauben an eine mehr oder weniger gerech-te Welt – in der dem Einzelnen nicht nur Sicherheit und politischeRechte zustanden, sondern auch ein Recht auf körperliche undseelische Unversehrtheit – nicht länger auf Gott, sondern auf die

10 Zum Begriff der Gegenseitigkeit siehe Lawrence C. Becker, Reciprocity, Chi-cago 1990; Thomas M. Scanlon, What we Owe to each Other, Cambridge,MA, 1999; David Schmidtz, Elements of Justice, Cambridge 2006. Der Begriffdes psychologischen Vertrags wurde hier aus der Arbeits- und Organisations-psychologie übernommen, wo er sich auf die über den expliziten, juristischenArbeitsvertrag hinausgehenden impliziten und subjektiven Annahmen von An-gestellten bezüglich ihres Arbeitsverhältnisses und deren Auswirkungen auf ihrVerhalten bezieht. Der Begriff wurde in den 1960er Jahren durch eine Erweite-rung des politisch-philosophischen Konzepts des Gesellschaftsvertrags in die-sen Forschungsbereich eingeführt und findet vor allem seit den 1990er Jahrenbei der Erforschung von Arbeitsverhältnissen Anwendung. Hier wird das psy-chologische Konstrukt in seinen ursprünglichen, gesellschaftlichen Anwen-dungsbereich zurückgeführt. Chris Argyris, Understanding OrganizationalBehavior, Homewood, IL, 1960; Denise M. Rousseau, Psychological Contractsin Organizations. Thousand Oaks, CA, 1995; Mark V. Roehling, »The Originsand Early Development of the Psychological Contract Construct«, in: Journalof Management History, 3, 2, 1997, S. 204-217.

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