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interview Hoffnung bei schwerster Depression Es gibt Patienten, denen wahrlich jede Hoffnung fehlte: ein kleiner Anteil von Menschen mit schwerer Depression spricht auf gängige medikamentöse oder physikalische erapiever- fahren einfach nicht an. Die Tiefe Hirnstimulation könnte das ändern. In Neurologischen Indikationen bereits etabliert, dringt die Methode nunmehr in die Psychiatrie vor. Prof. omas Schläpfer, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, Deutschland ist einer der Pioniere auf diesem neuen Gebiet. Gegenüber „Psy- chiatrie & Psychotherapie“ bezog er zu der Technik per se, aber auch zu weiterführenden Fragen Stellung. P&P: Können Sie die Methode und Technik der Tiefen Hirnstimulation zusammenfassen? Wie läuft der Eingriff ab? Welche Richtlinien müssen Träger dieser Implantate beach- ten? Schläpfer: Die Tiefe Hirnstimulation ist keine gänzlich neue Methode. Neu ist aber die Anwendung in der Psychiat- rie. In der Neurologie findet die Tiefe Hirnstimulation seit Jah- ren erfolgreiche Anwendung bei Parkinson-assoziiertem Tremor. Der Eingriff selbst wird von Neurochirurgen vorge- nommen und dauert rund 45 Minuten. Über zwei Bohrlöcher in der Schädelkalotte werden zwei Elektroden exakt in das Zielgebiet eingeführt und mit Knochenzement an den Ein- trittsstellen am Schädel fixiert. Über einen Konnektor im Na- cken führt ein subkutaner Kabelstrang zum „Hirnschrittma- cher“, welcher in der Regel rechts pectoral implantiert wird. Der Ausdruck Schrittmacher ist insofern gerechtfertigt, als sich die Geräte im Aufbau nicht wesentlich von einem Herz- schrittmacher unterscheiden: auch sie regen das Zielgebiet ihrer Elektroden mit schwachen Stromstößen elektrisch an. Im Gegensatz zur Implantation, die einen kurzen Eingriff dar- stellt, ist die Planung komplex. Vor allem das korrekte stereo- taktische Auffinden des Zielgebietes braucht sorgfältige Vor- bereitung. Dazu ist eine hochauflösende Magnetresonanz- tomographie des Gehirnschädels erforderlich. Für Träger eines Hirnstimulators gibt es keine besonderen Einschrän- kungen – wenn sie wollen, können sie damit auch Trampolin springen. Die Batterien der aktuellen Geräte sind etwa jähr- lich zu erneuern. P&P: Die Tiefe Hirnstimulation hat sich bei Bewegungs- störungen als therapeutische Option etabliert. Welche Indikati- onen sehen Sie derzeit in der Psychiatrie? Wie groß ist die wis- senschaftliche Evidenz für das Verfahren, welche Fallzahlen sind bislang untersucht? Schläpfer: Die möglichen therapeutischen Indikatio- nen der Tiefen Hirnstimulation sind in der Psychiatrie noch lange nicht konkret definiert, dazu gibt es noch zu wenige Stu- dien. Der heutige Einsatz der Methode erfolgt einzig im Rah- men sorgfältig geplanter wissenschaftlicher Studien. For- schungsanwendungen gibt es derzeit bei der Depression und bei Zwangsstörungen. Dementsprechend überschaubar ist die wissenschaftliche Evidenz: es liegen wenige, aber sehr hochwertige Studien mit geringen Fallzahlen vor. Die Depres- sion ist mit weltweit etwa 50 Fällen am intensivsten beforscht. Dabei handelt es sich ausschließlich um Personen mit schwerster therapieresistenter Depression und zum Teil un- zähligen erfolglosen Vortherapien mit Psychotherapie, Phar- makotherapie und Elektrokrampftherapie. Noch in der Früh- oder Planungsphase sind Anwendungen der Tiefen Hirnstimulation bei Alkoholabhängigkeit, Schizophrenie und Demenz. P&P: Welche Auswirkungen hat die Tiefe Hirnstimula- tion bei Menschen mit schwergradiger Depression? Wie kann der klinische Effekt pathophysiologisch erklärt werden? Wel- chen Einfluss zeigt die Anwendung auf Stoffwechselprozesse im Gehirn? Schläpfer: Derzeit werden zwei Zielgebiete im Gehirn untersucht: meine Arbeitsgruppe befasst sich mit der Stimu- Prof. Dr. med. Thomas Schläpfer Stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn Psychiatr Psychother (2009) 4/4: 168–171 DOI 10.1007/s11326-009-0081-1 © Springer-Verlag 2009 Printed in Austria 4/2009 Kontroversen in der Psychiatrie psychiatrie & psychotherapie 168 © Springer-Verlag psychiatrie & psychotherapie

Tiefe Hirnstimulation bei Depression

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Page 1: Tiefe Hirnstimulation bei Depression

interview

Hoffnung bei schwerster Depression

Es gibt Patienten, denen wahrlich jede Hoffnung fehlte: ein kleiner Anteil von Menschen mit schwerer Depression spricht auf gängige medikamentöse oder physikalische Therapiever-fahren einfach nicht an. Die Tiefe Hirnstimulation könnte das ändern. In Neurologischen Indikationen bereits etabliert, dringt die Methode nunmehr in die Psychiatrie vor. Prof. Thomas Schläpfer, Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Universitätsklinikum Bonn, Deutschland ist einer der Pioniere auf diesem neuen Gebiet. Gegenüber „Psy-chiatrie & Psychotherapie“ bezog er zu der Technik per se, aber auch zu weiterführenden Fragen Stellung.

P&P: Können Sie die Methode und Technik der Tiefen Hirnstimulation zusammenfassen? Wie läuft der Eingriff ab? Welche Richtlinien müssen Träger dieser Implantate beach-ten?

Schläpfer: Die Tiefe Hirnstimulation ist keine gänzlich neue Methode. Neu ist aber die Anwendung in der Psychiat-rie. In der Neurologie findet die Tiefe Hirnstimulation seit Jah-ren erfolgreiche Anwendung bei Parkinson-assoziiertem Tremor. Der Eingriff selbst wird von Neurochirurgen vorge-nommen und dauert rund 45 Minuten. Über zwei Bohrlöcher in der Schädelkalotte werden zwei Elektroden exakt in das Zielgebiet eingeführt und mit Knochenzement an den Ein-trittsstellen am Schädel fixiert. Über einen Konnektor im Na-cken führt ein subkutaner Kabelstrang zum „Hirnschrittma-cher“, welcher in der Regel rechts pectoral implantiert wird.

Der Ausdruck Schrittmacher ist insofern gerechtfertigt, als sich die Geräte im Aufbau nicht wesentlich von einem Herz-schrittmacher unterscheiden: auch sie regen das Zielgebiet ihrer Elektroden mit schwachen Stromstößen elektrisch an. Im Gegensatz zur Implantation, die einen kurzen Eingriff dar-stellt, ist die Planung komplex. Vor allem das korrekte stereo-taktische Auffinden des Zielgebietes braucht sorgfältige Vor-bereitung. Dazu ist eine hochauflösende Magnetresonanz- tomographie des Gehirnschädels erforderlich. Für Träger eines Hirnstimulators gibt es keine besonderen Einschrän-kungen – wenn sie wollen, können sie damit auch Trampolin springen. Die Batterien der aktuellen Geräte sind etwa jähr-lich zu erneuern.

P&P: Die Tiefe Hirnstimulation hat sich bei Bewegungs-störungen als therapeutische Option etabliert. Welche Indikati-onen sehen Sie derzeit in der Psychiatrie? Wie groß ist die wis-senschaftliche Evidenz für das Verfahren, welche Fallzahlen sind bislang untersucht?

Schläpfer: Die möglichen therapeutischen Indikatio-nen der Tiefen Hirnstimulation sind in der Psychiatrie noch lange nicht konkret definiert, dazu gibt es noch zu wenige Stu-dien. Der heutige Einsatz der Methode erfolgt einzig im Rah-men sorgfältig geplanter wissenschaftlicher Studien. For-schungsanwendungen gibt es derzeit bei der Depression und bei Zwangsstörungen. Dementsprechend überschaubar ist die wissenschaftliche Evidenz: es liegen wenige, aber sehr hochwertige Studien mit geringen Fallzahlen vor. Die Depres-sion ist mit weltweit etwa 50 Fällen am intensivsten beforscht. Dabei handelt es sich ausschließlich um Personen mit schwerster therapieresistenter Depression und zum Teil un-zähligen erfolglosen Vortherapien mit Psychotherapie, Phar-makotherapie und Elektrokrampftherapie. Noch in der Früh- oder Planungsphase sind Anwendungen der Tiefen Hirnstimulation bei Alkoholabhängigkeit, Schizophrenie und Demenz.

P&P: Welche Auswirkungen hat die Tiefe Hirnstimula-tion bei Menschen mit schwergradiger Depression? Wie kann der klinische Effekt pathophysiologisch erklärt werden? Wel-chen Einfluss zeigt die Anwendung auf Stoffwechselprozesse im Gehirn?

Schläpfer: Derzeit werden zwei Zielgebiete im Gehirn untersucht: meine Arbeitsgruppe befasst sich mit der Stimu-

Prof. Dr. med. Thomas Schläpfer Stellvertretender Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie Universitätsklinikum Bonn

Psychiatr Psychother (2009) 4/4: 168–171DOI 10.1007/s11326-009-0081-1© Springer-Verlag 2009Printed in Austria

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psychiatrie & psychotherapie

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lation des Nucleus accumbens, der eine zentrale Rolle bei der Verarbeitung emotionaler Reize spielt. Die Anhedonie, eine Unfähigkeit Freude und positive Gefühle wahrzunehmen, ist ein häufiges Symptom bei Menschen mit Depression, ein Symptom, das mit großer Wahrscheinlichkeit auf bei Depres-siven nachgewiesenen Dysfunktionen des Nucleus accum-bens beruht. Wir haben gesehen, dass Betroffene nach der Tiefen Hirnstimulation diese Emotionen wieder spüren kön-nen. Das zweite Zielgebiet der Forschung ist das Areal CG25, dessen Stimulation ebenfalls gute klinische Erfolge vorweisen kann. Die Ansprechrate bei beiden Zielgebieten liegt im Be-reich von 50 %, bei schwerstgradig Depressiven ein sensatio-neller Wert. Interessant ist dabei, dass auch ein hoher Anteil von Patienten profitiert, die auf andere physikalische Verfah-ren wie die Elektrokrampftherapie nicht angesprochen ha-ben. Auffallend ist, dass bislang noch jeder Patient eine ge-wisse klinisch evidente Verbesserung gezeigt hat, wenngleich nicht alle die Kriterien eines Ansprechens erreichten. Im heu-tigen Stadium der Entwicklung können aus den klinischen Er-gebnissen dieser sehr spezifischen fokussierten Methode wichtige Rückschlüsse auf die Pathophysiologie der Depres-sion gezogen werden. Wir gehen heute von einem Netzwerk-modell der Depression aus, welches weit über die Vorgänge an monoaminergen Synapsen hinausgeht.

P&P: Sind andere Veränderungen der Persönlichkeit, der Kognition oder des Verhaltens beobachtet worden? Welche Komplikationen sind zu erwarten? Ist das Sicherheitsprofil günstig?

Schläpfer: Das Sicherheitsprofil ist erstaunlich günstig, die Problemlosigkeit, mit welcher sich die Methode derzeit bei psychiatrischen Patienten präsentiert, haben wir nicht er-wartet. Der Einfluss auf das Verhalten geht aus meiner Sicht mit der antidepressiven Wirkung einher: nach Stimulation des Nucleus accumbens können Patienten in Alltagssituatio-nen wieder Freude finden. Wir sehen dabei auch eine starke Zunahme der Initiative: Betroffene wollen wieder aktiv sein, etwas unternehmen oder erleben, während sie zuvor weder Interesse noch Initiative gezeigt hatten. Auch die Ergebnisse kognitiver Tests haben uns überrascht: die Kognition wird besser, sogar bei Personen, die in Bezug auf Depression weni-ger stark profitiert haben.

P&P: Physikalische Therapien werden trotz teilweise ex-zellenter Wirksamkeit vielerorts nur sehr zurückhaltend einge-setzt. Lichttherapie, Schlafentzug oder Elektrokrampftherapie werden vielfach geschmäht. Woher kommt diese Zurückhal-tung? Wird der Tiefen Hirnstimulation das gleiche Schicksal zuteil?

Schläpfer: Die Ressentiments gegen physikalische Ver-fahren sind wissenschaftlich nicht begründbar und hängen vermutlich mit einer Hemmschwelle vor vermehrter Invasivi-tät zusammen, dies gilt ganz besonders für die sehr gut er-forschte Elektrokrampftherapie. Dem ist entgegen zu halten, dass eine medikamentöse Dauertherapie mit Antidepressiva aller Wahrscheinlichkeit nach problematischer ist, als ein „Hirnschrittmacher“, da Antidepressiva nicht fokussiert ein-gesetzt werden können. Ich denke nicht, dass der Tiefen Hirn-

stimulation das Schicksal der genannten Verfahren zuteil wird, da sie eine erste Option für schwer Kranke darstellt, de-nen bisher nichts geholfen hat. Diese Technik hilft, wo alles andere wirkungslos ist. Wenn die guten Resultate mit steigen-den Fallzahlen und in kontrollierten Studien weiter reprodu-zierbar bleiben, wird die Tiefe Hirnstimulation ein voller Er-folg.

P&P: Wo liegt der Schwerpunkt der künftigen For-schungsarbeit in diesem Bereich?

Schläpfer: An Fragestellungen für die Zukunft mangelt es nicht. Künftig werden wir vermehrt untersuchen, wer am besten auf die Tiefe Hirnstimulation anspricht. Es gibt einige Hinweise für einen Benefit bei früheren oder weniger schwe-ren Formen der Depression. Wir haben gesehen, dass nicht unbedingt jene Patienten mit sehr vielen gescheiterten Be-handlungsversuchen am besten profitieren, sondern eine et-was weniger stark vorbehandelte Gruppe. Eine andere Frage-stellung betrifft die Stimulation und die Stimulationspunkte selbst: welche elektrischen Impulse an welchen Zielgebieten zeigen die beste Wirkung? Aus dieser Forschung wird auch das Wissen über die Neurobiologie der gestörten Netzwerke wertvolle Informationen gewinnen. Aus Sicht der gesamten Psychiatrie stellt sich ferner die Frage nach weiteren Indikati-onen für die Tiefe Hirnstimulation, im Fall der Depression nach anderen Formen, welche in Frage kommen: bislang wa-ren nur fortgeschritten unipolar Depressive in die Projekte eingebunden.

P&P: Sehen Sie einen ethischen Konflikt um den Einsatz der Tiefen Hirnstimulation?

Schläpfer: Elektroden im Gehirn – ein zweifelsfrei sehr invasives Verfahren. Die Tiefe Hirnstimulation ist kein be-langlos zu indizierendes Therapeutikum, sondern eine höchst spezifische und streng überlegt einzusetzende Technik. Die Initiative für eine Ethikdebatte muss von der Psychiatrie selbst ausgehen, eine ungeschickte Argumentation könnte großen Schaden anrichten. Welche Parameter den Einsatz rechtferti-gen, ist heute noch nicht festgelegt, die Anwendung geschieht ausschließlich im Rahmen zugelassener klinischer Studien. Wir legen vor dem Eingriff größten Wert auf einen sorgfältigen Aufklärungsprozess und eine sichere Entscheidungsfindung für unsere Teilnehmer. Das Einverständnis des Patienten muss auf fairer und objektiver Information aufbauen. Eine weitere Sorge betrifft die Gefahr eines gewissen Wildwuchses, wenn der Erfolg der Methode die Runde macht. Wir müssen Sorge tragen, dass die Tiefe Hirnstimulation in der Hand spe-zialisierter wissenschaftlicher Zentren bleibt.

Das Gespräch führte Dr. Alexander Lindemeier

Kontroversen in der Psychiatrie 4/2009psychiatrie & psychotherapie 169© Springer-Verlag

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interview

Wer darf die Depression abschalten?

Der exzellenten Wirkung der Tiefen Hirnstimulation steht ihre Invasivität entgegen. Ethische und moralische Fragen tauchen bei der Implantation des „Hirnschrittmachers“ un-weigerlich auf. Stößt die moderne Medizin an Grenzen der Integrität des Menschen oder bleibt sie Hoffnungsträger der Kranken? Nicht zuletzt drängt sich die Frage des Missbrauchs und der Fernsteuerbarkeit des Menschen auf. „Psychiatrie & Psychotherapie“ diskutierte brennende Fragen mit Prof. Hartmann Hinterhuber, Universitätsklinik für Allgemeine Psychiatrie und Sozialpsychiatrie Innsbruck.

P&P: „Gute Laune auf Knopfdruck“ könnte ein spitz formulier-ter Werbeslogan für die Tiefe Hirnstimulation sein. „Gute Laune durch Medikamente“ klingt nicht wesentlich sympathischer. Unterscheiden sich die ethischen Fragestellungen bei der The-rapie der Depression und anderen psychiatrischen Erkrankun-gen von der somatischen Medizin?

Hinterhuber: Dass in der Gegenwart ein so dringender Ethikbedarf in der Medizin besteht, hat eine paradoxe Erklä-rung: Der Grund ist nicht ein Moralversagen der Medizin, sondern eine Moralüberforderung als Resultat ihres Erfolges. Die rasante Entwicklung der Medizin ist zu einer moralischen (und rechtlichen) Herausforderung geworden: durch die na-turwissenschaftlich-technische Revolution sind Handlungs-möglichkeiten freigesetzt worden, die nur dann human blei-ben können, wenn sie durch ethische Maxime geleitet werden. Dies betrifft psychische Erkrankungen genauso, wie jene der unterschiedlichen Organsysteme. Grundsätzlich gibt es keine regionalen oder fachspezifischen ethischen Differenzierun-gen: die Ethik in der Medizin ist die Anwendung allgemein-gültiger ethischer Regeln in bestimmten sozialen Feldern und

auf bestimmte charakteristische Problemstellungen bezogen. Kaum eine Erkrankung ist mit so viel subjektiv empfundener Not, mit Verzweiflung, Resignation und Hoffnungslosigkeit verbunden, wie eine schwere Depression, die dem Betroffe-nen keine Zukunftsperspektiven erlaubt und ihn an den Rand des Suizides bringt. Es geht nicht darum, allen Menschen „gute Laune“ zu vermitteln, sondern Schwerstkranke aus ih-rer sie zutiefst einengenden Symptomatik zu führen. Diesbe-züglich hat die psychiatrische Wissenschaft eine Reihe von erfolgreichen Methoden entwickelt, die von psychotherapeu-tischen Maßnahmen über psychopharmakologischen Be-handlungsansätzen zu anderen biologischen Therapieverfah-ren wie Wachtherapie, Lichttherapie, Elektrokonvulsions- therapie und transkraniellen Magnetstimulation reichen. Die tiefe Hirnstimulation ist heute noch als experimentelle Thera-pieform zu bezeichnen, die in wenigen Zentren bei verzwei-felten Krankheitsverläufen eingesetzt werden kann.

P&P: Was unterscheidet die Ethik beim Einsatz von An-

tidepressiva gegenüber vielfach kritisierten physikalischen Me-thoden?

Hinterhuber: In der modernen Gesellschaft sind Auto-nomie und Selbstbestimmung grundlegende Werte, sie bil-den in einer pluralistischen Welt mit unterschiedlichen ethi-schen Gewichtungen den kleinsten gemeinsamen Nenner in der Bewertung konkreter Problemfelder.

Darüber hinaus wurde in den 50er Jahren des vorigen Jahrhunderts durch die Einführung des „Informed Consent“ die Grundlage für eine allgemein anerkannte Medizinethik gelegt. Das informierte Einverständnis des Kranken ist somit Voraussetzung für die Einwilligung zu definierten diagnosti-schen und therapeutischen Eingriffen. Diesbezüglich gelten bei allen oben genannten Therapieanwendungen dieselben Voraussetzungen. Physikalische Methoden werden jedoch in verschiedenen Ländern aufgrund ideologischer Überlegun-gen abgelehnt. Dadurch werden Patienten Heilungschancen vorenthalten. Obwohl die Elektrokrampftherapie – durch viele Studien belegt – die wirksamste und sicherste Behand-lung für spezielle Syndrome darstellt, wird durch diese Ableh-nung das ethische Grundprinzip der Gerechtigkeit im Sinne der gleichen Zugangsmöglichkeiten zu therapeutischen In-terventionen krass verletzt. Dies ist besonders im Lichte der Tatsache zu betrachten, dass die Elektrokonvulsionstherapie in einzelnen Fällen lebensrettend wirksam ist.

P&P: Wo sehen Sie die Grenze zwischen polemischen An-

griffen auf „die moderne Apparatemedizin, welche selbst vor der Implantation von Hirnschrittmachern nicht zurück-schreckt“ gegenüber einer sachlichen Auseinandersetzung mit ethischen Fragen zu neuen technischen Therapiekonzepten?

o.Univ.-Prof. Dr. Hartmann Hinterhuber Department für Psychiatrie & Psychotherapie Univ.-Klinik für Allgemeine Psychiatrie und Sozialpsychiatrie Medizinische Universität Innsbruck

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interview

Hinterhuber: Die Diskussion ethischer Grundfragen hat in Österreich noch nicht jenes Niveau erreicht, das in an-deren Industrienationen beobachtet werden kann. Die Im-plantation einer Elektrode zur Tiefen Hirnstimulation ist bei psychisch schwerstkranken Patienten ethisch dann zu recht-fertigen, wenn kein weniger invasives Verfahren zur Verwirk-lichung des Therapieziels existiert. Aus diesen Gründen wurde die Tiefe Hirnstimulation weltweit bei bisher knapp 120 psy-chiatrischen Patienten angewandt: die Wirksamkeit wurde vorwiegend bei schwerstkranken Patienten mit Zwangsstö-rungen und therapierefraktären Depressionen festgestellt. Ähnliches gilt auch für Patienten mit unbehandelbarer Tou-rette-Symptomatik. Die Tiefe Hirnstimulation gilt heute als bewährtes Verfahren zur Therapie motorischer Fluktuationen und Dyskinesien bei fortgeschrittenem Morbus Parkinson. Durchgeführt wird dieses Verfahren auch bei Patienten mit schweren Dystonien und therapieresistenten Tremorsyndro-men. Weltweit scheinen bereits mehr als 40.000 Patienten aufgrund einer neurologischen Indikation mit tiefer Hirnsti-mulation therapiert worden zu sein. In Deutschland werden in rund 30 Kliniken jährlich etwa 400 „Hirnschrittmacher“ implantiert.

P&P: Wie viel Traurigkeit gehört zum Menschsein dazu?

Wo sehen Sie die Grenze zwischen einem melancholischen Charakter oder einer schweren Lebensphase zur Krankheit? Gelingt aktuellen Richtlinien auf der einen und der Verschrei-bungspraxis für Antidepressiva auf der anderen Seite diese Gratwanderung? Wo fängt die Unethik einer freizügigen Ver-ordnung an?

Hinterhuber: Traurigkeit, Verzweiflung und Resigna-tion gehören zur Conditio humana. Durch positive Bewälti-gungsmechanismen und eine Unterstützung aus dem (fami-liären) Umfeld gelingt es dem Menschen, auch schwere Lebensphasen zu meistern.

Die Weltliteratur verdankt dem Taedium vitae oder dem melancholischen Charakter großartige Werke.

Leidet der Betroffene – und dessen Umgebung – jedoch in einem Ausmaß unter einer depressiven Einengung, dass der Lebensentwurf nicht mehr verwirklicht werden kann, sind Antidepressiva dringendst zu verordnen.

Ethisch nicht gerechtfertigt ist nach meiner Überzeu-gung der Gebrauch von Neuroenhancern, auch wenn in ei-

nem jüngst in „Gehirn und Geist“ publiziertem Memoran-dum deutsche Wissenschaftler „keinen grundsätzlichen Einwand gegen eine pharmazeutische Verbesserung des Ge-hirns oder der Psyche“ sehen: jeder Mensch besitze das Recht, über sein persönliches Wohlergehen, seinen Körper und seine Psyche zu bestimmen. Als Neuroenhancer werden be-reits heute Ritalin, Modafinil, bestimmte Antidepressiva oder Antidementiva eingenommen. Der Wirkmechanismus vieler „Brainbusters“ ist bei Gesunden noch nicht bekannt. Einige der genannten Substanzen steigern nicht die Denkleistung, sondern führen zu einer Überschätzung der kognitiven Fähig-keiten. Auch ist es nicht ersichtlich, warum das Sport-Doping weiterhin verboten bleibt, während das Hirn-Doping unter dem Namen „Cognitives Enhancement“ oder „Brainbuster“ liberalisiert werden sollte.

P&P: Wo sehen Sie die Grenze zwischen Stimulus und

Steuerung? Laufen wir Gefahr, selbstbestimmte Menschen durch Neuroimplantate zu entfremden und zu manipulieren? Stehen wir an einer Schnittstelle zwischen Mensch und Ma-schine?

Hinterhuber: Durch die Verwendung von Neuroim-plantaten oder Stimulationsverfahren beschreitet die Medi-zin mit Sicherheit eine Gratwanderung zwischen einer legiti-men, ja notwendigen medizinischen Anwendung zum Wohl von Kranken und einem möglichen Missbrauch dieser Tech-nik, die im Extremfall zu einer Manipulation des Menschen führen kann. Die Tiefe Hirnstimulation besitzt aber den Vor-teil, dass die Methode reversibel ist und der Impulsgenerator jederzeit abgeschaltet werden kann. Wird der Impulsgeber entfernt, fällt der Patient wieder in jene Psychopathologie zu-rück, die vor dem Eingriff bestanden hat. Zu bedenken ist fer-ner, dass durch die stereotaktische Implikation der Elektro-den auch irreversible Störungen wie blutungsbedingte Nervenzellausfälle möglich sind. Abschließend möchte ich R. Capurro, Mitglied der European Group on Ethics, zitieren: „Das ethische Konzept der Unversehrtheit des menschlichen Körpers sollte nicht als Hemmnis für den Fortschritt in Wis-senschaft und Technik, sondern als ein Schutzwall gegen den potentiellen Missbrauch dieses Fortschrittes betrachtet wer-den.“

Das Gespräch führte Dr. Alexander Lindemeier

Kontroversen in der Psychiatrie 4/2009psychiatrie & psychotherapie 171© Springer-Verlag