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Variationen der normalen Gebiflentwicklung von der Geburt bis zum Erwachsenenalter Von Barry C. Leighton, London 1 Mit 11 Abbildungen In der Einleitung seines Buches ,,Propheten und Prophezeiungen" sagt)Lewin- sohn [7]: ,,Wir alle sind Propheten, nicht so sehr aus eigner Wahl, sondern aus rei- ner Notw~ndigkeit." Eine genaue langzeitige Vorhersage ist yon besonderer Bedeu- tung ftir die Orthodontie. Dies trifft besonders zu, wenn ein Versuch unternommen wird, die Behandlung durch frtih eingreifende Maf~nahmen zu vereinfachen. Eine derartige Behandlung muB sich auf eine gesunde Kenntnis der normalen Entwick- lung grtinden kOnnen wie auf eine hinreichende Erfahrung, um sicher zu sein, dab die vorgenommenen MaBnahmen von Nutzen sein werden. In einer frtiheren Arbeit [6] wurde der Umfang der Variationen in der Form und gegenseitigen Lage der AlveolarbOgen bei der Geburt diskutiert. Die groBe Varia- tionsbreite scheint zun~ichst au'f leicht feststellbare Merkmale einer zuktinftigen BiB- abweichung hinzudeuten. Longitudinale Untersuchungen haben jedoch nur eine sehr geringe Korrelation zwischen den Verh~ltnissen bei der Geburt und in sp~iteren Stadien aufgezeigt. Aus diesem Grunde ist es wichtig, die Grenzen der normalen Va- riabilit~it im sp~iteren Alter festzustellen und weiterhin den frtihesten Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem eine BiBanomalie mit Sicherheit vorhergesagt werden kann. Im Jahre 1935 verOffentlichte Chapman [3] longitudinale Untersuchungen von ei- ner Anzahl von F~illen, bei denen anscheinende BiBanomalien des Wechselgebisses zum spontanen Ausgleich gekommen waren. Sie betrafen F/~lle von geringem dach- ziegelfOrmigen Engstand durchbrechender Schneidez~ihne, von oberem Diastema und geringgradigem Distalbif3 erster bleibender Molaren. In GroBbritannien sind diese Abweichungen insgesamt als ,,Chapman's Variationen der Normalen Okklu- sion" bekannt. Im Jahre 1941 beschrieb Broadbent [2] den spontanen Ausgleich ei- ner weiteren Anomalie, bei der die oberen seitlichen Schneidez~ihne nach distal ge- kippt waren, als Folge einer apikalen Verlagerung durch den EinfluB der sich ent- wickelnden Eckz~ihne. Im Jahr 1960 machte Bonnar [1] auf spontane Ver~inderun- gen der Okklusion aufmerksam, wodurch das anteroposteriore Lageverh~iltnis der Kiefer des Milchgebisses w~ihrend des Durchbruchs der I. bleibenden Molaren be- einfluBt wurde. Es ist beabsichtigt, in tier vorliegenden Arbeit diese Forschungen weiter zu ftihren, den Umfang der Variationen im MilchgebiB zu beschreiben und sie mit F/illen zu vergleichen, die normal wurden. Es ist mOglich, die Richtigkeit der Annahme, dab eine Bil3anomalie des bleibenden Gebisses sich aus einer ~ihnlichen BiBanomalie des Milchgebisses entwickelt habe, durch eine rtickschauende Untersuchung von F~illen zu tiberprtifen. Diese Arbeit grtindet sich auf Feststellungen, die an 103 britischen Individuen europ~ischer Herkunft gemacht wurden. Sie wurden zur Zeit der Geburt I Der Verfasser dankt Herrn Prof. G. Korkhaus, Bonn, for die Ubersetzung dieser Arbeit in die deutsche Sprache. Fortschr. Kieferorthop. 39 (1978), 181--195 (Nr. 3) 181

Variationen der normalen Gebißentwicklung von der Geburt bis zum Erwachsenenalter

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Variationen der normalen Gebiflentwicklung von der Geburt bis zum Erwachsenenalter

Von Barry C. Leighton, London 1

Mit 11 Abbildungen

In der Einleitung seines Buches ,,Propheten und Prophezeiungen" sagt)Lewin- sohn [7]: ,,Wir alle sind Propheten, nicht so sehr aus eigner Wahl, sondern aus rei- ner Notw~ndigkeit." Eine genaue langzeitige Vorhersage ist yon besonderer Bedeu- tung ftir die Orthodontie. Dies trifft besonders zu, wenn ein Versuch unternommen wird, die Behandlung durch frtih eingreifende Maf~nahmen zu vereinfachen. Eine derartige Behandlung muB sich auf eine gesunde Kenntnis der normalen Entwick- lung grtinden kOnnen wie auf eine hinreichende Erfahrung, um sicher zu sein, dab die vorgenommenen MaBnahmen von Nutzen sein werden.

In einer frtiheren Arbeit [6] wurde der Umfang der Variationen in der Form und gegenseitigen Lage der AlveolarbOgen bei der Geburt diskutiert. Die groBe Varia- tionsbreite scheint zun~ichst au'f leicht feststellbare Merkmale einer zuktinftigen BiB- abweichung hinzudeuten. Longitudinale Untersuchungen haben jedoch nur eine sehr geringe Korrelation zwischen den Verh~ltnissen bei der Geburt und in sp~iteren Stadien aufgezeigt. Aus diesem Grunde ist es wichtig, die Grenzen der normalen Va- riabilit~it im sp~iteren Alter festzustellen und weiterhin den frtihesten Zeitpunkt zu bestimmen, zu dem eine BiBanomalie mit Sicherheit vorhergesagt werden kann.

Im Jahre 1935 verOffentlichte Chapman [3] longitudinale Untersuchungen von ei- ner Anzahl von F~illen, bei denen anscheinende BiBanomalien des Wechselgebisses zum spontanen Ausgleich gekommen waren. Sie betrafen F/~lle von geringem dach- ziegelfOrmigen Engstand durchbrechender Schneidez~ihne, von oberem Diastema und geringgradigem Distalbif3 erster bleibender Molaren. In GroBbritannien sind diese Abweichungen insgesamt als , ,Chapman's Variationen der Normalen Okklu- sion" bekannt. Im Jahre 1941 beschrieb Broadbent [2] den spontanen Ausgleich ei- ner weiteren Anomalie, bei der die oberen seitlichen Schneidez~ihne nach distal ge- kippt waren, als Folge einer apikalen Verlagerung durch den EinfluB der sich ent- wickelnden Eckz~ihne. Im Jahr 1960 machte Bonnar [1] auf spontane Ver~inderun- gen der Okklusion aufmerksam, wodurch das anteroposteriore Lageverh~iltnis der Kiefer des Milchgebisses w~ihrend des Durchbruchs der I. bleibenden Molaren be- einfluBt wurde.

Es ist beabsichtigt, in tier vorliegenden Arbeit diese Forschungen weiter zu ftihren, den Umfang der Variationen im MilchgebiB zu beschreiben und sie mit F/illen zu vergleichen, die normal wurden. Es ist mOglich, die Richtigkeit der Annahme, dab eine Bil3anomalie des bleibenden Gebisses sich aus einer ~ihnlichen BiBanomalie des Milchgebisses entwickelt habe, durch eine rtickschauende Untersuchung von F~illen zu tiberprtifen. Diese Arbeit grtindet sich auf Feststellungen, die an 103 britischen Individuen europ~ischer Herkunft gemacht wurden. Sie wurden zur Zeit der Geburt

I Der Verfasser dankt Herrn Prof. G. Korkhaus, Bonn, for die Ubersetzung dieser Arbeit in die deutsche Sprache.

Fortschr. Kieferorthop. 39 (1978), 181--195 (Nr. 3) 181

Barry C. Leighton

1953 und 1954 untersucht und weiterhin in j~ihrlichen Abst~nden 0ber wenigstens 15 Jahre verfolgt.

Durchbruch der Milchz~ihne

Die Tabeile I zeigt das mittlere Durchbruchsaiter for jedes Paar Milchz~hne mit seiner Standardabweichung. Es wurde ein sehr geringer Unterschied zwischen der rechten und der linken Seite gefunden; aus diesem Grunde wurden die Werte beider Seiten zusammengenommen. Weil die Verteilung der Durchbruchszeiten symme- trisch um den Mittelwert geordnet war, erschien es vern0nftig anzunehmen, dab eine Spanne yon 2 Standardabweichungen nach jeder SeRe des Mittelwertes 95% der Gruppe umfassen wOrde. Dies wird graphisch in Abb. 1 dargestellt, die zeigt, wie weit die Variationsreihen um die Mittelwerte geordnet sind, so dal3 eine betr~chtliche Oberdeckung besteht. Ein Vergleich zwischen m~innlichen und weiblichen Indivi- duen l~ifSt einen etwas fr0heren Durchbruch bei den m~nnlichen Personen erkennen (Tab. I).

Dies best~itigt die Feststellungen fr0herer Untersucher: Robinow et al. [11] 1942, Sandier [12] 1944 und Meredith [9] 1946. Es wurde gefunden, dab die mittleren Durchbruchszeiten der oberen Schneidezghne sich als praktische Richtzahl for die wahrscheinlichen Durchbruchszeiten der restlichen Zfihne verwenden liel~en (Tab. II). Ein Korrelationskoeffizient von 0.92 wurde zwischen dem Mittelwert der Durch- bruchszeiten der oberen Schneidez~hne und dem der Milcheckz~hne und -molaren gefunden. FOr jeden Monat Unterschied, den die mittlere Durchbruchszeit der obe- ren Schneidez~hne zum Mittelwert aufweist, der 10 Monate betrug, kann erwartet werden, dal3 die restlichen Z~hne von ihren Mittelwerten um 10% abweichen.

Die Verteilung der Durchbruchszeiten, wie sie in Abb. 1 dargestellt ist, zeigt bei gewissen Zahnen eine betrachtliche f0berlagerung. Es 0berrascht daher nicht, be- trachtliche Abweichungen in der Durchbruchsfolge zu finden. Das h~ufigste

Tab. I. Mittlere Durchbruchszeiten der Milchz~hne bei 84 Kindern (39 o" und 45 9).

Mittlere Durchbruchszeiten in Monaten

Mannl. Weibl. Gesamt

Zahn Mittel- Standard- Mittel- Standard- Mittel- Standard- wert fehler weft fehler wert fehler

I + I 8,92 + 0.217 9.40 + 0.234 9,18 + 2.100 II + II 10.19 + 0.262 10.87 + 0.201 10.55 + 2,580 111 + III 17.51 ~ 0.334 18.73 u 0.349 18.17 u 3.207 IV + IV 14.55 + 0.292 14.87 + 0.210 14.72 + 2.292 V + V 26.28 + 0.521 26.33 + 0.'331 26.31 + 3.274 I - I 6.95 + 0.202 7.57 + 0.225 7.28 + 2.004

m _ _

I I - II 11.06 + 0.310 11.97 + 0.306 11.55 + 2.861 I l l - III 17,78 + 0,355 18.70 + 0.361 18.27 + 3,323 IV - - IV 14.69 + 0.260 14.96 + 0.191 14.83 + 2.052 V - - V 25.60 + 0.519 25.82 + 0.385 25.72 + 4.110

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Variationen der normalen Gebifientwicklung

Abb. 1. Histogramm der Durchbruchszeiten der Milchzahne. Der Mittelwert for jeden Zahn ist im Zen- trum des Rhombus und die Haufigkeitsverteilung ( + 2 SD) dutch das Rechteck eines jeden Histogramms angegeben (SD = Standarddeviation).

Mittleres Durehbruchsalter der 4 oberen Milchschneide- zahne in Monaten

Durchschnittliche prozentuale Abweichung vom Mittelwert, der for die restlichen Milch- z~.hne zu erwarten ist

7 8 9

10 11 12 13 14

- - 3 0

- - 20 - - 1 0

0 + 10 + 20 + 30 + 40

Tab. 11. Mittlere prozentuale Abwei- chungen vom Mittelwert, der von dem durchschnittlichen Durchbruchsalter der 4 oberen Milchschneidezahne vorherbe- rechnet wird.

Durchbruchsfolge Zahl der F~,lle

Typische Reihenfolge 26

Atypische Reihen folge 58

V + V v o r V - - V 33 V - - V v o r 11 + II 20 II + II vor I + I 12 I + l v o r I - - ! 8

IV + IVvor I 1 - - II 7 I11 + I11 vor IV + IV 2 V + V v o r III + III 2

Tab. 111. Haufigkeitsverteilung einiger Variationen der Durchbruchsreihenfolge bei 84 Fallen.

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Muster, von Robinow et al. [11] und Lysell et al. [8] beschrieben, war das folgende: I--I , I+ I, II+ II, II--II, IV+ IV, IV--IV, III+ III, III--III, V--V, V + V ; es lag bei 26 von 84 Individuen vor. Bei den tibrigen 58 Personen bestanden 7 Variations- typen, deren Haufigkeitsverteilung in Tab. III wiedergegeben ist. Es sei bemerkt, dab der obere laterale Schneidezahn in 12 Fallen vor dem mittleren durchbrach, d.h. in 15~ Dieses Phanomen wurde weiter untersucht, weil der Gedanke nahelag, dab

dieser Teil des Mundes Umwelteinfltissen, insbesondere dem EinfluB des Lutschens, besonders ausgesetzt ist. Weitere 14 ~hnliche F~,lle wurden den 12 zugeftigt und die mittleren Durchbruchszeiten for die mittleren und seitlichen Schneidezahne berech- net. Entgegen der Erwartung wurde festgestellt, dab die lateralen Schneidez~hne un- gewOhnlich frOh (7,62 Monate)durchgebrochen waren und die mittleren nicht sparer (8,84 Monate) als der mittleren Durchbruchszeit for die ganze Gruppe entspricht (9,18 Monate). In keinem Fall brach der laterale Schneidezahn spb.ter dutch als zur mittleren Durchbruchszeit der Gruppe. Weiterhin erwiesen sich die bei diesem Durchbruch beteiligten lateralen Schneidezahne als etwas schmaler als durchschnitt- lich. M•glicherweise mag daher ihr frtiher Durchbruch mit ihrer kleineren GrOBe und vielleicht auch mit ihrer scharferen Schneidekante zusammenh~.ngen.

Dimensionale Ver~inderungen

Zur Zeit der Geburt ist der obere Zahnfleischwall, der dem Alveolarfortsatz mit den sich entwickelnden Zahnkeimen entspricht, von dem definitiven Gaumen durch eine gingivale Furche getrennt. Der Alveolarwall selbst ist auch durch weitere trans-

19 Monate ~ 19 Monate ~ ~. 0% ;G

Oberer Alveolorbogen Unterer Alveolorbogen

Abb. 2. MaBstabgerecbter Vergleich yon Schnitten des oberen und unteren Bogens im Bereich der latera- len Sulci, urn die Wachstumsanderungen yon der Geburt his zum 31/2. Lebensjahrc zu zeigen. Er griJndet sich auf Durchschnittswerte einer longitudinalen Untersuchung von 133 Fallen.

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Variationen der normalen Gebiflentwicklung

Korrelationskoe f fizient

Alter (Jahre)

31/2 5~/2 91/:

121/2

Keine Milchz~hne extrahiert

oberer Bogen unterer Bogen

0,78 0.70 0,82 0.79 0,88 0.84 0.94 0.86

Tab. IV. Korrelationskoeffizienten zwischen der peripheren L~inge jeden Bogens mit 15 1/2 Jahren und den entsprechenden Dimensionen in repr~- sentativen Entwicklungsstadien bei 19 F~llen ohne Zahnextraktion.

versale Furchen segmentiert, die den interdentalen Septa entsprechen. Der untere Alveolarbogen hat ~hnliche, jedoch weniger deutliche Aufteilungen. Es ist daher mOglich, die Grenzen des Alveolarfortsatzes mit Hilfe der Sulci zu bestimmen, die nicht nut zur Zeit der Geburt, sondern auch im sp~.teren Leben festgestellt werden kOnnen. Sie k6nnen daher auch zur Durchft~hrung von Vergleichsmessungen ver- wendet werden, um den verfiigbaren Platz ft~r Schneidez~hne und Eckz~hne festzu- stellen. Wahrend aber die ersten 6 Lebensmonate ein ausgesprochenes Breiten- wachstum des Gaumens und "der Alveolarforts~tze erfolgt, betrifft das sp~tere Wachstum nut die ~ugere Dimension der AlveolarbOgen. Die in der Folge durchbre- chenden Molaren werden durch eine Verl~ngerung der Alveolarforts~tze nach rt~ck- w~rts und augen aufgenommen. Daher ist nur eine geringe Zunahme der Intercani- nusbreite auf der palatinalen Seite festzustellen, um Platz for die breiteren bleiben-

den Schneidez~thne zu schaffen (Abb. 2). Frtihere Autoren haben versucht, Messungen der Bogenbreite mit dem erwar-

tungsgem~B verft~gbaren Platzumfang in Beziehung zu bringen (Stifler [13] 1958). Dies ist jedoch bei der groBen Variabilitat der Zahnbogenform schwierig. Zur Sch~t- zung der Platzbed~irfnisse dtirfte es daher g~nstiger sein, die Zirkumferenz-Lfinge des Zahnbogens zu messen. So wurde die Peripherie eines jeden Bogens gemessen von einem Punkt unmittelbar bukkal an der Distalfl~che des 2. Milchmolaren zu dem gleichen Punkt der Gegenseite. Im bleibenden Gebig entsprechen diese Punkte der Distalfl~che der 2. Pramolaren oder der Mesialflache der 1. Molaren. Nur eine geringe Korrelation wurde zwischen der peripheren L~nge des Milchzahnbogens und der ihrer Nachfolgez~hne gefunden, wenn alle FNle ohne Rt~cksicht auf Extraktio- nen beurteilt wurden. Andererseits verstarkte die Abtrennung der Falle ohne Ex- traktionen die Korrelation zwischen den Milchgebig- und bleibenden GebiBphasen (Tab. IV).

Lt~cken zwischen den Milchz~hnen wurden lange Jahre als willkommenes Merk- mal angesehen, da sie die Einordnung der breiteren bleibenden Zahne ohne groBe

Erweiterung des anterioren Zahnbogens gestatten. Sind keine Lt~cken vorhanden, wenn das MilchgebiB fertig vorliegt, so ist ihr sp~teres Auftreten unwahrscheinlich. In einer frt~heren Arbeit (Leighton [4] 1969) wurde festgestellt, obwohl eine mittlere Differenz yon 6 mm bzw. 2 mm zwischen den Milchzahnbreiten und der Summe der Nachfolgez~hne im oberen und unteren Zahnbogen bestand, dab diese Zahlen sehr weite Variationsreihen repr~sentieren. In einer Gruppe von 49 Individuen, bei denen kein bleibender Zahn extrahiert worden war, ergab sich, dab der Gesamtumfang der

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Barry C. Leighton

Tab, V, GrOBe der Wahrscheinlichkeit, dab ein Engstand im unteren Bogen sich zu einem spa.teren Eng- stand im bleibenden Gebil3 entwickelt, beurteih nach dem Umfang der Ltickenbildung zwischen den Milchz~.hnen bei 49 F~.llen.

Lt~ckenbildung zwischen Chancen eines Milchzahnen spateren Engstandes

Engstand 10 von 10 Keine Lticken 7 von 10 Weniger als 3 mm 5 von 10 3 - - 6 r a m 2 yon 10 Mehr als 6 mm keine

~0 7 9 - 78 77 76 75 74 72 72 71 70 I I

1 2 3 4 5 6 7 8910111213141516 A#er In Jof'~en

Oberer Al~:~larbogen a )

§ SD

M4"fetwerf

4 "l"-.lk

I I J I [ [ t I I ] i~'~,t - 2 S D

77 ,r ~. ,., 76 . 2 S D 75

E 74 73 ~ ..I,. ~ -

c 72p ~71b c 7 0 p q 69 ~ Ml#elwert

.~ 67 p ~ _~ 66 y

62 ~ '~ 61 k " - 2 S D 6 0 t i ] ] I i l l I k I J I

1 2 3 4 5 6 7 8 9 1 0 1 1 1 2 1 3 1 4 1 5 1 6 Alter in Johren

Unterer Alveolarbogen

b )

Abb. 3. Veranderungen der mittleren pcripheren Lange eines jeden Bogens zwischen 31/2 und 151/e Jah- ren bei 19 Fallen, bei denen kein Zahn extrahiert wurde. Die individuelle Variationsbreite wird durch die Spanne der Mittelwertkurve zu der oberen und unteren Kurve ( + und - - 2 S.D.) angegeben.

Lticken wohl helfen kann, die Wahrscheinlichkeit eines sp~tteren Engstandes zu sch~itzen (Tab. V), aber er vermag nicht, den Grad des im bleibenden GebiB zu er- wartenden Engstandes sehr genau anzugeben.

Die Untersuchung der Ver~inderungen, die in der peripheren Bogenl~nge eintreten, ist von besonderem Interesse; sie sind in jedem Bogen ziemlich verschie- den (Abb. 3). In einem grol3en MaBe dt~rften diese Ver~nderungen in Beziehung zum Ausfall und Durchbruch der Z~hne stehen. Durch Beobachtung der j~hrlichen Ver- ~nderungen der mittleren und peripheren L~tnge bei 19 Fallen, bei denen keine Z~ih- ne extrahiert worden waren, wurde im oberen Alveolarbogen gefunden, dab eine an- f~ingliche Verkt~rzung der peripheren L~nge w~hrend der MilchgebiBphase verbun- den war mit dem Schlul3 der Molarenlticken und einer Verringerung der Schneide-

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Variationen der normalen Gebiflentwicklung

zahnprotrusion, sobald die Lutschgewohnheit aufgegeben worden war. Zwischen 6 und 10 Jahren begleitete dann wieder eine VergrOBerung der mittleren Bogenl~tnge den Durchbruch der bleibenden Schneidez~ihne. Die folgende langsame Reduktion der L~tnge dtirfte anf~tnglich dem Wechsel der Milchmolaren durch die Pr~tmolaren zuzuschreiben sein. Sie bestand jedoch noch einige Zeit weiter, nachdem die Pr~tmo- laren durchgebrochen waren. Mit 15 Jahren war dann die mittlere periphere L~nge wenig grOBer, als sie mit 3 Jahren gewesen war.

Die Ver~nderungen, die in der peripheren L~nge des unteren Alveolarbogens stattfinden, sind vOllig ~hnlich mit der Ausnahme, dab keine anf~ngliche Verkiir- zung der Bogenl~nge gefunden wurde. Der VergrOBerung der Bogenl~nge zwischen 6 und 10 Jahren folgte eine betr~ichtliche Verktirzung, deren Tempo bis w ~ zum 15. Lebensjahr anhielt. Diese Reduktion tier Bogenperipherie, besox~llr~/ '~a~ teren Alveolarbogen, wurde in der Diskussion einer Arbeit von PrinS,~flO] betont, in der er die Langzeit-Ergebnisse einer Anzahl behandeiter Khls~-Ii-F~ll~ be- schreibt.

W~hrend der Diskussion wies Chapman [3] darauf hin, dab eine, d~chziegelarng enge Einstellung der unteren Schneidezahne so h~ufig sei, dab sie als nor.~a.al ~tngese- hen werden kOnnte. Dieser Hinweis hat seitdem auf den Britischen Insel'n.~e[i~ weite allgemeine Untersttitzung gefunden. Er scheint in aberzeugender Weise for das Ver- fahren zu sprechen, am Ende der orthodontischen Behandlung einige LOcken zu be- lassen. Ein Unterlassen kOnnte einen Engstand der Schneidez~thne im Alter von 13 bis 16 Jahren zur Folge haben.

Nicht selten brechen sowohl die Milch- als auch die bleibenden Schneidez~thne mit einem zentralen Diastema durch. Dies kann zum Teil erwartet werden, da die Zahn- keime im Knochen durch die mediane Sutur getrennt werden. Im MilchgebiB besteht

normalerweise gentigend Platz zum Verbleiben der Liacke. FOr eine Lticke zwischen den bleibenden zentralen Schneidezahnen besteht jedoch mehr Aussicht, unter dem Mesialdruck der durchbrechenden seitlichen Schneidezahne oder spater der Eck- z~hne geschlossen zu werden.

F~lle werden h~iufig in London beobachtet, in denen die seitlichen Schneidez~ihne lingual vom Zahnbogen durchbrechen. Ist dann der Raummangel nicht groB, so kann ein spontaner Ausgleich eintreten (Abb. 4). Obwohl erwartet werden kOnnte, dab ein Engstand der Schneidez~ihne beim Durchbruch der 2. und 3. Molaren wieder auftritt, wurde die Einreihung der Schneidezahne in diesem Falle im Alter von 22 Jahren noch als gut gefunden.

Die allgemeine Meinung geht heute dahin, dab die Extraktion von Milchz~ihnen nicht immer einen bleibenden Raumverlust far das bleibende GebiB bedeutet

(Abb. 5A). Dies trifft fast immer zu ft~r F~lle mit allgemeiner LOckenbildung zwi- schen den Milchzahnen, aber nur zum Teil far Falle, bei denen nur wenig Lticken be- stehen. Es mag dies ein vorbereitender Faktor for einen sp~teren Engstand der Schneidez~hne sein, wie in dem Fall der Abb. 5B gezeigt wird. Die unteren 1. Milch- molaren wurden mit 7 Jahren entfernt, aber ihr Raum wurde beim Durchbruch der Pr~molaren wiedergewonnen. Sp~ter bildete sich jedoch ein Engstand der Schneide- z~hne.

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Abb. 4A und 4B. Durchbruch bleibender lateraler Schneidczahnc lingualv, arts zu den mittleren rail spon- taner Besserung.

Anteroposteriores Lageverh~iltnis der Zahnb6gen

In einer fr t iheren Arbei t [6] wurde bereits gezeigt, wie variabel der , ,Over je t " bei

der Gebur t sein kann . W~hrend der ersten 6 Mona te des Lebens verminder t sich tier

, ,Ove r j e t " betr~chtl ich, besonders in den F~.llen, in denen sich die Okk lus ion nor-

mal entwickelt . Diese Ver~nderungen sind von einem schnellen Gesichtswachstum

und z u n e h m e n d e r P r o m i n e n z des Kinns begleitet. Der Ver lauf einer st~.ndigen Re-

duk t i on des Schne idezahn-Over je t k a n n gehemmt oder sogar ins Gegentei l ge~,ndert

werden durch das Bestehen einer Lutschgewohnhei t , deren EinfluB fast immer vor-

abe rgehender Na tu r ist. Die Abb . 6 zeigt den Mittelwert mit Varia t ionsbereich der

Abb. 5A und 5B. 2 Falle mit Extraktion unterer Milchmolaren. In Abb. 5A wurde der Platzverlust beim �9 Durchbruch tier Pramolaren wieder gut gemacht ohne Engstand der Pramolaren. lm Fall der Abb. 5B P brachen wohl die Pramolaren zufriedenstellend durch, bei den Schneidezahnen entwickelte sich aber ein Engstand. Die Okklusion entwickelte sich in beiden Fallen normal ohne orthodontische Behandlung.

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Variationen der normalen Gebiflentwicklung

Abb, 5A und B

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B a r r y C . L e i g h t o n

12-

70

C3

C

- f , I C~tyuct

Over jet

-q

I

E

3,5

V ~5

L I 9.5 12,5 17.5

Alter tn Jahren

Abb. 6. Histogramm zum Ver- gleich der Mittelwerte und H~iu- figkeitsverteilungen des Overjet in ausgewahhen Ahern bei 15 sich normal entwickelnden Fallen (schraffierte Histogramme) und 15 Fallen von BiBanomalien (kla- re Histogramme). Der Mittelwert einer jeden Gruppe ist dutch das Zeichen --,.- angegeben.

Mi#lerer Overjet

E 4

-3

~2 (b

36 Folle ohne Lutschgewohnhelt nach dem 2. Lebensjahr

...................... 28Falle mit Lutschgewohnhe/t

"•oo . 8 . . . . 0 . . . o . ~ �9 . . . . , 8 . �9 " " . . . . . 1" . . . . . . . . . . i ~ - - 1 [ . . . . . ~- . . . . . . . . o . . . . . , o . . . . o . . . . . .

i a J J i n J n n i n I , I I I ,

6 18 30 42 54 66 78 90 102 114 126 128 150 162 174 186 198 210 Alter /n Monoten

Abb. 7. Vergleich, um zu zeigen, wie verschieden die jahrliche Veranderung des Overjet bei Fallen mit und ohne Lutschgewohnheit ist. Es sei darauf hingewiesen, dab irn Alter ',on 15 Jahren der mittlere Over- jet in beiden Gruppen sehr ahnlich ist.

Tab. VI. Korrelationskoeffizienten zwischen dem Overjet mit 15 Jahren und dern Overjet in reprasentati- ven foJheren Entwicklungsstadien in einer Gruppe von 49 Fallen, bei denen kein bleibender Zahn verlo- ren gegangen war. Sie wurden mit gleichen Korrelationen far 26 lndividuen verglichen, die nach dem 3. Lebensjahr keine Lutschgewohnheit hatten.

Korrelationskoeffizient

Alter Ganze Keine Lutsch- (Jahre) Gruppe gewohnheiten

Geburt 0.16 0.27 31/2 0.43 0.65 51/2 0.55 0.61 91/2 0.85 0.92

121/2 0.93 0.97

~90 Fortscb.r. Kie[erorthol). 39 (A978"), t81--195 (,Nr. 3)

Variationen der normalen Gebiflentwicklung

Abb. 8. Fall, bei dem die Okklusion nach Durch- bruch der 2. Milchmolaren starker postnormal wutde.

Abb. 9. Fall, bei dem die Okklusion nach Durchbruch der 2. Milchmolaren weniger postnormal wurde.

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Overjetwerte bei einer Gruppe von 15 F~llen mit normaler Okklusionsentwicklung im Vergleich mit den Messungen einer Zufallsgruppe von 15 F~llen, deren Okklu- sion sich nicht normal entwickelte. Wie zu ersehen ist, nahmen sowohl Mittelwerte wie Variationsbereiche des Overjets der normalen Individuen zwischen Geburt und 31/2 Jahren ab. Danach wurde der Variationsbereich mit 51/2 und 9~/z Jahren grOBer, verkleinerte sich aber wieder mit 121/2 Jahren. Die voriibergehende Zunahme ist auf die Auswirkung der Lutschgewohnheit auf die Stellung der Schneidezahne zurtick- zuftihren.

Die Befunde waren die gleichen, wenn die ganze Gruppe von 103 Fallen an die Stelle der 15 F~ille gesetzt wurde, die sich nicht normal entwickelten. Wenn F~ille mit Lutschgewohnheiten yon den tibrigen getrennt wurden, ergab sich, daB, obwohl die Lutschgewohnheit eine VergrOBerung des Overjet im MilchgebiB verursacht, diese Differenz im Alter yon 16 Jahren fast beseitigt ist (Abb. 7). In ~ihnlicher Weise laBt die Ausschaltung yon Lutschf~illen aus einer Gruppe, die yon der Geburt bis zum 16. Lebensjahr beobachtet werden konnte, eine viel st~irkere Korrelation des Over jet zwischen dem Alter yon 15 Jahren und frtiheren Entwicklungsstadien erkennen (Tab. VI). Bei einer Vorhersage tiber die GrOSe des letzten zu erwartenden Oberjet erscheint es deshalb notwendig, das Mitwirken einer Lutschgewohnheit mit in Be-

tracht zu ziehen. Sowohl Chapman [3] wie Bonar [1] haben in der Vergangenheit auf spontane Ver-

~inderungen der Molarenrelation aufmerksam gemacht, wenn entweder Milchmola- ren oder 1. bleibende Molaren im Durchbruch stehen. Obwohl beide Autoren darauf hinweisen, dab diese VerO, nderungen zu dem Ausgleich einer schwachen postnorma- len Okklusion fiihren, wurde bei den vorliegenden Fallen gefunden, dab Okklu- sionsver~inderungen nicht auf die mesiale Bewegung des unteren Zahnbogens be- grenzt waren. In einer Serie von 212 F~illen zeigten sich bei 40 Veranderungen der an- teroposterioren Milchgebigokklusion (Leighton [4]). In der H~ilfte dieser F~lle be- stand eine Verst~irkung der postnormalen Einstellung (Abb. 8), in der anderen H~tlf- te eine Verringerung der postnormalen Einstellung (Abb. 9). Wahrscheinlich entste- hen diese Anderungen der Okklusion, wenn der Durchbruch eines Molaren zwei HOcker zurn frtihzeitigen Kontakt bringt und damit eine schtitzende Ablenkung der Mandibula aus der zentrischen Okklusion bewirkt. Eine nachfolgende nattirliche Abschleifung durch den Kauakt oder eine Zahnbewegung mag dann vielleicht einen spontanen ROckgang der Ablenkung bewirken. Aus diesem Grunde diirfte bei einem Fall mit einer Ablenkung der Okklusion in einen schlechteren Zusammenbig das Be- schleifen des stOrenden HOckers yon Nutzen sein, wogegen man sich bei einem Fall mit sich bessernder Okklusion natiirlich jeder MaBnahme enthalten sollte.

Verlikales Lageverh~illnis der Zahnb6gen

Ebenso wie der Overjet ist auch der Oberbil3 sehr wechselnd zur Zeit der Geburt. Anscheinend besteht nur ein geringer Zusammenhang zu dem zu erwartenden 15ber- bib im bleibenden GebiO. Eine Vorhersage des sp~iteren Oberbisses bereits im Milch- gebiB ist erschwert durch die Auswirkung des Lutschens auf das Lageverhaltnis der Schneidezahne (Tab. VII). Ein oftener BiB im Alter von 5 Jahren ist pathognomo-

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Variationen der normalen GebiJ3entwicklung

Tab. VII. Korrelationskoeffizienten zwischen dem OberbiJ3 mit 15 Jahren und dem Uberbi6 in reprasen- tativen fr0beren Entwicklungsstadien in einer Gruppe yon 49 Ftillen, bei denen kein bleibender Zahn ver- loren gegangen war. Diese wurden mit gleichen Korrelationen ftir 26 lndividuen verglichen, die nach dem 3. Lebensjahr keine Lutschgewohnheit hatten.

Korrelationskoeffizient

Alter Ganze Keine Lutsch- (Jahre) Gruppe gewohnheiten

Geburt 0.02 0.07 31/2 0.52 0.77 51/2 0.64 0.73 91/2 0.68 0.69

121/2 0.80 0.84

M/#lerer Uberblss

36Folle ohne Lubschgewohnhert noch dem 2. Lebensjohr

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28Folle m# Lutschgewohnhe/t

. . IV ID" "

s . . , D . . . . . �9 . . . . . 0 / ~176 �9 ~

# I l I I I I I I

' ~ 18 42 66 90 114 138 152 185 .210 Alter in Monoten

Abb. 10. Vergleich, um zu zeigen, v,ie verschieden die j~ihrliche Yer~inderun8 des IJberbisses bei Fb.llen mit und ohne Lutschgev, ohnheit ist. In] Alter yon 15 Jahren ist der mittiere Oberbil3 in den beiden Grup- pen sehr ahnlich.

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- I L I ; i

Geburt 3.5 5,5 .9,5 12, 5 17,5 Alter ~n Jahren

Abb. 11. His togramm zum Ver- gleich der Mittelwerte und H~u- figkeitsverteilung des Uberbisses in ausgew~ihhen Ahern bei 15 sich normal entwickelnden Fallen (schraffierte Rechtecke) mit einer gleichen Zahl yon F~illen mit BiB- anomalien (klare Rechtecke). Der Mittelwert einer jeden Gruppe ist durch das Zeichen ~ angege- ben.

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Barry C. Leighton

nisch for eine Lutschgewohnheit; er wird aber nur selten von einem offenen BiB des bleibenden Gebisses gefolgt. Wir finden ihn bei etwa 10O7o der 3j~hrigen Londoner Kinder. Einige F~ille demonstrieren einen erstaunlichen Ausgleich des offenen Bisses, wenn die Lutschunart aufgegeben wird. Die Abb. 10 vergleicht die Untersu- chungsdaten yon Kindern, die noch nach 3t/2 Jahren ihre Lutschgewohnheit nicht aufgegeben haben, mit Feststellungen bei Kindern, die mit 3J/2 Jahren nicht mehr gelutscht haben. Jeder Verlust an lJberbiB infolge Lutschens in der Milch- und WechselgebiBphase der Entwicklung kommt wahrscheinlich wieder zum Ausgleich, wenn die Lutschunart eingestellt wird. Im Gegensatz dazu ist eine normale Entwick- lung der Okklusion AuBerst unwahrscheinlich, wenn der .l]berbiB des reifen Milchge- bisses groB ist.

Diese Beobachtungen werden in der Abb. 11 dargestellt, in der 15 F~ille normaler Entwicklung mit 15 Fallen yon BiBanomalien verglichen werden. Es sei erw~ihnt, dab ein offener BiB im MilchgebiB eine nicht seltene Erscheinung bei den Normfallen darstellt.

SchluBfolgerungen

Besondere Aufmerksamkeit wurde in dieser Arbeit der Variationsbreite ge- schenkt, die man bei der normalen Entwicklung voraussetzen muB. Es wurde ein an- gemessener Vergleich mit einer Zufallsgruppe durchgeftihrt, um die Variabilit~it sch~itzen zu kOnnen. Es sei festgestellt, dab im Laufe der Entwicklung einige Perio- den mit besonders groBer Variationsbreite bestehen. Wiihrend der WechselgebiB- phase ist sehr wahrscheinlich, dab Ver~inderungen aus dem Ablauf des Zahnwech- sels und infolge yon Milchzahnentfernungen bei der Zahnbehandlung entstehen. Bei der Sch~itzung der normalen Okklusion ist es daher notwendig, sich dieser Faktoren bewuBt zu sein, welche das ,,pattern" der Zahnentwicklung kolorieren kOnnen. Nachdem man diese berticksichtigt hat, wird man notwendigerweise erkennen, dab gewisse fundamentale Verlinderungen st~indig wiihren.d der Entwicklung eintreten.

Lticken zwischen den Milchz~ihnen, besonders im Schneidezahngebiet, sind not- wendig zur Einstellung der breiteren bleibenden Schneidez~ihne. Ein geringer Urn- fang an Platz wird gewonnen, well die bleibenden Z~ihne labialwgtrts gekippt sind und die bukkolinguale Dicke der Alveolarforts~itze wiihrend ihres Durchbruchs zu- nimmt. Selten kommt es jedoch zu einer normalen Einreihung, wenn der Umfang an Lticken im unteren Bogen nicht grOBer ist als 3 mm. Es wurde weiterhin gefunden, daB, je breiter die Milchz~ihne sind, es desto weniger wichtig for sie ist, dab Lticken zwischen ihnen bestehen.

Zur Zeit der Geburt ist das Lageverhaltnis der beiden AlveolarbOgen, und zwar in anteroposteriorer als auch in vertikaler Richtung, sehr variabel. Es dtirfte yon gerin- ger Bedeutung sein, Voraussagen tiber die folgende Okklusion zu machen. Bei Nichtvorliegen einer Lutschgewohnheit nimmt der SchneidezahntiberbiB wahrend des Durchbruchs dieser Zahne schnell zu, danach sollte er regelm~iBig abnehmen. Ein Ausbleiben dieser Verringerung des frontalen I3berbisses wtirde wahrscheinlich auf die Entwicklung eines tiberm~iBigen Schneidezahntiberbisses im bleibenden Ge-

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Variationen der normalen Gebiflentwicklung

bib hindeuten. Diese Folge von Ver~inderungen wiederholt sich, wenn die bleibenden Schneidez~ihne durchbrechen. Die Verst~irkung des lJberbisses halt bis etwa zum 10. Lebensjahr an, wenn eine regelm~iBige Abnahme in der St~irke des Oberbisses zu er- warten ist.

In gleicher Weise geht der Over jet ziemlich schnell w~ihrend des ersten oder zwei- ten Lebensjahres zuriick. Anschliel3end kommt es zu einer voriibergehenden Zu- nahme des Overjet beim Durchbruch der bleibenden Schneidez~ihne. Diese Ver~inde- rung des Overjet spiegelt sich auch weniger deutlich in den Beziehungen der oberen und unteren Eckz~ihne wider. Die sich ~indernde Lagebeziehung der Distalfl~ichen der 2. Milchmolaren und 2. Pr~molaren wurde von Chapman [3] genau beschrieben und in der vorliegenden Serie von F~illen best~itigt.

Zusammenfassung

Die Arbeit versucht, nicht nur die Ver~inderungen darzustellen, welche von der Geburt bis zum Erwach- senenalter hinsichtlich Morphologie, Einordnung der Z~ihne und Lageverhaltnis der beiden Zahnbogen eintreten, sondern auch die Variationen, die in irgendeinem besonderen Entwicklungsstadium gefunden werden k0nnen. Es ist diese Variabilit~it, die das Studium der normalen Entwicklung der Okklusion so vielseitig und interessant macht.

Summary

An attempt has be made to indicate not only the changes that take place between birth and adulthood in the morphology, alignment and relationship of the two dental arches, but also the variation which might be found at any one particular stage of development. It is this variation which makes the study of normally developing occlusion so full of variety and interest.

R6sum6

Ce travail cherche & indiquer, de la naissance & l'~ge adulte, non seulement les modifications de mor- phologie, de l'alignement dentaire et des relations des deux arcades dentaires, mais 6galement les varia- tions qui peuvent ~tre trouv~es & n'importe quel stade du d~veloppement. Ce sont ces variations qui ren- dent l'~tude du d~veloppement normal de l'occlusion si vari~e et int~ressante.

Schrifttum

1. Bonnar, E.M.: Dent. Pract. 11 (1960), 59. 2. Broadbent, B.H.: Angle Orthodont. 11 (1941), 223. 3. Chapman, H.: Brit.dent.J. 58 (1935), 201. 4. Leighton, B.C.: Trans.Europ.orthodont.Soc. (1969), 353. 5. Leighton, B.C.: Dent.Pract. 21 (1971), 359-372. 6. Leighton, B.C.: Fortschr. Kieferorthop. 37 (1976), 8-14. 7. Lewinsohn, R.: Prophets and prediction. Secker and Warburg, London 1958. 8. Lysell, L., B. Magnusson, B. Thilander: Odont. Revy 13 (1962), 217. 9. Meredith: J. dent. Res. 25 (1946), 43.

10. Pringle, K.E.: Trans. Brit. Soc.Orthodont. (1955), 15. 11. Robinow, M., T.W. Richards, M. Anderson: Growth 6 (1942), 127. 12. Sandier: J. Paediat. 25 (1944), 140. 13. Stifter, J.: Angle Orthodont. 28 (1958), 215.

Anschr. d. Verf.: Professor B.C. Leighton, M.D.S. (Lond.), F.D.S.R.C.P.S. (Glas.), H.D.D. (Glas.), D.Orth., RCS., Dental School, Denmark Hill, London SE5 8 RX.

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