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Transfer Claudia Mähler Elsbeth Stern Sonderdruck aus: D. H. Rost (Hrsg.) (2006). Handwörterbuch: Pädagogische Psychologie (3. überarbeitete und erweiterte Auf!., S. 782-793). Weinheim: Beltz.

Transfer - ethz.ch · Bedingungen Transfer überhaupt auftritt. Autoren unterscheiden sich erheblich in ihrem Anspruch gegenüber der Distanz, die zwischen einem ur-sprünglich trainierten

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Transfer

Claudia Mähler

Elsbeth Stern

Sonderdruck aus:

D. H. Rost (Hrsg.) (2006).Handwörterbuch: Pädagogische Psychologie

(3. überarbeitete und erweiterte Auf!., S. 782-793).Weinheim: Beltz.

nur unzureichend die Anwendungsqualität vonWissen erfassen. Neue Verfahren, die eine reliableund valide Erfassung anwendbaren Wissens erlau-ben, sind erst in Ansätzen entwickelt. Ein weiteresoffenes Problem, das hier thematisiert wird, beziehtsich auf die Frage, wie die Modelle des situier-ten Lernens mit traditionellen Unterrichtsformen,die durchaus wichtige didaktische Funktionen erfül-len, kombiniert werden können. Es ist sicherlichnicht sinnvoll, traditionelle Lehrformen zugunstensituierten Lernens völlig aufzugeben.

Es ist zu hoffen, dass die derzeit zahlreichen For-schungsaktivitäten zur Förderung anwendbarenWissens Antworten auf die aufgeworfenen Fragenerbringen. Dann kann mit Recht erwartet werden,dass das Problem des trägen Wissens seiner Lösungnähergebracht wird.

Einführende Literatur•• Renkl,A. (1996). TrägesWissen:Wenn Erlerntes

nicht genutzt wird. PsychologischeRundschau, 47,78-92.

Weiterführende Literatur•• Collins, A.,Brown, J.S.& Newman, S.E.(1989).

Cognitive apprenticeship: Teaching the crafts ofreading, writing, and mathematics. In L.B.Res-nick (Ed.), Knowing, learning, and instruction(pp. 453-494). Hillsdale,NJ: Erlbaum.

Transfer

Claudia Mähler· Elsbeth Stern

Psychologische und pädagogische Interventions-maßnahmen haben in der Regel die Übertragungdes Gelernten auf Anforderungen und Situationenaußerhalb des Interventionskontextes zum Ziel.Dies gilt insbesondere für Maßnahmen, mit denen

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•• Renkl,A. (2001). Situated learning, out of schooland in the classroom. In P. Baltes& N.J. Smelser(Eds.), International encyclopedia ofthe social &

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•• The Cognition and Technology Grooup at Vander-bilt (1997). Tbe Jaspers project: Lessonsin curricu-lum, instruction, assessment, and professional de-velopment. Mahwah, NJ: Erlbaum.

Zitierte LiteraturCollins, A., Brown, J. S. & Newman, S.E. (1989). Cognitive

apprenticeship: Teaching the crafts of reading, writing, andmathematics. In L.B. Resnick (Ed.), Knowing, leaming, andinstruction (pp. 453-494). Hillsdale, NJ: Erlbaum.

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Renkl, A. (996). Träges Wissen; Wenn Erlerntes nicht genutztwird. Psychologische Rundschau, 47, 78-92.

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Whitehead, A.N. (1929). The aims of education. New York, NY:Macmillan.

individuelle Kompetenzen aufgebaut werden sollen(-t Kognitives Training; -t Förderung kognitiverFähigkeiten). Die erfolgreiche Anwendung angeeig-neten Wissens bzw. erworbener Fertigkeiten imRahmen einer neuen, in der Situation der Wissens-

bzw. Fertigkeitsaneignung noch nicht vorgekom-menen Anforderung wird als "Transfer" (eng!. eben-falls "transfer") bezeichnet. Erleichtert eine Inter-vention in einem Anforderungsbereich (A) dasLernen in einem unabhängigen Anforderungsbe-reich (B), wird dies als Produkt des Transfers ange-sehen.

Der Begriff "Transfer" wird in der Literaturhöchst unterschiedlich verwendet, was zum einendie Gefahr von Verwechslungen und Missverständ-nissen birgt, zum anderen dazu beiträgt, dass estrotz einer langen Forschungstradition bis heutekeinen Konsens darüber gibt, ob und unter welchenBedingungen Transfer überhaupt auftritt. Autorenunterscheiden sich erheblich in ihrem Anspruchgegenüber der Distanz, die zwischen einem ur-sprünglich trainierten und dem später beobachtba-ren Verhalten liegen sollte, um von Transfer spre-chen zu können. Dies mag vor allem darauf zu-rückzuführen sein, dass spontaner Transfer in allenAnwendungsfeldern der Psychologie höchst seltenzu beobachten ist (Stern, 2001; ~ Träges Wissen).Um die unterschiedlichen Qualitäten von Transferdifferenzieren zu können, hat es immer wiederVersuche gegeben, verschiedene Arten des Transfersvoneinander abzugrenzen (z.B. BroWD, Bransford,Ferrara & Campione, 1983; Salomon & Perkins,1989); inzwischen liegen erste Modelle vor, diegeeignet sind, Kriterien für Transfer und für dasAusmaß der Transferleistung des Individuums ge-nauer festzulegen (Barnett & Ceci, 2002; Hager &Hasselhorn,2000).

Kriterien zur Bestimmungvon Transfer

Können Kinder das in der Schule Gelernte in ihremLebensalltag anwenden? Hat ein Training von Lern-strategien (~ Lernstrategien und Lernstile) derenzukünftigen Einsatz zur Folge? Findet also eineÜbertragung von Wissen und/oder Fertigkeiten aufneue Aufgaben überhaupt statt? Die Antwort aufdiese Fragen hängt stark von der Definition dessen,was als Transfer gelten soll, und von den Kriterienund Erwartungen ab, die an das Auftreten vonTransfer gestellt werden.

Verschiedene TransferbegritfeGrundsätzlich ist "Transfer" fast ausschließlich mitpositiver Konnotation verbunden, dennoch sindauch negativer Transfer bzw. Interferenz denkbar(vgl. Pennington & Rehder, 1995). Wenn neuesLernen oder Problemlösen durch vorangegangenesLernen erleichtert wird, spricht man von positivemTransfer, wirkt sich das frühere Lernen hemmendauf die Lösung neuer Aufgaben aus, so hat negativerTransfer stattgefunden. Letzterer besteht darin, dassdie Veränderung von Wissen bzw. Verhalten durchbereits verfügbare Kenntnisse und Fertigkeitenbeeinträchtigt wird. So ist beispielsweise häufig nachder Vermittlung von Regeln bzw. Problemlösestrate-gien zu beobachten, dass es anschließend zu Überge-neralisierungen und damit Fehllösungen neuer Auf-gabenanforderungen kommt. Neben mangelndenKenntnissen über die Grenzen der Anwendbarkeitdes neu Erworbenen können auch eine psychischeSättigung bzw. Demotivierung für bestimmte Hand-lungen oder auch eine Deautomatisierung ehemalshochautomatisierter Handlungsroutinen (zumindestvorübergehend) zu schlechteren Handlungskompe-tenzen führen (vgl. z.B. Hasselhorn & Mähler, 1993).

Beschränkt man sich auf die Betrachtung posi-tiven Transfers, so lassen sich eine Reihe weitererDimensionen zur Beschreibung von Transferlei-stungen heranziehen. So versteht man unter litera-lern Transfer die Übertragung einer intakten Fertig-keit bzw. Kenntnis auf neue Lernaufgaben des glei-chen Typs (z.B. die Übertragung der beim Addierenzweistelliger Zahlen erworbene Technik des schrift-lichen Addierens auf das Addieren mehrstelligerZahlen). Mit figuralem Transfer bezeichnet er dage-gen die per Analogie-Schluss erfolgende Übertra-gung der vermittelten Fertigkeiten bzw. Kenntnisseauf neue Problemstellungen (z.B. das Ableiten derRegeln für das schriftliche Subtrahieren aufgrundder Kenntnis des schriftlichen Addierens).

Eine weitere wichtige Unterscheidung themati-siert die Reichweite der zu übertragenden Wissens-elemente. Beim spezifischen Transfer überträgt dielernende Person eng umgrenzte neu erworbeneFertigkeiten oder spezifische inhaltliche Kenntnisseauf eine neue Situation. So liegt Z.B. spezifischerTransfer vor, wenn eine Person im Erdkundeunter-richt gelernt hat, welche Landeshauptstädte zu wel-

1 Kriterien zur Bestimmung von Transfer I 783

ehen Bundesländern gehören, und wenn sie diesesWissen zur Lösung eines Kreuzworträtsels nutzenkann. Die Person kann aber auch im Erdkunde-Unterricht für sich herausgefunden haben, wie manFakten auswendig lernen kann oder wie man sichselbst zum Lernen motiviert. Wenn solche Strate-gien oder Prinzipien in anderen Kontexten oderanderen Lernfeldern genutzt werden, dann sprichtman von unspezifischem (manche Autoren auch vongenerellem) Transfer.

Die drei zuletzt skizzierten Unterscheidungen desTransferbegriffs entstammen zwar unterschied-lichen theoretischen Denktraditionen, ähneln sichaber in einer Hinsicht sehr stark: Bei der jeweilsbenannten Dichotomie ist der Unterschied bzw. dieDistanz, die zwischen der Situation, in der eineFertigkeit bzw. eine Kenntnis erworben wird, undder Transfersituation unterschiedlich groß. So sindbeim lateralen bzw. horizontalen, beim literalen undbeim spezifischen Transfer geringere Übertragungs-distanzen zu überwinden als beim vertikalen, figu-ralen und unspezifischem Transfer. Der Grundge-danke, dass der Grad der Unähnlichkeit zwischenursprünglicher Lernsituation und Transfersituationein entscheidendes Qualitätsmerkmal für die Trans-ferwirkungen darstellt, hat zu der wenig präzisefestgelegten Unterscheidung zwischen proximalem(nahem) und distalem (weitem) Transfer geführt.Diese Unterscheidung hat den Vorteil, stärker alsdie bisher skizzierten Unterscheidungen zu berück-sichtigen, dass es ein Kontinuum von Situationenbzw. Anforderungen mit zunehmender Unähnlich-keit gegenüber der ursprünglichen Lernsituationbzw. Lernanforderung gibt. Dieses Kontinuumgenauer zu beschreiben ist Ziel der im Folgendendargestellten Ansätze.

Klassifikation von TTansfeTleistungenSolange keine einheitlichen Dimensionen zur Beur-teilung von Lernübertragungswirkungen festgelegtsind, können Ergebnisse aus empirischen Studienzum Lerntransfer kaum miteinander verglichenwerden. Insbesondere die Frage, ob distaler Transferüberhaupt möglich ist, lässt sich nur durch einenkontrollierten Vergleich der vielen inzwischen vor-liegenden Transferstudien beantworten. Barnett &Ceci (2002) haben hierzu ein Rahmenmodell vorge-

784 I Transfer

legt, das spezifische Dimensionen für die Einschät-zung des Kontinuums zwischen proximalem unddistalem Transfer vorgibt und das damit eine Art ~Metaanalyse vorliegender Studien ermöglicht. Alssinnvolle Dimensionen werden hier zum einen eineInhaltskomponente (Was wird transferiert?) und eineKontextkomponente (Wann und wo findet Transferstatt?) vorgeschlagen.Inhaltskomponente. Mit der Inhaltskomponentesoll beschrieben werden, welche Fertigkeiten voneiner Lern- in eine Anwendungssituation übertra-gen werden sollen. Müssen Z.B. spezifische eng um-schriebene Prozeduren oder generelle Problemlöse-strategien übertragen werden? Weiterhin ist zubeurteilen, in welcher Weise sich die Ausführungeiner Fertigkeit möglicherweise verändert hat. Hierkann sich das Tempo verändert haben oder auch dieQualität der Ausführung einer Problemlösung. Undschließlich wird die inhaltliche Komponente derÜbertragungsdistanz dadurch bestimmt, welche Artvon Gedächtnisoperationen für den Transfer erfor-derlich ist. So sollte es von Bedeutung sein, ob einePerson lediglich die Ähnlichkeit mit der Lernsitua-tion erkennen und eine Strategie anwenden solloder ob sie sich zwischen mehreren möglichenHandlungsalternativen entscheiden muss. Insge-samt wird also mit der Inhaltskomponente die Artdes "Anforderungstransfers" (Hager & Hasselhorn,2000) genauer beschrieben.Kontextkomponente. Mit den Dimensionen derzweiten Komponente, der Kontextkomponente,werden verschiedene Merkmale der jeweiligen Situa-tionen, in denen etwas gelernt bzw. später angewen-det werden soll, bezüglich ihrer Ähnlichkeit oderUnähnlichkeit genauer betrachtet. Damit kann be-stimmt werden, unter welchen situativen und zeitli-chen Bedingungen Transfer stattfindet ("Situations-transfer" und "zeitlicher Transfer" im Sinne vonHager & Hasselhorn, 2000; vgl. auch Hasselhorn &Mähler, 2000). Als relevante Dimensionen werdenhier eine ganze Anzahl von Aspekten genannt, dienicht global, sondern jeweils getrennt auf dem Kon-tinuum zwischen nahem und weitem Transfer einge-schätzt werden sollen (Barnett & Ceci, 2002):~ Wissensdomäne (handelt es sich um verwandte

Gebiete, wie z.B. Transfer von Kenntnissen überMäuse auf Ratten, oder müssen Kenntnisse in

Naturwissenschaften auf Geschichte oder Kunstübertragen werden?);

~ physikalischer Kontext (findet Lernen und An-wenden im gleichen Raum, z.B. im Klassenzim-mer, oder an ganz verschiedenen Orten statt?);

~ zeitlicher Kontext (finden Lernen und Anwen-den innerhalb einer Sitzung statt oder liegenmöglicherweise Jahre dazwischen?);

~ funktionaler Kontext (findet Lernen und An-wenden gleichermaßen im Ausbildungskontextstatt oder erfolgt die Anwendung des Gelerntenin einem ganz anderen, z.B. spielerischen Kon-text?);

~ sozialer Kontext (welche Personen sind an Lern-situation und an Anwendungssituation beteiligt- soll individuell Gelerntes allein oder im Kon-text einer großen Gruppe angewendet werden?);

~ Modalität der Informationsverarbeitung (findenLernen und Anwenden mit Hilfe der gleichenModalität, Z.B. Schreiben, statt oder muss ge-wechselt werden, z.B. vom Lesen zum Zeich-nen?).

Eine solche Taxonomie zur Beurteilung von mögli-chen Transfereffekten und Transferdistanzen kannein erster Schritt sein, die lange unbeantworteteFrage nach der Existenz von Transfer durch einegenauere qualitative Betrachtung präziser zu beant-worten. Pädagogisch-psychologische Trainingspro-gramme und ebenso schulischer Unterricht lassensich hinsichtlich ihrer Wirksamkeit evaluieren (~Evaluation) und vor allem miteinander vergleichen(~ Kognitives Training). Darüber hinaus ergibtsich durch die genauere Kenntnis der Bedingungen,unter denen Transfer bereits beobachtet wurde, dieMöglichkeit, die Kontexte von Lern- und Anwen-dungssituationen gezielt und kontrolliert zu variie-ren, um schließlich Lernbedingungen so zu opti-mieren, dass Training und Unterricht ihrenInterventionszielen möglichst nahe kommen.

2 Erklärungen für ausbleibenden bzw.erfolgreichen Transfer

Die Forschung der vergangenen Jahrzehnte hatgezeigt, dass menschliche Kognition weitaus situati-ons- und anforderungsspezifischer ist, als dies lange

Zeit in Theorien der Informationsverarbeitung an-genommen wurde (- Situiertes Lernen). Aufga-ben aus unterschiedlichen Inhaltsgebieten könnensich trotz isomorpher Struktur deutlich in ihrerSchwierigkeit unterscheiden, und die beim Lösenbestimmter Aufgaben erworbenen Strategien wer-den nur selten spontan auf neue Aufgaben ähnlicheroder gleicher Struktur übertragen (Detterman,1993; Stern, 2001; ~ Träges Wissen). Die Ergebnis-se der Forschung zur ~ Expertise gehen in eineähnliche Richtung: Menschen, die in einem be-stimmten Bereich Höchstleistungen erbringen,erweisen sich in anderen - teilweise sogar angren-zenden - Bereichen als lediglich durchschnittlich(Ericsson, Krampe & Tesch-Römer, 1993).

Auch zahlreiche gescheiterte Versuche, die allge-meine Lern- und Denkfähigkeit zu trainieren (-Förderung kognitiver Fähigkeiten), sprechen für dieBereichsspezifität menscWicher Kognition. So wurdein Israel ein Programm entwickelt, das die lernfähig-keit von Einwandererkindern mit bildungsfernemHintergrund verbessern sollte. Trainiert wurdenAufgaben, die Intelligenztests ähnelten. Es zeigte sichaber, dass zwar die Intelligenztestleistung verbes-sert werden konnte, das Trainingsprogramm je-doch ohne Einfluss auf die Schulleistung blieb. Dasbei der Bearbeitung von intelligenztestähnlichenAufgaben erworbene Wissen ist nicht übertragbar(Zusammenfassung der Befunde bei Salomon &Perkins, 1989).

Das vielfach beobachtete Auseinanderklaffen vonschulischem Wissen und Alltagswissen stellt einegroße Herausforderung für die Pädagogik und diePädagogische Psychologie dar. Der Schule fällt dieAufgabe zu, auf die größtenteils noch unbekanntengeistigen Anforderungen des späteren Lebens vor-zubereiten, und es stellt sich die Frage, wie dies inoptimaler Weise erreicht werden kann. Eine Kon-troverse um diese Frage wurde bereits vor mehr als200 Jahren zwischen Vertretern von didaktischemMaterialismus und didaktischem Formalismusgeführt. Die Anhänger materialer Bildungstheorienvertraten die Ansicht, dass in der Schule all dasWissen erworben werden müsse, das man im Er-wachsenenalter benötige. Vertreter der formalenBildungstheorie waren dagegen von der Möglichkeitüberzeugt, den menschlichen Geist als solchen zu

2 Erklärungen für ausbleibenden bzw. erfolgreichenTransfer I 785

Wann können Grundschulkinder Experimentierprinzipien transferieren?Wissenschaftliches Denken basiert auf der Fähig-keit, Experimente zu planen, bei denen Variablenso kontrolliert werden, dass sie eindeutige logischeSchlüsse ermöglichen. Dies gelingt Grundschul-kindern spontan nur selten. Chen und Klahr(1999) untersuchten, welche Trainingsbedingun-gen helfen, die Logik des wissenschaftlichen Expe-rimentierens zu verstehen und in neuen Kontextenanzuwenden.~ Stichprobe und Vorgehen

Kinder der 2. bis 4. Klassenstufen wurden zu-erst mit einer Aufgabe zur Vorhersage derDehnung einer Sprungfeder konfrontiert, inder sie das Experimentieren mit verschiedenenVariablen (Federlänge, Gewindedurchmesser,Durchmesser des Drahtes) durch Anhängenvon Gewichten ausprobieren konnten. In dreiTrainingsbedingungen wurden Strategien derVariablenkontrolle vermittelt: Ein explizitesTraining (direkte Instruktion) und zwei impli-zite Trainings (~ Entdeckendes Lernen, er-gänzt durch Hinweise oder gelenkte Fragen).Anschließend erhielten die Kinder Transferauf-gaben mit unterschiedlicher Transferdistanz:sehr naher Transfer (Aufgabe mit dem gleichenMaterial), mittlerer Transfer (Aufgaben, die dieAnwendung der gleichen Strategie in neuenDomänen erforderten, z.B. Vorhersage desSinkens von Objekten in Abhängigkeit vonGröße, Form, Materialbeschaffenheit). SiebenMonate später wurden die Kinder erneut gete-stet (große Transferdistanz). Aufgaben: (a) Pa-pier- und Bleistift-Aufgaben bearbeiten, anstattwie in der Trainingsphase selbst zu experimen-

fördern, wenn man das Richtige in der rechtenWeise lerne (Weinert & Schrader, 1997).

Gemeinsame Wissenselemente: Thomdikes Pionier-leistungBereits vor mehr als hundert Jahren hat EdwardThorndike aus der Tradition des Behaviorismusheraus die Theorie der gemeinsamen Wissensele-mente als Gegenpol zur Theorie der formalen Bil-

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tieren, (b) vorgegebene Lösungen beurteilenund nicht selbst Vorschläge generieren, (c) Ex-perimentiervorschläge zu verschiedenen Do-mänen (Wachstum von Pflanzen, Kekse ba-cken, Flugzeugkonstruktion, Getränkeverkaufund Laufgeschwindigkeit) beurteilen.

~ Ergebnis"Variablenkontrolle" wird nur selten spontangezeigt, die impliziten Trainings bringen kaumErfolge. Beim expliziten Training zeigen sichhingegen Effekte in Abhängigkeit vom Alter:Zweitklässler können die Strategie erlernen,aber nur in sehr nahen Transferaufgaben in-nerhalb der gleichen Domäne anwenden; Dritt-klässler vermögen die erworbene Strategie auchmit neuen Materialien in verwandten Proble-men der gleichen Domäne (hier Physik) anzu-wenden; nur Viertklässler sind nach längererzeitlicher Verzögerung in der Lage, die erlernteStrategie zur Problemlösung in verändertemPräsentationsformat in neuen, teils alltagsbezo-genen Inhaltsbereichen zu nutzen.

~ KommentarDies ist ein gutes Beispiel für den Nutzen derAnwendung präziser Transferkriterien, wie sievon Barnett & Ceci (2002) vorgeschlagen wer-den. Die Studie lässt sich genau auf den ver-schiedenen Dimensionen von nahen vs. ent-fernten Transfer-Kontexten einordnen, daeinige Aspekte gezielt variiert wurden. Die Re-sultate verdeutlichen: Eine generelle Frage wie"Können Grundschulkinder wissenschaftlichesExperimentieren erlernen und anwenden?" istnicht sinnvoll gestellt.

dung aufgestellt und nach empirischer Evidenzgesucht. Thorndike und Woodworth (1901) veröf-fentlichten ein entscheidendes Experiment zu denGrundlagen des Lerntransfers: Zunächst wurdenVersuchsteilnehmer darin trainiert, den Flächenin-halt von Dreiecken unterschiedlicher Größe zuschätzen. Nachdem sich deutliche Kompetenzzu-wächse zeigten, wurde die Schätzung der Fläche vonbisher nicht verwendeten geometrischen Formen

wie Kreisen und Trapezen verlangt. Hier schnittenVersuchsteilnehmer, die zuvor Dreiecke geschätzthatten, nicht besser ab als untrainierte Versuchsteil-nehmer. Aus diesem Ergebnis entwickelte Thorndi-ke die Theorie der identischen Elemente, der zufolgedie Bearbeitung einer Aufgabe die Bearbeitung eineranderen Aufgabe nur dann erleichtert (d.h. Lern-transfer nur dann stattfmdet), wenn bei der Bewäl-tigung bei der Aufgaben auf die gleichen Wissens-elemente zurückgegriffen werden kann.

Auch andere Experimente zeigen, dass es zurÜbertragung bekannter Lösungsstrategien auf neueInhaltsbereiche nur dann kommt, wenn bei derTransferaufgabe die gleichen Wissenselemente ge-nutzt werden können wie bei den Aufgaben, mitdenen diese Strategien eingeübt wurden. Es gehörtmittlerweile zu den am häufigsten replizierten Be-funden in der kognitiven Psychologie, dass derLerntransfer ausbleibt, wenn diese Übereinstim-mung der Wissenselemente fehlt. Ungeachtet dieserempirischen Befunde beeinflusst jedoch die Idee derformalen Bildung, die auf der Vorstellung vomunspezifischen Lerntransfer beruht, weiterhin unse-re Schulkultur. Manchen Schulfächern wie zumBeispiel dem Lateinunterricht wird noch immereine unspezifische Verbesserung des logischen Den-kens und der allgemeinen Lernfähigkeit nachgesagt,obwohl Thorndike (1924) keinerlei Transfereffektedieses Faches auf andere Schulfächer finden konnte.Fast 100 Jahre später konnten Haag und Stern(2000, 2003) dies mit neueren Methoden bei deut-schen Schülern zeigen. In Einklang mit der Theorieder gemeinsamen Wissenselemente zeigten sich beidiesen Arbeiten positive und negative Transfereffek-te in einigen sprachlichen Leistungsbereichen.

Die Theorie der gemeinsamen Wissenselementeerlaubte eine neue Sicht auf Lernprozesse, wurdeaber nach der kognitiven Wende zunächst nichtweiter entwickelt. Universelle Mechanismen, wie siebeispielsweise in Piagets Theorie angenommenwerden, standen zunächst im Mittelpunkt. Seitdemjedoch die Bedeutung des bereichs spezifischen Wis-sens für geistige Leistungen erkannt wurde (~ Ex-pertise), stellt sich die Frage nach den Grundlagendes Transfers neu. Die inzwischen entwickeltenkognitiven Architekturen zur Repräsentation vondeklarativem und prozeduralem Wissen erlauben

eine Präzisierung dessen, was Thorndike unter Wis-senselementen verstand. So haben Singley und An-derson (1985) auf der Grundlage von Produktions-regeln Transferprozesse modelliert und konntenihre Annahmen in einer Untersuchung zum Um-gang mit Computereditoren validieren. Eine vielbeachtete kognitionspsychologische Weiterent-wicklung der Theorie der gemeinsamen Wissens-elemente wurde von Greeno, Smith & Moore (1993)veröffentlicht. Ihr ist der folgende Abschnitt ge-widmet.

Mentale WerkzeugeAuf der Grundlage von Gibsons ökologischer Kog-nitionstheorie haben Greeno et a1. (1993) einentheoretischen Ansatz entwickelt, der erklären kann,unter welchen Bedingungen erfolgreicher Wissens-transfer möglich ist. In der ökologischen Kogniti-onstheorie stellt die externe Welt Handlungsange-bote ("affordances") zur Verfügung. Entwicklungs-und Lernfortschritte bestehen im Erkennen und inder Nutzung dieser Angebote. Ein fester Unter-grund z.B. bietet Halt bei der Fortbewegung, einAngebot, das jedoch erst genutzt werden kann,wenn die perzeptiven und motorischen Vorausset-zungen gegeben sind. Wissen wird in diesem Ansatznicht als ein mentaler Zustand verstanden, sondernals eine Interaktion zwischen Individuum und Um-welt. Brown und Kane (1988) haben bereits bei sehrjungen Kindern Transfer im Gebrauch konkreterWerkzeuge nachweisen können, wenn diese sichzwar in den Oberflächenmerkmalen unterscheiden,in ihrer Funktion jedoch identisch sind. Die funkti-onale Ähnlichkeit zwischen Elementen der externenWelt hängt von den Anforderungszielen ab: Möchteman sein Haupt vor Sonneneinstrahlung schützen,können Zeitungspapier und Regenschirm ähnlicheFunktionen übernehmen; möchte man sich vorRegen schützen, hingegen nicht.

Überträgt man die Annahmen der ökologischenKognitionstheorie auf die Welt der geistigen Kon-strukte, können Kommunikationsmittel wie die na-türliche und die formale Sprache sowie bildlich-graphische Darstellungsformen als Werkzeuge zurmentalen ModelIierung verstanden werden. Mit Hilfedieser Werkzeuge werden potentielle Ereignisse undSituationen zur Abwägung von Handlungsalternati-

2 Erklärungen für ausbleibenden bzw. erfolgreichen Transfer I 787

ven simuliert. Die angemessene Nutzung der erwähn-ten Werkzeuge erfordert die Berücksichtigung vonPrinzipien, d.h. von Möglichkeiten und Einschränkun-gen ("affordancesu und "constraintsU

).

Der Gebrauch der Sprache unterliegt Einschrän-kungen, die durch Syntax, Semantik und Pragmatikvorgegeben sind. Diese Regeln gelten weitgehendunabhängig vom Inhaltsgebiet und bilden die Vor-aussetzungen dafür, dass wir uns prinzipiell in neueInhaltsgebiete einarbeiten können. Möglichkitenund Einschränkungen in der Sprachnutzung bildendie Grundlage für Analogien und Metaphern, wel-che die Grundlage für Wissenstransfer bilden kön-nen.

Formal-mathematische Sprachen können zur Mo-dellierung von externen Ereignissen, Situationenund Handlungen herangezogen werden. So könnennatürliche Zahlen zur Bezeichnung diskreter Men-gen genutzt werden, weil die Nutzung der Zahlenund die Manipulationsmöglichkeiten an konkretenObjekten gleichen Möglichkeiten und Einschrän-kungen unterliegen. Für jede quantitative Manipu-lation an konkreten Mengen, d.h. für jede Vergrö-ßerung und Verkleinerung von Mengen, gibt es eineverbale Entsprechung, da für jede hergestellte Men-ge ein Zahlsymbol zur Verfügung steht. Entspre-chungen zwischen mathematischen Operationenund einigen Handlungen in der konkreten Weltbestehen auch bezüglich des Prinzips der Kommu-tativität. Die Addition zweier Zahlen unterliegtdiesem Prinzip ebenso wie die konkrete Handlungder Kombination zweier Mengen, z.B. bei der Her-stellung von Milchkaffee.

Neben formalen und natürlichen Sprachen kön-nen graphische Darstellungen als mentale Werk-zeuge genutzt werden (---+ Visuelles Lernen). Sokönnen sich Unterschiede in der Mächtigkeit vonMengen in Unterschieden in der Höhe von Säulen-diagrammen widerspiegeln. Die Linien und Winkeleines Stadtplans oder einer Landkarte korrespondie-ren mit Möglichkeiten und Einschränkungen beider Bewegung im realen Raum. Die Veranschauli-chung von Zusammenhängen zwischen Variablenin Vierfeldertafeln unterliegt ähnlichen Möglichkei-ten und Einschränkungen wie die konkrete Zu-ordnung von Gegenständen anhand bestimmterMerkmale.

788 I Transfer

Die Bewältigung einer kognitiven Anforderungs_situation, also das Lösen eines Problems, erfordertdie mentale Modellierung potentieller Handlungs-folgen. Mentale Werkzeuge werden genutzt, umunter Berücksichtigung der für das Handlungszielrelevanten Aspekte der externen Umgebung Situa-tionsmodelle zu konstruieren. Zum Wissenstransferzwischen Anforderungssituationen kann es kom-men, wenn der Umgang mit mentalen Werkzeugenzur Konstruktion von Situationsmodellen gleichenMöglichkeiten und Einschränkungen unterliegt. Un-terschiede in Details der Anforderungssituationenkönnen Lerntransfer verhindern. Greeno et al.(1993) haben dies ausgiebig am Beispiel mathemati-scher Textaufgaben diskutiert. So wird z.B. die Be-schleunigungsformel aus der Physik selten spontanauf die Zinseszinsrechnung angewendet, weil Ge-schwindigkeit eine kontinuierliche und Geld einediskrete Größe ist. Bei Stern (1998) wird der Ansatzvon Greeno et aL (1993) herangezogen, um Diskre-panzen beim Lösen einfacher Textaufgaben zurAddition und zur Subtraktion zu erklären. Auf eineVertiefung wird an dieser Stelle verzichtet, weil dieseBefunde ausgiebig bei Stern, Felbrich und Schneiderim Stichwort ---+ Mathematiklernen dargestellt wer-den.

3 Förderung von Transfer

Aus dem vorangegangenen Abschnitt wurde deut-lich, dass Transfer nur zu erwarten ist, wenn zurBewältigung der Anforderung (A) ("source") undder Anforderung (B) ("target") auf die gleichenWissensressourcen zurückgegriffen werden kann.Das heißt, dass es von der Art der Wissensrepräsen-tation einer Person abhängt, ob es zum Transferkommt oder nicht. Aber aus den vielfältig doku-mentierten Befunden zum gescheiterten Transferselbst bei isomorphen Aufgaben wissen wir, dass dasVorliegen von gemeinsam nutzbarem Wissen nochkeine Garantie für Transferleistung ist. Vielmehrherrscht inzwischen in der ---+ Lehr-Lern-ForschungÜbereinstimmung darüber, dass Transferleistungennicht ohne gezielte Interventionen zu erwarten sind.Dies trifft auch für intelligente Schüler (---+ Hochbe-gabung; ---+ Intelligenz und Begabung) zu: Der

menschliche Geist lernt anforderungs spezifisch undist bei der Bewältigung neuer Anforderungen eherzurückhaltend, was die Übertragung von bereitsetabliertem Wissen angeht. Diese Trägheit kannvorteilhaft sein, weil sie vor übereiltem Handelnschützt, aber sie erschwert natürlich das schulischeLernen. Wie soll man in institutionalisierten Lern-gelegenheiten mit der Situiertheit menschlicherKognition umgehen? Schule hat die Aufgabe, auf dienoch unbekannten Anforderungen des späterenLebens vorzubereiten. Im Folgenden werden dreiAnsätze skizziert, die zeigen, dass Transfer gelingenkann, wenn man die Tatsache berücksichtigt, dassbestehendes Wissen nicht automatisch zur Bewälti-gung neuer Anforderungen herangezogen wird,sondern nur dann, wenn es speziell dafür aufbereitetwurde.

Umgang mit mentalen WerkzeugenGeht man wie Greeno (Greeno et al., 1993; Greeno& Hall, 1997) davon aus, dass mentale Werkzeugedie Grundlagen des Wissenstransfers bilden, erge-ben sich Konsequenzen für das schulische Lernen:Der Erwerb von Kompetenzen im Umgang mitmentalen Werkzeugen muss im Mittelpunkt stehen.Zu Recht wird man fragen, was an dieser Forderungneu ist. Die Vermittlung von Kulturtechniken (-+Lesenlernen; -+ Mathematiklernen) war schon im-mer das zentrale Anliegen der Schule, und Kultur-techniken können als mentale Werkzeuge ver-standen werden. Möglicherweise aber verfolgt dieSchule ihr zentrales Anliegen nicht immer mit dernötigen Konsequenz. So wird Mathematik von denSchülern weitgehend als Selbstzweck erlebt. Von derMöglichkeit, mathematische Symbole in flexiblerWeise zur Modellierung von Situationen zu nutzen,wird in allen Klassenstufen nur selten Gebrauchgemacht. Welche Prinzipien bei der Neukombina-tion von sprachlichen Elementen zu beachten sind,wird nur selten im Deutschunterricht thematisiert.Der Umgang mit graphischen Darstellungsformenwird im Mathematikunterricht bisher nur unzurei-chend geübt.

Wem es beispielsweise gelingt, einen komplexenkausalen Sachverhalt in einem Inhaltsgebiet elo-quent darzustellen, der kann bei der Beschreibungvon vergleichbaren Zusammenhängen in anderen

Gebieten auf bestimmte Redewendungen zurück-greifen und hat damit einen Startvorteil. Als Ergeb-nis einer häufigen und intensiven Auseinanderset-zung mit schriftlichem Material in bestimmtenInhaltsbereichen kann sich Strategiewissen zumLesen von Texten entwickeln, das bei der Einarbei-tung in neue Gebiete Vorteile bringt. Dazu bedarf esnicht eines direkten Strategietrainings, sonderneiner Vielzahl von Texten unter den verschiedenstenAufgabensteIlungen (Palincsar & Brown, 1984; -+Metakognition; -+ Leseverständnis; -+ Textver-ständnis).

Bei Greeno und Hall (1997) wie auch bei Novickund Hmleo (1994) wird das besondere Transfer-potential graphisch-visueller Veranschaulichungendiskutiert. Diese Symbolsysteme dienen nicht nur derKommunikation von Wissen, sondern bilden dar-über hinaus die Grundlage für die Konstruktion vonneuen Inhalten. So ist beispielsweise das physikalischeKonzept der Dichte daran gebunden, dass man dieBeziehung zwischen Masse und Volumen mit Hilfemathematischer Werkzeuge modellieren kann. Die-selben mathematischen Symbole können genutztwerden, um Geschwindigkeiten oder Stückpreise zumodellieren. Diesen Größen ist gemeinsam, dass siesich durch die Steigung des Graphen einer linearenFunktion in einem Koordinatensystem darstellenlassen. Hat man verstanden, dass die Steigung desGraphen einer linearen Funktion als die Rate derVeränderung der auf der y-Achse abgetragenenVariablen in Abhängigkeit von der auf der x-Achseabgetragen Variablen interpretiert werden kann,dann ist man auch in der Lage, diese Form gra-phisch-visueller Veranschaulichung zur Strukturie-rung neuer Inhalte heranzuziehen. Ein zentralesLernziel im Mathematikunterricht sollte daher darinbestehen, zum flexiblen Umgang mit diesen Re-präsentationswerkzeugen zu befähigen. An deut-schen Schulen werden jedoch lineare Funktionen zuspät, zu abstrakt und zu kurz eingeführt, so dass dieSchüler deren Potential als Denkwerkzeuge nichtwirklich kennen lernen. Werden Schülern hingegenAufgaben gestellt, bei denen Konzepte wie Dichteoder Geschwindigkeit mit Hilfe von Graphen darge-stellt werden müssen, werden sie fast zwangsläufigzum Nachdenken über bestimmte Aspekte angeregt,etwa über die inhaltliche Bedeutung des Achsenab-

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schnitts eines Graphen. Für "Geschwindigkeit"lassen sich Situationen denken, in denen derGraph nicht im Nullpunkt beginnt, für das Kon-zept "Dichte" hingegen nicht: Masse und Volumenbedingen einander. Auf diese Weise wird Wissenüber die Materie konstruiert, das im Physikunter-richt von Nutzen sein kann (Stern, Aprea & Ebner,2003).

BewussteVergleiche und AnalogiebildungAus den bisherigen Darstellungen ging hervor, dassdie Voraussetzung für Lerntransfer nicht die ob-jektive Ähnlichkeit von Lern- und Anwendungs-situation ist, sondern die subjektiv wahrgenommeneÜbereinstimmung im Wissen. Wenn das verfügbareWissen einer Person nicht so organisiert ist, dass diefür die Bewältigung einer Aufgabe entscheidendenGemeinsamkeiten zwischen zwei Anforderungssitu-ationen erkannt werden, kann kein Transfer statt-finden. Zum negativen Transfer kann es kommen,wenn Gemeinsamkeiten zwischen Anforderung A("source") und Anforderung B ("target") gesehenwerden, die nicht zur Lösung von B beitragen, d.h.wenn unangemessene Analogien hergestellt werden.Lernende, die sich von Oberflächenähnlichkeitenbei der Analogiebildung leiten lassen, können einevöllig falsche Richtung einschlagen. Dies konnte fürmathematische Textaufgaben (Bassok & Holyoak,1989) ebenso gezeigt werden wie für wissenschaftli-ches Denken, z.B. aus dem Bereich der Physik(White, 1993). Analogiebildung führt keineswegsautomatisch zu Transferleistung. Auch wenn ineinigen Fällen gezeigt werden konnte, dass es zumpositiven Transfer kommt, wenn die aus einem gutverstandenen Inhaltsgebiet abgeleiteten Prinzipienauf ein neues Gebiet übertragen werden (Holyoak &Thagard, 1998), so ist dieses Vorgehen doch aufFälle beschränkt, bei denen ein Lernender bereitsein Inhaltsgebiet so gut verstanden hat, dass unter-schiedliche Aufgaben gelöst werden können. DieKognitionspsychologin Gentner betont jedoch, dasssolche weitreichenden Voraussetzungen gerade beivielen Schülern nicht gegeben seien und dass des-halb effizienter analoger Transfer eher die Ausnah-me als die Regel sei. Gerade wenn ein neues Prinzipgelernt werden soll, kann nicht erwartet werden,dass die Schüler bereits über gut ausgearbeitete

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Wissensrepräsentationen verfügen, welche sie aufneue Anforderungen übertragen können.

In der Arbeitsgruppe um Gentner wurde an Ver-schiedenen Inhaltsbereichen und für Lernende unter-schiedlicher Arbeitsgruppen gezeigt, dass der syste-matische Vergleich zwischen zwei nicht vollständigverstandenen Situationen zum Erwerb von transfe-rierbarem Wissen führen kann. So konnte das physi-kalische Prinzip der Wärmeleitung verstanden wer-den, wenn zwei zunächst gegensätzlich aussehendeSituationen miteinander verglichen wurden: DasSchmelzen eines auf einem Metallstab aufgespießtenEiswürfels, wobei der Metallstab in einem Glas mitheißem Wasser steckt, sowie das Stocken einesPfannkuchens in einer auf einem heißen Ofen ste-henden Pfanne (Kurtz, Miao & Gentner, 2001). Ineiner Reihe von systematisch angelegten Unter-suchungen haben Gentner, Loewenstein undThompson (2003) am Beispiel des Inhaltsgebietes"Verhandlungsstrategien" das Transferpotential desanalogen Enkodierens nachgewiesen. Mit der Me-thode der analogen Enkodierung wird offensicht-lich ein Wissensnetzwerk aufgebaut, in dem einer-seits abstrakte Regeln und Prinzipien und anderer-seits konkrete Fallbeispiele mit ihren Kontextbedin-gungen integriert sind. Auf dieser Grundlage kön-nen Lernende auf verschiedene Aufgaben flexibelund adäquat reagieren, also Transferleistungen er-bringen.

Metakognitive KontrolleMit der kognitiven Wende in den 1960er Jahrenkam es zu vielen theoretischen Umorientierungenin der Psychologie, die nicht ohne Konsequenzenfür die theoretischen Konzeptionen des Trans-fers blieben. Im Zuge der Analyse von Informa-tionsverarbeitungsprozessen kristallisierte sich einneuer Typus von Transfertheorien heraus, bei demdie Rolle der metakognitiven Kontrolle und Über-wachung von Informationsverarbeitungsprozessenbzw. Fertigkeiten betont wird. Unter ~ Metakogni-tion versteht man eine Reihe von Phänomenen,Aktivitäten und Erfahrungen, die mit dem Wissenund der Kontrolle über eigene kognitive Funktionen(z.B. Lernen, Gedächtnis, Verstehen, Denken) ver-bunden sind. Metakognitionen können daherKommandofunktionen der Steuerung und Regula-

tion bewussten Lernens übernehmen. Wichtigemetakognitive Prozesse bestehen darin, die Anfor-derungen eines Problems zu erfassen, einen Lö-sungsplan zu konstruieren, eine angemessene Lö-sungsstrategie auszuwählen, die sukzessive Annä-herung an das Ziel zu überwachen und denLösungsplan - falls erforderlich - zu modifizieren.Da diese Prozesse von relativ bereichsübergreifenderNatur sind, ist mit ihnen seit langem die Hoffnungauf Transfer verknüpft (vgl. Brown et al., 1983;Hasselhorn & Körkel, 1983). Anfängliche und teilsvergebliche Versuche, Personen durch direktesVermitteln metakognitiver Prozesse zum positivenLerntransfer zu befähigen, mündeten in den 1980erJahren in eine Grundsatzdiskussion darüber, obMetakognitionen isoliert oder in Kombination mitbereichsspezifischen Fertigkeiten trainiert werdensollten. Aus dem metakognitiven Ansatz ergibt sichzunächst einmal die praktische Implikation, meta-kognitive Fertigkeiten der überwachung und Regu-lation eigener Informationsverarbeitung direkt zuvermitteln (vgl. Mayer & Wittrock, 1996). Jedochhat sich in den letzten Jahren immer häufiger ge-zeigt, dass die Wirkungsintensität von Interventio-nen, in denen ausschließlich Metakognitionen ver-mittelt werden, relativ bescheiden ausfällt, weshalbdieser Ansatz mittlerweile als überholt eingestuftwerden kann. Metakognitive Instruktionen dienenjedoch als Transfervehikel für bereichs spezifische

Fördermaßnahmen: Bereichsspezifische Kenntnisseund Fertigkeiten aus dem Zielbereich der Interven-tionsmaßnahme werden ergänzt durch breit ein-setzbares Wissen über den Gebrauch von Hilfs-mitteln und Arbeitstechniken. Insbesondere wenndiese bei der Lösung von Aufgaben angeboten wer-den, die ansonsten nicht hätten gelöst werden kön-nen, und wenn sie zudem explizit gemacht werden,steigt die Wahrscheinlichkeit eines Transfers aufneue Aufgaben (Hasselhorn, 1998; Hasselhorn &Hager, 1998; Veenmann, Wilhelm & Beishuizen,2004).

Obwohl sicherlich mit den verschiedenen theoreti-schen Ansätzen zur Förderung von Transfer durch-aus Erfolgsoptimismus verbunden ist, scheinen dochalle theoretischen Positionen an eine gemeinsameGrenze zu stoßen: Positiver Transfer hängt nicht nurvon gemeinsamen Elementen in Basisaufgabe undZielaufgabe, von der Übertragbarkeit genereller Prin-zipien, von der Möglichkeit zu Analogiebildung odervon metakognitiver Kontrolle ab - entscheidend istdarüber hinaus die individuelle Motivationslage desLernenden. Hier ist zu beachten, dass Transfer nurdann zu erwarten ist, wenn die Motivation zur jewei-ligen Aufgabenbearbeitung sowohl in der Lernphase(Basisaufgabe) als auch in der Anwendungsphase(Zielaufgabe) hoch ist und dem Lernstoff sowie derLernsituation eine hohe Wertschätzung entgegenge-bracht wird (Steiner, 1996).

Traditionelle und metakognitive Transfertheorie: Gemeinsamkeiten und UnterschiedeMayer und Wittrock (1996, 51) haben die allge-meinen und spezifischen Elemente der metakogni-tiven Transfertheorie prägnant zusammengefasst:"Consistent with the general transfer view, meta-cognition depends on extremely general intellec-tual skills - skills that presumably develop throughmental exercise in solving or observing the solu-tion of a wide variety of problems. However, incontrast to the general transfer of skills view,metacognition is viewed as a collection ofhigh-level skills rather than as a single monolithic abil-ity. Consistent with the specific transfer of generalskills view, problem solvers need to possess

knowledge of general principles or relationships,and consistent with the specific transfer of specificbehaviors view, problem solveis also need domain-specific skills. However, in contrast to these views,the description of general and specific prerequi-sites for transfer involves more precise descriptionsof information processing processes and strategies.In the metacognitive view of transfer, problemsolvers are managers of their general and specificknowledge; they need to possess relevant specificand general knowledge, but they need to knowalsohow to use that knowledge in the context of prob-lem solving."

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