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Vegetative Störungen durch Mitbeteiligung des Grenzstranges bei retroperitonealer Lymphdrüsenerkrankung als Komplikation nach Amputation der unteren Extremität

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Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkunde, Bd. 160, S. 439-- 456 (1949).

Aus der Psychiatriseh-Neurologisehen Klinik der Universit/it Innsbruck.

Vegetative Stiirungen dutch Mitbeteiligung des Grenz- stranges bet retroperitonealer Lymphdriisenerkrankung

als Komplikation nach Amputation der unteren Extremitiit. Von

Wolfram Sorgo. (Eingegangen am 16. Juni 1948.)

Die Rekonvaleszenz nach Amputation der unteren Extremit~t war bet ether Reihe yon Patienten, die wit wfihrend des Krieges beobachten konn- ten, in einer eigent/imlichen Weise gestOrt. Etwa im Verlauf der 3. Woche kam es mehffach zu schweren abdominellen Erscheinungen, die sehr be- .drohlich schienen und unsere Aufmerksamkeit in besonderem Mage be- ansprucbten. Eine Reihe sehr aufschlugreicher Beobachtungen zeigte, dag es sich hierbei um eine zwar nicht h~iufige, aber doch charakteristische Komplikation handelt, die in ether Entztindung der retroperitonealen Lymphdrfisen ihr anatomisches Substrat hat. Spfiter bot sich mir dann die Gelegenheit, bet ether groBen Anzahl Amputierter auch Sp~itstadien zu sehen. Solche Untersuchungen wurden nach Kriegsende im Lazar~.tt- bereich Bad Ischl vorgenommen, wo durch die Initiative yon Prof. Dr. T6nnis ein Zentrallazarett ftir Amputierte geschaffen worden war. An dieser Stelle danke ich besonders Herrn Prof. Dr. T6nnis, dem damals leitenden Arzt des Sanit~tsbereiches ftir die mir zuteil gewordene Unter- sttitzung bet diesen Untersuchungen.

Ein glficklicher Zufall ftigte es, dag am Beginn der Untersuchungen, die auf das Jahr 1943 zurtickreichen, eine Granatsplitteiverletzung des lum- balen Grenzstrangs zur Beobachtung kam. Die abdominellen Erschei- nungen bet diesem Verletzten zeigten eine weitgehende 0bereinstimmung mit denen bei Erkrankungen der retroperitonealen Drtisen, so dag unser Augenmerk yon Anfang an in eine bestimmte Richtung gelenkt wurde.

Das yon uns beobachtete Krankenmaterial umfaBt bisher 387 Bein- amputierte, wovon 132 Unterschenkelamputierte waren. Unter diesen Patienten wurde eine Erkrankung der retroperitonealen Drtisen in 12 F/illen gefunden. Immer hat es sich um Amputationen wegen ausgedehntet oder infizierter Verletzungen gehandelt, bet denen die Wunde often gelassen worden war. Eine Erkrankung der retroperitonealen Drtisen konnten wit auch bet den infizierten Oberschenkelschugbrtichen finden, doch interes-

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siert diese Tatsache' hier nur insofern, als die H~iufigkeit bei diesen F~illen perzentuell fast dieselbe wie die bei Amputationen war, n~imlich 3 unter 102 F~illen, das sind 2,9%.

Tabelle 1. l n f i z i e r t e O b e r s c h e n k e l - A m p u t a t i o n 255 d a v o n m i t D r f i s e n e r k r a n k u n g 10 ~ 3 , 9 % ln f i z i e r t e U n t e r s c h e n k e l - A m p u t a t i o n e n 132 ,, ,, ,, 2 = 1 , 5 %

l n f i z i e r t e A m p u t a t i o n de r U n t . E x t r e m . 387 d a v o n m i t D r f i s e n e r k r a n k u n g 12 = 3 , 1 %

DaB Lymphdrfisenschwellungen im Retroperitonealraum auch ohne Krankheitszeichen vorhanden sein kOnnen, haben wit bei wiederholten lum- balen Sympathektomien beobachten kOnnen, wenn bei diesen F~,llen eine fang eiternde Wunde vorhanden gewesen war. Andererseits war bei F~illen, die wir wegen schwerer Causalgie bei noch bestehender Eiterung an der SchuBstelle operiert haben, k~.inerlei Drfisenver~inderung im Retroperito- nealraum nacbzuweisen. Unter F~illen mit noch bestehender Eiterung haben wir nut einmal unter 8 F~illen eine Infektion des Operationsgebietes, often- bar durch die Er6ffnung infizierter Lymphgef~iBe, gesehen, die nebstbei bemerkt, nach Erbffnung der Operationswund e rasch zurfickging.

Das Krankheitsbild.

Unter den 12 F~illen unserer Beobachtung war zwischen Amputation und Auftreten der ersten abdominellen Erscheinungen 8real ein Zeitraum von mehr als 3 und 4real ein solcher von weniger als 3 Wochen vergangen. Das kfirzeste Intervall betrug 12 Tage, das l~ingste 4 Wochen. Bei dem Patienten, bei dem bereits nach 12 Tagen St6rungen yon seiten der Drfisen auftraten, lag eine Komplikation in der Heihmg der Amputationswunde vor, insoferne, als wegen des schlechten Allgemeinzustandes ein einseitiger Zirkelschnitt zur Anwendung gekommen war und die Retraktion der Weichteile zu einem zuckerhutfOrmigen Stumpf mit vorstehendem Knoehenende geffihrt hatte, an welchem sich ostitische Prozesse abspielten. Der Kranke hatte nach multipler Minensplitterverletzungen eine Osteo- myelitis der linken Clavicula und der ersten 5 Rippen sowi ~ . ein infiziertes Kniegelenk, welches schlieBlich zur Absetzung im Oberschenkel zwang. Bei den restlichen F~illen war die Wundheilung der Amputationsfl~icoe unkompliziert und m¢ist beim Eintritt der Drfisenerkrankung sc.~on im Stadium der Epithelisierung. Bei 7 F~illen war wegen ausgedehnter Zer- trfimmerung im Bereich des Kniegelenks amputiert worden, 2mal wegen Gasbrand nach Granatsplitterverletzung, 2real wegen schwerster septi- scher Zusthnde bei Kniegelenksinfektion und einmal wegen Gangr~in nach Unterbindung der A.femoralis oberhatb des Abganges der A.femoralis prof. wege'n Nachblutung bei infiziertem OberschenkelschuBbruch. In den ersten Tagen nach der Amputation kam es bei allen Kranken zu einer m~Bigen, kaum schmerzhaften Schwellung der Lymphonoduli inguinales super- ficiales, die unvedindert durch l~ingere Zeit bestehen blieb. Die KOrper-

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temperatur war nach 3 oder 4 Tagen noch etwas erhOht. Zeichen einer Retention bestanden hie. Im Verlauf der Rekonvaleszenz begann tier Kranke, nach Ablauf der oben erw/ihnten Zeit, fiber Sensationen im Bauch zu klagen. Regelm/iBig waren es Klagen fiber abnorm starke Bl~ihungen, fiber Unvertr~iglichkeit gewisser Speisen und fiber kolikartige Schmerzen im Bauch. In 3 Ffillen waren diese Koliken so schwer, dab sich die Pa- tienten stOhnend im Bett w~ilzten und besonders nachts durch ihre Unruhe das Krankenzimmer in Aufregung brachten. Bei n/iherem Befragen gaben die Patienten an, sie hfitten ein VOllegeffihl im Leib, der Bauch sei wie eine Trommel gespannt, wobei besonders der Oberbauch betroffen sei. Meistens dauerten diese Klagen 1 his 2 Tage, worauf Durchffille mit kolikartigen Kr/impfen einsetzten. Der Wechsel zwischen Bl~ihung mit Obstipation wiederholte sich auch im sp/iteren Verlauf. In anderen F/illen bestand eine anffingliche hartn/ickige Obstipation, die in einem Falle 10 Tage anhielt und gegen jede Behandlung resistent war. H~iufig waren Klagen fiber Kreuzschmerzen. Auch Klagen fiber Blasenbeschwerden in Form yon Nykturie mit Harndrang und lnkontinenzerscheinungen wurden ge/iuBert, was die Kranken in ihrer Nachtruhe seh~ st6rte. Andere klagten wieder fiber eine Empfindlichkeit der Bauchhaut, so dab sie jede Berfihrung mit tier Bettdecke vermieden. Die Berfihrung der empfindlichen Hautstellen war hOchst unangenehm und verursachte ziehende Schmerzen im Stumpf. Bei 3 Kranken fiel eine subikterische Verffirbung auf, wobei Erbrechen und lang anhaltende 0belkeit an eine Lebererkrankung denken lieg. Das Aussehen der Kranken war schlecht, sie verfielen zusehends, wurden apathisch und verloren ihren Appetit. Die sich wiederholenden Diarrhoen brachten die Kranken stark herab. Die Durchsicht yon Krankenbl/ittern des Amputiertenlazarettes zeigte, dab bei solchen Zust~inden an Ruhr, typh6se Erkrankungen oder an eine Hepatitis epidemica gedacht wird. An letztere Erkrankung zu denken liegt besonders nahe, da gelegentlich multiple Lymphdrfisenschwellungen auftreten, wie sie bei der Hepatitis beobachtet werden. Die Untersuchungen verlaufen dann negativ, so dab eine Kl~irung dieser Erkrankung meist nicht erfolgt

Die Untersuchung

zeigt eine Reihe yon Symptomen, die flfichtig und unscheinbar, "aber auch auffallend und bemerkenswert sein k6nnen. Die Schwere der Erschei- nungen geht der Schwere der Erkrankung durchaus nicht parallel, auch ist ein ausgesprochener Wechsel der Krankheitszeichen die Regel, so dab eine einmalige Untersuchung wenig, eine am folgenden Tag durchgeffihrte alas vollausgepr/igte Symptomenbild ergeben kann.

• Schon beim Abheben tier Bettdecke kann ein in die Augen springendes Symptom wahrgenommen werden, n/imlich eine auf ein oder mehrere Dermatome einer Seite beschr~inkte G~insehaut. Sieht man genauer hin,

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so erkennt man auch eine Differenz in der Farbe der Bauchhaut, die in dem yon der Piloerektion betroffenen Gebiet blasser als in der Umgebung ist. Dementsprechend besteht zwischen beiden Seiten eine Temperatur- differenz, die bis zu mehreren Graden betragen kann. In manchen F~illen ist im Gebiet der Piloerektion auch eine SchweiBbildung mit dem Auge wahrzunehmen. Bei Untersuchung mit der Hand ist der Unterschied in der Feuchtigkeit der Haut immer festzustellen. Bei manchen F~illen sind die eben beschriebenen Symptome nicht ohne weiteres sichtbar, sondern m~ssen durch Bestreichen der Haut mit der Fingerkuppe oder mit einer Nadelspitze an einer beliebigen Stelle, besonders leicht am Nacken, hervor- gerufen werden. Die weitere Untersuchung der Bauchhaut zeigt Sensibili- t~itsst6rungen in der Form yon hyperaesthetischen oder hypaesthetischen Zonen. Die Ausdehnung dieser entspricht meist dem Gebiet yon 2 oder 3 Dermatomen, wobei sich die Zonen gest6rter Sensibilit~t nicht mit denen der Piloerektion decken. Gelegentlich findet man auch mehrere vonein- ander unabh~ingige gest6rte S~nsibilit~itsbezirke. Am h~iufigsten sind diese Zonen im Bereich yon L 2 zu linden und oft kontralateral zu den vege- tativen Reizerscheinungen.

Die Palpation der Bauchdecken zeigt in der Regel eine Differenz in der Muskelspannung zwischen rechts und links. Eine D~fense musculaire im eigentlichen Sinne haben wir 3mal angetroffen. Bei diesen F~illen be- standen auBerordentlich starke Bauchschmerzen, so dab eine intraabdo- minelle Komplikation vorget~iuscht wurde.

Aucn die Bauchdeckenreflexe zeigen eine Seitendifferenz, wobei schein- bar die Reflexe auf der Seite sehw~icher sind, auf der der Tonus der Mus- kulatur gr6Ber ist, doch ist dies nicht die Regel.

Die Kombination der erw~hnten Symptome ist sehr wechselnd. Nicht nur kann das einzelne Symptom von einem zum anderen Tag verschwin- den, aueh in der Gruppierung und Lokalisation k6nnen Anderungen ein- treten. Entspannt der t(ranke gut und wird die Palpation vorsichtig durchgef~hrt, so lassen sich neben der Wirbels~iule glatte, unversehieb- liche auf Druek sehr schmerzhafte etwa pflaumengroBe Tumoren nach- weisen. Gelegentlich ist ihre Palpation auch im Oberbaueh entsprechend der Leberpfortengegend m/~glich. Man findet dort eine starke Druck- schmerzhaftigkeit. Mehrfach konnten diese Tumoren nur auf der der Amputation entgegengesezten Seite der Wirbels~iule getastet werden. In einem Falle bestand eine ausgedehnte Ausbreitung dieser Tumoren, die auch in der Bauchhaut, in der linken Axilla und supraclavicul~ir beider- seits gefunden wurden.

Der Allgemeinzustand der Patienten ist stark reduziert. Die Zunge feucht, kaum betegt; der Puls ist beschleunigt, welch und klein, der Blut- druck normal, die diastolischen Werte regelm~iBig vermindert. Die Haut- ~arbe ist gelbliehgrau, die Augen halloniert, Leber und Milz sind nicht

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vergr6Bert, die erstere h/iufig druckschmerzhaft. Be! Magenausheberungen wurde eine Verrninderung der Salzs/iurewerte bis zur Anacidit/it gefunden. Die K6rpertemperatur kann subfebril sein, steigt abet ohne erkennbare Ursache bis 40 und zeigt dann septischen Charakter. Im subakuten und chronischen Stadium bewegt sie sich urn 38 °. Im Stuhl und Harn werden pathologische Bestandteile nicht gefunden.

Das Blutbild zeigt auffallende Ver~inderungen. Es besteht eine sekun- d~ire Anaernie rnit Hb-Werten his 50% und eine Verminderung der roten BIutk6rperchen auf 1,5 bis 2 Millionen. Dieser Befund w~ire an sich bei Arnputationen wegen infekti6ser Prozesse nicht auffallend, wenn nicht das Absinken auf diese Werte irn Stadium der Rekonvaleszenz und auch nach Sanierung des Blutstatus dutch Transfusionen die Regel w/ire. Nach Blut- transfusionen yon 300 his 500 crn 3 stiegen die Hb-Werte auf 80 und rnehr Prozent und die Zahl der Erythrocyten auf 3,5 bis 4 Millionen, urn schon nach wenigen Tagen auf den frfiheren Wert abzusinken. Nach jeder Blut- transfusion wiederholt sich dieser Vorgang, urn erst dann einem normalen Zustand Platz zu machen, wenn die klinischen Erscheinungen verschwin- den. Die Blutsenkung ist sehr stark erh6ht und betr~igt irn Mittel 100 mm nach Westergreen. Das Verhalten der Lyrnphocyten ist besonders berner- kenswert. Nach del Amputation besteht abh/ingig yon der firunderkran- kung eine Leukocytose his zu 15000 mit Linksverschiebung. Wenige Tage nach der Amputation geht die Linksverschiebung zurfick, die Leukocyten- werte nfihern sich der Norm und erreichen diese bei ungest6rtern Verlauf. Mit dem Einsetzen der abdominellen Beschwerden komrnt es zu einer erheb- lichen Lyrnphocytose bei norrnalen Leukocytengesamtwerten. So betrug die Prozentzahl der Lyrnphocyten in einern Falle 80 bei 8000 Leukocyten im rnm ~. Dabei treten massenhaft Lyrnphoblasten auf. Diese St6rung in der Lyrnphopoese verliert sich rnit der klinischen Besserung.

Der Verlauf der Erkrankung ist gew6hnlich der, dab bei leichten F~illen nach 10 his 14 Tagen eine subjektive Besserung eintritt, die Beschwerden zurfickgehen, die Ternperatur zur Norm abf/illt und die objektiven Krank- heitszeichen allrn~ihlich verschwinden. In schwereren F/illen zieht sich die Erkrankung fiber viele Wochen dahin, es kommt nach vorfibergehender Besserung zu Rfickffillen. Die Kranken k6nnen so elend werden, dab AnlaB zu ernsten Beffirchtungen besteht. Die Prognose scheint trotzdem irn allgemeinen gfinstig zu sein. In extremen Ffillen k6nnen abdominelle Symptome auftreten, die zum Bild des akuten chirurgischen Bauches ge- h6ren. Auf diese Komplikation wird welter unten eingegangen und es soll hier nur erw/ihnt werden, dab entzfindliche Drfisen im retroperitonealen Raum wiederholt AnlaB zu Laparatornien waren.

Im Verlauf dieser Erkrankung konnten wir einige Beobachtungen machen, die wegen ihrer kasuistischen Bedeutung n/iher ausgeffihrt werden sollen.

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Wie scho.~ erw~ihnt, klagte einer der Kranken darfiber, dab er perioden- weise wenig Ham und dann wieder groBe Harnmengen ausscheide. Er habe die Beobachtung gemacht, dab mit der Zunahme der Koliken im

Bauch eine Verminderung der Harnausscheidung einhergehe, mit der Besserung der Bauchbeschwerden dann eine Harnflut einsetze. Eine Kom trolle der Harnmengen und eine Messung seiner Hauttemperatur ergab die Koinzidenz der StOrung. Es zeigte sich, dab mit dem Einsetzen st~irke- rer vegetativer Erscheinungen auf der einen (linken) Bauchseite, n~imlich Pilo-, Sudo- und Vasoconstrictoren die Harnmengen bei t~iglieher Wasser- zufuhr yon 1 ½ Liter auf 300 cm 8 absank. Gleichzeitig und parallel dazu erhiihte sich die Temperaturdifferenz der Bauchhaut. Die yon fast allen Kranken angegebenen Miktionsbeschwerden mfissen ihre Ursache in Inner- vationsstiirungen der Blase haben. Die Klagen dariiber sind so einheitlich, dab ein bestimmter Krankheitsvorgang bestehen muB. Wir kommen sp~iter noch darauf zurfick. Jedenfalls waren cystoskopische Untersuchun- gen ohne Resultat. Die Nachbarschaft entztindlicher Driisen in der Um- gehung der Blase war yon uns zun~ichst als Ursache for die Blasenbeschwer- den vermutet worden. Doch waren alle Untersuchuagen in dieser Richtung ohne entsprechenden Befund.

Di//erentialdiagnose. Differentialdiagnostisch gegen Lymphdriisenschwellungen im Retro-

peritonealraum sind vor allem die Phlebitis der Beckenvenen, der retro- peritoneale AbsceB und die Thrombose der Beckenvenen in Betraeht zu ziehen. Das sicherste Kriterium flit das Vorhandensein entzOndlicher Driisentu'mgren ist der Nachweis glatter, sehmerzhafter, bis eigroBer Tu- moren seitlich der Wirbels~iule. Bei der Phlebitis besteht eine diffuse Druckschmerzhaftigkeit im Unterbauch, das Allgemeinbefinden ist schwer gest0rt, die septischen Erscheinungen sind alarmierend, die Bauchdecken dauernd gespannt und unserer Erfahrung nach besteht ein anhaltendes Erbrechen. Die Milz ist im Gegensatz zu den Drfisenerkrankungen ver- gr0Bert. Das Blutbild zeigt bei der Phlebitis eine st~irkere Leukocytose mit Linksverschiebung und toxischen Granulationen, bei den Driisen- erkrankungen eine ausgesprochene Lymphocytose, zumindest im akuten Stadium. Die Thrombose der Beckenvenen verursacht eine Stauung im Bereich der unteren Extremit~it und der Bauchdecken mit Oedem. Die Temperatur ist wenig erh6ht, die Ailgemeinerscheinungen sind geringer und vor allem fehlen, wie auch bei der Phlebitis, die beschriebenen cha- rakteristischen Ausfallserscheinungen von seiten des Grenzstranges. Bei einem unserer t(ranken, bei dem eine blande Thrombose vorlag, bestand eine starke Venenstauung in der Bauchhaut einer SeRe. Beim retrol~.ri- tonealen AbsceB fiihrt die teigige Schwellung in der unteren Lenden- gegend, die groBe Klopfempfindlichkeit daselbst, das toxisch infektiOse

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Blutbild und die septische Temperatur zur Diagnose. In einem Falle von retroperitonealem AbsceB, den wit beobachten konnten, waren Sympa- thicusst6rungen vorhanden, die den yon Hesse beschriebenen kalorimetri- schen Symptomen entsprachen, doch fanden sich daneben Schmerzen in den Beinen vom Typus der neuralgischen lschias. AuBerdem liefert das Blutbild einen charakteristischen und typischen Befund.

Therapie.

Die therapeutisehen MaBnahmen sollen vor allem auf die BeMimpfung der Infektion gerichtet sein, wobei die Sulfonamide und das Penicillin eine gfinstige Wirkung haben. Allerdings l~iBt sich die Wirkung derselben nur im Abfal! der Temperatur erkennen, da die Wupdverh~iltnisse in diesem Stadium so gut wie immer schon konsolidiert sind. Besteht der Verdacht eines osteomyelitischen Knoehenherdes oder eines Narbenabscesses, so ist nach den fiblichen GrundsMzen vorzugehen.

Die Hebung des Allgemeinzustandes ist bei den durch die abdominel!en StSnmgen rasch verfallenen Kranken um so mehr yon Bedeutung, als die Komplikation an sich schon Kranke in schlechten Ernfihrungsverh~ilt- nissen trifff. Bei der Inappetenz durch die Anazidit~it ist Acidol-Pepsin gfinstig. Die Durchf~ille und Verstopfungen sind medikamentSs kaum zu beeinflussen*und nach unsrer Erfahrung auch unabh~ingig yon der Art tier Speisen. Trotzdem empfiehlt sich eine m0glichst schlackenfreie Kost, um den Verdauungstrakt zu schonen.

Um das Allgemeinbefinden zu bessern, den Kranken gr(iBere EiweiB- mengen zuzuffihren und um gleiehzeitig die Abwehrkr~ifte zu steigern, machte~ wir yon Bluttrausfusionen reichlieh Gebrauch. Durchschnittlich wurden in der Woche 250 cm a Blut fibertragen. Die Bluttransfusion ist schon deshalb notwendig, weil die Kranken, wie oben erw~ihnt, eine rasch einsetzende Anaemie bekommen, wobei in wenigen Tagen die Zahl der roten Blutk(irperchen auf 2 Mill absinken kann und die Hb-Werte auf 50 und weniger % fallen.

Symptomatisch werden warme Umschl~ige auf den Bauch manchmal gut vertragen und bringen Linderung der Schmerzen, in anderen F~illen hingegen bleiben sie ohne Wirkung oder verursachen Beschwerden. Eher wird ein Lichtbogen vertragen, wie W~irme fiberhaupt gfinstig zu sein scheint. Tierkohle, Reinigungseinliiufe, Rizinus(il oder sonstige Purgativa haben keine Wirkung. Bei sehr starken Kotiken oder Bauchschmerzen haben wir Morphium gegeben, das fiber seine schmerzstillende Wirkung hinaus durch seine zentral angreifende sympathicusl~ihmende Wirkung einen therapeutischen Effekt hat. Die Koliken verschwanden darauf ge- legentlich fiir Tage. Spasmolytica wie Belladonna, Atropin erwiesen sieh als wenig wirkungsvoll.

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• Bei 2F~illen, bei denen hohe septisehe Temperaturen bestanden und bei welchen ein Arzt den Versuch mach te, mit Chinin die Temperaturen zu drficken, klangen die Fieberbewegungen fiberraschenderweise innerhalb yon 3 Tagen zur Norm ab und blieben auch weiterhin normal• In beiden F~illen kann eine Malariaerkrankung mit Sicherheit ausgeschlossen werden, da weder die Anamnese noch der klinische oder h~imatologische Befund einer Malaria entsprach und beide Kranke hie in einer Malaria-verseuchten Gegend waren. Eine Erkl~irung ffir diesen Effekt k6nnte man in der lymphagogen Wirkung der Chininpr~iparate sehen, wodurch es zu einer rascheren LymphstrOmung und damit zu einer beschleunigten Ausschei- dung der sch~idlichen St0ffe k~ime.

Pathophysiolgie.

Bei der Durchsicht der Literatur ist es auffallend, da~ trotz der H~iufig- keit inf~ktOser Prozesse an der unteren Extremit~it in Kriegs- und Friedens- zeiten fiber retroperitoneale Drfisenerkrankungen wenig berichtet wird. Soweit wir die Literatur fiborblicken, fanden sich Angaben darfiber bei Hesse und Rodino. DiG Grfinde ffir die Seltenheit der Beobachtung schei- nen mehrfacher Art zu sein. Zun~ichst dfirfte die Erkrankung der Drfisen im Retroperitonealraum im Gesamtbild der fieberhaften Infektion unter- gehen. Sicher spielt auch die Konstitution eine groBe Rolle, wte fiberhaupt die Erkrankung der region~iren Lymphdrfisen zweifellos an einem be- stimmten und heute noch nicht n~iher pr~izisierten lnfektionsmodus ge- bunden ist. So sehen wir bei ausgedehnten und infizierten Wunden kaum eine Drfisenerkrankung, hingegen bei geringffigigen Verletzungen h~iufig. Auch bei den schwer infizierten SchuBbrtichen ist die Lymphdrfisenbetei- ligung verh~iltnism~iBig selten. Bei infizierten Kniegelenksverletzungen wurde sie nie beobachtet.

Clber lange Zeit sich erstreckende und an einem groBen Krankengut regelm~iBig durchgeffihrte Beobachtungen ergaben folgendes: Bei groBen und prim~ir klinisch nicht infizierten Wunden im Bereich der unteren Ex- tremit~it kommt kS in der Mehrzahl der F~ille nach ei'nigen Tagen zu einer m~iltigen und wenig schmerzhaften, derben Schwellung der lnguinaldrfisen, die sich naeh 8 bis 10 Tagen zrfickbildet, Bei eintretender lnfektion geht bei einem kleinen Teil der Kranken die derbe Schwellung in eine weiche und schmerzhafte fiber• Diese verschwindet mit dem Abklingen der In- fektion.

Bei einer ganz geringen Zahl tritt die hier zur Rede stehende Kompli- kation, n~imlich die Erkrankung der retroperitonealen Drfisen auf. Die Hfiufigkeit betr~igt nach Amputationen mit oftener Wunde etwa 3,1%, bei infizierten OberschenkelschuBbrfichen 2,9%.

Untersuchungen an Leichen haben ergeben, dab bei rund 6% der Men- schen die abffihrenden Lymphbahnen der unteren Extremit~it unter

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Umgehung der Lymphon0duli inguinales superficiales in die Lymphono- dull ingu:inales profundi mfinden. Die Lymphgef/iBe verlaufen entlang den groBen GeffiBen des Beines. Bei. infekti6sen Prozessen am Bein erkranken bei diesen Menschen als regionfire Drfisen die tiefen Leistendrfisen. Die Fortsetzung bilden die Lymphonoduli iliaci und lumbales, die bereits im Retroperitonealraum liegen.

Bei der Erkrankung der Lymphdrfisen spielt der Allgemeinzustand der l(ranken eine wesentliche Rolle. Wir haben es in unseren Ffillen immer mit Leuten zu tun gehabt, die durch die Strapazen des Fronteinsatzes und die Folgen der Verwundung herabgekommen waren und kein K6rperfett mehr hatten. Der Panniculus adiposus scheint ffir die Erkrankungsbereit- schaft des Lymphapparates eine groBe Bedeutung zu haben. Wir wissen, dab die Bek~mpfung einer Infektion nicht nur durch das Blut und die Lymphe erfolgt, sondern dab auch dem frei zirkulierenden Gewebssaft eine Rolle zukommt. Der Speicher des Gewebssaftes ist das K6rperfett. Wir wissen ferner, dab dem Netz als ,,Tonsille des Bauches" oder dem Ho[[aschen Fettk6rper im Kniegelenk bei Infektionen dieser K6rperh6hlen eine besondere Aufgabe zukommt. Ebenso bildet die Fettkapsel der Nieren ein speicherndes Schutzorgan, wie Versuche mit aufgeschwemmter Tusche ergeben haben. Die engen Beziehungen zwischen K6rperfett und Lymph- apparat gehen auch aus den Versuchen von Ritter, Zehender, De Vecchio hervor, die feststellten, dab die Regeneration yon Lympbahnen oder Drfisen neben Sprossung aus den Capillaren auch durch Neubildung aus dem K6rperfett erfolgt.

Das Zusammentreffen einer Anomalie in der Anatomie der abffihrenden Lymphwege aus der unteren Extremitfit und einer erheblichen Reduktion des Panniculus adiposus scheint mithin das Auftreten retroperitonezler Drfisenerkrankungen bei in%kti6sen Prozessen tier unteren Extremitfit zu begfinstigen.

Eine Besonderheit dieser Erkrankung liegt in tier Tatsache, dab zwi- schen Verwundung oder Amputation und dem Auftreten der klinischen Erscheinungen eine verhfiltnism/igig lange Zeit velgeht, die bei unseren F/illen im Durchschnitt 3 Wochen betrug. Rodino berichtet, dab dieser Zwischenraum bei einem seiner 4 F/ille 2 Monate dauerte.

Pathologisch-anatomische Untersuchungen, die wir bei F/illen vor, nahmen, welche bald nach einer schwerenVerwundung der unteren Extremi- t/it verstorben waren und die klinischen Beobachtungen fiber das Auftreten ver/inderter Lymphknoten, scheinen einen Hinweis auf eine Erkl/irungs- m0glichkeit zu geben.

Die Untersuchung yon Lymphdrfisen bei F/illen, die einige Tage nach einer Amputation oder Zertrfimmerung der unteren Extremit~it verstorben waren, zeigt, dab die region/iren Lymphdrfisen vergr6gert und gespannt sind. Auf dem Schnitt ist die Farbe rot bis rostbraun. Die histologische

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Untersuchung zeigt die Sinus der DrOsen vollgestopft mit Blutbestand- teilen, Fibrin und Gewebselementen, so dab ein Lymphdurchflut~ durch die Drfisensinus ausgeschlossen ist. Offenbar ffihrt der Abtransport der Blur- und Gewebstr0mmer aus der Wunde zur Verstopfung. Die derbe und wenig schmerzhafte Schwellung der Driisen in den ersten Tagen nach der Verwundung ist auf diese Ver~inderung zurfickzuffihren. Solange nun die Behinderung der Lymphstr6mung besteht, ist die Ausbreitung der ln- fektion am Lymphweg nicht m6glich. E r s t nach Abtransport und Auf- saugung tier Schlacken in den Lymphsinus kann die infizierte Lymphe nachflieBen und f0hrt nun zur Infektion der Dr0sen und Lymphgef~Be. Der Zeitraum, der hierzu notwendig ist, dfirfte 10 his 14 Tage betragen. Offenbar bleiben StrOmungswiderst~inde l~ingere Zeit bestehen, denn wit konnten fast immer beobachten, daB die Lymphdrfisen der gesunden Seite miterkranken, gelegentlich wurden nut die Driisen tier gesunden Seite ver- grOBert und schmerzhaft festgestellt. Auch scheint dutch die Stauung im Lymphstromgebiet eine retrograde LymphstrOmung nod damit eine retro- grade Verschleppung infektiOsen Materials stattzufinden. So konnten wit in einem Fall eine Schwellung der in der Bauchhaut gelegenen Drfisen feststellen. Eine solche retrograde LymphstrOmung scheint nut bei st/ir- kerer Stauung durch Str6mungshindernisse aufzutreten, da die Lymph- gef~iBe reichlich mit Klappen versehen sind.

Das sprite Auftreten der LymphdrOsenver~inderungen im Retroperi- tonealraum h/ingt also offenbar damit zusammen, dab es im Gefolge der Gewebszertrfimmerung, sei es durch Verwundung oder Amputation, zu einer Verstopfung der region~iren Drfisen kommt. Erst nach Aufsaugung und Abtransport und Wiederherstellung der Strombahn kann infizierte Lymphe nachfolgen und die Erkrankung der Drfisen herbeif0hren.

Die Lymphgef~il~e der unteren Extremit~it ziehen bei den hier ange- ffihrten Fiillen fiber die tiefen Leistendrfisen und die Noduli iliaci zur paraaortalen Lymphdrfisenkette. In diese mfinden auch die Lymph- gef~iBe for den Magen, die Leber, Milz und Pankreas. Bei 1/inger dauernder Infektion kommt es auch zu einer retrograden Verschleppung in die Lymphonoduli gastrici und pancreatico-duodenales sowie hepatici, lhre Erkrankung fort zur Druckschmerzhaftigkeit der Oberbauchgegend, zu Magenbeschwerden, Erbrechen, Obelkeit und vielleicht auch zur Anaci- ditiit. Die Drfisen sind in der Oberbauchgegend meist gut zu tasten. Die subikterische Verfiirbung, die wit dreimal, einmal geradezu in der Form eines Ikterus feststellen konnten, dfirfte darauf zurfickzuffihren sein. Die anatomischen Untersuchungen yon Benkowitseh sprechen zwar gegen die M6glichkeit eines Stauungsikterus dutch geschwollene Drfisen, doch sind Beobachtungen fiber Choledochuskompression dutch Lymphome (Lehner) Lymphogranulomatose (.Rupaner), abet auch dutch einfache Hyperplasien (Merke, Brunner) anl/il31ich Operationen einwandfrei sichergestellt. W i r

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selbst konnten erhebliche Schwellungen der Drfisen im Ligamentum hepato- duodenale mehrfach autopisch feststellen.

Die anatomischen Beziehungen der retroperitonealen Lymphdrfisen- kette zum sympathischen Grenzstrang beiderseits der Wirbels~iule ffihren nun dazu, dab dieser dutch Druck oder durch l]bergreifen entzfindlicher Prozesse in Mitleidenschaft gezogen wird. Eine besondere M0glichkeit hier- zu ergibt sich ffir das 2. und 3. Lendenganglion des Truncus sympathicus dadurch, dab diese beiden Ganglien manchmal yon der~ Ans~itzen des Musculus psoas bedeckt sind, welche in einer gewissen Spannung fiber sie wegziehen. Die Lymphknoten liegen in unmittelbarer N~ihe des Grenz- stranges und ihre Schwellung wird sich an dieser Stelle daher besonders leicht sch~idigend auf diesen auswirken.

Das klinische Kranheitsbild beruht auf der Sch~idigung des Grenzstrangs durch die Drfisenver~inderungen.

Die Symptomatik bei Prozessen, die den Grenzstrang betreffen, ist seit den Untersuchungen yon Laignel-Lavastine mehr und mehr bekannt gevcorden. Die ~iltesten Mifteilungen darfiber dfirfen wohl yon Wood stare- men, der bei einem Tumor im Unterbrueh beobachten konnte, dab der Patient ja nach der Lage, die er einnahm, am ganzen K~rper oder nur halbseitig schwitzte. Oppenheim erw~ihnt 1898 ein halbseitiges Oedem, das sich fiber die ganze entsprechende K6rperseite erstreckte ,,in einem sehr dunklen Falle yon AbsceBbildung neben der Brustwirbels~iule". 1908 haben Laignel-Lavastine auf die postinfektiSsen Neurosen des Verdauungs- traktes dutch entziindliche Ganglienver~inderungen im unteren Brust- und Lendengrenzstrang aufmerksam gemacht. Die Ausscheidung des Gang- lion semilunare bewirkt nach den Untersuchungen der erstgenannten Autoren Blutdruckabfall, foetide oder blutige Diarrh(ien, Tachycardie und Urinverminderung. Railly und seine Schule konnten experimentell die Folgen entzfindlicher Ganglienver~inderungen des Grenzstranges unter- suchen. Fischer und Kaiserling best~itigten in einer experimentellen Arbeit am Tier, mittels der gezielten allergischen Entzfindung die Versuchsergeb- nisse Raillys. 1929 hat Hesse das calorimetrische Symptom bet Geschwfil- sten und anderen retroperitonealen Prozessen beschrieben, was wesentlich zur. Diagnostik solcher Erkrankungen beigetragen hat. In tier Folgezeit wurde dieses Symptom mehrfach beobachtet (Kohlmayer, Vinogradow u. a.) Desjardins, Lehmann, Frank wiesen auf die diagnostischen Schwierig- keiten bet akuten Bauchzust~inden bin, die dutch Grenzstrangsch~idigung hervorgerufen werden. Sergent hat in seinem Buch ,,Les syndromes aigues de l'abdomen simulant l'urgeance chirurgical" diesen Verh~iltnissen ein eigenes Kapitel gewidmet. Clairmont berichtete 1938 fiber lleus-Erschei- nungen bet spondylitischen Senkungsabscessen. Er h~ilt den dynamischen lleus, der bet 3 Kranken auftrat, fiir eine Folge ether Reizung der Grenz- strangganglien. Weitere Beitr~ige brachten Blumenthal, Sosnjakow,

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Racz, und Frosk. Zuletzt hat 1944 St~ckl in der Gesellschaft der Arzte Wiens auf akute abdominelle Erscheinungen dutch Sympathicus- st(irungen hingewiesen, die als Frfihsymptome auf das Bestehen eines Semigerminoms deuten k(innen, da die Metastasierung dieser Hoden- geschwfilste in die retroperitonealen Driisen dort faustgroBe Tumoren bereits zu einer Zeit verursachten, in der tier Prim~irtumor klinisch kaum nachzuweisen ist.

Versuchen v~ir, die von uns beobachteten subjektiven und objektiven Symptome pathogenetisch zu erkl~iren, so stoBen wir auf Schwierigkeiten, die zun~ichst darin liegen, dab im klinischen Befund ein rascher Wechsel der Erscheinungen besteht. Die Zuordnung tier einzelnen Symptome als Reiz- oder L~ihmungserscheinungen des vegetativen Systems wfirde einen so raschen Wechsel des den Erscheinungen zugrunde liegenden patho- logischen Prozesses erfordern, dab ein Erkl~irungsversuch daran scheitert. Wit mfissen annehmen, dab der pathologische Zustand tier Drfisen und ihre Einwirkungen auf den Grenzstrang ein im wesentlichen gleichbleibender ist und dab sich unter der Einwirkung des pathologischen Reizes die Er- regungslage und Funktionsrichtung des vegetativen Systems bald nach der einen, bald nach der anderen Seite ver~indert. DaB die hier zu Rede stehenden Erscheinungen mit diesem Funktionswandel in Zusammenhang stehen, wird wahrscheinlich, da wir im klinischen Bild eine gewisse Kon- stanz der Symptomatik derjenigen vegetativen Funktionen linden, die wie die Pilo- und Sudomotoren einer pharmakologischen Beeinflussung in einem viel geringeren Grade zugfinglich sind, als etwa die Visceromotorik oder der Kohlenhydratstoffwechsel:

Trotz der erw~ihnten Schwierigkeiten muB angenommen werden, dab die Auswirkung der geschwollenen Drfisen auf den Grenzstrang sich im Sinne ether Reizung der sympathischen Funktionen kundgibt. Dies kann aus tier Beobachtung geschlossen werden, dab im akuten Zustand der Erkrankung die Zeichen eines sympathischen Reizzustandes bestehen und auch im Verlauf der Erkrankung ein entsprechender Befund die Regel ist.

Unterziehen wir das initiale und qu~ilendste Symptom, die gelegentlich ~iuBerst schmerzhaften Koliken, einer t(ritik, so ergibt sich der Wider- spruch, dab tier Sympathicus die Peristaltik hemmt, w~ihrend der para- sympathische Vagus der eigentliche motorische Nerv der Eingeweide ist. Die Beobaehtung, dab die Koliken ein initiales Symptom der Erkrankung retroperitonealer Driisen sein kOnnten, spricht dagegen, dab eine L~ihmung d er sympathischen Funktion die Ursache w~ire. Wir mfissen vielmehr annehmen, dab es sich dabei um eine Inversion tier vegetativen Funktion handelt. Einen Beweis hierffir zu erbringen, ist uns nicht m0glich gewesen, doch zeigte eine Beobachtung mit einer geradezu experimentellen Beweis- kraft, dab ein chronischer Reizzustand im Grenzstrang durch einen Granat- splitter zu schwersten Koliken fiihrte. Tinel, der fiber die Inversion tier

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Vegetative StSrungen durch Mitbeteitigung des Grenzstranges. 45I

vegetativen Funktion eine Reihe grundlegender Untersuchungen ange- stellt hat, sagt: ,,I1 est possible, qu'in certain nombre de troubles sparmodi- ques de l'estomac et de l'intestin soient provoqu~s, par de ph~nom~nes d'inversion sympathiques plutot que per excitation du pJaeumogatrique ou par 1'action des appareils muraux." In manchen Fallen stehen Obsti- pation und Meteorismus am Beginn der Erkrankung. Hier scheint ein Reizzustand des Sympathicus zu bestehen. In manchen Fallen ist die Obstipation ~iuBerst hartn~ickig und auch dutch Drastica nicht zu beheben. Der Versuch, durch Sympathicus-I~ihmende Mittel die Peristaltik in Gang zu bringen, schlug immer fehl. Auch vagomimetische Pr~iparate waren ohne Erfolg. Bei Diarrhoen waren andererseits gleichfalls alle pharma- kologischen Mittel erfolglos und wir hatten dabei lediglich den Eindruck, durch solche Versuche die ,,dramatischen lnnervationsverh~iltnisse" (Matthes-Curschmann) noch mehr in Unordnung zu bringen. Die Abh~ingig- keit der Darmt~itigkeit vonder Gr0Be und Schmerzhaftigkeit der palpabten Drfisen und die I<oinzidenz der Darmerscheinungen mit den Reizsymp- tomen von seiten des Grenzstranges lassen keinen Zweifel darfiber auf- kommen, dab gest0rte vegetative lnnervationsverh~iltnisse als Ursache anzusehen sind. Eine bemerkenswerte Beobachtung war in diesem Zu- sammenhang die St0rung der Harnbereitung bei einem Kranken, die wir schon erw~ihnten. Mit dem Einsetzen stinkender DiarrhOen ging eine Verminderung der Harnausscheidung auf 300 cm 3 bei eiweiBfreiem und stark oxalatreichem Harn einher, welcher bei Aufh0ren der Durchf~lle von einer Harnflut bis zu 3000 cm 3 t~iglich gefolgt war. DaB es sich hierbei nicht um eine Verminderung der Harnmenge durch den Flfissigkeitsverlust infolge der Diarrh0en handelte, ist deshalb anzunehmen, weil die Durch- f~ille nicht w~iBrig, sondern eher breiig und gering an Menge waren und es auBerdem offenbar zu einer Wasserrentention im I<0rper kam, da bei gleich- bleibender Flfissigkeitsaufnahme yon t~iglich 1500 cm 3 es nachher zur er- w~ihnten Harnflut kam. Messungen der Hauttemperatur am Bauch er- gaben w~ihrend der olygurischen Phase eine Differnz bis zu 330 zwischen rechter und linker Bauchhaut. Hier mul~ es sich offenbar um eine L~ih- mung der sympathischen Innervation gehandelt haben. Wir wissen aus den Untersuchungen von Laignel-Lavastine, dab die Entfernung des Gang- lion coeliacum zu Durchf~illen und zur Oligurie ffihrt. Die sympathische Innervation der Nieren erfolgt fiber das Ganglion renale, das Fasern aus dem Ganglion coeliacum, der Hauptzentrale der sympathischen Inner- vation auch des Darms, dem Nervus splanchnicus minor und dem Grenz- strang erh~ilt. Die Vasoconstrictoren ffir die Nieren stammen aus dem Rfickenmarkssegmenten Th 1~ und L 1. Es sind daher ffir die Nieren gerade die Ganglien zust~indig, die bei einer Erkrankung retroperitonealer Drtisen durch ihre unmittelbare Nachbarschaft Zu diesen besonders leicht in Mit-

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leidenschaft gezogen werden, zumal auch das Grenzstrangganglion Th 1~ noch unterhalb des Zwerchfellansatzes gelegen ist.

Auch die ErklMung for die Anacidit~it des Magens, welche bei den darauf untersuchten Kranken gefunden wurde, liegt in dieser Richtung. Der Syrnpathicus hernrnt die Sekretion der Magen- und Darmdr0sen. Eine Reizung wird daher auch zu einer Verrninderung der Salzs~iurewerte irn Magen ffihren.

Bei den St0rungen yon seiten der Blase sind die Klagen so einheitlich, dab hier ein bestirnrnter Krankheitsvorgang bestehen rnuB. Die Kranken klagen darfiber, dab sie h~iufig urinieren rn0ssen, die Harnportion klein und der Harnstrahl schwach sei. Diese Erscheinungen treten besonders in tier Nacht auf. Die MOglichkeit einer Cystitis, ausgehend von entzfindlichen Drfisen, die dern Blasenboden anliegen, haben wir bedacht, doch zeigten die bei 4 Patienten rnit ausgesprochenen Blasenbeschwerden vorgenorn- menen Untersuchungen, einschlieBlich der Cystoskopie, keinerlei Anhalts- punkte for eine BlasenschleirnhautscMdigung oder sonstige lokale Ver- ~inderungen. Es ist anzunehrnen, dab es sich hierbei urn eine StOrung des sympathischen Anteils der Blaseninnervation handelt und zwar urn Bah- hen, die irn Nervus hypogastricus verlaufen. Eine Schw~ichung der syrn- pathischen lnnervation fOhrt zu einer erhOhten Tonisierung des Detrusor und zu einer Erschlaffung des Lissosphincters, wodurch die H~iufigkeit des Harnlassens zu erkl~iren ware. Da in der Nacht bei dern rhythrnischen Wechsel des Vagus- und Syrnpathicustonus der erstere fiberwiegt, so kOnnte dies die VerstMkung der Erscheinung in der Nacht erkl~iren, da es damit zu einern weiteren Oberwiegen des Vagotonus, also einer grOBeren Tonisierung des Detrusors komrnt.

Ober den EinfluB des sympathischen Systems auf die Blutzusarnrnen- setzung ist N~iheres nicht bekannt. Wit wissen jedoch, dab die syrnpa- thische Beeinflussung der Leber und Milz sich auf die Zahl der Erythro- cyten und Lymphocyten auswirkt. Der rasche Untergang der roten Blut- kOrperchen, auf den wir bereits hingewiesen haben und der in keinern Ver- h~iltnis zur Bedeutung der Infektion steht, rnuB nerv6s vegetativ bedingt sein. Auch das Auftreten jugendlicher Lyrnphocyten in groBer Zahl und die bis zu 80% ansteigenden Lyrnphocytenwerte bei sonst normalen Leukocytenwerten in einer Krankheitsphase, die nicht einer reparatiVen Lyrnphozytose entspricht, weist auf eine nervOse Ursache hin. FOr diese Annahrne spricht die Beobachtung, dab die St6rungen irn Blutbild ver- schwinden, wenn die fibrigen vegetativen Reizerscheinungen abklingen.

Waren es bisher allgerneine Erscheinungen, als deren Ursachen eine . St6rung der vegetativen Innervation angesehen werden kann, so komrnen wir nun zu Symptomen, die der unrnittelbare Ausdruck sympathischer Reizung sind und deren anatornische und physiologische Grundlagen uns auch im einzelnen besser bekannt sind.

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Die Pilo-, Sudo- und Vasomotorik erhalten ihre Innervation aus Rficken- markszellen, die in den Seitenh6rnern gelegen sind. Die efferenten Bahnen verlaufen fiber die vorderen Wurzeln und die Rami communicantes albi zum Grenzstrang, wo die Umschaltung auf das postganglion~ire Neuron erfolgt. Die Reizung eines Grenzstrangganglions ffihrt im zugeh6rigen Gebiet zur Piloerrektion, zum Auftreten yon SchweiBperlen und zur Vaso- konstriktion mit Bl/isse und Kfihle der Haut. Es soil noch hervorgehoben werden, dab die reflektorische Erregbarkeit der Pilomotoren unilateral, die der Vaso- und Sudomotoren bilateral erfolgt. Das Auftreten einer G~insehaut, yon SchweiBperlen sowie einer Bl/~sse und Kfihle der Haut beweist somit einen Reizzustand des dem Hautbezirk zugeh6rigen Grenz- strangganglions. DaB es sich hier nicht urn einen Reizzustand im Bereich anderer Schaltstellen des vegetativen Systems handeln kann, lfiBt sich daraus schlieBen, dab die Erscheinungen dieser sympathischen Erregung auch dann auftreten, wenn der applizierte, den Reflex hervorgerufene Reiz nicht im erkrankten Hautbezirk, sondern an einer beliebigen anderen Stelle gesetzt wird. So konnten wit wiederholt durch Ziehen an der Brust- behaarung oder dutch K/~ltereize am Nacken eine Piloerrektion, Sudomo- tion und Vasokonstriktion im Bereich etwa yon Dlo und Dll auslOsen. DaB dabei die Vasokonstriktion und Sudornotion streng halbseitig erscheint. ist ein Beweis ffir die Entstehung der Erregung innerhalb des Grenzstrang- ganglions. Offenbar wird der auf der Brust gesetzte Reiz innerhalb des Rfickenrnarks auf alle Segmente verteilt und yon diesen auf die Grenz- strangganglien weitergeleitet, doch spricht nut das durch die Alteration infolge der benachbarten erkrankten Drfisen in einem Ausnahmezustand befindliche Grenzstrangganglion an. DaB der auf die Brust gesetzte Reiz nicht nut homolateral weitergegeben wird, geht aus der Beobachtung her- vor, dab die Piloerrektion, Sudomotion und Vasokonstriktion auch yon der gegentinerliegenden Brustseite aus hervorgerufen werden kann.

Wit haben nun noch das Verhalten der Sensibilit~it, des Muskeltonus und der Bauchdeckenreflexe zu er6rtern und mfissen uns bier kurz fassen, da die Kenntnisse fiber diese Zusamrnenh/inge noch dfirftig sind.

Wir wissen mit Sicherheit, dab der Sympathicus auf die cerebrospinale Sensibilitfit und den Muskeltonus der quergestreiften Muskulatur EinfluB nimmt. Er ~iuBert sich darin, dab die Ausschaltung syrnpathischer Fasern zu einer Hyperaesthesie ffihrt. Es scheint jedoch, dab dieses Phaenomen abh~ingig von der Erregungslage im cerebrospinalen System ist. Die- selben Beziehungen bestehen zwischen Tonus und Reflexerregbarkeit. Eine Erkl~irung ira einzelnen zu geben, wfirde hier zu welt ffihren.

Die halbseitigen St6rungen in der Oberfl~ichensensibilit~it, meist in Form hyoeraesthetischer, gelegentlich auch hypaesthetischer Zonen, die segmental auftreten und die halbseitige Ver~inderung in der Spannung der

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Bauchwandmuskulatur sind auf die Irritation sympathischer Ganglien zu beziehen.

Einige Bemerkungen verdient auch die bei ancleren Patienten beob- aehtete Neigung, durch eine zusammengekr/immte Haltung die Bauch- schmerzen zu lindern, was bei einem Patienten zur Knie-Ellenbogenlage ffihrte. Ich glaube, dab sie aus zwei Grfinden eingenommen wurde. Ein- mal, um eine Entspannung der reflektorisch tonisierten Bauchwandmusku- latur herbeizuffihren, dann aber auch, um den in der L~ingsrichtung des K~rpers verlaufenden Grenzstrang zu entlasten. DaB der letztere Urn- stand eine Bedeutung hat, glauben wit deshalb, weil Beobachtungen zeig- ten, dab durch Druck auf die Drfisenmotoren und damit auf den Grenz- strang Schmerzen auch i m Stumpf ausgel6st werden. Wird die Wirbel- s~iule gekrfimmt, so kommt es zur Entspannung des Grenzstranges und zur Minderung des Druckes der Drfisen auf ihn.

ttinweise au[ die Pathophysiologie der Amputierten.

Die vorliegenden Beobachtungen haben nicht nur ein Interesse ffir den postoperativen Verlauf nach Amputationen, sondern scheinen auch Hin- weise auf die Pathophysiologie mancher Beschwerden bei Amputierten zu geben, wie sie das ganze spfitere Leben dieser Menschen beherrschen. Wir begnfigen uns in diesem Zusammenhang mit der Aufz~ihlung yon Be- sonderheiten, die sich aus den vorstehenden Beobachtungen ergeben, ohne das Problem n~iher zu erOrtern.

Bei Untersuchungen von Amputierten konnte ich fiberraschenderweise auch bei vollkommen reizlosen Stfimpfen oder bei Prothesentr~igern ner- vOse Ausfallserscheinungen feststellen, die in manchen F~illen denen der oben beschriebenen im postoperativem Verlauf entspraqhen. Es konnte bei einem Teil der F~ille eine Piloerektion der Bauchhaut festgestellt wer- den, welche bei Bestreichen einer K6rpersteIle oder durch Applikation yon K~iltereizen auftrat und in den meisten F~illen auch das Wurzelareal yon L 2 betraf. Wir haben oben schon darauf hingewiesen, dab das Grenzstrang- ganglion L 2 infolge seiner anatomischen Lage den Sch~idlichkeiten du rch verfinderte Drfisen besonders ausgesetzt isf. Es linden sich auch hyp- oder hyperaesthetische Zonen in diesem Bereich. Eine h[iufige Beschwerde ist die StOrung der Miktion. Meist klagen die Amputierten fiber Inkonti.nenz- erscheinungen. In anderen F~illen wird angegeben, dab das Urinieren erst nach starkem Pressen und dann nur in kraftlosem StrahI erfolge. Beson- ders auff~illig ist die Beobachtung, dab Bestreichen einer beliebigen Haut- stelle am Rumpf, gelegentlich sogar schrille akustische Eindrticke aus- strahlende Schmerzen am Stumpf verurs'achen, wie sie bei Wetterum- schl~igen h~iufig vorkommen.

Bei zwei Beobachtungen bestand das .Symptom der in den Stumpf ein- strahlenden, blitzartigen Schmerzen mit der G~insehautbildung naeh K~ilte

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reiz am Nacken Monate nach abgeschlossener Stumpfbehandlung unter dem Bild .einer Stumpf-Neuralgie welter. Da wit heute vonder Neuro- mexzision abgekommen sind, da dieses ja seine Entstehung ~ihnlich wie alas t(eloid offenbar einer konstitutionellen Bereitschaft verdankt und trotz aller vorgeschlagenen Methoden zu seiner Verhfitung selbst bei Reamputationen wiederkehrt, blockierten wit den das Neurom tragenden lschiadicus, ohne dab die Beschwerden und Erscheinungen sistieren. Nach einer Umspritzung der sympathischen Lendenganglien blieb die G~inse- hautbildung und das Auftreten der Schmerzen im Stumpf nach Reiz aus. - - DaB die entzfindlichen Ver~inderungen der retropefitonealen DFfisen auf den Grenzstrang fibergreifen k¢innen, dort schwere Ganglien- zellerkrankungen verursachen und klinisch zu schwersten Phantomschmer- zen noch nach vielen Jahren ffihren kOnnen, konnte ich an Hand eines Falles nachweisen, bei dem 12 Jahre nach der Amputation wegen Knie- gelenkvereiterung ein solches Phantom auftrat. Die Resektion des Grenz- strangs erbrachte volle Heilung, die nun fiber ein Jahr anh~ilt. Besonders bemerkenswert ist dabei, dab im Bindegewebe um den Grenzstrang neben chronisch entzfindlichen Lymphdrfisen auch ein Fremdk0rpergranulom gefunden wurde, welches sich um Pflanzenfasern gebildet hatte, die often- bar dem seinerzeit verwandten Verbandstoff entstammten.

Es unterliegt somit keinem Zweifel, dab die Infektion retroperitonealer Drfisen durch l]bergreifen der Entzfindung auf den Grenzstrang nicht nur im akuten Stadium der Rekonvaleszenz nach der Amputation, sondern auch noch Jahre sp~iter AnlaB zu schweren Erkrankungen sein kann, die im ersten Falle vorwiegend abdomineller Art sind, w~ihrend sie sich sp~iter als Ursache von Amputationsbeschwerden bemerkbar machen k0nnen.

Ober die Pathophysiologie der Amputierten existieren nut wenig Untersuchungen, obwohl Beobachtungen fiber die erw~ihnten Beschwerden schon vor 80 Jahren yon Veir Mitchell in seiner Aufzfihlung fiber die ner- vtisen Affektionen nach Amputationen niedergelegt sind. Er erw~ihnt bereits die H~iufigkeit der Miktionsbeschwerden nach Oberschenkelampu- tationen. Allerdings zitiert er auch die Beobachtung von Gueniot (Journal de la phisiologie 1861, 418) fiber die Inkontinentia urinae bei einer Frau, bei der der Arm amputiert worden war. Eine Erkl/irung ffir diese Er- scheinungen gibt er nicht, sondern bezieht lediglich die Sensibilit/its- stiirungen auf eine Sklerose der Nerven. Auch erw~ihnt er in diesem Zu- sammenhang die Beobachtung, dab proximale Teile eines Oberarm- stumpfes anaesthetisch waren, wogegen die Peripherie auch bei Unter- suchungen mit dem Weberschen Tastzirkel keine Unterschiede gegen die gesunde Seite zeigte.

Seine allgemeinen Erfahrungen decken sich mit den Ansichten neuerer Untersucher, wie Sturm, die als h~iufigste Folge einer Amputation Ple- thora, Pulsbeschleunigung und auff~illig starkes Schwitzen fanden, Sturm

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vertri t t die Anschauung, dal~ der Reizzustand im vegetativen System durch chronische Reize am Stumpf und durch eine altergische Reaktion zu einer irer/inderten Erregungslage vegetatiVer Zentren im Hirnstamm ffihre. Jorns denkt als Ursache ftir die Fettsucht und Hypertonie an die ver/inderte Lebensweise, aber auch an Obererregbarkeit des vegetativen Systems durch Gef/it~krisen im Stumpf oder entziindliche Prozesse im Sinne chronischer Herdinfektionen.

Ohne auf diese Fragen n/iher einzugehen, m6chten wir auf unsere Be- funde hinweisen, und halten es for mOglich, da6 bei einem Tell der Ampu- tierten w/ihrend der postoperativen Phase entzfindliche Vorg~inge in den retroperitonealen Dr/isen zu chronischen Sch/idigungen in bestimmten Grenzstrangabschnitten ffihren, die zur Grundlage vegetativer Krankheits- prozesse werden k6nnen. So w/ire denkbar, dal~ die yon manchen Autoren angenommene ver/inderte Erregungslage im vegetativen System ihren Ausgang yon hier nimmt.

Zusammen/assung.

Bericht fiber entzfindliche Lymphdrfisenschwellung im Retroperitoneal- raum nach Amputat ionen an der unteren Extremit/it . Hinweis auf die Klinik und Pathologic dieser Infektion. Mitteilung fiber vegetative Krank- heitszeichen durch Alteration des Grenzstranges infolge Obergreifens der Infektion yon den Drfisen. Besprechung der Zusammenh/inge. Hinweis auf die Zusammenh~inge der Drfisenver/inderungen mit den pathologischen Erscheinungen im sp~iteren Leben der Amputierten, speziell der Stumpf- beschwerden. Hinweis auf die Sp~itsch~iden, wobei die Grenzstrangaltera- tion Anlag zu Stumpfbeschwerden und Phantomgliedschmerzen geben kann.

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