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KKAANNDDIINNSSKKYYVassily
Wassily Kandinsky1866 - 1944
Mikhaïl Guerman
„… seine Seele schritt durch den Spiegelsaal seines Lebens ...“
Herman Hesse
Text: Mikhaïl Guerman
ISBN 978-1-78042-274-9
© Confidential Concepts, worldwide, USA© Sirrocco, London, UK (Deutsche Fassung)© Kandinsky Estate / Artist Rights Society, New York, USA
Weltweit alle Rechte vorbehalten.
Soweit nicht anders vermerkt, gehört das Copyright der Arbeiten denjeweiligen Fotografen. Trotz intensiver Nachforschungen war es abernicht in jedem Fall möglich, die Eigentumsrechte festzustellen.Gegebenenfalls bitten wir um Benachrichtigung.
Inhalt
Konzentration 7
Das Wunder von Murnau 39
Zwischen Ost und West 63
Rückkehr 119
Der Blaue Reiter – Rückkehr 139
Anmerkungen 144
Lebenslauf 146
Ikonographie 154
Index der Werke 158
6
Exotische Vögel,Tretjakow Galerie, Moskau.
Wir malen immer noch, wenn auch mit etwas freier Handschrift und für den
Bourgeois aufregend genug, die Dinge der „Wirklichkeit“: Menschen, Bäume,
Jahrmärkte, Eisenbahnen, Landschaften. Darin fügen wir uns noch einer
Konvention. „Wirklich“ nennt ja der Bürger die Dinge, die von allen oder
doch vielen ähnlich wahrgenommen und beschrieben werden.
Hermann Hesse, Klingsors letzter Sommer.
Vor kurzem schien es, dass das jetzige Jahrhundert nicht nur mit
Wassily Kandinsky begann, sondern auch mit ihm endet.1 Doch wie oft die
Anhänger von neuen und modischen Interpretationen seinen Namen auch
zitieren mögen – der Künstler ist Geschichte und gehört vielleicht mehr zur
Vergangenheit oder der Zukunft als zum Heute. Über Kandinsky ist soviel
gesagt und geschrieben worden und seine Arbeiten – auch die theoretischen
– sind derart bekannt, dass das Übermaß an Wissen und vorgefertigten
Urteilen zuweilen verhindert, den Künstler in seiner Individualität und
realen Bedeutung jenseits aller Mythologisierung zu sehen: Mit neuem Blick,
von der Schwelle eines neuen Jahrtausends. Der erfahrene und interessierte
Leser von heute sucht, ermüdet von den gewagten postmodernistischen
Spielen, in Kandinsky das, was man früher nicht an ihm bemerkte und gar
nicht erst bemüht war, in ihm zu sehen, nämlich eine Stütze in der instabilen
Welt der künstlerischen Phantome und modischen Scheingeschöpfe. Was
vor kaum weniger als hundert Jahren als wagemutige Entdeckung begann,
gehört heute bereits zu den ewigen Werten.
Unter den Titanen der neuesten Kunst ist Kandinsky ein Patriarch.
Matisse wurde 1869 geboren, Proust 1871, Malewitsch 1878, Klee 1879,
Picasso 1881, Kafka 1883, Chagall 1887. Kandinsky dagegen 1866, als
Romain Rolland zur Welt kam, als Dostojewski Schuld und Sühne
Konzentration
7
Gouspiar,Tretjakow Galerie, Moskau.
8
9
Gebet vor den Dorfheiligen.
10
veröffentlichte, als Anna Karenina noch nicht geschrieben war, als noch
niemand den Begriff „Impressionismus“ benutzte. Mit einem Wort - in den
„tiefsten Tiefen“ des 19. Jahrhunderts. Er war 20, als die letzte Ausstellung
der Impressionisten eröffnet wurde, und 34, als Ambroise Vollard in seiner
Galerie die erste Einzelausstellung des jungen Picasso veranstaltete. An der
Jahrhundertwende erst begann er seine Professionalität zu erwerben, sein
Name war unbekannt, und auch er selbst kannte sich noch nicht.
Kunsthistoriker und Biographen stellen stets die Intellektualität Kandinskys
und seiner Kunst heraus. Die Situation ist atypisch: Die jungen Paladine der
Avantgarde zogen ihre Anhänger weniger durch Wissen und Logik, denn
durch Radikalität und Ausgefallenheit ihrer Urteile, mehr noch durch
vieldeutiges, von genialen Einsprengseln durchsetztes Gedankengewirr an.
Das Schicksal dieses Meisters, der seine Kunst mit Russland, Deutschland
und Frankreich verband, seine Lehrtätigkeit am berühmten Bauhaus und
sein unermüdlicher und konzentrierter Weg zur eigenen Individualität
machten aus ihm nicht nur einfach einen Klassiker des 20. Jahrhunderts. In
der Kultur unseres Jahrhunderts nimmt er durchaus einen Sonderplatz ein:
Den Platz eines Künstlers, dem alle Hast nach Ruhm und der Wunsch, den
Betrachter zu schockieren, fernsteht; er ist ein Meister, der zu ständigem
und konzentriertem Nachsinnen neigt, sich um die Synthese der Künste
bemüht, nach immer vollkommeneren, asketischeren und strengeren
Formsystemen sucht. Mehr noch: Die Kunst Kandinskys trägt in sich nicht
den Widerhall oder, besser gesagt, die Schicksalslast anderer Meister der
russischen Avantgarde. Er verließ Russland sehr viel früher, ehe die
offiziöse sowjetische Ästhetik sich von der neusten Kunst abwandte. Er
wählte selbst, wo er leben und wie er arbeiten würde. Er war weder
gezwungen, gegen sein Schicksal zu kämpfen noch einen Kompromiss mit
ihm zu schließen. Er war und blieb stets ein freier Mensch. Seine Kämpfe
trug er mit sich selbst aus. Die Verfolgungen, denen die „Linken“ in
Russland ausgesetzt waren, betrafen ihn nicht und erschwerten ihm nicht
das Leben. Auch wurde ihm nicht der Dornenkranz oder der Ruhm eines
Märtyrers zuteil – dieses Schicksal erfuhren die in Russland verbliebenen
berühmten Künstler der Avantgarde. Sein Ruf hat dem Schicksal nichts zu
verdanken, sondern einzig und allein der Kunst selbst. Die Kultur der
Vergangenheit war ihm verständlich und teuer, sein Ziel war es nicht,
Götzen zu stürzen. Die Schaffung des Neuen nahm ihn voll und ganz in
Anspruch. Er war kein Bilderstürzer oder Provokant. Sein Werk war zwar
11
Der Hafen von Odessa,späte 1890er,Öl auf Leinwand, 65 x 45 cm,Tretjakow Galerie, Moskau.
12
Gegend bei Achtyrka,Tretjakow Galerie, Moskau.
13
Skizze zu „Achtyrka, Herbst“, 1901.Öl auf Leinwand, 23,6 x 32,7 cm,Städtische Galerie im Lenbachhaus,München.
durchaus herausfordernd und provozierend, aber diese Kühnheit war
gedankenvoll, korrekt und argumentierte mit höchster künstlerischer
Qualität.
Kandinsky war ein europäisch gebildeter Mensch, Schriftsteller,
professioneller Musiker und ein Künstler, der mehr zu Reflexion und
strenger Logik – jedoch nicht ohne eine Spur von Romantik – neigte als zu
schreienden Deklarationen. Er wahrte die Würde eines Denkers und
verschwendete sich nicht an kleinkarierte, pseudokünstlerische
Streitigkeiten. Oft und zu Recht wurde darauf hingewiesen, dass nicht allein
die Kunst, sondern das gesamte Weltgefühl Kandinskys in Russland und
Deutschland wurzeln. Wichtig ist: Sein Russland ist Moskau. Im
Unterschied zur Mehrheit seiner berühmten, ihm gleich gesinnten
Landsleute – wenn es sie im vollen Wortsinne überhaupt gab – hatte er
praktisch keine Bindung an die Petersburger Kultur. Kandinsky umging
dieses Fegefeuer zwischen West und Ost. Die gefährlichen und
verführerischen Petersburger Trugbilder vernebelten ihm nicht den Kopf,
14
München, Schwabing, 1901.Öl auf Karton, 17 x 26,3 cm,Tretjakow Galerie, Moskau.
Rote Kirche, 1901.Russisches Museum, St. Petersburg.
15
16
Bergsee, 1899.Öl auf Leinwand, 50 x 70 cm,Manukhina Sammlung, Moskau.