8
Eine Diaboliade Myron Hurna worthandel : verlag Vaußt

Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

Embed Size (px)

DESCRIPTION

Ist dieser Text eine Adaption von Goethes Faust? Finden sich etwa auch Anspielungen auf real existierende Personen im hiesigen Literaturbetrieb? Who is who? Ist dieser Text eine Frechheit oder genial? Welcher Literaturkritiker darf hier in der Hölle schmoren? Oder ist die Hölle gar nicht so heiß, wie sie gegessen wird? Und lässt Du Dich mit Mephisto ein?

Citation preview

Page 1: Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

Eine Diaboliade

Myron Hurna

worthandel : verlag

Vaußt

Page 2: Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

7

An manegen grôzen unde liehten werke / hât diz

timber werc sîn teil / unde ez bekêre alsô guot als

sie. / Umbe daz wache der hœrære ze allen stunden /

unde vernime diu lêre / diu durch des lebens bilde

brinnet / des mære man hie saget. / Disiu ist vür wâr

ein wildez geferte / daz nieman teilen enwil. / Alliu

spilliute gërn gar inneclîche / ze spiln diz spil. / Liute

unde der tiuvel stânt bereit. / Ez wirt sîn ein spiel wun-

neclich / des dû, holder hœrære, vernëmen solt / daz

under ir gesiht diu wârheit larven birt. / Nû aber kum

unde kêre der werlt den rücke zuo / der lieht dû lan-

ge sô unsenfteclîche enbërn solt / daz dû mit uns nider

verst / als der getriuwe orph.

Page 3: Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

9

Alte Geschichten werden immer wieder erzählt,

um dem Zuhörer Neues zu sagen. Und neue

Geschichten werden oft auf altbekannte Weise er-

zählt. Ebenso diese Geschichte eines jungen Man-

nes, der, nicht ganz zwanzigjährig, dem Teufel verfiel

und zu großem Unglück kam und auch andere ins

Unglück zog. Es ist dies die Geschichte des Jos Vaußt,

die eigentlich nur in Fußnoten zu erzählen ist, denn

so bedeutend das menschliche Unglück manchmal

sein kann, so unbedeutend ist doch oft seine Lehre –

und zu belanglos ist das kurze Leben eines Betrügers

und Hochstaplers, um Lehren zu erteilen.

Jos Vaußt, einziger Sohn der Gesche und des Han-

nes Vaußt, wurde im achtzigsten Jahr des vorletzten

Jahrhunderts in dem Dorf T. in der Nähe von Blan-

kenburg im Harz geboren, wo er aufwuchs als häss-

licher und plumper Bursche, der von anderen in der

gemeinsten Weise gehänselt wurde, verspottet von

den Schulkameraden, beschimpft als Jockel, Blöd-

mann, Idiot, Loser, gezogen an den Haaren und von

allen Jungen wie ein Tölpel behandelt. Sie ließen ihn

in den Schulpausen zur Mutprobe Käfer essen und

verdrängten ihn wo es ging unsanft mit den Ellbo-

gen. Seine Eltern waren Bauern, die Verhältnisse

Page 4: Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

10

beschränkt, sein junges Leben unglücklich soweit er

sich erinnern konnte, aber er bildete einen seltsamen

Stolz aus, der zur Sturheit, ja zu Hochmut neigen

konnte. Jos war anhänglich gegen seine Mutter, die,

da die Arbeit reich und schwer war, den Jungen oft

wegschickte, sogar fort stieß. Er wurde zur Nachba-

rin geschoben, die den Unbrauchbaren zum Teufel

wünschte, ja nur weg aus der Wohnung und zum Vater

hin, der ihn prügelte, weil er ihn bei seiner Arbeit

im Stall störte, so dass Jos manches Mal blaue Flek-

ken erhielt, zusätzlich zu jenen aus der Schule. Die

schlimmsten Jahre waren diejenigen seit seiner Ein-

schulung, die ihn vor aller Augen zu einem höchst

untalentierten, unbegabten und auch faulen Jungen

machten, zu einem Kretin, kraftlos und ängstlich, wie

aus Kompensation träumerisch und anfällig für me-

lancholische Zustände, die alles in ihm lähmten, ihm

aber sein Unglück nur dumpf ins Gedächtnis brachten.

Wäre er kein Mensch, er lebte das Leben einer Kuh,

die man mit dem Stock hierhin und dorthin treibt.

Erst im fünfzehnten Lebensjahr erhellte sich sein

Dasein. Das lag an zwei Begebenheiten: Jos Vaußt

hatte in seiner quälenden Einsamkeit die Bücher als

stumme Gefährten und Tröster entdeckt, die er, im

Page 5: Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

11

Dunkel der Schulbibliothek sitzend und aus Man-

gel an eigenem Geld, eben dort las; nicht die bekannten,

uns geläufigen Werke großer Dichter, sondern weitaus

geringere Lektüre, die Dichtungen namenloser lo-

kaler Schriftsteller: Gelegenheitspoeme, marginale

Essays, Causerien, Glossen, Gerümpel in Fraktur-

schrift, Provinzielles allemal, Harzdichtungen und

stabgereimtes Liedgut. Und dennoch, er las mit Ei-

fer. Unbekannt und dunkel dürfte ihm Manches ge-

blieben sein, aber es war ein der Erkenntnis gegenüber

viel größeres Gefühl, das ihn zum Lesen trieb, sicher

kein Glücksgefühl, kein Gefühl der Erhabenheit,

sondern eher ein Gefühl der Ruhe, die er erhielt, ein

Rasten und Atemholen nach jeder Stunde, in der er

zum Gespött seiner Kameraden geworden war, der

Rückzug in den Pausen, die wohltuend waren. Zwar

kamen auch hier seine Kameraden zu ihm um ihn

zu quälen, aber immerhin wurden jetzt die Bücher

Zeugen seines Martyriums.

Das zweite Ereignis in seinem Leben, das ihn zum

ersten Mal nicht nur mit der Ruhe der Bücher, son-

dern auch mit der sie bereichernden Unruhe der Liebe

bekannt machte, war eine neue Schülerin. Die Neue

wurde ihnen als Vinea von Klewitz vorgestellt. Von

Page 6: Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

12

diesem Moment an, da er ihre feine Gestalt und ihr

birkenweißes Gesicht sah, verliebte er sich in sie.

Abrupt stürzte das warme Blut in seinen Kopf und

verbreitete sich von dort wie eine Krankheit in sei-

nem Körper, brachte nie gefühlte Organe in Regung

und pumpte alle verborgenen Kräfte in die Venen.

Wie er Vinea sah, erschien sie ihm als das schönste

und ehrwürdigste Geschöpf, von neuen, barmherzi-

gen Mächten ins Herz der Welt gepflanzt, ein von

innen leuchtendes Kristallgeheimnis, an dem er nur

zu gerne in den Schulstunden rätselte, um Zeichen

ihres Interesses oder ihrer Zuneigung zu erkennen.

Jos Vaußt las von nun an nicht nur, er schrieb selbst

auch, und seine Gedichte widmete er heimlich Vinea,

ohne sie ihr anzutragen. Anfangs waren es dürftige

Zeilen, noch nicht einmal Verse, aber übers Jahr, in

dem er Vinea immer stärker liebte, fand er immer

kunstvollere Formen und entdeckte, nebenbei be-

merkt, selbstständig und ohne Anleitung der Dich-

ter einfache steigende und fallende Taktreihen, zudem

Daktylus und Anapäst, erweiterte er sein Kompen-

dium um ganze Strophenformen - Kürenbergstrophe,

Nibelungenstrophe und Meistersangstrophe -, ohne

die Vorlagen zu kennen; einfach als Urbilder keim-

Page 7: Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

Myron Hurna wurde 1978 in Bad Hersfeld geboren

und studierte an der Freiburger Albert-Ludwigs-

Universität Philosophie und Germanistik. Er veröf-

fentlichte bisher die Studie „Modernität in der Lyrik

Paul Celans“, den Essay „Das Alter. Philosophie ei-

ner Lebensphase“, eine „Einführung in die Lyrik und

Poetik Paul Celans“ sowie 2012 den Essay „Späte Ge-

genwart. Zur Historisierung des Holocaust“.

Page 8: Vaußt. Eine Diaboliade von Myron Hurna

1. Auflage März 2013© 2013 worthandel : verlag, DresdenUmschlag, Satz & Layout: Enrico KeydelLektorat & Korrektorat: Matthias Engels & Enrico Keydel

Gestaltung des Schutzumschlages unter Verwendung desGemäldes „Last Judgement“ (Triptychon) vonHans Memling (1433 - 1494)

Die Verwertung dieses Textes, insbesondereVervielfältigung,Sendung, Aufführung, Übersetzung, auch auszugsweise,ist ohne schriftliche Genehmigung durch den Verlagurheberrechtswidrig.

Alle Rechte vorbehaltenwww.worthandel.de

ISBN 978-3-935259-78-1 (Ausgabe mit Coverabbildung)ISBN 978-3-935259-80-4 (Ausgabe mit schwarzem Cover)ISBN 978-3-935259-81-1 (ebook-Ausgabe)