Tibi, Bassam - Der neue Totalitarismus

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    Bassam Tibi

    Der neue TotalitarismusHeiliger Krieg und westliche Sicherheit

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    Allah verndert nichts an einem Volk, solange sich seine Angehrigen nicht ihrerseits verndern. (Sure 13, Vers 11).

    Nach dem Ende des Ost-West-Konflikts glaubten viele Opti-

    misten, dass die Zeit fr den demokratischen Frieden reif sei. Dabei wurde jedoch eine neue Form des Totalitarismusbersehen: der Islamismus. Eine Richtung innerhalb des Isla-mismus ist der Djihadismus, der die Gottesherrschaft mitgewaltttigem Terror durchsetzen will und sich gegen denWesten richtet.Bassam Tibi beschreibt die weltpolitische Entwicklung seitdem 11. September und macht deutlich: Die djihadistische

    Bedrohung muss sehr ernst genommen werden. Ihr ist jedochnicht mit Regimewechseln durch Krieg, sondern nur mit einerDemokratisierung und kulturellen Reform des Islam entgegen-zuwirken.

    Bassam Tibi ist Professor fr Internationale Beziehungen inGttingen und fr Islamologie in St. Gallen; er ist Autor zahl-reicher, in vierzehn Sprachen bersetzter Bcher zum Islam.

    Zuletzt erschienen im Primus Verlag: Fundamentalismus im Islam. Eine Gefahr fr den Weltfrieden? (2000); Einladung in dieislamische Geschichte (2001)

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    Bassam Tibi

    Der neue Totalitarismus

    Heiliger Kriegund westliche Sicherheit

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    Einbandgestaltung: Jutta Schneider, Frankfurt a. M.Einbandbild: Islamisten in Pakistan drohen USA bei Angriff

    auf den Irak; picture.alliance/dpa/dpaweb

    Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikationin der Deutschen Nationalbibliografie;

    detaillierte bibliografische Daten sind im Internet berhttp://dnb.ddb.de abrufbar.

    2004 by Wissenschaftliche Buchgesellschaft, DarmstadtGedruckt auf surefreiem und alterungsbestndigem Papier

    Printed in Germany

    ISBN 3-89678-494-3

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    Vorwort

    Die Entwicklung des Djihad zum Djihadismus im Rahmender Erscheinung des politischen Islam bildet den Hintergrundder Entstehung eines neuen Totalitarismus. Im Westen ist dasffentliche Bewusstsein fr diese Problematik schwach ent-wickelt. Hierber wird wenig aufgeklrt. Oft wird sei esaus bewusster Tuschung der Islamisten oder aus argloserBlauugigkeit des Gutmenschentums der Djihad des politi-schen Islam mit dem einseitigen Hinweis auf seine koranischeBedeutung als Anstrengung rein philologisch fehlgedeutet.Als Motiv hierfr wird angegeben, Vorurteile bekmpfen zuwollen, ohne dabei zu merken, dass hierdurch die aus dem Dji-hadismus hervorgehende Gefahr des Terrorismus herunterge-spielt wird. Die Absicht ist gut, die Wirkung dagegen fatal.

    Es ist bedauerlich, wenn etwa ein sonst aufgeklrter Autorder Zeit von einem Djihad fr die Demokratie, der auchvon Islamisten gefhrt werden knne, spricht und Gutes damitmeint. Doch Islamismus ist keine Anstrengung fr Demokra-tie, sondern eine Ordnungsvorstellung, deren hnlichkeit mitden Ideologien der frhen Totalitarismen jedem Expertenins Auge springt. Als geschulter Politikwissenschaftler weiich, dass nicht jede Despotie ein Totalitarismus ist. Im Orienthat es Despotie laut Karl Wittfogel traditionell immer gege-ben, aber beim weltanschaulichen Islamismus haben wir esmit einer Ordnungsvorstellung, also der Hakimiyyat Allah / Gottesherrschaft zu tun, die totalitr ist. Die islamistischenBewegungen streben weltweit dieses Herrschaftsmuster an.Hannah Arendt hat magebend den Begriff Totalitarismusgeprgt, der zugleich Bewegung und Herrschaft totalitrerMuster wiedergibt.

    Ist dieses europische Konzept auf die Welt des Islamanwendbar? Bis auf den Iran der Ayatollahs und zeitweiseAfghanistan unter den Taliban gehren Islamisten, die die neueGottesherrschaft des Totalitarismus anstreben, noch zu einerBewegung; nirgendwo haben sie sonst ihr wahres Gesichtals Herrschaftstrger in vollem Umfang zeigen knnen. DieTrkei ist eine Ausnahme und fr diese Analyse kein Beispiel,

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    denn die in der Trkei seit November 2002 regierenden Isla-misten gehren nicht zur djihadistischen Ausrichtung. Zudemsind Gegenkrfte vorhanden, die ihnen keine Spiele mit derAnwendung der Scharia erlauben wrden. Der djihadistischeTotalitarismus ist noch die Ideologie einer aus dem Unter-grund wirkenden Bewegung, die ihre Herrschaftsform mit demDjihad durchsetzen will. Im Iran konnten die Ayatollahs dieseHerrschaft nur deshalb nicht in vollem Umfang entfalten, weilder dortige Staat hierfr zu schwach ist und nur eine begrenzteReichweite hat.

    Beim Islamismus wird in diesem Buch zwischen der Aus-richtung des Djihadismus und dem institutionellen Islamis-mus unterschieden. Auch im Koran bedeutet Djihad nicht nurAnstrengung, sondern schliet Gewaltanwendung (Qital) zurVerbreitung des Islam ein. In der Geschichte war dies auchbei den Djihad-Eroberungen der Fall. Wer das bestreitet,kennt weder den Korantext noch die islamische Geschichte.Doch ist der islamistische Djihadismus eine neue Erscheinung.Der klassische Djihad war zwar kriegerisch, aber eindeutigkein Terrorismus im Sinne des heutigen post-Clausewitzschenirregulren Krieges, den die Islamisten unserer Zeit als eineGewaltform des Djihadismus fhren. Die erforderlichen Diffe-renzierungen werden in Kapitel III ber den Djihad aufgezeigt.Obwohl aus den bisherigen Ausfhrungen hervorgeht, dass derdjihadistische Islamismus aus meiner Perspektive eine Fehlin-terpretation des Islam ist, liegt doch in beiden Fllen (meinemliberalen Islam und dem totalitren Islamismus) eine Positionvor, die den Islam als Grundlage fr sich in Anspruch nimmt.Anders formuliert: Beide berufen sich auf den Islam.

    Die Entstehung und Entfaltung des Islamismus als einetotalitre Bewegung hat ihren eigenen weit zurckliegendenhistorischen Hintergrund. In der neueren Geschichte lst derWesten den Islam als fhrende Zivilisation ab. Auf diese Her-ausforderung der neuen Zivilisation des Westens haben Mus-lime des 19. Jahrhunderts sowohl durch islamische Erneue-rung als auch durch Anpassung (Verwestlichung) reagiert unddas westliche Modell des Nationalstaates bernommen. DasScheitern des skularen Nationalstaates und die Krise seiner

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    Institution in der Welt des Islam haben zur Entstehung desIslamismus beigetragen. Der Islamismus ist also im Wesentli-chen eine Ordnungsvorstellung, die als neuer Totalitarismusim Widerspruch zum gleichermaen demokratischen, auf demPrinzip der Volkssouvernitt fuenden und skularen Natio-nalstaat steht. Die populre Neudeutung des Djihad durch denpolitischen Islam, der auch als Islamismus bezeichnet wird,verbindet die djihadistische Weltanschauung der neuen Bewe-gung mit der Forderung auf lokaler Ebene nach einem islami-schen Staat. Weil der Islam einen Universalismus beinhaltet,fhrt seine Polarisierung zu der zustzlichen Forderung nacheiner vom politischen Islam bestimmten Weltordnung. Somitbetrifft die neue Erscheinung die Sicherheitspolitik, vor allemdie des Westens. Die Verbindung von Islamismus und Sicher-heitspolitik gehrt zu den zentralen Themen dieses Buches.

    Der Hinweis, dass die Islamisten vorwiegend aus dem Unter-grund agieren, verdeutlicht die neue Erscheinung nichtstaatli-cher Akteure, die in der Weltpolitik des 21. Jahrhunderts einezunehmend grere Signifikanz bekommt. An dieser Stellemchte ich wiederholt darauf hinweisen, dass Hannah Arendtvon Totalitarismus nicht nur als Herrschaft, sondern auch alsBewegung spricht. Staaten haben jeweils ihre kalkulierbarenNationalinteressen, weil sie an international gltigen Regelngemessen werden. Daher zeichnen sich ihre auenpolitischenHandlungen durch ein Mindestma an Berechenbarkeit aus.Nichtstaatliche Akteure sind dagegen, wie ethnisch-nationali-stische oder religis-fundamentalistische Djihad-Bewegungendes irregulren Krieges unberechenbar. Gegen Staaten, diesich nicht an internationale Regeln halten, etwa Schurken-staaten, kann man Sanktionen verhngen, ja sogar wie etwaim Irak-Konflikt und zuvor in Afghanistan Kriege fhren,die in einen wie auch immer gearteten Regimewechselmnden knnen. Gegenber global vernetzten djihadistischenBewegungen wie al-Qaida ist eine solche Strategie schlicht undeinfach nicht praktizierbar. Von dieser vernderten weltpoliti-schen Situation geht das vorliegende Buch aus, das sich miteiner Bewegung befasst, die von nichtstaatlichen militrischagierenden Akteuren des politischen Islam getragen wird.

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    Dabei geht es nicht nur um Gewalt als Terror gegen Personenund Objekte, sondern um eine Gefahr fr die Freiheit der offe-nen Gesellschaft. Der djihadistische Islamismus ist somit berdas militrische Sicherheitsverstndnis hinaus von Relevanz.Deswegen spreche ich in diesem Buch von der djihadistischenBedrohung als neuem Totalitarismus, der fr die offene Gesell-schaft die grte weltpolitische Herausforderung des 21. Jahr-hunderts darstellt.

    Der Rahmen dieses Buches bildet die zeitgeschichtliche Ent-wicklung vom 11. September 2001 bis zum Irak-Krieg im Mrz/ April 2003. Der Djihadismus als Untersuchungsgegenstand istkeine fr sich stehende Monade, zumal er in den gesell-schaftlichen und weltpolitischen Realitten und ihren Bedin-gungsfaktoren eingebettet ist. Doch anders als Vertreter derauf die konomie eingeengten Globalisierungsthese nehmeich Abstand von der vulgarisierten Position, nach der dieHandlungen von Menschen gleich ob Unterdrcker oderUnterdrckte stets durch konomische Interessen vorbe-stimmt seien. Der totalitre Djihad-Terrorismus ist eine dersignifikantesten Weltanschauungen im 21. Jahrhundert. Sielsst sich nicht auf die konomie zurckfhren. Nach demStalinschen Kommunismus und dem Hitlerschen Faschismussehe ich im djihadistischen Islamismus Hannah Arendts, KarlPoppers und Max Horkheimers Thesen ber diesen Gegen-stand vergegenwrtigend die neueste Spielart des Totali-tarismus. Dieser ist jedoch deshalb wirksamer und zugleichgefhrlicher als der alte Totalitarismus, weil er auf einer Politi-sierung der Religion basiert und somit eine religise Legitimittim Sinne von Glauben fr sich beansprucht. Die Religion ist dieconditio humana, deshalb kann ihre Ideologisierung weit wirk-samer als jede skulare Ideologie sein. In Hinblick auf ihrerSignifikanz setze ich im vorliegenden Buch die religise Welt-anschauung in der Weltpolitik auf dieselbe Stufe wie konomieund Militr. Es ist mir bewusst, wie sehr diese These auf Wider-spruch stt. Selbst mein einstiger Frankfurter Lehrer JrgenHabermas, den ich fr einen der klgsten Kpfe dieser Repu-blik halte, versteht die Verbindung von Religion und Politik imIslam nicht, wie ich dies in meinem Aufsatz Habermas and the

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    Return of the Sacred (Religion, Staat, Gesellschaft 2/2002) nach-gewiesen habe.

    Wenn ich in diesem Buch jeden konomistischen Reduktio-nismus als eine Denkweise, die alles auf die konomie undihre Formationen zurckfhrt, ablehne, so sichere ich meinenLesern zu, dass ich die Wirkung der konomie nicht bersehe.Ich will nur die Grundvoraussetzung dafr erfllen, ein ange-messenes Verstndnis unseres postbipolaren Zeitalters descultural turn, in dem der Djihadismus eingebettet ist, zuentwickeln. Damit ist gemeint, dass wir im Studium der Welt-sicht der Menschen ihre kulturellen Einstellungen strker zubeachten haben. Religion und ethnische Zugehrigkeit, mitdenen jeweils eine Weltanschauung korrespondiert, bestim-men die Handlungen der Menschen die daran glauben. Ausdieser Erkenntnis geht die zentrale Position dieses Bucheshervor, wonach religis-kulturelle Weltanschauungen in unse-rer Zeit einen zentralen Platz in der Weltpolitik einnehmen.Der neue Totalitarist versteht sich als Djihadist, nicht nur,weil er ein sich zur Gewalt bekennender politischer Aktivistder action directe ist; er hlt sich zudem auch fr dentrue believer/ den wahren Glubigen, der im Auftrag Gottesfr die wahre politische Ordnung der Hakimiyyat Allah/ Gottesherrschaft global kmpft.

    In diesem Buch wird eine Verbindung zwischen Weltan-schauung und Zivilisation hergestellt. Die Angehrigen derReligionsgemeinde des Islam pflegen auf der Basis ihres Glau-bens, trotz ihrer religisen und kulturellen Vielfalt, eine ein-heitliche Weltanschauung. Durch eine gemeinsame Weltan-schauung gruppieren sich die Angehrigen zahlreicher Lokal-kulturen zu einer Zivilisation. Eine Richtung des politischenIslam politisiert diese Weltanschauung, woraus der Anspruchauf eine islamische Weltordnung mit der reformulierten Dok-trin des neoislamischen Djihad hervorgeht. Ich betone immerwieder die duale Erkenntnis, dass die Ideologie des Djihadis-mus auf einer Deutung des Islam basiert, warne jedoch gleich-zeitig davor, Islamismus und Islam gleichzusetzen. Mit der isla-mischen Zivilisation kann der Westen auf der Basis der Demo-kratie einen dauerhaften Frieden schlieen, gegenber dem

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    totalitren Djihadismus, als Bedrohung der offenen Gesell-schaft, bentigt der Westen hingegen eine klare und fest umris-sene Sicherheitspolitik. Djihadisten verfolgen nichts Geringe-res als das Ziel, die auf dem Westflischen Frieden basierendeskulare Weltordnung durch eine Pax Islamica zu ersetzen, inder das Dar al-Islam/ Haus des Islam den gesamten Globusumfasst. Somit ist der Totalitarismus, den sie vertreten, eineweltpolitische Bedrohung, die nicht allein ein Gegenstand poli-zeilicher Sicherheit ist, insofern sie Fragen der westlichen Exi-stenz und ihrer Ordnung betrifft. Das ist der Gegenstand derneuen Sicherheitspolitik, die zum Schutz der offenen Gesell-schaft bentigt wird. Auch die Demokratie muss gegen ihreFeinde verteidigt werden.

    Am Ende dieses Vorworts mchte ich die Wahrnehmungdes neuen Totalitarismus in Deutschland am Beispiel derReaktionen auf den djihadistischen Terroranschlag vom Mai2003 in Saudi-Arabien erlutern. Ich behaupte, dass es in derverffentlichten Meinung in diesem Land kein Bewusstsein frdie tatschlich damit zusammenhngenden Gefahren gibt. Dieentsprechenden Nachrichten, die von den Medien als tagespo-litische Sensation gehandhabt werden, geraten wenige Tagespter in Vergessenheit. Als eine erfreuliche und positive Aus-nahme, die von diesem Trend abweicht, bleibt der Leitartikelvon Jacques Schuster Der Terror kehrt zurck zu nennen, indem er die Gefahr erkennt und Konsequenzen in der Bewusst-seinsbildung fordert. Er schreibt, die Deutschen wrden dieaus der djihadistischen Bedrohung hervorgehende Gefahren-lage nicht verstehen. Sie htten daher die Konsequenz daraus... noch nicht verinnerlicht .... Die meisten glauben nochimmer, sie lebten auf einer Insel der Seligen ( Die Welt, Leitar-tikel vom 14. Mai 2003). Auf derselben Seite der zitierten Zei-tung untersttzt ein Bericht mit der berschrift Verfassungs- schutz: al-Qaida bedroht auch Deutschland die oben genannteBefrchtung. Darin heit es: Das islamistische Terrornetz al-Qaida stellt fr ... Deutschland nach wie vor eine sehr ernstzu nehmende Bedrohung dar. Die Gegenposition findet ihreArtikulation in einem Grundsatzartikel von Michael Thumann,Ressortleiter fr Auenpolitik der Wochenzeitung Die Zeit,

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    vom 15. Mai 2003 unter der berschrift Djihad fr die Demo-kratie. Obwohl ich diesen Journalisten nur ein einziges Malin Istanbul traf, schtze ich ihn sehr und bedaure, dass eranders als Schuster die Gefahr nicht versteht und schreibt:Nach dem Attentat von Riad: Wer die arabische Welt neuordnen will, muss mit den moderaten Islamisten sprechen,und weiter: Demokratie bedeutet Anstrengung. Die Muslimehaben hierfr ein eigenes Wort: Djihad. Anders als der bewaff-nete Kampf kann der Djihad fr die Demokratie auf die Mehr-heit zhlen. Als Nahost-Experte, der selbst aus der Regionstammt und sich dort regelmig aufhlt, kann ich dies nichtbesttigen. Ich knnte vergleichend ironisierend hinzufgen:Die Muslime haben fr Recht auch ihr eigenes Wort undes heit: Scharia. Der populistische Djihad fr die Schariafindet die Untersttzung unaufgeklrter Muslime und gehrtzur Weltanschauung des neuen Totalitarismus. Die Verwechs-lung von Realitt und Wunschdenken ist ein Problem des deut-schen Journalismus ber den Islam, wobei es leider mehr Thu-manns als Schusters in Bezug auf diese Problematik gibt.

    Ich hoffe auf Leser, die nicht nur kulturell offen sein wollen,sondern bereit dazu sind, von Fakten statt von Gesinnungenauszugehen. Es ist eine Tatsache, dass der Djihad von heutezu einem Djihadismus der irregulren Krieger des politischenIslam geworden ist. Alle islamistischen Terrororganisationentragen den Begriff Djihad in ihrem Namen (etwa Djihad ingypten, Djihad Islami in Palstina, United Djihad in Kasch-mir, Lasker Djihad in Indonesien u.a.) und stellen eine djihadi-stische Bedrohung sowohl fr die internationale Sicherheit alsauch fr anders denkende Muslime dar. Ein moderner Reform-Islam knnte eine Alternative zum Djihadismus bieten, in demer andere, also liberal-demokratische Anschauungen, als diedes militanten Djihad-Islam oder des scheinbar gemigteninstitutionellen Islamismus etabliert. Der Unterschied zwi-schen diesen Richtungen wird im vorliegenden Buch erklrt:Die Djihadisten setzen Gewalt ein, whrend die institutionel-len Islamisten wie etwa in der Trkei in den staatlichen undgesellschaftlichen Institutionen arbeiten. Beide aber wolleneinen islamischen Staat der Scharia errichten.

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    Mein Dank bei der Anfertigung dieses Buches gilt an ersterStelle meiner Mitarbeiterin Elisabeth Luft fr die engagierteund sorgfltige Eingabe zahlreicher handschriftlicher Fassun-gen, die zu diesem Buch gefhrt haben. Ihre Geduld mitmir und ihre Fhigkeit, meine Handschrift zu entziffern, sindbewundernswert. Meine wissenschaftlichen Mitarbeiter, Dipl.-Sozialwirtin Christine Jung, Dipl.-Sozialwirt Torsten Michelsowie in der Schlussphase dieser Arbeit Marwan Abou-Taam M.A., haben mir bei der Redigierung und bei der Durchsicht derEndfassung sehr geholfen und beratend mitgewirkt. Weiter-hin danke ich meinem wissenschaftlichen Mitarbeiter RolandHiemann fr die mehrmalige Durchsicht von Kapitel II undPhilipp Mickat fr die wertvolle Hilfe bei der Zusammenstel-lung der Bibliographie. Schlielich bin ich Dr. Dirk Palm undHarald Vogel vom Lektorat der Wissenschaftlichen Buchge-sellschaft dafr verbunden, dass sie mir trotz der Krise desBuchmarktes und der Streichpolitik der Programme vieler Ver-lage die Tr als Autor offen gehalten haben. Gegen Ende derEinfhrung werden die Entstehung des Buches, die Schwierig-keit, es zu verffentlichen, sowie sein Aufbau nher erlutert.Die Endfassung wurde an der Universitt St. Gallen fertiggestellt, an der ich die neu errichtete Gastprofessur frIslamologie das Fach ist keine Islamkunde fr den Zeit-raum 2003/2004 wahrnehme. Mit dieser Geste der Anerken-nung dieses von mir begrndeten Faches fr eine sozialwis-senschaftliche Erforschung des Islam an einer europischenEliteuniversitt haben der St. Galler Rektor Professor PeterGomez und sein Mitarbeiter, Dozent Dr. Sascha Spoun, denWeg fr die Anerkennung sozialwissenschaftlicher Studienber den Islam also die Islamologie geebnet. Hierfr bin ichzu Dank verpflichtet.

    Im November 2003 hielt Bundesauenminister Fischer ander US-Elite-Universitt Princeton einen Vortrag, in dem erden islamischen Terror als neuen Totalitarismus bezeichnete.Die Hauptthese Fischers ist identisch mit dem Titel und Inhaltdes vorliegenden Buches, das im November 2003 noch nichtverffentlicht war. In meinem Artikel anlsslich des zweitenJahrestages des 11. September 2001 ( Financial Times Deutsch-

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    land vom 11. September 2003) verffentlichte ich jedoch bereitsIdeen des neuen Buches. Dieser FTD-Artikel erschien whrendmeiner Abwesenheit als Gastprofessor an der HidayatollahIslamic State University of Jakarta/Indonesien. Darin habeich den Begriff des neuen Totalitarismus geprgt und dendjihadistischen Terror als Beispiel angefhrt. Die These vomneuen Totalitarismus ist ebenso in meinem Beitrag zu dem vonM. Mllers/R. van Ooyen herausgegebenen Jahrbuch ffentlicheSicherheit ( JBS, 2002/03, S. 125-144) sowie in meiner Abhand-lung Habermas and the Return of the Sacred. The Emergenceof Political Religion as a New Totalitarianism, in: Religion Staat Gesellschaft 2/2002 enthalten. Mit Freude stelle ich fest,dass die in diesem Buch entfalteten Ideen in die Politik ein-gegangen und von einem westlichen Auenminister in Prin-ceton vorgetragen wurden. Es bleibt zu hoffen, dass die Redevon Bundesauenminister Fischer eine sachliche Debatte berdiesen Gegenstand anregt und ermglicht.

    Bassam TibiSt. Gallen, Mitte JuliGttingen, August und Claremont, Kalifornien,November 2003

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    Einfhrung:Der neue Totalitarismus,

    seine djihadistische Bedrohung und der Westen

    Das 20. Jahrhundert war die Zeit der beiden TotalitarismenKommunismus und NS-Faschismus, die die Demokratiebedrohten. Hannah Arendt hat in einem magebenden Werkden Begriff Totalitarismus fr die Ideologie und die Herr-schaftspraktiken beider skularer Richtungen geprgt. ImLager der linken Sozialwissenschaft beanstandeten politischeTheoretiker die Gleichsetzung von Kommunismus und Faschis-mus heftig, und so wurden alle Totalitarismus-Theorienzurckgewiesen. Ich lasse mich auf diese Debatten nichtein, weil ich, den Totalitarismus-Theoretikern folgend, diehnlichkeiten zwischen Gulag und den NS-Lagern nichtbersehe. Den Opfern des Totalitarismus war es gleich, obihre Peiniger Faschisten oder Stalinisten hieen. Die Leidenund die Praktiken trugen die gleichen Zge. Die zweite unddritte Welle der Demokratisierung in der Welt folgte je auf dieHerausforderung dieser Totalitarismen. Die Demokratisierungder Welt des Islam wird in einer hnlichen Antwort auf dentotalitren Islamismus bestehen mssen.

    1. Vom Kommunismus/Faschismus zum islamistischenTotalitarismus

    Als das 20. Jahrhundert zu Ende ging, whnten die Optimi-sten, dass die Menschheit auf das globale Zeitalter der Demo-kratie und Menschenrechte zusteuere. Samuel P. Huntingtonkndigte eine weltweite Dritte Welle der Demokratisierungan, ehe er einige Jahre danach einschrnkend zur Erkenntniseines Clash of Civilizations berging. Er meinte brigenseinen Zusammenprall der Zivilisationen und keinen Kul-turkampf, wie seine deutschen Kritiker ihm unterstellten. Alsdie UNO in Wien im Juni 1993 einen Weltkongress zur Erneue-rung der 1948er-Deklaration der Menschenrechte organisierte,endete diese Bemhung in einem weltanschaulichen Konfliktber diesen Gegenstand. Francis Fukuyama ging so weit, tri-

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    umphierend das Ende der Geschichte nach dem Sieg derfreiheitlichen westlichen Werte zu prophezeien, aber auchdiese Prognose erwies sich als falsch. Keiner dieser Optimistenwusste, dass in der Welt des Islam seit 1928 ein neuer Tota-litarismus mit der Bewegung der Muslim-Brder im Entste-hen begriffen war. Der Islamismus dieser Bewegung war beiihrer Grndung marginal. Nach der schmachvollen Nieder-lage der arabischen Armeen im Sechs-Tage-Krieg 1967 undder damit einhergehenden Diskreditierung des Panarabismuswurde jedoch die Politisierung des Islam mit dem Ergebniseines Djihad-Islamismus, den ich in diesem Buch als denneuen Totalitarismus anspreche, vorangetrieben. Spter folgtedie islamische Revolution im Iran, die von den Vertretern derDritte-Welt-Romantik (tiers mondisme) als Befreiung fehl-gedeutet wurde. Erst die Anschlge vom 11. September 2001haben wenn auch nicht ausreichend die Augen geffnet. DieIdeologie des Islamismus predigt eine Gottesordnung zunchstfr die Welt des Islam, dann fr die gesamte Menschheit. Dasist der neue Totalitarismus des 21. Jahrhunderts. Im Gegensatzzum NS-Faschismus und zum Stalinschen Kommunismus istdiese Ordnung noch keine Realitt. Die Islamisten bilden hin-gegen eine Bewegung, die in der Lage ist, Millionen von fru-strierten Muslimen fr ihre Ziele zu mobilisieren. Es gibtIslamisten, die mit Hilfe eines Marsches durch die Institu-tionen ihre Vision einer Gottesordnung in die Realitt umset-zen wollen; andere versuchen dies mit Gewalt. Letztere sinddie Djihadisten. Die djihadistische Bedrohung des Islamismusbildet im 21. Jahrhundert die grte Herausforderung fr daswestliche System von Freiheit und Demokratie. Hier habenwir eine neue Konstellation fr Karl Poppers Formel Dieoffene Gesellschaft und ihre Feinde. Die frheren Gefahren mit den Worten Max Horkheimers Stalinscher Kommunis-mus und Hitlerscher Faschismus kamen aus Europa selbst.Ein deutsches Opfer der NS-Verbrechen, Hannah Arendt,hat hierfr den Begriff Totalitarismus geprgt. Zwei groeEuroper, Max Horkheimer und Karl Popper, die zu geistigrivalisierenden Denkschulen kritische Theorie und kri-tischer Rationalismus gehrten, kannten diese Gefahren

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    ebenso und waren sich trotz aller Differenzen darber einig,dass die Freiheit (Horkheimer) bzw. die offene Gesell-schaft (Popper) gegenber Stalinschem Kommunismus undHitlerschem Faschismus zu verteidigen ist. Im 21. Jahrhun-dert wurden diese beiden Bedrohungen berwunden. Manche vor allem grne Pazifisten whnen deshalb, dass wir im 21.Jahrhundert im Paradies einer konfliktfreien Welt der Seligenleben, wo alleine Vorurteile ber andere Kulturen etwa dasFeindbild Islam die Strfaktoren darstellen. Manche Deut-sche sehen die Gefahr, die in diesem Buch als ein neuer Totali-tarismus angesprochen wird, nicht. Der Terrorismus, der ausdem islamistischen Djihadismus hervorgeht, wird als Werk vonKriminellen oder verrckten Banden heruntergespielt, unddie zentrale politisch-religise Bewegung, die dahinter steht,wird nicht wahrgenommen. Wer den neuen Totalitarismus mitder Politisierung des Islam in einen Zusammenhang bringt,dem werden Vorurteile und politisch inkorrektes Denken vor-geworfen. Als ein Araber, der aus einer jahrhundertealtenadligen Damaszener Familie (die Aschraf von Banu al-Tibi)stammt, lasse ich mich in meiner Verteidigung von Freiheitund Demokratie von solchen Klischees nicht beeindruckenund nehme als Aufklrer keine Eingriffe in mein Recht derfreien Meinungsuerung hin.

    Eine Betrachtung der Weltordnung darf nicht von derSchnfrberei der deutschen Gutmenschen ausgehen, viel-mehr muss sie sich von folgendem sachlichen Hintergrundherleiten lassen: Nach dem Niedergang des Kommunismus,parallel zum Fall der Berliner Mauer, schien die vor mehr als200 Jahren entworfene Utopie eines demokratischen Friedensin greifbare Nhe zu rcken. Leider war die Vorhersage einerDritten Welle der Demokratisierung durch Samuel P. Hun-tington falsch. Die damit verbundene Hoffnung in der ein Vier-tel der Menschheit (1,5 von 6 Milliarden) umfassenden Welt desIslam hat sich nicht erfllt. Stattdessen entfaltet sich dort undweltweit auch im 21. Jahrhundert eine neue Gefahr fr Freiheitund Weltfrieden, die ich djihadistische Bedrohung nenne.Der neue Totalitarismus lsst sich in die Reihe der von Popperund Horkheimer beschriebenen Gefahren einordnen. Das ist

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    die zentrale These dieses Buches. Die Aufklrung ber die dji-hadistische Bedrohung, die eine sicherheitspolitische Dimen-sion hat, zeigt, dass sie sich nicht nur gegen den Westenund seine offene Gesellschaft, sondern auch gegen einenaufklrerischen Reform-Islam richtet. Das sind Fragen, die dasVerhltnis des Islam zur westlichen Zivilisation sowie unserVerstndnis der Weltpolitik im 21. Jahrhundert betreffen.

    Der neue Totalitarismus erwchst aus der djihadistischenDeutung des Islam. Erst durch den 11. September drang dieneue Erscheinung als Bedrohung fr den Westen in dasBewusstsein der westlichen ffentlichkeit. Vor diesem welthi-storischen Datum haben die USA den Djihadismus nicht ernstgenommen, ja sogar in einigen Fllen so im ersten Afghani-stan-Krieg als Bndnispartner bei der Eindmmung einesanderen Totalitarismus, nmlich des Kommunismus, instru-mentalisiert. Dies nderte sich radikal nach dem 11. Septem-ber. Trotzdem bildete sich bei der Wahrnehmung dieser Bedro-hung ein groer Unterschied zwischen den USA und Westeu-ropa heraus, welcher sich besonders whrend der Irak-Kriseverstrkte und zu transatlantischen Spannungen zwischen denUSA und dem kontinentalen Westeuropa fhrte. Als es nichtgelang, die Irak-Krise durch Deeskalation zu meistern, sonderndiese am 20. Mrz 2003 sogar zu einem Krieg eskalierte, wardie westliche Welt zutiefst gespalten. In dieser Entwicklungbesteht eine Verbindungslinie vom 11. September bis zum Irak-Krieg, obwohl sich die djihadistische Bedrohung unabhngigvon der mit dem Irak-Krieg beendeten blutigen Diktatur desSaddam Hussein entwickelt hat. Ich vertrete die Auffassung,dass die Bush-Regierung vom eigentlichen Objekt des Waron Terrorism im Irak-Krieg abgewichen ist. Die aus derVerbindungslinie 11. September 2001 Irak-Krieg 2003 vonder Bush-Regierung falsch gezogenen weltpolitischen Schluss-folgerungen, die zur Eskalation der Krise und schlielichzum Krieg fhrten, haben die djihadistische Bedrohung nichteingedmmt, erst recht nicht ausgerumt, sondern ihr neueImpulse gegeben. Dies zeigten die Terroranschlge vom Mai2003 in Saudi-Arabien und zuvor in Palstina, Marokko undTschetschenien. Der Djihad-Islamismus lebt weiter.

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    Nach dem 11. September schien die Welt mit Ausnahmeeiniger Betonkpfe zu verstehen, dass der militante Islamis-mus einen djihadistischen, also terroristischen Zweig besitzt,der auch in Westeuropa beheimatet ist. Von dort aus wurdenauch die Djihad-Angriffe auf New York und Washington vorbe-reitet. Doch fehlt immer noch die Erkenntnis, dass es sich hier-bei nicht blo um einen aus einem Extremismus hervortreten-den Terrorismus handelt: Wir haben es mit einem neuen Totali-tarismus zu tun, der weit ber seine gewaltfrmigen Aktionen,im angefhrten Sinne von Horkheimer und Popper, die west-liche Freiheit und Demokratie bedroht. Selbst Muslim, ordneich mich bei diesem Konflikt in das Lager von Freiheit undDemokratie ein und verteidige die offene Gesellschaft gegenden Islamismus.

    Leider wurde das Kapital von weltweiter Sympathie undSolidaritt gegenber den USA nach dem 11. September imVerlaufe der Irak-Krise 2002/03 durch die fragwrdige Politikder Bush-Administration verspielt. Zudem wurden die US-Sol-daten im Irak von den Muslimen nicht als Befreier, sondernals Besatzer wahrgenommen. Dies liegt auch an unterschiedli-chen zivilisatorischen Wahrnehmungen. Am 18. April strahlteCNN einen Bericht aus, wonach Iraker in Bagdader Cafs dasGercht unter sich verbreiteten, die Saddam-Geschichtesei eine Verschwrung: Die CIA habe Saddam vorgeschickt,um einen Vorwand fr die Eroberung des Irak zu bieten. DieseVerschwrungsphantasien ber die Salibiyyun /Kreuzzglerwaren auch anderswo in der Welt des Islam zu vernehmen. Auf deutscher Seite gibt es vergleichbare Verschwrungstheorien,die in Bestsellern groe Verbreitung finden.

    Im Gegensatz zu den berwundenen Totalitarismen Kom-munismus und Faschismus wird die neueste Bewegungeines Totalitarismus von nichtstaatlichen Akteuren wie al-Qaida getragen. Dieser Zusammenhang macht deutlich, warumsich aus der Revolte gegen den Westen (Hedley Bull) einirregulrer Krieg entwickelt hat. Die Terroranschlge vom 11.September waren ein Ausdruck eines solchen Krieges, derzunchst alle Sympathien den Opfern von New York und Was-hington und wie angefhrt folglich auch den USA zukom-

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    men lie. Die westlichen Verbndeten hatten daraufhin ihreuneingeschrnkte Solidaritt (Schrder) im Krieg gegen denTerrorismus bekundet. Am 7. Oktober 2001 folgte in Afgha-nistan ein Akt des War on Terrorism, in dem die 55 Dji-had-Ausbildungslager der al-Qaida vernichtet wurden. DasTaliban-Regime hatte es ermglicht, dass die djihadistischenMilitrlager von Bin Ladens al-Qaida auf deren Gebiet aufge-baut werden konnten. Nach dem militrischen und politischenWandel in Afghanistan knnen wir davon sprechen, dass die al-Qaida-Bastionen zerschlagen wurden. Der Afghanistan-Krieggegen al-Qaida und die Taliban war ein gerechter Krieg, erkonnte jedoch nicht das Ende des Djihadismus mit sich brin-gen. Die Wurzeln des Djihad-Islam liegen im Nahen Osten,nicht in Afghanistan. Mit dieser Erkenntnis begann die Bush-Administration eine Verbindungslinie von Afghanistan bis zumNahen Osten zu ziehen. Die Erkenntnis war richtig, nicht jedoch die Entschlossenheit, den Irak-Krieg vom Mrz/April2003 zu fhren. Dadurch wurde in einem kurzen Zeitraum diegroe Sympathie fr die USA nach dem 11. September in einenweltweiten Antiamerikanismus umgewandelt. In der Welt desIslam hat dieses antiamerikanische Ressentiment einen dji-hadistischen Charakter entfaltet, und ich wiederhole es der neue Totalitarismus bzw. die ihn ausbenden, weltweit ver-netzten nichtstaatlichen Akteure haben durch den Irak-Kriegneue Impulse bekommen. Jener Krieg wurde im April 2003schnell gewonnen, aber seine Folgen belasten den gerechtenKrieg gegen den Terrorismus.

    Die Bedrohung, die aus dem neuen Totalitarismus, der das21. Jahrhundert entscheidend prgen wird, hervorgeht, wirdvon Menschen im Westen kaum wahrgenommen. Sie verste-hen die Entwicklung vom 11. September 2001 bis zum Irak-Krieg 2003 nicht. Einer der klgsten Artikel in deutscher Spra-che whrend der ansonsten emotionalisierten und hochneuro-tischen Berichterstattung der Irak-Krise war der Zeit-Leitarti-kel Die Stricke reien von Josef Joffe, in dem lapidar steht:Die Welt steht vor einem Trmmerhaufen, wie sie ihn seit demKollaps des Vlkerbundes nicht mehr erlebt hat (Die Zeit vom13. Mrz 2003). In dieser neuen Entwicklung der Weltpolitik

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    spielt die djihadistische Bedrohung eine zentrale Rolle. Hier-bei geht es um das, was Osama Bin Laden im arabischen Fern-sehsender al-Jazeera am 7. Oktober 2001 als Djihad gegenUnglubige bezeichnete und damit den Westen meinte. Derunselige Saddam Hussein, der eine Dekade zuvor, im Sep-tember 1990 seinen ersten Aufruf zum Djihad vorgenommenhatte, wiederholte diesen Aufruf im Februar 2003, wobei erausdrcklich die Amerikaner und Juden als Feinde desIslam anfhrte; er verlor, wie vor ihm Bin Laden. Doch auf diesem militrischen Sieg sollte der Westen sich nicht trium-phierend ausruhen. Ich wei, dass zwischen den Djihad-Aufru-fen Bin Ladens und Saddam Husseins ein groer Unterschiedbesteht, nmlich der, dass Bin Laden ein wahhabitischer Isla-mist, whrend Saddam ein skularer Panarabist ist. Die Ideolo-gien des wahhabitischen Islamismus und des arabischen Pan-arabismus sind grundverschieden. Der Panarabismus ist eineIdeologie der Entkolonialisierungsphase, der Islamismus eineuniversell-totalitre Weltanschauung mit dem Ziel einer neuendementsprechenden Weltordnung. Heute dominiert der Isla-mismus mit seinem Totalitarismus die Szene und subsumiertalles Bisherige unter seinen Formeln.

    Im Kontext unserer Thematik ist in deutscher Sprache eineFlut von Bchern ber den 11. September, den Terroris-mus, die wahren Ursachen des Krieges sowie ber dieneuen Kriege erschienen. Sie wurden meist von Autorenverffentlicht, die die Welt des Islam weder von innen nochvon auen kennen. Keinen Deut besser waren die so genann-ten Nahost- beziehungsweise Islam-Experten in den deut-schen Medien, die ohne jegliche Kompetenz die Vorgnge zuerklren suchten. Ich beanspruche, anders als diese Exper-ten zu sein, und das nicht nur, weil ich aus der islamischenZivilisation stamme und auch im Westen verankert bin. Sowohlan authentischen Quellen als auch anhand eigener Beobach-tungen in der Welt des Islam will ich erklren, was der Djihad-Islamismus ist und warum ich einen Schlsselbegriff der poli-tischen Debatte, nmlich Totalitarismus, heranziehe, um dieWeltpolitik im 21. Jahrhundert zu deuten. Bereits im Vorworthabe ich von den Tuschern, die sich Islam-Kenner nennen,

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    gesprochen, die uns unentwegt erzhlen, dass Djihad im Islamnur friedliche Anstrengung, ja nur Selbstzhmung (gegendas Selbst und die eigenen niederen Triebe) bedeutet. Dies istdie rein philologische und dazu unvollstndige Bedeutung vonDjihad im Korantext, die die Verbindung des Djihad mit einemanderen koranischen Begriff, nmlich Qital /Kampf wegzau-bert. Richtig ist: Auch der klassische Djihad schliet Gewalt-anwendung ein, wenn diese der Verbreitung des Islam dient.Daraus gingen die klassischen Djihad-Kriege hervor, die Mus-lime Futuhat/ ffnung nennen. Damit ist die ffnung derWelt fr den Islam durch Krieg gemeint. Das bergeordneteDjihad-Ziel ist die Islamisierung der Welt. Diese Djihad-Kriegedauerten vom 7. bis zum 17. Jahrhundert an. Mit dem Auf-stieg des Westens als einer technologisch berlegenen Zivili-sation endete die globale, bis dahin existierende Pax Islamicazugunsten der damals entstehenden westlichen Vorherrschaft.Europer, die heute zu Recht die US-Hegemonie kritisieren,drfen nicht verdrngen, dass ihre eigene europische Expan-sion als Rahmen fr die Vorherrschaft des Westens die Vorge-schichte der Pax Americana bildet. Die Entkolonialisierung inAsien und Afrika war anders als der neue Djihad der Isla-misten als eine Erhebung gegen europisch-koloniale Herr-schaft gerechtfertigt. Der Islamismus ist keine Befreiungsideo-logie, sondern ein neuer Totalitarismus.

    2. Die Neubelebung des Djihad in derZeitgeschichte und die Deutschen

    Die Geburt des politischen Islam geht auf das Jahr 1928 zurck.Ausgehend davon ist ein neuer Totalitarismus als eine poli-tische Bewegung in der islamischen Zivilisation hervorgetre-ten, welche die Djihad-Tradition neu belebte. Terrorismus undTotalitarismus sind ein Bestandteil dieser neuen Strmung.Von Eric Hobsbawm wissen wir, dass eine beschworene Inven-tion of Tradition nicht mit Tradition identisch ist. Die Erfin-dung des Djihad als totalitrer Djihadismus ist neu und imGegensatz zum klassischen Djihad eine neue Form des Ter-

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    rorismus als irregulrer Krieg. Der Vater dieser neuen Deu-tung ist Hasan al-Banna. Zugleich war er auch der Begrnderder Muslim-Bruderschaft, die sich gegen die Vorherrschaft desWestens richtete und Djihad als Farida/ religise Pflicht pre-digte. Die Bewegung al-Qaida von Bin Laden ist die islamisti-sche Organisation, die heute diese Pflicht der Islamisierungder Welt im Sinne al-Bannas als Ziel verfolgt und deshalb einedjihadistische Bedrohung fr die gesamte Welt darstellt. Der11. September war nun die Ankndigung eines neuen Zeit-alters, das von dieser Bedrohung gekennzeichnet sein wird.Es ist fr die westliche Welt legitim, sich gegen diese Bedro-hung zu verteidigen, allerdings war der Irak-Krieg ein strategi-scher Fehler, ja ein Missgriff im Krieg gegen den Terrorismus,obwohl die Befreiung von einer blutigen Diktatur richtig war.Die zahlreichen nach dem Krieg entdeckten MassengrberHunderttausender Opfer untermauern diese Einschtzung.Dennoch bewahre ich trotz dieser Tatsache meinen Vorbehalt,dass der Irak-Krieg nicht zum Krieg gegen den Djihad-Islamis-mus gehrte.

    Als Muslim, der fr Pluralismus und Weltfrieden (im Kantschen, nicht im othodox-islamischen Sinne) eintritt, habe ichlange vor dem 11. September vor der Gefahr gewarnt, in dieBin-Laden-Falle zu stolpern. Damit ist gemeint, mit Vergel-tung unbesonnen auf Provokationen der al-Qaida zu reagierenund somit ganz im Sinne von Bin Laden den Zivilisations-konflikt eskalieren zu lassen. Der westlich-islamische Zivilisa-tionskonflikt ist eine weltpolitische Realitt und keine Erfin-dung des Harvard-Professors Samuel P. Huntington. Die Bin-Laden-Falle ist die Djihad-Falle der Konfrontation. Als Alter-native sehe ich den interzivilisatorischen Dialog zwischen demWesten und der Welt des Islam. Dialog bedeutet jedoch nicht,dass der Westen sich und seine Werte gegen den Djihadismusnicht verteidigen darf. In meinem Zeit-Artikel Selig sind die Belogenen im Mai 2002 habe ich fr ein westlich-islamischesBndnis gegen den Djihad-Terrorismus pldiert. Dies war imAfghanistan-Krieg gegen Taliban und al-Qaida mglich, alssich drei islamische Lnder nmlich die Trkei, Usbekistanund Pakistan am Krieg gegen die Djihadisten beteiligten.

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    Dagegen hat der von den Islamisten angestrebte Dialog dieVerhinderung der Aufklrung ber Djihadismus und Totalita-rismus zum Ziel. Doch Sicherheitsfragen gehren zu jedemoffenen Dialog.

    Die Neubelebung des Djihad dient der Legitimierung desirregulren Krieges gegen den Westen. Es war zunchst keinFehler, als US-Prsident Bush im Rahmen des War on Terro-rism auf die Wurzeln des Djihadismus im arabischen NahenOsten verwies und nach einer Lsung suchte. Ein groerFehler hingegen war jedoch, den Krieg gegen den Terrorismusauf den Irak und auf Saddam zu fixieren und die Irak-Krise biszum point of no return zu einem Krieg eskalieren zu lassen.Ich bin heute froh, dass es kein Saddam-Regime mehr gibt,bersehe jedoch die zivilisatorische Wunde nicht, die der FallBagdads im April 2003 bei Muslimen hinterlie. Whrend undnach dem Irak-Krieg wurde die weltanschauliche Kluft zwi-schen dem Westen und der Welt des Islam, entsprechend denZielen der Djihadisten, eher gefrdert als eingedmmt. Dieslsst sich etwa daran erkennen, dass nicht nur Islamisten, son-dern auch gemigte Muslime, wie Scheich Sayyid al-Tantawi,der als Rektor der al-Azhar-Universitt in Kairo wirkt, zumDjihad gegen den Westen aufriefen und Westler als Salibiyyun/ Kreuzzgler verfemten.

    Vor dem Ausbruch des Krieges fanden im Schatten derIrak-Krise zwei groe internationale politische Treffen statt,bei denen die Kluft zwischen der islamischen und der west-lichen Welt deutlich artikuliert wurde. Eines davon war inKuala Lumpur das Gipfeltreffen der 114 blockfreien Staa-ten (non-aligned states) wie sie sich selbst trotz des Endesder Bipolaritt weiterhin nennen. Der gastgebende malay-ische Ministerprsident Mahathir Bin Mohammad erffnetedas Treffen mit einer hetzerisch-propagandistischen Rede, inder er den Krieg gegen den Irak und auch gegen den Terro-rismus als Krieg gegen die Muslime und den Islam desavou-ierte. Daraufhin folgte der Gipfel der 56 Mitglieder der Orga-nisation der Islamischen Konferenz (OIC) in Doha/Katar, auf dem hnliche Tne zu hren waren. Schlielich brach im Mrz2003 der Irak-Krieg aus, der das islamisch-westliche Bndnis

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    gegen die djihadistische Bedrohung vorlufig beendete undden Djihad-Geist bei den Muslimen ungewollt beflgelte.

    In der belasteten weltpolitischen Atmosphre des Frhjahrs2003 blhte die djihadistische Propaganda der Islamisten auf.Im Mai 2003 schlug al-Qaida in mehreren Orten der Welt zu.Das britische Magazin Time kommentierte dies am 26. Mai2003 zutreffend: Global Jihad isnt back: It never went away.Jene Mai-Anschlge haben die Illusion begraben, dass dieTerroristen, so wie Prsident Bush zusicherte, auf der Fluchtseien. Vor dem Irak-Krieg und vor diesen Anschlgen erschiendie Besorgnis erregende Fatwa des Scheichs al-Tantawi von al-Azhar, der hchsten Institution des sunnitischen Islam. Lautder arabischen Zeitung al-Hayat vom 14. Mrz 2003 rief erzum Djihad gegen die kreuzzglerischen Eroberer mit fol-gender Begrndung auf: Die Eroberung eines Landes durchdie Kreuzzgler macht Djihad zur Pflicht fr jeden Muslim.Nun ist al-Tantawi weder Islamist noch Djihadist. Er ist einorthodoxer Muslim, der sogar von einigen Institutionen inDeutschland als liberal eingeschtzt wird und zum Dialog indieses Land eingeladen wurde. Ist er nun in jener angespann-ten Situation von 2003 zum Djihadisten geworden? Oder istdiese Entwicklung nur die Folge der falschen US-Politik in derzeitgeschichtlichen Linie vom 11. September zum Irak-Krieg?

    Es gilt zu bedenken, dass dies die erste Djihad-Erklrungwar, die vom Scheich von al-Azhar und nicht von der funda-mentalistischen Muslim-Bruderschaft ausging. Erst zwei Tagedanach, im Mrz 2003, folgte der Imam der Muslim-BrderMamun al-Hudeibi, indem er den Aufruf zum Gebet vonHaya ala al-Salat/ Auf zum Gebet in die Formel Haya ala al- Djihad/ Auf zum Djihad verwandelte. Sowohl bei dem ortho-doxen Azhar-Scheich al-Tantawi als auch bei dem Islamistenal-Hudeibi ist die Kombination von christlichem Westen undSalibiyya /Kreuzzglertum zu hren. Diese Nachrichten lasich damals in arabischen Zeitungen und vermisste sie in allenwestlichen, besonders in deutschen Medien. Warum wurdewhrend der Irak-Krise (etwa in Deutschland) ber diese Auf-rufe zum Djihad nicht informiert, stattdessen aber ber denFundamentalisten Bush (so ein EKD-Funktionr) und die

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    zwischen Deutschland und meinem Heimatland Syrien alszwischen Deutschland und anderen westlichen Demokratien.Bedeutet die politische DDR-Light-Kultur im vereintenDeutschland, dass die Verwestlichung dieses Landes nach 1945durch diesen Rckfall nicht ganz erfolgreich gewesen war?Nun ist der islamistische Totalitarismus und nicht Deutsch-land Thema dieses Buches. Ich erlaube mir dennoch, michzu der deutschen Wahrnehmung des Djihad-Terrorismus zuuern, auch weil ich behindert wurde, mich frei zu diesemThema zu artikulieren und groe Probleme hatte, dieses Buchzu verffentlichen. Als glubig in einer vom Geist des Isla-mismus durchdrungenen Welt des Islam wird heutzutage nurnoch derjenige eingestuft, der den Islam schriftglubig inter-pretiert und an der konstruierten Einheit von Staat und Reli-gion sowie an der Scharia festhlt, ohne sie zu hinterfragen.Unglubig soll dagegen jeder Muslim sein, der seine Religionentpolitisiert und sie als Ethik versteht sowie bei dem Erlan-gen von Wissen vom Primat der Vernunft nicht der Offen-barung ausgeht. Diese Gut/Bse-Dichotomie im Islam ver-leugnet alle groen islamischen Geister besserer Zeiten vonal-Farabi bis Ibn Ruschd und Ibn Khaldun, also alle islami-schen Rationalisten. Heutzutage existiert in Deutschland einhnliches Schema von glubig und unglubig, wobei der- jenige glubig ist, der den Frieden geiler als den Kriegfindet und fr den Frieden hetzt, so die ironischen WorteWolf Biermanns, der Denkverbote aus seiner DDR-Zeit nur zugut kennt. Ich selbst habe Denkverbote in Syrien erlebt undbedaure, im befreiten Deutschland eine ebensolche politi-sche Kultur erleben und erleiden zu mssen. Wer nicht andie Formel Blut fr l glaubt, gehrt zu den Bushisten.Dabei wurde im US-Prsidenten eine schlimmere Figur alsSaddam Hussein oder Qadhafi gesehen. In Bezug auf dasThema dieses Buches war die Sorge der organisierten deut-schen ffentlichkeit das Feindbild Islam und nicht etwa dieBedrohung der Freiheit und der offenen Gesellschaft. Der neueTotalitarismus bedroht diese Freiheit. Eine Aufklrung berdie totalitre Bedeutung des neoislamischen Djihad-Begriffsfindet jedoch unter diesen Bedingungen nicht statt.

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    3. Ist der neue Totalitarismus die Antwort auf die Fehlerdes Westens?

    Weder die US-Auenpolitik noch die Existenz Israels sinddie Ursache der Entstehung des islamistischen Totalitarismus.Diese Erkenntnis akzeptieren diejenigen nicht, die die Faktennicht wahrhaben wollen. Bei meinen Vortrgen als Aktivittzur Aufklrung ber die neue Gefahr fr Freiheit und Demo-kratie wurde mir immer vorgehalten, ich wrde die Fragebergehen, wie viel Schuld und welche Fehler der Westengemacht habe. Anhand einer Originalquelle werde ich den- jenigen, die bereit sind, die Realitt wahrzunehmen, dietatschlichen Hintergrnde verdeutlichen. In der arabischenZeitung al-Hayat vom 14. Mrz 2003 schreibt der tunesischeIslamist Abu-Yaschrab al Marzuqi im Geiste der Begrnderdes politischen Djihad-Islam, es gehe beim Irak-Konflikt umeinen Kampf zwischen den Optionen einer amerikanisch-israe-lischen oder einer islamischen Weltordnung. Der zitierte Isla-mist ist sich gewiss, dass bei diesem Konflikt der Islam alsSieger hervorgehen wird. Er taucht in die Geschichte ein, umdie Politisierung des Islam zu einem Islamismus in eine histo-rische Linie einzuordnen:

    Das islamische Erwachen wird [durch den US-Krieg gegenden Irak, B. T] die Chance bekommen, die Menschheit von der jdisch-christlichen Flschung (Tahrif) zu befreien ... Dies wirdso wieder geschehen, wie der Islam frher bei seiner erstenhistorischen Kampfrunde der Vergangenheit es geschafft hat,das stliche Reich der iranischen Sassaniden und das west-liche Reich von Byzanz zu besiegen und ihr Leben zu been-den. In der zweiten Runde unserer Gegenwart ist es durchden Afghanistan-Krieg bereits gelungen, das stliche Reich derSowjetunion zu Fall zu bringen. Der Krieg im Irak wird nachAllahs Wille (InschaAllah) zum Sieg gegen Amerika fhren.Hierbei werden die Muslime nicht nur das arabische Territo-rium, sondern den gesamten Globus (al-mamura Kullaha) vonder Vorherrschaft der jdisch-christlichen Flschung (al-Tahrif al-torati al-masihi) befreien.

    In diesen Worten kommt die Weltanschauung der Islami-

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    sten deutlich zum Ausdruck. Der zitierte Islamist greift auf das islamistische Gegenprojekt zu der Globalisierung als dji-hadistische Bedrohung des Westens zurck, beschreibt es alsKampfrunde, die in der Tradition der ersten Kampfrundeder Islamisierung der Welt zwischen dem 7. und 17. Jahrhun-dert steht und spricht von der islamischen Mission fr denSieg ber den Westen, um die Menschheit zu erlsen. Aberdie anvisierte totalitre Weltordnung einer islamischen Gottes-herrschaft ist wohl keine Befreiung. Nun haben die USA imIrak-Krieg gegen einen islamischen Despoten gesiegt. Saddamhatte mit dem djihadistischen Islamismus in den Jahrenseiner Herrschaft nichts zu tun gehabt, dennoch knnenwir zwischen den als irregulrem Krieg zu kennzeichnendenTerroranschlgen djihadistischer Islamisten und der Irak-Krisevon 2002/03 eine zeitgeschichtliche Kontinuitt der politischenEntwicklung feststellen. Diese betrifft weltpolitisch gesehensowohl den gesamten Westen als auch die Welt des Islam sowiedie Beziehung beider zueinander. In meinen Schriften wirddie islamische Welt als eine einheitliche Zivilisation begriffen,die in einer Konfliktsituation eingebettet ist. Der Islam als eineZivilisation hat, ebenso wie der Westen, universelle Ansprche.Das Problem ist: Beide Universalismen geraten miteinanderin Konflikt. Die djihadistische Bedrohung des Islamismus istdie jngste Spielart dieses Konflikts. In Europa und in denUSA lassen sich unterschiedliche Wahrnehmungen der Bedro-hung feststellen. Fr manche liegt der 11. September schonlange zurck oder er wird bereits als Geschichte eingestuft,die Europa nichts mehr angeht. Die Verbindung zum Irak-Krieg wird bestritten oder gar nicht erkannt. In der deutschenDebatte ber diese Zusammenhnge dominiert die Kultur derBetroffenheit und der Anklage-Erhebung gegen die USA, beider wiederholt die Frage nach der Schuld des Westens gestelltwird. Zu dieser Schuld gehre, die Grndung des Judenstaatesgefrdert zu haben.

    In der Welt des Islam haben westlich gebildete Eliten sowieliberale Muslime ihr Entsetzen ber den Terrorismus des 11.September zum Ausdruck gebracht. Auf der Strae freutensich jedoch viele Muslime ber die erfolgreiche Demtigung

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    Amerikas. Nur wenige Wochen spter wurde es Mode, T-Shirtsmit Aufschriften wie Es lebe Bin Laden und Nieder mitAmerika zu tragen. Die beiden Trme des World Trade Cen-ters galten fr viele Muslime also nicht nur fr Islamisten als die Kirchtrme des die Welt beherrschenden und nuruerlich skularen Westens. Sie konnten von jenen Musli-men, die als Soldaten des Neo-Djihad agierten, in Schuttund Asche gelegt werden. Am 11. September wurde somitauch ein symbolischer Akt vollzogen, der sich als Neo-Djihadgegen die hinter der Maske der Ilmaniyya /Skularitt ver-steckten Kreuzzgler und Juden richtete. Als am 9. April2003 Bagdad durch US-Soldaten fiel, erfolgte eine Umkehrungder Demtigung. Was das World Trade Center fr die USA dar-stellte, war und ist Bagdad fr die Muslime. Auf diese sym-bolische Art und Weise finden wir sowohl von der US-ameri-kanischen als auch von der islamistischen Seite wenn auchin unterschiedlicher Darstellung eine Verbindung zwischendem 11. September und dem Irak-Krieg, die als eine spezi-fisch-zivilisatorische Wahrnehmung anhlt und die Perzeptionder weiteren Entwicklungen bestimmt. Mit der Schuldfragelsst sich diese Entwicklung nicht angemessen deuten.

    Weltpolitik im 21. Jahrhundert ist eine Politik, die von denZivilisationen und ihren Anschauungen bestimmt wird; zivili-satorische Grenzen werden wichtiger als die vlkerrechtlichenStaatsgrenzen. Wer politisch und militrisch geographischeGrenzen berschreitet so wie beim Irak-Krieg , begibtsich in eine kulturell andere Welt. Die US-Soldaten im Irakwurden nie auf diese Aufgabe vorbereitet. Das ist ein Fehlerdes Westens. Mir scheint, dass die Bush-Administration denpolitischen Islam ebenso wenig versteht, wie die Tatsache,dass dieser lter als die Entwicklung vom 11. September biszum Krieg im Irak ist und nicht durch Bin Laden personifi-ziert werden kann. Auf diese Weise wird nicht begriffen, dassder Geist der djihadistischen Bedrohung und des politischenIslam mehr als einen militrtechnisch verstandenen Terroris-mus beinhaltet. Fr die Bush-Administration gehrt der Irak-Krieg zu dem in Verbindung mit dem 11. September stehen-den War on Terrorism. Fr die Muslime stellt dieser Krieg

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    einen Kreuzzug gegen den Islam dar. Mit zeitlicher Distanzknnen wir heute besser verstehen, dass hier zwei unterschied-liche zivilisatorische Wahrnehmungen einer noch nicht abge-schlossenen Geschichte vorhanden sind. Die djihadistischeBedrohung bestimmt unsere Gegenwart, bei der eine Symbolikdes Konflikts zum Ausdruck kommt, die das gesamte 21. Jahr-hundert prgen wird. Gleich wie der Westen sich verhlt, erwird nie von orthodox-salafistischen Muslimen oder Islamistenakzeptiert. Diese wollen, dass sich der Westen als Gegenmachtzum Islam auflst. Dagegen kann nur ein liberaler Reform-Islam fr einen westlich-islamischen Pluralismus gewonnenwerden.

    Gehrt es zu den Fehlern des Westens, dass er ein Gegenge-wicht zu den Djihadisten und den weltanschaulich wahhabitischorientierten, also orthodoxen arabischen Muslimen im NahenOsten und Europa aufbauen will? Den westlichen Geheimdien-sten liegen seit dem 11. September 2001 Erkenntnisse ber diegeopolitische Verbindung New York/Washington-Afghanistan-Nahost vor. Im Oktober 2001 folgte der Krieg in Afghanistan.Dieser war kein Fehler, wohl aber war es einer, diese Linie auf Saddam Hussein zu erweitern. Zur Begrndung dieser stra-tegischen Sicht der USA bentigten die Washingtoner Strate-gen keine gerichtstauglichen Beweise ber eine Zusammenar-beit der al-Qaida mit dem despotischen Terror-Regime einesSaddam Hussein. Der Nahe Osten, nicht allein Afghanistanist der Ursprung der djihadistischen Bedrohung. Somit trittdiese weltpolitische Konfliktregion auch in der postbipolarenZeit nach dem Ende des Kalten Krieges wieder in den Vorder-grund; von dort aus erweitern sich regionale Konfliktpotenti-ale zu weltpolitischem Zndstoff. Hierdurch wird klar: Es gehtum einen Konflikt mit einer ordnungspolitischen Dimension.Trotz aller Fehler ist die Demokratisierung als Alternative zurVision einer globalen Djihad-Ordnung, die ein Ausdruck desneuen Totalitarismus darstellt, die beste Lsung. Ist sie mach-bar und unter welchen Bedingungen?

    US-Strategen sehen in der bestehenden Regionalordnungdes Nahen Ostens zu Recht ein Relikt des Ost-West-Konfliktsund ordnen den 11. September in diesen Rahmen ein. Daher

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    war die Irak-Politik der USA vor dem Krieg im Mrz 2003 nichtnur gegen Saddam Hussein gerichtet, vielmehr zielte sie bereine Entsaddamisierung des Irak hinaus auf eine neue Ord-nung im Nahen Osten. Auch die Islamisten wollen die Regionneu ordnen. Dies erkennen die neokonservativen Washingto-ner nicht ebenso wenig wie die Bedeutung kultureller Fakto-ren. Weder Bush noch seine Berater scheinen den politischenIslam und seine djihadistische Bedrohung zu verstehen. ImIrak ist die Vision des ermordeten Ayatollah al-Hakim, einenislamischen Staat aufzubauen, viel populrer als die von derBush-Administration in ihrem missionarischen Bewusstseinverfolgte Demokratisierung. Der Islamismus wird gestrkt,statt ihn zu schwchen. Die mit dem Fall Bagdads durchUS-Soldaten verbundene kollektive Demtigung wird langfri-stig groen Schaden in den islamisch-westlichen Beziehungenanrichten.

    Der Fehler besteht nicht darin, den Nahen Osten demokra-tisieren zu wollen, sondern in der Illusion der US-amerikani-schen Strategie, den Nahen Osten von auen neu zu ordnen,ohne die existierenden soziokulturellen und politischen Rah-menbedingungen angemessen zu beachten. Auch eine Super-macht darf die inneren Strukturen sowie die zivilisatorischbedingten Weltanschauungen in zwei auerhalb der USA lie-genden Weltregionen, dem Nahen Osten und Westeuropa, nichtbersehen. Es war naiv zu glauben, dass die Demokratisierungauf den Sturz des blutbefleckten Despoten automatisch folgenwrde. Eine Neuordnung des Nahen Ostens im Sinne einerDemokratisierung der Region wrde zwar bessere Partner frden Westen zur Folge haben, sie erfordert jedoch zivilisations-interne Reform-Bestrebungen, die nicht durch eine externemilitrische Intervention erreicht werden knnen. DieselbeBush-Administration in Washington, die die Europer whrenddes EU-Gipfels im Dezember 2002 vor einem Clash of Civiliza-tions warnte (so geschehen im Brief von Colin Powell an denVorsitzenden der dnischen EU-Prsidentschaft Rasmussen),um die EU zu zwingen, die Trkei aus strategischen Grndenals Vollmitglied aufzunehmen, hat im Irak-Krieg wenn wohlauch unbeabsichtigt zu einem solchen Kampf der Kulturen

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    beigetragen. Sie hat die soziokulturelle Dimension missachtetund die in der Welt des Islam dominierende Weltanschauungdes politischen Islam in Bezug auf den Irak nicht ins Kalklgezogen. Fr mich war es keine berraschung, dass die seitdem 3. November 2002 in der Trkei regierende Islamistenpar-tei AKP den USA das militrische Bndnis verweigerte, dieBush-Regierung hingegen war schier erstaunt. Daraufhin liedie US-Regierung die Trkei wie eine heie Kartoffel fallen;die Trkei gehrt seit dem Irak-Krieg nicht mehr zu denstrategischen Sulen der US-Politik im Nahen Osten, Balkanund Mittelasien. Dies wird sich auch nicht dadurch ndern,dass die USA fr die Stabilisierung des befreiten Irak gernetrkische Hilfe und die Entsendung trkischer Truppen anneh-men werden. Diese Debatte ist aber negativ beendet worden.

    4. Der neue djihadistische Totalitarismus gegen die USA und die westliche Zivilisation

    Die zivilisatorischen Weltanschauungen in weltpolitischen Kon-flikten sind in unserem postbipolaren Zeitalter von grundle-gender Bedeutung. Entsprechend basiert die djihadistischeBedrohung auf einer zivilisatorisch bedingten Weltanschau-ung, was ihre Strke ausmacht. Im Dickicht bestehender Wahr-nehmungen versuche ich, die Geschehnisse zwischen dem 11.September und dem Irak-Krieg einzuordnen. Beide weltpoliti-schen Ereignisse sowie die zeitgeschichtliche Linie zwischenihnen werden in den USA, Westeuropa und in der Welt desIslam weltanschaulich unterschiedlich wahrgenommen. UmMissverstndnissen aus dem Weg zu gehen, muss ich vorallem fr flchtige Leser deutlich machen, dass die Deutungder djihadistischen Bedrohung des Islamismus als neuer Tota-litarismus weder mit der Religion des Islam als Glaube nochals kulturelles System zu tun hat. Es geht nur um den politi-schen Islam, sprich den Islamismus. Dieser richtet sich gegendie gesamte, aus Nordamerika und Westeuropa bestehende,westliche Zivilisation.

    Nun lenke ich mein Augenmerk auf die USA: Ich kenne dasLand durch eine achtzehn Jahre lange Erfahrung (1982-2000),

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    in denen ich wenn auch mit Unterbrechungen an verschie-denen US-Universitten gearbeitet habe. Ich bin nie einem sostarken Patriotismus begegnet wie bei meinen dortigen Auf-enthalten von Ende September bis November 2001 sowie imFrhjahr 2003 in Boston und New York, wo ich an der erstenFassung dieser Einfhrung arbeitete. In Deutschland war dieGefhlslage anders. Bei meinen Vortrgen im ganzen Bundes-gebiet 2001/02 konnte ich feststellen, wie sehr meine Deutungdes 11. Septembers einigen Deutschen missfiel. Gegen meineausgewogene und gleichermaen von Antiamerikanismus undvom Feindbild Islam freie Position wurde ins Feld gefhrt:Schuld am Terrorismus seien die USA selbst und die vonihrer Hegemonialmacht ausgehende Globalisierung. Auerdemhtte es ohne Israel weder Saddam noch Bin Laden gegeben.Andere sprachen verngstigt vom Vormarsch des Islam. Zwi-schen diesen beiden Extremen ist kein Mittelma mglich. Inzwei relativ aufgeklrten islamischen Lndern, der Trkei undIndonesien, konnte ich im September/Oktober 2002 die islami-sche Wahrnehmung des War on Terrorism als einen Krieggegen die Muslime beobachten. Nicht nur diese Erfahrungenveranlassen mich, der Dimension der Weltanschauung in welt-politischen Konflikten ein greres Gewicht zu verleihen, wes-wegen ich diese Problematik im ersten Kapitel untersuche.Doch will ich in diesem Buch primr von Fakten ausgehen.

    Richtig ist: Die Djihad-Terroristen erheben sich nicht primrgegen eine westliche Unterdrckung. Sie sind zudem nichtdie Vertreter des Islam. Im Wesentlichen wollen sie eineOrdnung der Hakimiyyat Allah/ Gottesherrschaft durchset-zen, die ich als neuen Totalitarismus einordne. Bei meinerBemhung, die djihadistische Bedrohung, die von diesen Ter-roristen ausgeht, zu beleuchten, gerate ich unfreiwillig zwi-schen die Fronten. Nun bin ich sehr eindeutig weder proameri-kanisch orientiert noch ein Anhnger von Prsident George W.Bush. Umgekehrt bin ich im Gegensatz zu einigen Deutschenin der Friedensbewegung weder antiwestlich noch antiame-rikanisch eingestellt. Der Einsatz fr den interzivilisatorischendemokratischen Frieden ist mir wichtig, aber ein Friedens-hetzer (Wolf Biermann) mchte ich nicht sein. Auerdem

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    liegt es mir als Muslim fern, den Islam zu verteufeln, denn ergehrt zu meiner kulturellen Identitt. Es gehrt jedoch nichtzu meinem islamisch-religisen Glauben, den neuen Totalita-rismus gutzuheien. Ein aufgeklrter aus Indien stammenderamerikanischer Muslim, Fareed Zakaria, fragte in einem Leit-artikel in Newsweek (10. Februar 2003, S. 13), warum Europerdiese Probleme nicht verstehen und ob der Nahe Osten undEuropa in Hinblick auf das Verschwrungsdenken einanderhnlich werden, weil in beiden Regionen sowohl der 11. Sep-tember als auch der Irak-Konflikt als Ergebnis dunkler welt-politischer Verschwrungen der Amerikaner und der Judenwahrgenommen werden.

    Zunchst war es erfreulich, dass auch die kirchlichenVertreter nach dem 11. September entsetzt waren undmanche Funktionre unter ihnen dazu aufriefen, den Mut zumehr Selbstbewusstsein und Selbstwertgefhl im dialogischenUmgang mit anderen Kulturen, vor allem mit dem Islam, zuentwickeln. Zuvor herrschte in diesen Kreisen die EinstellungAsche auf mein Haupt, man bte sich also im Dialog inden bekannten Selbstbezichtigungen. Die Folge davon war dieEinstellung, sich in kulturprotestantischer Manier selbst dieSchuld zuzuschieben. Whrend des Irak-Kriegs folgte schnelleine Wende um 180 Grad. Der Ruf war zu hren, man solledarauf achten, dass kein Feindbild Islam entstehe. Einfragwrdiges Buch mit diesem Titel wurde in Deutschlandneu aufgelegt. Dagegen schien manchen das Feindbild Ame-rika willkommen zu sein. Warnungen vor dem Djihad-Terro-rismus als eine Bedrohung fr den Westen waren hingegennicht erwnscht; man hat sie zumindest nicht gehrt.

    Zu den wenigen aufgeklrten Stimmen, die sich gegen diesebeschmende Kulturpropaganda der Evangelischen KircheDeutschlands erhoben, gehrte der Heidelberger TheologeGerhard Besier, der in der Zeitung Die Welt die EKD whrenddes Irak-Krieges mit gut ausgewhlten heftigen Worten mora-lisch anklagte.

    Feindbild Islam hin, Feindbild Westen her, die Entwick-lung zwischen dem 11. September und dem Irak-Krieg war real.Weder der 11. September noch die darauf folgenden beiden

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    Kriege in Afghanistan und Irak waren US-Verschwrungen.Eine Atmosphre der westlichen Selbstanschuldigung und isla-mischer Schuldzuweisungen, welche die Diskussion ber dasFeindbild Islam in Westeuropa heraufbeschwrt, ist nichthilfreich. Dadurch, dass die Behauptung, der Westen kon-struiere im Islam einen neuen Feind als Ersatz fr den Welt-kommunismus, vertreten und unentwegt wiederholt wird, wirdsie nicht richtiger. Ich wiederhole meinen Verweis auf das neuaufgelegte deutsche Buch mit dem Titel Feindbild Islam, indem unterstellt wird, es sei absurd zu glauben, dass derTerrorismus ideologische oder gar religise Quellen habe;auerdem stehe dieser mit dem Djihad berhaupt nicht inVerbindung. Es ist gut, dass es andere deutsche Bcher gibtwie Djihad und Judenhass von Matthias Kntzel, worin derZusammenhang zwischen Terrorismus und Antisemitismusaufgezeigt wird. Die islamischen Djihadisten sind gegen alleJuden und den gesamten Westen als Zivilisation. Mit ihrerdjihadistischen Bedrohung wollen sie eine Gottesherrschaftbegrnden. Das ist ihr Totalitarismus, der die Demokratie derEuroper als auch der Amerikaner gleichermaen ablsen soll.Ich klre hierber auf und warne zugleich davor, diesen neuenTotalitarismus der Religion des Islam anzulasten.

    Die Frontstellung der Islamisten gegen den Westen und diereligise Legitimation ihrer Gewaltanwendung sind Positio-nen, die auf den Praktiker Hasan al-Banna und seinen Mitstrei-ter Sayyid Qutb, der als der geistige Vater des politischen Islamgilt, zurckgehen. Ihr Ziel ist die Pax Americana, die westli-che Weltordnung, durch eine Pax Islamica abzulsen. Ebensogilt ihre Kampfansage Europa. Das ist auch der Inhalt unddas politische Ziel der djihadistischen Bedrohung gegenberdem Westen, denn die zeitgenssischen islamistischen Bewe-gungen haben den Djihadismus als weltanschauliche Grund-lage bernommen. Dazu gehrt nach Qutb auch, wie der Titeleines seiner Pamphlete besagt, der Kampf gegen die Juden.Hannah Arendt rechnet den Antisemitismus zu den Elemen-ten des Totalitarismus.

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    5. Der neue Totalitarismus predigt Djihad-Gewalt zurErrichtung einer totalitren Gottesherrschaft

    Beide Dimensionen des Islamismus, der Djihadismus und dietotalitre Gottesherrschaft, verbinden die Idee des irregulrenKrieges in Form des Terrorismus mit dem Kampf fr eineneue Weltordnung in einem Krieg der Zivilisationen. Ich warne jedoch vor der Illusion, dass zur Abwehr des neuen Totalita-rismus oder gar zur Einfhrung der Demokratie als Alterna-tive allein militrische Mittel ausreichen wrden. Demokratisie-rung und die geistige Auseinandersetzung mit dem Djihadis-mus mssen ein integraler Bestandteil des War on Terrorismsein, so dass die Abwehr des neuen Totalitarismus eine neue,weit ber das Militrische hinausgehende Sicherheitspolitikerfordert, also nicht alleine mit Panzern und Flugzeugtrgernerfllt werden kann. Meine Vorbehalte gegenber dem Irak-Krieg beruhen in diesem Sinne nicht auf einer pazifistisch-gesinnungsethischen, sondern auf einer sicherheitspolitisch-strategischen Argumentation im Sinne einer New Security.Als ein Beispiel mchte ich in meiner Eigenschaft als Vertre-ter und Mitstreiter des jdisch-christlich-islamischen Dialogsanfhren, dass Sicherheitsfragen im obigen Sinne zu diesemDialog gehren sollten. Dies habe ich in meiner Rede zumGedenken an die Opfer der Anschlge in den USA am 11.September 2002 in Jakarta offen gesagt. In einem Kommentarin der Financial Times Deutschland vom 27. Dezember 2002nannte ich den Djihadismus eine islamische Krankheit, welchedie Umma /Gemeinschaft aller Muslime befallen hat. Sie kannnur durch die Muslime selbst, etwa durch parallel zur Demo-kratisierung stattfindende kulturell-religise Reformen geheiltwerden. Ich bezweifle stark, ob diese Aufgabe von auen undgar durch die militrische US-Intervention im Irak erflltwerden kann. Doch wei ich, dass die djihadistische Bedro-hung als Terrorismus die Sicherheit des Westens gefhrdet unddieser das Recht hat, sich auch mit Gewalt zu wehren. BeideEbenen mssen jedoch auseinander gehalten und im jeweili-gen Kontext bewertet werden.

    Der Westen bentigt in seiner Abwehr des neuen Totalitaris-

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    mus islamische Verbndete. In diesem Zusammenhang mussdie US-Auenpolitik sich darauf vorbereiten, die Gewaltpoli-tik gegen die Palstinenser zu beenden, weil diese allerdingsnicht urschlich den Hass gegen den Westen frdert. Es exi-stiert eine Nahost-Connection, die von Afghanistan ber denIrak bis Palstina reicht. Kein Analytiker kann es sich leistenzu bersehen, dass dem palstinensisch-israelischen Konflikteine groe Bedeutung innewohnt. Der Westen darf es den Dji-hadisten nicht erlauben, etwa die palstinensische Intifadafr sich zu gewinnen. Allerdings betone ich: Weder die USAnoch Israel sind die Verursacher des neuen Totalitarismus.Zudem ist der Djihad-Islamismus der Intifada kein Befreiungs-krieg; er will eine Gottesherrschaft in einem filastin Islamiyya / islamischen Palstina errichten. Es ist zu bedauern, wennder terroristische bzw. fundamentalistische Charakter dieserIntifada bestritten wird. Doch werden die Palstinenser durchdie israelische Militrbesatzung unterdrckt, so dass viele ausTrotz zu Djihadisten werden. Die USA knnen hier abhelfen.Dies hat mit Islamismus und seiner Ordnungsvorstellung vonder islamischen Gottesherrschaft jedoch nichts zu tun.

    In dieser Einfhrung verwies ich bereits in einem anderenZusammenhang auf die Tagung der blockfreien Staaten inKuala Lumpur. Ebenfalls unter malayischer Beteiligung fandeine Konferenz der Auenminister der Staaten der Organi-sation der Islamischen Konferenz (OIC) in Doha/Katar statt,mit dem Ziel, den Islam vor einer pauschalen Verbindungmit dem Terrorismus zu schtzen. In der Rede von Mahathirzuvor wurde diese Verbindung bestritten. In Doha waren dieanwesenden islamischen Auenminister jedoch nicht bereit,den Djihadismus von Hamas im Rahmen der Intifada gegen jdische Zivilisten in die Kategorie des Terrorismus einzu-ordnen. Statt zum besseren Ruf des Islam beizutragen, ende-ten beide Konferenzen mit einem Schaden fr die interna-tionale Reputation des Islam. Selbst Mahathir, der in seinerErffnungsrede auf der Konferenz von Kuala Lumpur eine dif-ferenzierte Position eingenommen hatte, ging spter zur Pro-paganda ber und weigerte sich anzuerkennen, dass der Krieggegen den Djihad-Terrorismus nicht gegen den Islam gerichtet

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    ist. Eine islamisch-westliche Front zur Abwehr des neuen Tota-litarismus kann ohne diese Erkenntnis jedoch nicht entstehen.

    Auf den angefhrten Konferenzen, bei denen die anwe-senden muslimischen Politiker brigens keine Demokratenwaren, lie sich weder in Kuala Lumpur noch in Doha/Katareine kooperative Einstellung beobachten. Diese haben sich inAnklagen gegen den Westen erschpft, um von eigenen Pro-blemen, wie etwa von fehlender Demokratie und Entwicklungabzulenken. Die hieraus zu ziehende Lehre lautet, dass nurislamische Demokraten im Kampf gegen den neuen Totali-tarismus und seine Djihad-Gewalt zuverlssige Partner sind.Immerhin lautet die Alternative: skulare Demokratie odertotalitre Gottesherrschaft. Ein demokratischer Friede zwi-schen den Zivilisationen erfordert Pluralismus und keine Got-tesherrschaft.

    6. Feindbild Islam bei Abwehr des Djihad-Terrorismus?

    Es ist bedauerlich, dass immer, wenn der Westen sich gegenden Djihadismus zur Wehr setzt und eine Sicherheitspolitikgegenber dem Islamismus betreibt, er der Keule des Feind-bild Islam ausgesetzt wird. So bestritt der saudische Innenmi-nister (Interview al-Hayat vom 28. November 2002, S. 7), dassdie Tter des 11. September Muslime waren und klagte stattdes-sen die Juden an. Er und der Auenminister der lmonarchieunterstellten dem Westen und den Juden ein Feindbild Islam.Auch der trkische Islamist und Auenminister AbdullahGl, der seit dem Sieg seiner islamistischen AKP im Westenflschlicherweise als demokratisch-konservativ eingeschtztwird und bis zur Ablsung durch seinen Lehrmeister TayyipRecep Erdogan im Mrz 2003 Ministerprsident war, warntevor einem Feindbild Islam. Er bestritt in seinem ersten inter-nationalen Interview mit dem Spiegel (46/2002, S.214), dassder 11. September ein Akt des islamistischen Djihadismuswar. In jenem Interview sagte Gl: Wir sollten uns hten,die Anschlge vom 11. September als religise Handlungen zudeuten. Als was haben die Djihadisten von New York undWashington im Auftrag der al-Qaida gehandelt?

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    Sowohl die beiden saudischen Minister als auch der trkischeAKP-Politiker zeigen in den zitierten Stellungnahmen, wiefhrende islamische Politiker sich weigern, fr einen Sicher-heitsdialog mit dem Westen ber den Djihad-Terrorismus, dervon den Gefahren des politischen Islam ausgeht, einzutreten.Auch ich argumentiere, dass der Islamismus nicht dem Islamgleichzusetzen ist. Er ist jedoch eine neue Deutung des Islamund bedient sich somit eindeutig einer religisen Legitima-tion. Es ist deshalb falsch zu behaupten, der islamistische Dji-hadismus habe nichts mit dem Islam zu tun, um dann ebensofalsch zu folgern, hierber zu sprechen, sei ein Beitrag zur Ver-breitung eines Feindbild Islam. Ein Beispiel: Der klassischeDjihad ist nicht der heutige Djihadismus. Aber aus dieser Aus-sage zu schlussfolgern, der Djihadismus der Islamisten habemit dem Islam gar nichts zu tun, ist purer Unsinn, denn es han-delt sich dabei um eine neue von islamistisch gesinnten Musli-men gepflegte Interpretation.

    Es ist schlicht Propaganda, wenn der saudische Ministerim November 2002 behauptet, dass die gegen Araber undMuslime ausgerichteten auslndischen Geheimdienste vor-rangig die Israelis dahinter [11. September, B. T.] gestandenhaben. Diese Aussage steht in einer Reihe mit der islamisti-schen Behauptung einer Verschwrung der Juden gegen denIslam. In dieser Linie steht auch das BBC-Interview des sau-dischen Prinzen und Auenministers Faisal Ibn al-Saud vom17. Februar 2003, der dort sagte, dass die Fundamentalisten imWesten nicht in der Welt des Islam zu finden seien und darauf-hin ein Feindbild Islam unterstellt. Beide saudischen Mini-ster waren sprachlos, als al-Qaida im Mai 2003 nun in Saudi-Arabien selbst mit einem massiven Anschlag aktiv wurde. DieAttentter waren weder Juden noch Geister, sondern Saudisund andere Muslime! Jenseits der saudisch-wahhabitischenPropaganda mchte ich das dem Westen unterstellte Feind-bild Islam in das arabische Verschwrungsdenken einord-nen.

    Zur Abwehr des Djihadismus ist die Mitwirkung dereuropischen Islam-Diaspora von zentraler Bedeutung. Tut siedies oder verhalten sich ihre Funktionre wie die eben zitier-

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    ten Politiker? Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslimein Deutschland etwa, der unter starkem Widerspruch vieleranders denkender Muslime beansprucht, sein Verein vertretedie deutsche Islam-Diaspora, sagte in einem Interview nachdem 11. September, er bezweifele, ob Atta islamisch genanntwerden kann. Auf der einen Seite soll er ein berzeugter Fana-tiker gewesen sein, auf der andern Seite soll er eine Freundingehabt haben ... . Fanatiker berufen sich auf Quellen, die sieselbst suchen und auslegen ... Es ist die Denkweise einzelner(Der Tagesspiegel vom 16. Oktober 2002, S. 5).

    Dementsprechend sollen die von al-Qaida zum Terroran-schlag entsandten Tter des 11. September nicht nur Einzel-tter gewesen sein, sondern auch gar nichts mit dem Islamzu tun gehabt haben. Dies behauptet auch das Sprachrohr derPalstinenser in den USA, der Christ Edward Said, der dieTter vom 11. September zu einer crazed gang /Bande vonVerrckten herunterspielt. Said verstarb im Oktober 2003.

    Wie auch die soeben zitierten Stimmen, warne ich vor einemFeindbild Islam, aber in Kontrast zu ihnen vertrete ich selbst Muslim die mit Fakten belegte Position, dass die Atten-tate vom 11. September von islamistischen Djihadisten als Aktdes islamisch legitimierten irregulren Kriegs verbt wurden.Die djihadistische Bedrohung des politischen Islam gehrt zuden Grundlagen des Islamismus seit der zweiten Hlfte des 20.Jahrhunderts. Wir haben es dabei nicht mit Verrckten, son-dern mit einer religis-politischen Strmung eines neuen Tota-litarismus zu tun, der weltweit eine Ordnung der Gottesherr-schaft anstrebt. ber diesen Djihad-Islamismus aufzuklrenbedeutet nicht, einem Feindbild Islam Vorschub zu leisten.

    Organisierte Islamisten sind numerisch eine Minderheit.In der Welt des Islam sind sie dennoch die einzig aktiveHauptstrmung der bestehenden Opposition. Nicht nur gegendie zitierten islamischen Politiker, sondern auch gegen west-liche Wissenschaftler wie Gilles Kepel argumentiere ich, dassder Islamismus bestndig an Zulauf gewinnt und sich keines-wegs im Niedergang befindet, wie manche ihrem Wunschden-ken folgend vermuten und deshalb flschlich vom Post-Isla-mismus sprechen. Der strategische Fehler der Bush-Admini-

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    stration bei der Planung des Irak-Krieges bestand darin, diesefundamentalistische Dimension aus allen politischen Konzep-ten vllig herauszulassen. Der Irak-Krieg hat das Land voneinem Despoten befreit, aber leider den politischen Islamgestrkt und hierbei, statt einer Entsaddamisierung des NahenOstens, dem islamischen Fundamentalismus einen Schub gege-ben. Der totalitre Djihad-Islamismus wird das gesamte 21.Jahrhundert hindurch ein Strfaktor in den westlich-islami-schen Beziehungen bleiben.

    7. Der Aufbau dieses Buches

    Diese, die Thematik dieses Buches erluternde Einfhrungmchte ich mit einer Skizze seines Aufbaus beenden. In Kapi-tel I werde ich die Bedeutung religiser Weltanschauungen derMenschen bei weltpolitischen Konflikten beleuchten. Dabeigehe ich von der Prmisse aus, dass eine soziokulturelle Dimen-sion bei der Geopolitik der Zivilisationskonflikte im 21. Jahr-hundert in allen politischen Konflikten im Mittelpunkt stehtund ohne deren Verstndnis jede Analyse der Weltpolitik auf der Strecke bleibt. Im Nahen Osten ist die dominierende Welt-anschauung die des politischen Islam, nicht die Idee der Demo-kratie und schon gar nicht das Konzept individueller Men-schenrechte. Die Demokratisierung des Nahen Ostens nachdem Irak-Krieg stt sich an dieser Realitt, wie alle Berichteber die innenpolitische Situation nach dem Fall Bagdads am9. April 2003 belegen. Dennoch mssen wir dieser Perspektiveder Demokratisierung eine Chance einrumen, andernfallswrden wir folgerichtig den neuen Djihad-Totalitarismus hin-nehmen, weil eine Zwischenlsung scheinbar nicht mglich ist.Ein weltoffener, zur Demokratie fhiger Reform-Islam mussgegen den Islamismus gefrdert werden.

    In Kapitel II befasse ich mich mit dem politischen Islamals neuem Totalitarismus; dieser kommt in einem weltpoli-tisch bergeordneten Rahmen durch den Djihadismus zumVorschein. Nach meiner Deutung ist der politische Islam eineErscheinung der politischen Religion. Diese Politisierungdes Islam fhrt zum neuen Totalitarismus. Die Vision einer

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    Hakimiyyat Allah/ Gottesherrschaft als einer totalitren Herr-schaftsform fr die gesamte Welt entfaltet sich im Rahmendieser Politisierung des Islam. Dieser Prozess hlt seit derzweiten Hlfte des 20. Jahrhunderts an. Viele Europer habennicht nur Schwierigkeiten zu verstehen, dass der neue Tota-litarismus sowohl als Terrorismus der djihadistischen Bedro-hung als auch als totalitre Ordnungsvorstellung religis moti-viert hervortritt. Auch erkennen sie nicht, dass er sich nichtnur gegen Amerika, sondern gegen die gesamte westlicheZivilisation richtet, die ja aus Westeuropa hervorging. DieseZusammenhnge werden in Kapitel III ber den Djihadismusals gewaltfrmige Herausforderung an den Westen erlutert.

    Ich biete in Kapitel IV eine zeitgeschichtliche Analyse des11. September 2001, um darauf folgend in Kapitel V die welt-politische Entwicklung bis zum Irak-Krieg im Mrz/April 2003nachzuzeichnen. In diesen beiden Kapiteln wird eine Entwick-lung seit dem 11. September untersucht, die zur Spaltung desdemokratischen Westens auf der Basis unterschiedlicher Wahr-nehmungen der djihadistischen Bedrohung gefhrt hat. Gegendie beiden frheren Totalitarismen war der Westen geeint, amneuen Totalitarismus ist jedoch das transatlantische Bndniszerbrochen. Ich kritisiere zwar den Unilateralismus der USA,sehe aber darin nicht den Hauptgrund der Spaltung.

    Das zentrale Ziel dieses Buches ist, durch Informationenund Analysen besonders jene Deutschen wachzurtteln, die inden Djihadisten lediglich die Protagonisten des Aufstandes derUnterdrckten der Dritten Welt gegen die Globalisierungsehen und somit die Bedrohung durch den Djihad-Islamismusals einem neuen Totalitarismus des 21. Jahrhunderts nicht ver-stehen.

    Diese Einfhrung entstand als Erstfassung in Tokio imFebruar 2003 und wurde im folgenden Monat Mrz in Bostonsowie spter in Gttingen mehrfach ausgearbeitet. Ich war inTokio auf einem EU-Japan-Dialog, reiste dann nach Bostonund New York, wo ich diese Arbeit fortsetzte. Der Text desBuches ist zwischen April und Juli 2003 in St. Gallen mehr-fach neu geschrieben worden; dort wirkte ich als Gastprofes-sor fr Islamologie. In Gttingen, wo ich Internationale Bezie-

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    hungen lehre, wurde diese Endfassung schlielich im Augustfertig gestellt. Ich habe jeden Satz in dieser sensible Themenansprechenden Einfhrung mindestens fnfmal im interkultu-rellen Kontext der Entstehung des Textes durchdacht. Ich willniemandem auf die Fe treten, dennoch erkenne ich keineZensur an, auch wenn sie unter dem Namen Political Correct-ness praktiziert wird.

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    I. Der religis-kulturelle Neoabsolutismusals Totalitarismus im Zivilisationskonflikt

    Nach meiner Einfhrung in die Thematik dieses Buches geheich im ersten Kapitel dazu ber, die zunehmende Bedeutungreligis-zivilisatorisch begrndeter Weltanschauungen in derpostbipolaren Weltpolitik zu beleuchten, denn der neue Tota-litarismus ist nicht nur eine politische Ideologie; er beruhtauch auf einer entsprechenden zivilisatorischen Weltanschau-ung. Ich werde im Folgenden diesen Gegenstand aus diversenBlickwinkeln betrachten und seine unterschiedlichen Dimen-sionen erlutern. Die Analyse wird jedoch mit einem Bezugzum Irak-Krieg vom Mrz/April 2003 eingeleitet, um an diesemBeispiel aufzuzeigen, wie weltpolitische Ereignisse kulturellund zivilisatorisch unterschiedlich wahrgenommen werden.Es gibt tiefe Differenzen zwischen westlicher und islamischerWeltanschauung. Diese mssen auch als solche und nicht alsMissverstndnisse so etwa der deutsche Bundesprsidentund der italienische Prsident in einem gemeinsamen Beitragber Europa und den Islam angesprochen werden. Dersoeben angefhrte Hinweis, dass eine Weltanschauung in derWeltpolitik so wie der neue Totalitarismus anders als einepolitische Ideologie ist, ist noch zu ergnzen: Dieser Totali-tarismus ist im Gegensatz zu seinen Vorgngern, dem NS-Faschismus und dem Stalin-Kommunismus, eine Bewegung,hat sich also bisher in keinem politischen System manifestiert von den Ausnahmen des Irans der Ayatollahs und Afghanistanunter den Taliban, deren Erluterungen den Rahmen diesesBuches sprengen wrde, abgesehen. Der Djihad-Islamismusist noch eine totalitre Weltanschauung zahlreicher islamisti-scher Bewegungen, der ihnen als Orientierung fr ihre politi-sche Praxis dient.

    1. Die kulturelle Wende: Weltanschauung und Zivilisation

    Fr Muslime bildet der Westen trotz seiner Vielfalt eine Ein-heit, auf die die unterstellten christlich-islamischen Differen-zen bezogen werden. Ich mchte diese Differenzen am Bei-

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    spiel der islamischen Dimension des Irak-Krieges illustrieren.Mein Ausgangspunkt ist die mit vielen Experten fr interna-tionale Politik geteilte Erkenntnis, dass unser Zeitalter nachdem Ende des Ost-West-Konflikts durch die cultural turn / kulturelle Wende gekennzeichnet ist. Der Begriff beziehtsich darauf, dass Menschen, die sich kulturell-weltanschau-lich zu einer Zivilisation gruppieren, in Konfliktsituationenihre Zugehrigkeit zu Kulturen intensiv wahrnehmen undsich jeweils in das entsprechende Kollektiv einordnen. Darauserwachsen jeweils unterschiedliche Wahrnehmungen der Welt-politik. Auf diese Erkenntnis bezieht sich meine These von denverschiedenartigen Wahrnehmungen des Irak-Krieges und denentsprechenden politischen Folgen. Vor und whrend diesesKrieges sprachen Amerikaner von der Fortsetzung des Waron Terrrorism, wohingegen Kontinentaleuroper die FormelBlut fr l als Erklrung verwendeten. Dies zeugt vom Vor-handensein unterschiedlicher Wahrnehmungen innerhalb derwestlichen Zivilisation selbst.

    In der Welt des Islam, wo eine vllig andere Wahrnehmungdominiert, war die Rede von Kreuzzglern, die im Irak einmar-schiert seien. Der Kampf gegen sie gelte als Djihad, also alsheiliger Krieg der Muslime gegen die Feinde des Islam. DieseDeutung hat ihren Ursprung nicht im damaligen Propaganda-Apparat Saddams und auch nicht nur im religisen Funda-mentalismus des Islam. Sie wurde eine Woche vor Ausbruchdes Krieges sogar in einer Fatwa von der hchsten Autorittdes sunnitischen Islam, vom Rektor der al-Azhar-Universittin Kairo, Scheich Sayyid al-Tantawi, magebend formuliert.Diese Fatwa wurde in der groen saudisch finanzierten Zei-tung al-Hayat (die Redaktion befindet sich jedoch in London)verffentlicht. Gleichzeitig fanden trotz staatlicher Repressionin der Welt des Islam von der atlantischen Kste Marokkosbis Jakarta in Sdostasien Massendemonstrationen gegendie USA statt, die als christliche Supermacht der Kreuzzglerwahrgenommen wird.

    In der islamischen Wahrnehmung ist hierbei zweitrangig,dass Saddam ein Despot war. Gesehen wird nur, dass Bagdadvon Christen eingenommen wurde. Der Fall Bagdads durch

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    die US-Truppen am 9. April 2003 hat in der islamischen Wahr-nehmung den gleichen Rang wie der Fall Bagdads 1258 durchden Mongolenfhrer Helgu Khan und ebenso wie der FallKairos 1798 durch den Vertreter der Franzsischen Revolution,Napoleon Bonaparte. Diese islamische, als zivilisatorisch zubezeichnende Dimension des Irak-Krieges hat lngst begon-nen, die Kriegsfolgen entscheidend zu bestimmen.

    So beteten die unter sich zerstrittenen irakischen Sunnitenund Schiiten am Freitag, den 18. April 2003, gemeinsam in einerBagdader Moschee; ihr Imam forderte die Christen die sichselbst als Befreier wahrnehmen auf, das Land zu verlassen,ehe sie dazu durch den Djihad gezwungen wrden. Hier prallenzwei Weltanschauungen aufeinander. Von dramatischer Trag-weite ist auerdem die Assoziation des Anspruchs der USAauf Demokratisierung mit einem christlich-kreuzzglerischenPlan. Die Ablehnung der skularen Demokratie ebnet den Wegzum neuen religis legitimierten Totalitarismus. Wir drfendiesen weltanschaulichen Konflikt zwischen Demokratie undTotalitarismus nicht herunterspielen, andernfalls bleibt unsdas Verstndnis postbipolarer Weltpolitik des cultural turnverschlossen.

    Von September 1990 bis Mrz 2003 hat Saddam persnlichimmer wieder eine Dekade lang den Kreuzzglern denDjihad er