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VI. Ueber Erythromelalgie. Eine klinisehe und anatomische Untersuehung. u Dr. Siegmunfl Auerbaeh, in Frankfurt a. ~. (Mit 6 Abbildungen.) Unter ,,Erythromelalgie" hat man verschiedenartige Krankheits- bilder beschrieben, deren pr~ignanteste Symptome heftige Schmerzen in den Extremit~ten und vorzugsweise in ihren distalen Absehnitten, sowie ri~thliehe, such blliuliche Verf~rbung dieser Theile sind. Die Literatur tiber dieses Leiden ist in den letzten Jahren gewachsen. Die umfassendste und am meisten Klarheit verbreitende Arbeit ist wohl die yon G. L ewin und Th. Benda in tier Bediner klinischen Wochenschrift, 1S94, Nr. 3--6. -- Hier werden fast alle vert~ffent- lichten Beobachtungen yon Graves (1843) und Weir Mitchell (1872) an bis auf ihre eigenen und die yon Eulenburg (die ietzteren allerdings nur ganz kurz) auf der Naturforscherversammlung 1893 (aus- ftihrlieh in der Deutsehen medieinischen Woehensehrift, 1893, Nr. 50 publicirt) mitgetheilt und einer sichtenden Kritik unterzogen. Es kom- men meines Wissens noch hinzu: eine Publication yon Dehio (Bet- liner klinisehe.Wochenschrift, 1896, Nr. 37), 2 Flille yon Heimann (BerUner klinische Wochenschrift, 1896, Nr. 51) nnd endlich ein Fall yon S ehenk (Wiener medicinisehe Presse, 1896, Nr. 45). Diese neue- rcn VerGffentlichungen werde ieh noch wciter unten besprechen. L ewin und Ben da kommen zu folgenden Ergebnissen: ,,Der als Erythromelalgie bezeiehnete Symptomen- complex ist keineKrankheit suigeneris, sonderntheils eine Begleiterscheinung versehiedener (scilicet: organiseher) Gehirn- und Riiekenmarksleiden, theils ein Symptom nnter vielen der so tiberaus symptomenreichen allgemei- hen Neurosen, ttysterie, Neurasthenic u.s.w.,~heils ist er als Neuralgie oder Neuritis, theils als Reflexerkran-

Ueber Erythromelalgie

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VI.

Ueber Erythromelalgie. Eine klinisehe und anatomische Untersuehung.

u

Dr. Siegmunfl Auerbaeh, in Frankfur t a. ~ .

(Mit 6 Abbildungen.)

Unter ,,Erythromelalgie" hat man verschiedenartige Krankheits- bilder beschrieben, deren pr~ignanteste Symptome heftige Schmerzen in den Extremit~ten und vorzugsweise in ihren distalen Absehnitten, sowie ri~thliehe, such blliuliche Verf~rbung dieser Theile sind. Die Literatur tiber dieses Leiden ist in den letzten Jahren gewachsen. Die umfassendste und am meisten Klarheit verbreitende Arbeit ist wohl die yon G. L ewin und Th. B e n d a in tier Bediner klinischen Wochenschrift, 1S94, Nr. 3--6. - - Hier werden fast alle vert~ffent- lichten Beobachtungen yon G r a v e s (1843) und Wei r M i t c h e l l (1872) an bis auf ihre eigenen und die yon E u l e n b u r g (die ietzteren allerdings nur ganz kurz) auf der Naturforscherversammlung 1893 (aus- ftihrlieh in der Deutsehen medieinischen Woehensehrift, 1893, Nr. 50 publicirt) mitgetheilt und einer sichtenden Kritik unterzogen. Es kom- men meines Wissens noch hinzu: eine Publication yon Dehio (Bet- liner klinisehe.Wochenschrift, 1896, Nr. 37), 2 Flille yon H e i m a n n (BerUner klinische Wochenschrift, 1896, Nr. 51) nnd endlich ein Fall yon S e h e n k (Wiener medicinisehe Presse, 1896, Nr. 45). Diese neue- rcn VerGffentlichungen werde ieh noch wciter unten besprechen.

L ewin und Ben da kommen zu folgenden Ergebnissen: , ,Der als E r y t h r o m e l a l g i e b e z e i e h n e t e S y m p t o m e n -

c o m p l e x is t k e i n e K r a n k h e i t s u i g e n e r i s , s o n d e r n t h e i l s e i n e B e g l e i t e r s c h e i n u n g v e r s e h i e d e n e r (scilicet: organiseher) G e h i r n - u n d R i i e k e n m a r k s l e i d e n , t h e i l s e in S y m p t o m n n t e r v i e l e n der so t iberaus s y m p t o m e n r e i c h e n a l l g e m e i - hen N e u r o s e n , t t y s t e r i e , N e u r a s t h e n i c u . s . w . , ~ h e i l s i s t er als N e u r a l g i e ode r N e u r i t i s , t h e i l s als R e f l e x e r k r a n -

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k u n g a u f z u f a s g e n . " Die yon den meisten frUheren Autoren ge- ~tusserte Auffassung der Krankheit als einer vasomotorischen Neu- rose erschiipfe das Wesen der Sache nieht. Die vasomotorischen Erseheinungen tr~iten vor dem l:Iauptsymptome der neuralgischen Schmerzen in den Hintergrand und bildeten ein nebens~iehliches Sym- ptom. Ihre untergeordnete Bedeutung documentire sich aach darin, dass sie immer erst secund~r anftreten; nicht s ie rufen den Schmerz hervor, sondern u m g e k e h rt iblgten sie den Schmerzen, oft erst naeh l~tngerem Bestehen derselben. Diese beiden Merkmale der Erythro- melalgie k~tmen bei den verschiedenartigsten Krankheiten vor und h~ttten durchaus nichts Charakteristisches; eine Bereehtigung, eine selbstandige Krankheitsform aus ihnen zu construiren, ktlnne durch- aus nieht anerkannt werden.

Soweit L e w in and B e n da, welche mit diesen Sehltissen zweifel- lose Irrthtimer frUherer Autoren widerlegt batten. Auf sie folgt E u l e n b u r g (a. a. 0.) mit 3 Beobachtungen: die erste war eine Erythromelalgie in Verbindung mit juveniler progressiver Muskel- dystrophie bei einer 29j~ihrigen Frau; die zweite war eine Verbin- dung des Symptomes Erythromelalgie mit schwerer progressiver Cerebralerkrankung (Tumor?) mit congestiven und apoplectiformen Anflillen, sowie mit der Neigang zu Blntungen aus Nase and Retinal- gef~issen; die dritte endlieh betraf einen 54jiihrigen Schneider, dessen Mutter an derselben Krankheit gelitten haben soil, and bei welchem i~tiologiseh ausserdem noch Malaria, Ueberanstrengung der befallenen H~tnde, sowie eine Schnittverletzung in Betracht kam.

E u l e n b u r g eri~rtert an der Hand dieser Falle die Aetiologie und Differentialdiagnose und waist auf den Zusammenhang bin, in welchem die Erythromelalgie sowohl mit gewissen functionellen Stiirungen (Aero- par~isthesie, Acrodynie, Arteriospasmus) als auch mit Syringomyelie, Morvan 'seher Krankheit und mit dem yon G r a s s e t and R a n z i e r besehriebenen bulbo-medull~tren Symptomencomplex steht. Er kommt zu dem Schluss, dass es sich bei der Erythromelalgie am eine wahr- scheinlich centrale lqeurose handele, deren Ausgangspunkt er auf Grand der gleichzeitig bestehenden sensibeln, vasomotorisehen, secre- torischen und trophischen Sttirungen vorzu g s w e i s e in d ie h i n t e r e a n d s e i t l i c h e g r a u e S u b s t a n z des R t i c k e n m a r k e s verlegt. Indessen verftlgt er tiber keinen Sectionsbefund, welcher diese An nahme sttltzte. Im Anschluss an diesen Vortrag E u l e n b u r g ' s auf der Naturforscherversammlung zu Ntlrnberg 1893 berichtete E ding e r kurz fiber unseren unten beschriebenen Fall and sprach damals die Ansieht aus, dass er sich s~tmmtliche Erscheinungen durch eine Affee-

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tion des Wurzelapparates, aueh des centralen, erkl~iren kiinne.~ Wie wir sp~tter sehen werden, hat die mikroskopische Untersuchung die Riehtigkeit dieser Ansicht dargethan.

Deh io (a. a. 0.) theilt den Fall einer 50j~thrigen esthnischen B~tuerin mit, welche seit 4 Jahren unter zcitweiligem, mehr weni- ger vollst~ndigem Naehlass aller Erseheinungen an folgenden Sym- ptomen litt: erstens habituelle, diffuse, schwere Kopfschmerzen mit zeitweiligen Exaeerbationen, welch' letztere oft zu Erbreehen fUhrten, und eine blasse Cyanose der Gesichtshaut, verbunden mit einer an Myxoedem erinnernden Verdickung des subcutanen Gewebes am Ge- sicht. Zweitens in der linken Hand permanente, durchschiessende Sehmerzen mit zeitwcisen Exacerbationen, intensive Rilthung und flache Kn0tchenbildung der Haut, fortwahrendes Sehwitzen~ glatte Atrophic der Haut der Finger und eine auf die Arterien der linken oberen Extremitlit beschr~inkte Arteriosklerose. Drittens neuralgische Sehmer- zen in der Gegend des linken Schultergelenkes und viertens Riithung und Schmerzhaftigkeit der Haut an der linken Fusssohle. Keine ner- vtise Disposition; ~itiologisch werden vermuthungsweise schwere Arbeit, Nahrungsmangel, Kiilte und Feuchtigkeit besehuldigt Obwohl D ehio cinch centralen Ursprung des Leidens annahm, liess er, bei der Er- folglosigkeit aller Therapie, ein Sttick des linken N. ulnaris und der Art. ulnaris oberhalb des Handgelenkes reseciren, um eventuell cine periphere neuritische Affection des N. ulnaris mit Sieherheit aus- schliessen zu kiinnen. Die mikroskopische Untersuchung ergab vSllig normales Verhalten des N. ulnaris, dagegen eine sehr deutliche, diffuse Sklerose der Intima dcr Art. ulnaris. Da nach der Operation der yore 1~. ulnaris versorgtc kleine Finger seine Hyper~mie verlor and eine ganz normale Hautfarbe wiederbekam, so schliesst D eh io hier- aus, dass die Hyperlimie auf einem abnormen Erregungszustand der Vasodilatatoren beruht habe, und miiehte diese Beobachtung als einen unzweideutigen Beweis ftir die Existenz gef'~sserweiternder Nerven- fasern ansehen. Ich kann diesen Beweis durchaus nicht ftir stringent halten, da es meines Erachtens viel niiher liegt, daran zu denken, dass die Hyperamie dureh die Resection des 4 Cm. langen Sttickes der vorher doppelt unterbundenen Art. ulnaris heseitigt wurde. In analoger Weisc, wie die Hyperiimie, erkl~rt D eh io das permanente Schwitzen sowie den Schmerz bei seiner Patientin als den Ausdruek tines abnormen Erregungszustandes der in den peripheren Nerven_ st~mmen verlaufenden Schweisssecretionsnerven, bezw. der Sehmerz- leitungsbahnen. Er kommt zu dem Schluss, den ganzen Symptomen- complex der Erythromelalgie als den E f f ec t e ines abnormen~

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n e r v S s e n E r r e g u n g s z u s t a n d e s anzusehen, welcher seinen Sitz habe in den Hinter- und Seitenh~rnern der grauen Substanz des R~lckenmarkes und entweder auf functioneUen St~rungen oder glio- mat~sen Proeesseu nur m~issigen Grades bcruhe. Ausserdem glaubt er, mit seinem Falle bewiesen zu haben, ,,dass der Symptomencom- plex der Erythromelalgie immerhin eine gewisse Selbst~ndigkeit beanspruchen darf."

Ich muss gestehen, dass ich diesen Fall yon D ehio ganz anders ansehe, als el" selbst. Ich glaube, es ist viel einfacher, die s~immt- lichen Erscheinungen bei seiner Kranken (schwere Cerebralerschei- nungen, Cyanose des Gesichtes u. 8. w., s. oben) aus eiuer doch all- gemeiner ausgebreiteten Arteriosklerose zu erkl~iren, als D e h io als vorhanden annimmt. Er sagt freilieh ausdrtleklich in der Kranken- gesehichte: ,,Keine kliniseh nachweisbare allgemeine Artcriosklerose." Ich werde welter unten 2 FKlle aus meiner Beobachtung anftihren, die sieh ~hnlich verhalten haben, und bei welchen die Obduction in dem cinen, die Amputation im anderen Falle ergab, dass die Arterio-

sklerose viel ausgedehnter war, als man nach der klinisehen Unter- suehung anzunehmen geneigt war. Uebrigens ist dies eine sehon h~ufig gemachte Erfahrung. Am Schlusse seines Aufsatzes kommt D e h i o selbst auf die ja mikroskopiseh nachgewiesene, arteriosklerotisehe Erkrankung der linken Art. ulnaris zurttck, ist aher geneigt, ein um- gekehrtes ~tiologisches Verh~iltniss anzunehmen, als ieh; er betrachtet n~mlieh, gestUtzt auf eine Arbeit yon T h o m a: ,,Ueber das Verhalten der Arterien bei Supraorbital-Reuralgie" (Deutsehes Archly ftir klini, sche Medicin, Bd. XLIII), die isolirte Verminderung des arteriellen Ge, f~sstonus als die Ursache der localen Arteriosklerose. Warum aber eine solehe, mindestens sehr hypothetische Erkl~.rung aufstellen, wo die Patientin doeh eine ganze Reihe (namentlich die Cerebralsym- ptome und die Cireulationsst~rungen im Gesicht) in plausibler We!se yon diffuser Arteriosklerose abh~ngig zu maehende Symptome dar- hot; wo dieselbe immer sehwer gearbeitet hatte und aueh in einem Alter stand, in welchem das Atherom der Gefasse, besonders bei der arbeitenden Bev~lkerung, etwas ganz GewShnliches ist? Wenn ferner Deh ' i o gerade aueh auf Grund seines Falles geneigt ist, den ana, tomisehen Sitz der St~rung in das Riickenmark zu verlegen, so ver- misse ich in seiner Krankengeschiehte jeden Anhaltspunkt hierftir, um so mehr, als er selbst sagt, die Untersuchung des Rervensystemes habe ausser den angegebenen Erscheinungen nichts Abnormes geboten.

Meine beiden Falle, welehe dem D e h i o'sehen ~hnlich sind, waren Folgende:

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1. Eine 70jahrige Frau hatte vor einem halben Jahre eine leichto Apoplexie mit naehfolgender, nach wenigen Wochen v~llig zurtiekgegan- goner Hemiplegia dextra eriitton. Seit 6 Woehen leidet sic an andauern- den Schmerzen im linken Fuss, besonders an dessen seitliehen Partien. Hier sind eine ganze Anzahl blaurother (erbsen- bis mandelgrosser) Fleckeu zu sehen, weleho auf Druek abblassen. Puls der Art. tib. postiea am Malleoh int. zu ftlhlen; leiehte Rigidit~tt s~tmmtlieher flihlbaren Ktirper- arterien; Herz normal. Voriibergehende Besserung auf Jodkali und hori- zontale Lagerung des linken Beines. Rasehe Verschlimmerung~ Ausdeh- nung der blaurothen Stellen fiber den ganzen Fuss. Amputation im Unter- sehenkel wegen andauernder heftigster Schmerzen im linken Fuss (ausw~rts), naeh einigen Woehen Exitus (ebenfalls ausw~rts).

2. Eine 50j~thrige Frau lag seit l~tngerer Zeit auf der inneren Ab- theilung im hiesigen st~idtisehen Krankenhause wegen asthmatiseher Be- sehwerden. Letztere waren vielfaeher Behandlung (Digitalis, Jodkali) un- zugRnglieh; nurMorphium linderte die starken Anf~tlle. Objectiv konnten wir weder'am Herzon, noeh an den Lungen eine Ver~lnderung feststellen, welehe das Asthma h~ttte erkl~iren ktinnen. Da traten pl~tzlieh im reeh- ten Fuss heftigste Sehmerzen auf, welohen nach kurzer Zeit blaurothe Verfttrbungen auf dem FussrUeken und an den Zehen folgten. Lotztere dehnten sieh ziemlieh sehnell aus, und es trat blausehwarze Vert't~rbung mehrerer Zehen auf~ so dass Amputation indicirt ersehien. Puls der Art. tib. post. fUhlbar. Drei Stunden vor der angesetzten Amputation pl~tz- lieh Exitus. Wir nahmen eine Embolie der Coronararterie an. Bei der Obduction (Prof. W e i g e r t ) fand sieh als Todesursaehe hoehgradigste Arteriosklerose der Pulmonalarterien bis in ihre kleineren Aeste, welehe im Lungengewebe wie eingemauert wareu; am Herzen niehts, was den pliJtzliehen Ted erkl~trt h~ttte. Mittelstarke Arteriosklerose der Gehirn- und Extremit~ttenarterien, auch der reehten unteren Extremit~tt.

Diese auf rein a r t e r i o s k l e r o t i s e h e r Basis beruhenden ~thn- lichen Erkrankungen sollte man meines Eraehtens v~llig yon d e r n e r v t l s e n Affection ,,Erythromelalgie" trennen; sei diese nun cen- traler oder peripherer, organischer oder funetioneller Natur. Jedeu- falls wird man dann in dieser immer noeh etwas complieirten Frage eher zu einiger Klarheit kommen kiJnnen.

M. H e i m a n n : ,,Zwei F~tlle yon acuter Erythromelalgie?" ~ (Berliner klinische Wochenschrift, 1896, Nr. 51) beschreibt zwei Be- obaehtungen unserer Krankheit an den H~tnden, welche beide in drei Wochen in Genesung tlbergingen. Es handelte sich in beiden F~tllen, ausser den Symptomen der Erythromelalgie, um neuritische Erschei- nungen im Gebiet der Verzweigung des Handrttckenastes des N. radia- lis; in dem einen auch um motorische (Krampf-)Symptome, in dem anderen um eine v~llige An~tsthesie in einem ziemlich grossen Bezirke. H. selbst bezweifelt nieht den nauritisehen Charakter dieser Affee- tionen und theilt sie der dritten Gruppe der L e w i n - B e n d a ' s c h e n

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Eintheilung (s. oben) zu, m(ichte sie aber wegen des Vorwiegens der vasomotoriseh-trophisehen St~irungen fiber die speeiell neuritisehen als eine Krankheit sui generis, und zwar als eine aeut verlaufende vaso- motorisebe Neuritis ansehen. Als iitiologisehe Momente sieht er in dem einen Falle Abusus spirituosorum, Durehniissung und Ueberan- strengung, in dem anderen vorangegangene Influenza an.

Ich bin nun in der Lage, zwei Beobaehtungen yon Erythromelalgie mittheilen zu k(innen, welehe in iitiologischer Beziehung viele Aehn- liehkeit haben. Der eine Kranke steht seit kurzem in meiner Behand lung. Seine Krankengesehiehte ist kurz Folgende:

57jtthriger Sehmied, in der Aseendenz mit Tubereulose belastet, aequirirte in seinem 25. Lebensjahre einen Tripper mit VorhautgesehwUr, welehe Affection mit LeistendrUsensehwellung verbunden war und erst naeh 3 Monaten zur Heilung kam. Seit dem 28. Jahre krampfhaftes Ziehen in beiden Waden, links mehr als reehts. Kurz darauf maehte er den Feldzug 1870--1871 mit, wahrend dessert die Sehmerzen zunahmen. Naeh seiner Rtlekkehr heirathete er. Seine Frau hatte im Ganzen dreizehn Sehwangersehaften; unter diesen waren Her Missfalle und vier Todt- geburten. Bei der Obduetion einer der letzteren wurde eine erheblieh vergr~sserte Leber eonstatirt. Die Sehmerzen bestanden in weehselnder Intensitttt fort und quttlten ihn immer Naehts mehr als bei Tage. Herbst 1888 erfror er sieh beide Fussballen. Hierauf steigerten sieh die Sehmer- zen erheblich; ausserdem traten r(ithliehblaue Fleeken, zuerst an den Ritn- dern beider FUsse, dann an weehselnden Stellen auf, links immer mehr als reehts. Die objective Untersuehung ergiebt: Blrtuliehrothe Fleeken an beiden FUssen, welehe beim Herabhangen der FUsse besonders deut- lieh werden; die Haut unter den Nitgeln auffallend rosaroth. An dem Nagelglied der linken grossen Zehe eitrige EntzUndung, welehe vorigen Herbst an der eorrespondirenden Stelle reehts bestand. Art. tib. post. beiderseits am Malleol. int. ftihlbar. Sensibilitat an den unteren und oberen Extremitaten allenthalben intaet~ ebenso Haut- und Sehnenreflexe. Keine Muskelatrophien an den Gliedern. Pupillenreaetion normal. Keine Rigi- ditat der Art. radialis. Zunehmende Taubheit auf dem reehten Ohr, sehon ~or 10 Jahren beginnend. Urin frei yon Zueker und Eiweiss.

Einen guten Erfolg hatten wiederholte Curen in Nauheim, sowie grosse 'Mengen Jodkali~ welehe er yon 1882 ab mehrere Jahre nahm. Queek- silber hat er noeh nieht bekommen. Ganz wurden die Besehwerden abet nie zum Versehwinden gebraeht. Augenblieklieh seheint ihm Ergotin zu nUtzen.

Mein z w e i t e r F a l l yon Erytbromelalgie ist yon gr(isserem In- teresse, weil er jahrelang genau beobaehtet wurde und meines Wissens der erste derartige Krankheitsfall ist, bei welehem die in Betraeht kommenden Theile des Nervensystemes post mortem einer mikrosko- pischen Untersuebung unterzogen wurden.

Die Krankengeschicbte ist Folgende:

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46j~hriger Bausehreiner. In der Familie keine Nerven-, Geistes, oder Lungcnkrankheiten. Patient ist zum zweiten Male verheirathet~ hat seehs gesunde Kinder~ das jUngste ist 5 Jahre air; gestorben ist keines. Keine der beiden Frauen hat angeblich jemals abortirt. Patient giebt mir (August 1893) an, er h~tte niemais eine gonorrhoische oder luetische Infection durehgemaeht, Uberhaupt nie eine Affection an seinen Gesehlechts. theilen gehabt. Diese Angabe hat er mir gcgenliber auf ~ftcres Befragen stets aufrecht erhalten. Dagegen bin ich dureh die GUte des Herrn Prof. E d i n g e r in den Besitz eines yon dem Patienten im October 1888 selbst geschriebenen Lebenslaufes gelangt, in welchem er Folgendes berichtet: ,tim Jahre 1869 entdeekte ieh an meinem Gesehlechtstheile ein kleines, wundes Pl~tzchen, wusste aber nieht, was es ist. Naehdem es naeh kurzer Zeit nicht heilte, zeigte ieh es einem Arzte, weleher mir Gou la rd ' sches Wasser zum Abwaschen und ein Pulver zum Bestreuen versehrieb, wor- auf es nach einigen Tagcn geheilt war, und ieh hie wieder etwas ge- merkt habe. Erhalten konnte ich es nur yon einem Abe (sic!) haben; denn, wie ieh spater erfahren, war ein ~ebengeselle krank gewesen." Von 8ecund~rerscheinungen weiss er gar niehts. Sonst war er bis zum Jahre 1870 angeblieh stets gesund.

December 1870 h~itte er sich auf Waehtposten in der Garnison Giessen den rechten Fuss erfroren; auf der Plantarseite der rechten grossen Zehe sei eine Blase entstanden, nach deren Aufsteehen tier Zehenknoehen bloss- gelegen habe. Heilung dureh Jodbepinselung und Zinksalbe crst naeh vielen Wochen. Auf dieser Stelle babe sieh noeh einige Jahre sp~ter eine feste Haut gebildet~ die er abziehen konnte. Die Heilung sei dadureh verz~gert worden, dass er Januar 1871 nach Frankreieh ausrUcken musste. Damals babe er sehr starke Schmerzen an dieser Stclle gehabt. W~h- rend der folgenden 2 Jahre sptirte er gar niehts. Winter 1874--1875 sei starkes Jucken und ,,Flimmern" im ganzen rechten Fusse aufgetreten, besonders auf dem Fassrtieken. An diese Par~sthesien h~tten sich bald heftige 8ehmerzen, ,,wie wenn mit einem Messer durchgestoehen wlirdc", angesehlossen. Dieselben zogen in das reehte Bein hinauf. Auch im linken Bein h~tte er damals, abcr weniger h~ufig, starke, nach seiner Sehilderung zweifellos lancinirende Schmerzen gehabt. Hier muss ich be- merken, dass sich in der Krankengeschiehte yon E d i n g e r (1888) die Bemerkung finder, auf n~heres Befragen erkl~re Patient, class die Sehmer- zen in den beiden Beinen frUher aufgetrcten scien, als im rcehten Fuss. Die obige Sehilderung der damaligen 8ehmerzen entnehme ich der August 1895 yon Herrn Prof. J. Hof fmann-He ide lbe rg aufgenommenen und mir gUtigst Uberlassenen Anamnese. Ich selbst erhielt auf meine dies- bezUglichen Fragcn Antworten, welehe mit der letzteren Sehilderung Uber- einstimmen. Die Sehmerzen seien in hohem Grade vom Witterungsweehscl abh~ngig gewesen. Warme Einwieklungen und Einreibungen h~tten ihm Linderung versehafft. 1876 und 1878 Landwehrttbungen unter grossen Sehmerzen. Hierbei im Jahre 1878 Durehn~ssung, welehe S.teigerung tier 8ehmerzen zur Folge gehabt babe, sowie pl~tzliehes Auftreten eines tau- ben GefUhles im ganzen rechten Bein; er h~tte dasselbe naehgesehleift, well er nieht gewusst habe, wie er auftreten sollte. Letztere Par~isthesie babe 3 - -4 Monate angedauert und sei dann durch r~miseh-irische B~der

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beseitigt worden. Ira weiteren Verlaufe h~ttten sich die Schraerzen im rechten Bein erheblieh gesteigert; am ftirchterlichsten seien sie imraer :Naehts gewesen. Er habe seit 1878 keine Naeht l~nger als h~ehstens 2 bis 3 Stunden sehlafen kt~nnen. In diesera Jahre sei such ein sear ltistiges Hitzegeftihl und R~thung des reehten Fusses aufgetreten, zu- erst an der Ferse; letzteres hatte sieh allraahlieh dera ganzen reehten Fusse mitgetheilt. Die Art der Sehraerzen sei, ebenso wie die R~thung und Sehwellung des reehten Fusses, seit 1878 (bis 1893) mit geringen Unterbrechungen stets die gleiche gewesen: Brennen und Steehen ira ganzen reehten Fuss, besonders in der Sohle; dasselbe in der Museulatur des rechten hinteren Obersehenkels, ,wie wenn ein Messer hineingestoeheu, heruragedreht und wieder herausgezogen wUrde". Ausserdem bestehen von Zeit zu Zeit (aber viel seltener als rechts) dieselben Sehraerzen ira linken Oberschenkel. Die Behandlung babe in Einreibungen raannigfaeher Art bestanden, in elektrisehen und raedicaraentt~sen Fussbadern, Massage. Antipyrin, Pheuacetin~ Coeain, sowie alle nur erdenkliehen Mittel habe er oft und ohne jeden Erfolg gebraueht. Die Sehmerzen hatten sieh so gesteigert, dass die Aerzte bei der Erfolglosigkeit aller Mittel sieh auf seine dringenden Bitten zur Amputation entsehlossen. Da liess eine ge- nauere, daraals zuerst yon E d i n g e r vorgenoraraene Untersuehung den Verdaeht aufkoraraen, dass vielleicht eine Tabes die Ursache der Sehraer- zen in dera iraraer gertJtheten Fuss sein k~nnte. Und in der That zeigte es sich bald, dass der Verdaeht vollauf begriindet war. In den folgen- den Jahren unterzog sieh der enorm gequttlte Mann einer ganzen Reihe yon Heilversuehen. Unblutige und blutige Dehnung des N. isehiadicus dexter, sowie eine Badecur in Wiesbaden batten nur ganz vorUber- gehenden Erfolg. 1891 wurde eine Mercurialeur eingeleitet, rausste abet wegen heftiger Storaatitis abgebroehen werden. Am raeisten sollen ibm noeh die Kneipp ' sehen Curen geholfen haben, welche Patient 5 raal in Wt~rishofen durchgeraaeht hat; danaeh war er iraraer raehrere Wochen schraerzfrei. Gegen die rasenden Sehraerzen ira rechten Fuss halfen ihra aueh jetzt noeh am besten ganz kalte Fussbader, tilters in Abweehslung rait lauwarraen. Er habe die ganze Naeht neben seinera Bett zwei kleine Badewannen stehen; ohne diese Proeeduren raiisse er verzweifeln, obwohl er sehon seit raehreren Jahren sich steigernde Doseu yon Morphium in- jicirt. Jetzt (August 1893) nirarat er 1~25 Grra. pro die.

Patient giebt an~ ira Jahre 1878 raehrere Woehen an heftigera Sehwindel und Kopfschraerz gelitten zu haben, welche so stark gewesen sein sollen~ dass er sieh gar nieht babe aufrecht balten k~nnen. Er habe nie Doppelt- sehen gehabt, aueh keine sonstigen Stt~rungen des Sehverrat;gens. Stuhl- und Urinentleerung sei iraraer normal gewesen~ seine Potenz hie herab- gesetzt. Sein Gang habe sieh aueh gar nicht geandert, aueh besitze er heute noch grosse Ausdauer irn Gehen. Auf Anrathen eines Arztes habe er sieh einen Wagen angeschafft, um seine Beine zu sehonen und den Sehraer- zen vorzubeugen; er ktJnne aber nicht finden, dass dieselben geringer ge- worden seien seitdera er weniger gehe.

Status praesens A u g u s t 1 8 9 3: Patient sehr blass~ stark ergraut und welt tiber seine Jahre gealtert. Gross, yon kraftigera Knoehenbau und gut entwiekelter Museulatur, aber sehr dUrftigera Fettpolster.

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PupiUen sehr eng, gleiehweit, reagiren auf LiehteinfaU sehr tr~ge, bei Convergenz gut (1888 laut Krankengesehichte yon E d i n g e r waren sic gleich, mittelweit, reagirten auf Lieht normal). Augenmuskelbewe: gungen und Facialis intact, ebenso alle Empfindungsqualitt~tea im Ge- sicht. Weicher Gaumen, etwas gerGthet~ Hals- and NaekendrUsen nicht geschwollen. Zunge ohne Tremor, wird gerade herausgestreekt; Kauen, Sehlueken, Spraehe ungestGrt. An Herz, Lungen und Bauehorganen niehts Krankhaftes naehzuweisen.

Obe r e E x t r e m i t ~ t e n : Leiehtes Zittern bolder H~nde, keine Ataxie. Patient lenkt gesehiekt den ganzen Tag seinen Wagon dureh die belebten Strassen der Stadt. Tast-, Schmerz- und Temperaturempfindung normal. KeineRGthung und Abmagerung. Tricepsreflexe nieht auszulGsen. Grebe Kraft in allen Muskelgruppen gut und gleich stark. Keine subjectiven Sensationen, keine Zuekungen. Ellbogendriisen nieht flihlbar. Die Hal- tung und Bewegliehkeit des RUckens normal, kein Drueksehmerz. Wirbel- s~iule gerade. Abdominal- und Cremasterreflex vorhanden. An der Wurzel des Penis und Scrotum mehrere etwa erbsengrosse gerGthete Narben. LymphdrUsen der linken Leistengegend nieht besonders, die der rechten Leisten- nnd Sehenkelgegend stark gesehwollen, nicht druekempfindlieh. U n t e r e E x t r e m i t t t t e n : Der Gang ist vGllig normal, ebenso die Be- wegliehkeit und grebe Kraft der Beine. Beim Sehliessen der Augen sehwankt Patient sehr stark; er giebt an, dieses Schwanken bei Augen- sehluss babe er yon jeher gehabt und besonders bei den milit~risehen Uebungen beobachtet: Dagegen geht er im Dunkeln~ wie tin Gesunder. Berlihrungs- und Schmerzempfindlichkeit~ sowio Temperatursinu Uberall normal, jedoeh starke b[aehempfindung bei sehmerzerregenden Eingriffen. Coordination, Localisiren~ sowie Lagegeftlhl ungestGrt. Schmerzen s. oben.

Beide Obersehenkel zeigen an ihrer Vorderseite zahlreiehe :Narben und frisehe StiehGffnungen, welche yon Morphiuminjeetionen herrtlhren, und mehrere starke Infiltrationen des Unterhautzellgewebes. Muskeln gut ent- wiekelt, Fettpolster goring. Patellarsehnenreflexe beiderseits nicht aus- zulGsen (October 1888 naeh Journal: Patellarreflexe reehts vorhanden, links nicht); Plantarreflexe lebhaft. D e r g a u z e r e e h t e F u s s ist vorn bis zur KnGehelgegend blauroth gefarbt, hinten erstreekt sieh die RGthung bis zur Mitte des Untersehenkels; er ist in tote erheblieh gesehwollen und sieht wie gedunsen aus, Fingereindrtleke bleiben auf dem FussrUeken bestehen. Die Haut ist gespannt und flihlt sieh zuweilen sehr heiss an. Es besteht keine besondere Druekempfindliehkeit; Beriihrungs-~ Tempe- ratur- und Sehmerzempfiudung sind vGllig normal. Der Fuss ist nach lt~ugerer Horizontallage weniger roth, noeh weniger naeh Anwendung kalter Fassb~der. Die RGthe verliert sich~ aber nur momentan~ auf Druek. Die Zehenhaut ist verdiekt~ besonders an den Endphalangen. Die anderen Theile tier Zehen, besonders die Rtinder, nRssen und sind mit kleinen Rissen durehsetzt. Die n~issenden Stellen sind seharf abgegrenzt, so dass es den Eindruek macht, als scion sic nut dureh den Druek der angrenzen- den Zehen erzeugt. Die N~gel sind alle ergriffen~ die Matrixrt~nder nRssen zum Theil. Die l~ttgel tier ersten~ zweiten und dritten Zehe sind yon ~ahlreiehen~ parallelen Rissen durehsetzt~ wt~hrend die tier vierten und fiinften ganz briiehig sind. Die tibiale Seite des Grosszehennagels ist

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uleerirt, obwohl sie in anscheinend ganz gesundem Matrixgewebe liegt. Eine erbsengrosse Ulceration befindet sieh mitten auf dem inneren Kn~chel.

U t i n : Spec. Gewicht 1012--1015 ; ist dauernd frei yon Eiweiss und Zueker.

B 1 u t (naeh Untersuchung yon Prof. H o ffm an n- Heidelberg, August 1895): Normale Geldrollenbildang; weisse Blutk~rperchen in richtigem Verh~ltniss; keine Poikilocyten.

P u l s : 8 8 - - 9 6 , Temperatur 36,7--37~2 o. K~rpergewieht (1595): 671/2 Kilo.

Der Verlauf der Krankheit yore August 1895 bis zum Exitus im M~rz 1896 gestaltete sich folgendermaassen:

Am rechten Fusse stellten sich keiue weiteren Ver~nderungen ein. Die Schmerzen peinigten den Kranken auf's FIirehterliehste und trotzten auch den gr~ssten Morphium- und CodeIngaben. Bemerkenswerth ist~ dass wit in dieser Zeit zweimal Entziehungsversuche vornahmeu~ welche Patient sehr gut vertrug~ ohne irgend welehe Abstinenzsymptome zu zeigen, ob- wohl wit bis auf ein Drittel der gewohnten Dosis heruntergingen. Aber die Ohnmacht unserer Therapie gegen die furchtbaren Sehmerzen zwang uns immer wieder, zu den grossen Morphiumgaben zuriickzukehren.

Die yon Januar 1896 an gemaehten Notizen will ieh vollst~ndig an- ftlhren, weil sie den Endverlauf der Krankheit sehildern.

Januar 1896: Letzte Woche anhaltendes Erbrechen, heftige Leib- schmerzen. Letztere leitet Patient yon dem starken Pressen w~hrend der Schmerzanfitlle in dem rechten Bein her. Opium in grossen Gaben wirkt lindernd. Das Erbreehen h~rt naeh achtt~giger Dauer auf; es bleibt aber hoehgradige Appetitlosigkeit zurUck.

Anfang Februar: Reehts yon der Rima ani zeigt sieh ein locheisen- ft~rmiger Substanzverlust yon der Gr~sse eines grossen Zwanzigpfennig- stUekes, etwas naeh der Mitte davon zwei kleinere, erbsengrosse. Aus denselben entleeren sieh unter profuser Eiterabsonderung nekrotisch% h~ehst iibelrieehende Gewebsfetzen. Es gelingt nicht, diese Stellen trotz mannigfachster Behandlung (Jodoform~ Liquor Alum. acet.~ Argent. nitric. u. s. w.) zur Vernarbung zu bringen. Um dieselbe Zeit treten mehrere Abscesse an beiden Oberschenkeln auf, yon Morphiumeinspritzungen her- rUhrend, die sehr stark secerniren und nur langsam zur Heilung kommen~ nachdem statt der Morphiuminjeetionen das l~arcotieum ausschliesslieh innerlich verabreicht wird. Patient scheut sich n~mlich, die Einspritzun- gen in den Arm, die Brust oder den Leib zu machen, theils weil sie hier empfindlieh waren~ theils weil sie angeblich seine Sehmerzen in den Beinen weniger linderten. Nut hier und da vermag er noch einmal eine Ausfahrt zu machen, die ihm auf seine dringenden Bitten trotz seines j~mmerlicheu Zustandes gewahrt wird. Oedem beider Fussrtlcken und des rechten Unter- sehenkels. Urin andauernd frei yon Eiweiss und Zucker. Keine sonstige Orgauveranderung.

M~rz 1896: Patient ist dauernd ans Bett gefesselt. Die Ernahrung ist wegen heftigen Widerwillens gegen Alles~ so aueh gegen rectale Zu- fUhrung sehr ersehwert. Es bilden sieh noch mehrere kleinere Gesehwtlre auf der rechten Wade und an der Ferse. Unter zunehmendem Marasmus, nachdem in den beiden letzten Tagen noeh voriibergehende Aufregungs-

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Ueber Erythromelalgie. 153

zust~tnde und vSllige Retentio urinae et alvi aufgetreten waren (zum ersten Male w~thrend des ganzen Krankheitsverlaufes), erfolgt der Tod am 14. M~rz 1896. Die Sehmerzen hatten in den letzten Tagen zuweilen etwas l~tnger sistirt, als Patient es gewohnt war, traten aber noeh 3 Stunden ante exi- turn im rechten Fuss mit eolossaler Intensit~tt a u f . -

Section am 16. M~rz 1596, 43 Stuuden post mortem. Es ist nur die Herausnahme des Rfickenmarkes und der Nerven der unteren Extremi- t~tten yon Seiten der Angeh~rigen, und zwar erst nach langer Weigerung~ gestattet worden.

Hoehgradige Abmagerung des ganzen K~rpers. Hautfarbe sehr blass. Multiple subcutane Narben und Knoten an den beiden Oberschenkeln. Das Gewebe der Gegend zwischen dem rechten Tuber ischii und Anus ist bis auf die Fascie geschwUrig zerfallen. Die Regio glutaea dextra ist blausehwarz verf~trbt. Beim Einsehneiden sieht man bier das ganze Unter- hautzellgewebe und einen Theil der Museulatur in eine eitrig-jauehige Masse verwandelt, in welehe der N. isehiadieus eingebettet ist. Ueber dem Kreuzbein geringft|giger, oberfl~chlicher Deeubitus. In der Mitre der reehten Wadengegend befindet sieh ein zehnpfennigstilckgrosses, run- des, bis auf die Fascie reiehendes Geschwilr mit eitrigem Being, ein etwas gr~sseres fiber der Achillessehne und ein kleineres mitten auf der Ferse. Zwischen s~tmmtlichen Zehen des reehten Fusses und ihrer Basis liegt alas Corium frei. Die Haut des reehten Fusses ist auf dem Riicken und der Sohle blassroth, an der Ferse dunkelroth gef~rbt; es besteht starke ~de- matSse Sehwellung beider FussrUeken, sowie Oedem des reehten Unter- schenkels, dessen Umfang erheblich gr~sser (Folge der Oeschwfire), als der des linken ist.

Dura des RUekenmarkes ohne Besonderheiten. Piasack stark mit Flfissigkeit gefiillt. Die Hinterstr~nge erseheinen, besonders im Lenden- mark, grau verf~rbt. Herausgenommen werden das Rfickenmark, die Spinal- ganglien und die beiden Nervi ischiadiei.

M i k r o s k o p i s c h e U n t e r s u e h u n g . (Ausgeflihrt bei Prof. E d i n g e r im Dr. Sen e k e n b e r g ' s c h e n patholo-

gisch-anatomisehen Institut. Director: Geh.-Rath Prof. W e i ge r t.) Das Rfiekenmark, die Spinalganglien und die herausgenommenen

Nerven wurden zun~ehst in 10proc. Formoll6sung fixirt; dann, wie im hiesigen Laboratorium fiblich ist, der Chrombeize (s. W e i g e r t , Beitr~ge zur Kenntniss der normalen menschlichen Neuroglia. 8. 137, Festsehrift. Frankfurt a. M. 1895) unterworfen und sehliesslich nach Kupferbehandlung in einzelne Theile zerlegt, die dann in Celloidin gebettet und geschnitten wurden. Im Wesentliehen kamen die H~matoxylin-Laekmethode We i g e r t 's und die Fuehsin-Pikrinsi~uremisehung yon v a n Gi e s s o n in Anwendung; doeh wurden vielfaeh aueh Hamatoxylin-Kernfarbungen vorgenommen.

Leider waren yore Tod bis zur Section dieses an Py~lmie verstor- benen Mannes 43 Stunden verflossen. Dadurch waren die Pr~iparate in einen Zustand gerathen, weleher nieht nur die technisehe Bearbeitung (Seriensehnitte) sehr erschwerte, sondern namentlieh auch es unm~glieh machte, die in Aussieht genommene Untersuchung fiber die Struetur der Spinalganglienzellen mit gentigender Sicherheit anzustellen.

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154 u AUERBACH

Was sieh erheben liess, war das Folgende:

Die p e r i p h e r e n N e r v e n der u n t s r e n E x t r e m i t i t t e n .

Wir hatten hier ein v~llig negatives Ergsbniss: Die Markseheiden und Axencylindsr intact, sowohl in den l~n. isehiadicis, als den tibial.~ bezw. peron, und den Fussnerven. Keine pathologische Kern-, bezw. Bindegewebswucherung; keine Anomalien an den Gefiissen; keine Unter- schiede auf den beiden Seiten. Wo manehmal pathologische Verltndsrun- gen auf den ersten Blick vorzulisgen schienen, hat dis nachtrSgliche Untsr- suchung der entsprschenden Nerven yon versehiedensn anderen Leichen~ namentlich auch der Vergleich zwischen rechter und linker Kfirperssite ergeben, dass die vermeintlichen VerRnderungen nieht als krankhafte anzu- sehen waren. Jedenfalls ist an keiner Stelle, aueh nieht in den Nerven des sehwerkranken Fusses ein Faserausfall, bezw. die solchem consecu- tive Bindegewebswueherung mit Sieherheit nachweisbar gewesen. Was die Gefiisse anbetrifft, so war die Media und Intima~ auf welche ganz be- sonders geachtet wurd% etwas vcrdickt. Aber dieser Befund war reehts und links gleichm~ssig vorhanden, und war wohl aueh ein dcm Alter des Patienten entsprechendsr.

Von den S p i n a l g a n g l i e n warsn im Ganzen yon jeder Seite sieben herausgenommen und gehiirtet worden. Sic gehfirten den Lumbal- und den Sacralnervsn an. Dis Untersuchung dcr Spinalganglien auf patho- logische Processs geh~rt zweifellos zu denjsnigsn, welche bei dem heu- tigen Stand unssres Wissens nut unsichere Resultate ergsbsn k~nncn. Schon das Heraushitmmern der kleinen Gebilde ist geeignet, Artefacts zu erzeugen. Sodann haben die neueren Untersuchungen mit Alkohol- und Sublimatfixation uns gezsigt, welche ausserordentlich zarten und feinen Organisationen in den Zetlen dieser Ganglien vortiegen. Wit haben aber auch dureh L e n h o s s e k ' s an der Leiehe eines Hingerichtetsn angestellte Untersuchungen neusrdings erfahrcn, dass in einem und demselben gesun- den Ganglion sehr versehiedene Zslltypen vorkommen kiJnnen. Die Fixi- rung von fast 48 Stunden alten Pri~paraten in Formol und die nachtrltg- liche Behandlung" in Chromsalzen kann nicht wohl Prtiparate entstehen lassen~ welche eine richtige Deutung der Zellstructur erm~glichen. Es war vielmehr zu erwarten, dass nut relativ grobe VerRnderungen in den Ganglien erkannt wcrden konnten. Bei dissem Stand der Dinge wird es nicht auffallen, wenn racine lange fortgesetzten und mit den verschieden- sten Methoden an Sehnittserien vorgenommenen Untersuchungen der Gan- glien nUr ein reeht unbefriedigendes Resultat ergeben haben. Und doch ist diese Untersuehung mit Gewissenhaftigkeit und Ausdausr an langen Serien vorgenommen worden, wsil ich mir gerade yon tier Bearbeitung der Spinalganglien ein aufkl~rendes Resultat versprechen zu dUrfen glaubts. Es hat sich aber ksin einziges mikroskopisches Bild gsfunden, welches mit absoluter Siehsrheit als pathologiseh hiitte gedeutet wsrden miissen. Die Ganglienzellen und die eintretenden Nervenfasern boten im Wesent- lichen an alien Spinalganglien, rechts und links, das gleiche Bild. Da die Veritnderungen besonders den rechten Fuss betrafen, so hatte ich er- wartet, dass ein oder alas andere Ganglion wesentlich yon den tlbrigen differire. Ob der immer wiederkchrende Befund an sich ein normaler

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Uebcr Erythromelalgie. 15 5

war~ wage ieh~ weil die Erhaltung des Materiales eine ungenUgende war, nieht zu entseheiden. Es ist sehr zu wUnsehen, dass~ falls wieder einmal die Section eines Patienten mit Erythromelalgie m~glieh wird~ das Mate-

r ia l so frUh als m~glich in Sublimat fixirt werde. Das Einzige~ was uns auffiel~ worauf wir aber aueh kein besonderes Gewieht legen m~ehten~ da zumal diese Erseheinung anf beiden Seiten ganz gleichm~tssig zu con- statiren war~ war eine ziemlieh starke~ sowohl die Ganglienzellengruppen~ als aueh die Nervenfaserztige umgebende Kernwueherung. Eine Ver~nde- rung an den Gei~sen konnten wir nieht eonstatiren.

Fig. I.

Schnitt durch die Cauda equina.

Die N e r v e n wu r z e 1 n babe ieh zun~tehst an den Spinalganglien selbst untersueht~ ausserdem wurde die Cauda equina~ welche ja im Wesent- lichen ein solches Wurzelbiindel darstellt~ naeh der H~rtung dureh F~tden mehrfaeh umschlungen und nun als Ganzes in Celloidin gebettet. Von dem so entstandenen Cylinder wurden Sehnittserien hergestellt~ die nun eine Uebersieht tiber s~mmtliehe Wurzelbilndel gestatteten. Hier trat dann zuerst ein unzweifelhaft pathologiseher Befund auf.

Auf der einen SeRe ist fast die H~lfte aller WurzelbUndel total de- generirt und nur noeh dureh bindegewebige Strange repr~entirt~ yon denen nur wenige noch mitten im degenerirten Gewebe einige markhal-

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tige F~serehen enthalten. Die degenerirten Bllndel sind Uber den ganzen Qucrschnitt auf der einen Seite verbreitet, aber iin dorsalen Abschnitt viel reiehlieher. Im ventralen liegen grosse Ztige v~llig normaler Nerven- wurzeln. Auf der anderen Seite sind nut im dorsalen Absehnitt einige wenige Biindelehen eomplet entartet. In der Mittellinie liegen fast nut entartete Fasern~ deren Zutheilung zu der einen oder anderen Seite nattir- lieh zweifelhaft bleiben muss. Im Al|geineinen sind nur die dUnneren WurzelbUndel eomplet entartet (Fig. 1).

Da, we die Cauda equina an das R U c k e n m a r k herantritt, erkennt man~ dass alle degenerirten Fasern an der Spitze des Hinterhornes in dieses und in den Hinterstrang hineingelangen. Aber sehon ganz unten am Conus treten aueh v011ig normale Fasern ein. Diese gerathen ganz median in die Hinterstr~nge. Deshalb erkennt man an einem Schnitt~ der etwa dureh das obere Ende des Conus terininalis gefllhrt ist (Fig. 2),

beiderseits yon der Medianlinie ein Fig. 2. normales, dUnn-keilf6rmiges Bilndel~

welches h0ehst wahrseheinlieh dafUr sprechen andere Untersuehun- gen - - y o n den Blasen- und Mast- darmnerven stainmtl und lateral yon diesein jederseits ein helles Feld, welches yon nur sp~rliehen~ noch normalen Nervenfasern durchzogen wird. Dieses Feld ist der Quer- schnitt des caudalen Endes des G ol i- sehen Stranges. Auf der Seit% we die degenerirten Wurzeln in der Mehrzahl sind, ist es etwas breiter, als auf der anderen (Fig. 2, links). Ixnmerhin ist es auffallend, dass im Bereiehe des Conus und des unte- ten Theiles der Lendenansehwellung die Degeneration der Goll 'sehen Strange im Ganzen reehts und links

Schnitt dutch die Gegend des Ursprunges nieht so differirt~ wie man es nach des dritten oder vierten Sacralnerven.

dem Anblick der Quersehnitte dureh die Cauda equina erwarten durfte. In der That sieht man denn aueh~ dass rechts, sowie links sehr stark degenerirte Wurzeln noch in den un- teren Theft der Lendenanschwellung eintreten. In dieser H0he liegen die medialsten Fasern der G oll 'schen Str~nge~ diejenigen also~ welehe aus den letzten Saeralnerven staininen, als zwei v611ig intaete, scharf vein degenerirten Gewebe gesehiedene, dtlnne Felder jederseits am Septum dorsale. Sehon iin unteren Theile des Lendenmarkes treten aber aueh normale Fasern mit den oberen Sacral- und unteren Lendenwurzeln ein. Sie liegen zun~ehst in der grauen Substanz der Hinterh~rner und an deren medialen Rand. Auf Sehnitten~ die etwa dureh die Mitte der Lenden- ansehwellung selbst gelegt wurden, sieht man iin Wesentlichen nut nor- male Wurzelbtlndel eintreten; nur ein einziges Btindel enth~lt degene- rirte Fasern, es verschwindet im oberen Theft der Lendenanschwellung.

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Ueber Erythromelalgie, 157

Fig. 3. Ursprungsgebiet des ersten bls zweiten Sacralnervea.

Fig. 4. Schnitt dutch das untere Lendenmark.

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158 VI. AU]$RBACH

S o kommt es~ dass man oberhalb derselben im Brust- und Halsmark im Wesentlichen nur noeh den medialsten Theft der O oil'schen Str~lnge de- generirt findet. Oberhalb der Lendenansehwellung besteht dieses Feld aus vollkommen nervenfreiem Degenerationsgewebe. Es ist nament- lieh auch jenes dieht am Septum liegende dUnne BUndel g~nzlich ver- sehwunden~ welches als aus den Sacralnerven stammend oben bezeich- net wurde. Sehon auf Fig. 2 sieht man aus demselben Fasern in die graue Substanz einstrahlen und~ wie es scheint, setzt sich, allmiihlich auf-

Fig. 5. Fig. 6.

Sohnitt durch das ob.Brustmark. Schnitt durch die Halsanschwellung.

w~rts steigend, dieses Einstrahlen bis zum v~Jlligen Verschwinden dieses Blindels fort.

Ausser dem als degenerirt bezeiehneten Theft der G oll'schen Strange waren in dem untersuchten RIlekenmarke keine BUndel erkrankt. Zwei- relies gilt dies ftlr die weisse Substanz~ w~hrend ich fur die graue Sub- stanz dieses nieht mit gleicher Sicherheit aussagen m0chte. Die tiblichen Untersuehungsmethoden liessen aber jedenfalls keine Ver~nderungen in derselben erkennen. Die Clarke'sche S~ule war beiderseits normal. Es muss aber hier noehmals ausdrUcklieh erw~hnt werden, dass keine Nissl- Pr~iparate untersueht werden konnten~ weft zu viel Zeit zwisehen Ted und Section vergangen war.

F a s s c n wi r da s W c s c n t l i c h c des eben m i t g e t h e i l t c n B e f u n d e s n o e h e i n m a l z u s a m m e n , so e r g i e b t s ieh , da s s be i u n s i c h e r c m B e f u n d in den p e r i p h e r e n N e r v e n und G a n g l i e n , w a h r s c h e i n l i c h s o g a r b e i n o r m a l e m B e f u n d i n den e r s t e r e n , e ine b e t r i i c h t l i e h e D e g e n e r a t i o n z a h l r e i - c h e r W u r z e l b t i n d e l in d c r C a u d a e q u i n a a u f g e i ' u n d e n w o r d e n ist. Die Eintritth~he der degenerirten Wurzeln macht cs wahrsehcinlich, das s s ic dem e r s t c n , v i e l l e i c h t a u c h dcm z w e i t e n S a c r a l - u n d den u n t e r s t e n L u m b a l n e r v e n a n g e - h~ren, t i ther oben treten keine degenerirten Nerven mehr ins Rtickenmark ein. Dem cntsprieht im Riickenmark einc aufsteigende Degeneration, die sich absolut rein auf den medialen Theft dcr Go l l - sehen Strange bcschr~nkt. Die Fasern, welchc caudal yon den dege- ncrirten ins RUckcnmark getretcn sind, also diejcnigen der untcrcn

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Ueber Erythrome]algie. 159

Sacralnerven, waren in den Hinterstr~ngen, medial yon der degene- rirten, bis in die H~he des Lendenmarkes zu verfolgen, in dessen 0rau sic verschwunden sind.

Trotzdem auf einer Seite die Degeneration der Wurzelfasern gr~sser war, als auf der anderen, drfiekt sieh dieser Untersehied nieht deutlich in den degenerirten Hinterstrangfeldern aus.

D e r a n a t o m i s c b e B e f u n d e r k l a r t zu e inem T h e i l , w a s k l i n i s e h e r m i t t e l t w o r d e n ist. Er erkl~rt zun~chst die Aus- breitung des Processes. Der oberste Sacral- und der unterste Lumbal- nerv innerviren den Fuss und den Untersehenkel: sic waren die dege- nerirten. Die unteren Saeralnerven, deren Bahnen nieht tiber alas Lendenmark verfolgt werden konnten, dienen bekanntlieh der Inner- ration yon Blase und Mastdarm; sic waren intact, ebenso wie ihre Function im Leben erhalten war. Die Patellarsehnenreflexe fehlten; ihre Bahn verl~uft in den unteren Lumbalwurzeln, dieselben waren zum grossen Theil degenerirt. Dass die Sensibilit~it an den unteren Extremit~ten keine gr~beren St~rungen zeigte, dtlrfte sich wohl da- dureh erkl~ren lassen, dass nur ein Tbeil der entspreehenden Wur- zeln erkrankt war.

Der Befund erklart aber niebt, warum es zu Erytbromelalgie ge- kommen ist. Wir kennen zahlreiche Erkrankungen yon Hinterwurzel- fasern, bei denen jenes Symptom nieht beobachtet wurde. Es muss also in dem untersucbten Falle ein Mehr yon Erkrankung bestanden baben. Dieses daft man vielleieht in der Betheiligung yon vasomo- torisehen, dem Sympathieus sensu lat. zugeh~rigen Bahnen suchen. Es sind ja l~ngst durch die Untersuchungen yon G o l t z u. A. vasomo- torisehe Babnen in den Hinterwurzelfasern bekannt geworden. Neuer- dings weisen die experimentellen Untersuehungen yon G aule (Central- blatt fur Physiologic, 1892, Heft 11 und 12, 1893, Heft 7 und 25) tiber die Spinalganglien darauf hin, das s in diesen Ganglien oder in den sympathisehen Zweigen, welche zu ihnen treten, ein Theil des trophiseh- vasomotorischen Innervationsapparates ftir die betreffenden Wurzel- gebiete gegcben ist. Es ware leieht mSglich, dass weitere Unter- suehungen, wenn sic besser eonservirtes Material verwerthen k(innen, auch Aufklarung bringen kSnnen fiber diese Frage, welche ieh hier noeh often lassen muss. Im Wesentlieben wfirde man, ware keine Erythromelalgie vorhanden gewesen, den Process als den einer Tabes bezeichnet haben, die sich nur auf einige Lumbal- und Saeralwurzeln erstreekte. In der That hat man den Eindruck, dass es sich um eine der Tabes verwandte Affection handelt, welehe bald nach ihrem

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160 VI. AUERBAgH

Beginn wieder zum Stillstand gekommen ist. Es blieb lange Jahre das gleiche Wurzelgebiet befallen; die Krankheit hat sich nieht ein- real naeh oben auf das Innervationsgebiet des Rumpfes and die C la rke ' sehe S~ule, naeh unten nieht auf dasjenige der Blase aus- gedehnt. Von tabisehen Symptomen mSchte ieh noeh das Verhalten der Pupillen erwtihnen. In den letzten Jahren bestand stets hoch- gradige Myosis und sehr tr~ge Lichtreaction; da jedoeh 1888 (siehe Krankengeschiehte) die Pupillen gleieh, mittelweit and yon gleicher Reaction waren, und ferner in den letzten Jahren ein aassergewtihn- licher ehroniseher Morphinismus bestand, so muss ieh es damn ge- stellt sein lassen, ob der letztere die Pupillensttirnngen bewirkt hat, oder ob dieselben den tabisehen analog zu erachten sind. Ich mtiehte reich mehr der letzteren Ansieht zuneigen, zumal die Annahme, dass derartige dauernde Fnnetionsst~irungen ant Morphinismus beruhen, auf sehr sehwachen Ftlssen steht. (S. aueh E r l e n m e y e r in P e n t z o l d - S t i n z i n g ' s Handbuch der Therapie, Abtheilung II, S. 340.)

Was unseren beiden Beobaehtungen titiologiseh gemeinsam ist, das ist das hlichst wahrscheinliehe Voraufgegangensein yon Lues und das jahrelange Auftreten yon Schmerzen, bis naeh einer starken Durehfrierung der Ftisse sich Verfarbung derselben einstellte. Weitere Beobaehtungen, die gerade hierauf zu achten hatten, werden zeigen mtissen, ob bier etwas Gesetzmtissiges oder nur ein zuf~llig doppeltes Vorkommniss vorliegt. E d i n g e r theilt mir mit, dass er bei einem Kranken, welcher sieh in der Reconvaleseenz von einer schweren mnltiplen Neuritis befand~ viele Wochen hindureh beobaehtet hat e dass beide Unterschenkel and Ftlsse sich tier r(itheten, wenn sic aueh nur wenige Secunden bewegnngslos hangen gelassen warden. Es giebt also zweifellos ausser der K~tlte auch noch andere Momente, welche li~hmend auf die Gef~issnerven bei vorhandener Neuritis ein- wirken ktinnen.

Die iiltere Casuistik zeigt, dass auch frtiher sehon F~lle yon Erythromelalgie beobaehtet worden sind, bei welehen die Angabe einer ganzen Anzahl spinaler Symptome die Vermuthung nahelegt, es mttchten aueh ihnen ~thnliche anatomisehe Veriinderungen zu Grunde gelegen haben, wie unserem obdueirten Falle. We i r Mi tche l l be- richter in seiner zweiten Arbeit, der ersten, welehe in der Literatar Beaehtung land, yon einem Kranken, dass er unsieher steht und bei gesehlossenen Augen wie ein Tabiker schwankt. Ferner bestanden in zweien seiner Fiille GUrtelsehmerzen, u n d e r selbst nimmt hier eine Spinalerkrankung als unzweifelhaft an. W o o d n u t (s. bei L e w i n and B e n d a , Berliner klinisehe Wochensehrift, 1894, Nr. 4,

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Ueber Erythromelal~de. 161

S. 87) besehreibt einen Fall, in dem Blitzsehmerzen in Armen und Beinen, sowie eine Herabsetzung der Sensibilit~t im ganzen linken Beine bestand. B e n d a (ebenda, S. 88) theilt eine Beobachtung mit, bei weleher sich Abducensparese, refleetorische Pupillenstarre und Gedtichtnissschw~ehe constatiren liessen. Aus neuerer Zeit ge- hSrt hierher der Fall von S c h e n k (Wiener reed. Presse, 1896, Nr. 45: Klinische Untersuchungen des Nervensystems in einem Falle yon Erythromelalgie). Diese Beobaehtung hat viele Aehnlichkeit mit nnserer obigen, anatomisch untersuchten. Neben einer Erythromelalgie des linken Fusses, die nach einer heftigen Durchniissung and Durch- frierung aufgetreten war, bestanden: Schlaflosigkeit bei normalem Geisteszustand, leichte Erregbarkeit, Blasen- und Mastdarmst~rungen, stellenweise Analgesien und Hyperalgesien in unregelm~ssigen Be- zirken. Ferner: Beeintraehtigung der Loealisationsf~thigkeit, spinale Ataxie, stellenweise Atrophien an Haut und Musculatur der Ober- arme, Steigerung der Reflexe, Clonus des linken Patellar- und Plan- tarreflexes. Verfasser kommt zu dem Schluss, dass es sieh in seinem Falle um einen aufsteigenden myelitischen Process der Hinterstr~nge und Erkrankung der in der N~he derselben gelegenen vasomoto- risehen Centren handele. - -

Der anatomische Befund, weleher in dem obigen, genau unter- suchten Falle yon Erythromelalgie erhoben worden ist, beantwortet die Frage naeh der Loealisation befriedigend, l~sst aber sofort eine weitere Frage aufwerfen; n~tmlich die: Weleher Art mUssen Wurzeler- krankungen sein, die zu einer Erythromelalgie fUhren ? 1~ a e h d e m e i n m a l der N a e h w e i s e r b r a e h t i s t , dass E r y t h r o m e l a l g i e a u f W u r z e l e r k r a n k u n g b e r u h e n k a n n , wird das Streben, die zweite Frage zu ~beantworten, hoffentlieh zu erneuter Arbeit fUhren.

Deutsche Zeitschr. f. Nervenheilkunde. XI. Bd. | 1