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Helmut Kuzmics/Gerald Mozetic Vom Nutzen der Literatur für die Soziologie Helmut Kuzmics/Gerald Mozetic Vom Nutzen der Literatur für die Soziologie Helmut Kuzmics/Gerald Mozetic Vom Nutzen der Literatur für die Soziologie 1. Die These und die Irrtümer des Realismus und des Konstruktivismus Die unseren Ausführungen zugrunde liegende These lautet: Die Erkenntnis- möglichkeiten der Soziologie lassen sich durch die analytische Auswertung von Literatur (im Sinne von Belletristik oder „fiction“) erweitern und verbessern. Um diese These akzeptieren zu können, muss man erstens erkannt haben, wel- che spezifischen Leer- und Schwachstellen durch das methodische Standardre- pertoire der Soziologie entstehen, und zweitens das Argument für plausibel hal- ten, die Heranziehung von Literatur vermöge genau diese Lücken zu schließen. Insofern erweist es sich als notwendig, den gegenwärtigen Erkenntnisstand der Soziologie zu bestimmen. Weil es die Vielfalt und Heterogenität soziologischer Denkweisen und Ansätze jedoch nicht erlaubt, im Rahmen eines Aufsatzes auch nur auf alle wichtigen oder dominierenden Positionen einzugehen, wer- den wir uns mit idealtypischen Konstrukten und pointierten Verkürzungen be- helfen müssen. Was es der Soziologie nützen kann, wenn sie Literatur berück- sichtigt, soll durch exemplarische Analysen erwiesen werden, die auch Hinwei- se darauf geben, für welche Fragestellungen diese Vorgangsweise besonders fruchtbar zu sein verspricht. Als wir auf dem 15. Österreichischen Kongress für Soziologie 1997 in Graz das Schwerpunktthema „Literatur als Soziologie – Soziologie als Text“ zur Dis- kussion stellten, stellte sich heraus, wie exotisch dies auf die meisten Teilneh- merinnen und Teilnehmer wirkte. Schon damals vertraten wir die These, die Soziologie solle in systematischer Weise auf Belletristik zurückgreifen. Die Reaktionen darauf schwankten zwischen erheblicher Skepsis und blankem Unverständnis. Dies hielt uns nicht davon ab, die Arbeit fortzusetzen und die Möglichkeiten soziologischer Literaturanalyse auszuloten; eine umfassende Darstellung der dabei gewonnenen Einsichten gibt unsere unlängst erschienene monographische Publikation (Kuzmics/Mozetic 2003). Was wir hier in diesem Aufsatz versuchen, ist einerseits eine knappe Rekonstruktion unserer Grund- these, andererseits eine Fortsetzung der Monographie durch die Ausweitung 2/2003 67

Vom Nutzen der Literatur für die Soziologie

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Vom Nutzen der Literatur für die Soziologie

Helmut Kuzmics/Gerald Mozetic

Vom Nutzen der Literatur für die Soziologie

1. Die These und die Irrtümer des Realismus und des Konstruktivismus

Die unseren Ausführungen zugrunde liegende These lautet: Die Erkenntnis-möglichkeiten der Soziologie lassen sich durch die analytische Auswertung vonLiteratur (im Sinne von Belletristik oder „fiction“) erweitern und verbessern.Um diese These akzeptieren zu können, muss man erstens erkannt haben, wel-che spezifischen Leer- und Schwachstellen durch das methodische Standardre-pertoire der Soziologie entstehen, und zweitens das Argument für plausibel hal-ten, die Heranziehung von Literatur vermöge genau diese Lücken zu schließen.Insofern erweist es sich als notwendig, den gegenwärtigen Erkenntnisstand derSoziologie zu bestimmen. Weil es die Vielfalt und Heterogenität soziologischerDenkweisen und Ansätze jedoch nicht erlaubt, im Rahmen eines Aufsatzesauch nur auf alle wichtigen oder dominierenden Positionen einzugehen, wer-den wir uns mit idealtypischen Konstrukten und pointierten Verkürzungen be-helfen müssen. Was es der Soziologie nützen kann, wenn sie Literatur berück-sichtigt, soll durch exemplarische Analysen erwiesen werden, die auch Hinwei-se darauf geben, für welche Fragestellungen diese Vorgangsweise besondersfruchtbar zu sein verspricht.

Als wir auf dem 15. Österreichischen Kongress für Soziologie 1997 in Grazdas Schwerpunktthema „Literatur als Soziologie – Soziologie als Text“ zur Dis-kussion stellten, stellte sich heraus, wie exotisch dies auf die meisten Teilneh-merinnen und Teilnehmer wirkte. Schon damals vertraten wir die These, dieSoziologie solle in systematischer Weise auf Belletristik zurückgreifen. DieReaktionen darauf schwankten zwischen erheblicher Skepsis und blankemUnverständnis. Dies hielt uns nicht davon ab, die Arbeit fortzusetzen und dieMöglichkeiten soziologischer Literaturanalyse auszuloten; eine umfassendeDarstellung der dabei gewonnenen Einsichten gibt unsere unlängst erschienenemonographische Publikation (Kuzmics/Mozetic 2003). Was wir hier in diesemAufsatz versuchen, ist einerseits eine knappe Rekonstruktion unserer Grund-these, andererseits eine Fortsetzung der Monographie durch die Ausweitung

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auf neue Literatur. Als unbescheiden-hoch gestecktes Ziel steht uns vor Augen,das hier vorgeschlagene Programm einer neuen, belletristisch wohlinformiertenSoziologie so plausibel zu vermitteln, dass Leserinnen oder Leser selbst die Lustverspüren, es einmal auf diese Weise zu versuchen.

Welcher Stellenwert der Literatur für die Soziologie zugeschrieben wird, hängtnatürlich wesentlich vom grundlegenden Wissenschaftsverständnis ab, mitdem letztere betrieben wird. Aber schließt nicht jede Konzeption von Soziolo-gie als einer empiristisch verfahrenden und nach möglichst allgemeinen Theo-rien strebenden Wissenschaft von vornherein aus, die Beschreibung fiktiverWelten als wissenschaftlich relevant anzusehen? Ein strikt nomothetischesErklärungskonzept wird für Literatur ebenso wenig Platz vorsehen wie einevariablenzentrierte Forschungsmethodologie, und auch die „weicheren“ Vari-anten werden doch wohl am fundamentalen Unterschied zwischen Fakten undFiktionen nicht rütteln wollen. Die innersoziologischen Kontroversen drehensich schließlich zu einem Großteil darum, wie soziale Realität am besten er-forscht werden kann. Die sich derart ausdrückende Skepsis gegenüber einemLiteratur-als-Soziologie-Plädoyer fassen wir hier unter dem Stichwort „Empi-rismusargument“ zusammen, wie es nicht nur in der Soziologie auftaucht, son-dern auch in anderen Sozial- und Kulturwissenschaften. Eine gute Zusammen-fassung dieser Position findet sich bei Laslett (1976), mit dem wir uns inKuzmics/Mozetic (2003: 65 ff.) eingehend auseinander gesetzt haben. Wie wirdem Empirismus-Argument im Einzelnen begegnen, kann in unserer erwähn-ten Monographie nachgelesen werden. Darauf zurückgreifend, lässt sich in al-ler Kürze festhalten: Laslett argumentiert, man könne literarischen Beschrei-bungen nicht ansehen, welchen Realitätsgehalt sie besitzen, ob sie etwas Typi-sches ihrer Zeit zum Ausdruck bringen, für welche soziale Gruppen sie reprä-sentativ sind usw. Immer müsse man dies überprüfen, und dazu seien Quellenheranzuziehen, die meist ohnehin mehr an Informationsgehalt besitzen als dieliterarischen Darstellungen selbst. Das impliziert ein eindeutiges Verhältniszwischen Literatur und Wissenschaft: Diese überprüft, was an jener Fiktion istund was an ihr mit den historischen, sozialen, ökonomischen Daten überein-stimmt. Vieles von dem, was Laslett vorbringt, ist durchaus plausibel, und erweist auch zu Recht auf den Konstruktionsaspekt von Literatur hin, auf Genresund Stilbesonderheiten. Dennoch greift seine Auffassung, Literatur tauge nurals Bestätigung und Illustration dessen, was man ohnehin schon wisse, zu kurz.Die von Laslett und vielen in der Soziologie präferierten quantitativen Datenbilden nur so etwas wie das Rohmaterial, das erst durch daran anknüpfendeAnalysen sozialwissenschaftlich bedeutsam wird. Um nur ein Beispiel zuerwähnen: Ohne Bezugnahme auf Affektuelles, auf Psychisches bleiben

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Scheidungsraten stumm. Was Scheidungen für Menschen bedeuten, ob Befrei-ung oder Unglück oder von beidem etwas, ist aus ihrer Häufigkeit nicht abzu-leiten. Nun kann man freilich argumentieren, für die Erforschung der Bedeu-tung von Scheidungen stünden doch ebenfalls die empirischen Methoden, undinsbesondere die qualitativen, zur Verfügung. Unser Gegenargument lautet:Natürlich soll man sich auch dieser Methoden bedienen, aber was spricht bei-spielsweise dagegen, literarische Beschreibungen von Interaktionsdynamikendann heranzuziehen, wenn sie diese in idealtypisierender Präzision zu erfassenvermögen und so eine Verlaufslogik (etwa von langfristigen Konflikten in Part-nerschaften) sichtbar machen oder in subtiler Weise die Bedeutung von wech-selnden Emotionslagen herausarbeiten? Wir werden mit unseren beiden exem-plarischen Analysen hoffentlich noch veranschaulichen, welche Möglichkei-ten wir in der soziologischen Literaturanalyse erblicken.

Vermutlich gibt es in der Soziologie immer noch einen empiristischen Ba-siskonsens. Doch auch in ihr beginnen sich seit einiger Zeit – wenn auch we-niger ausgeprägt als in diversen kulturwissenschaftlichen Disziplinen (vgl. et-wa White 1973; Clifford/Marcus 1986; Simons 1990 und als allgemeinenÜberblick Zima 1997) – Überlegungen zu verbreiten, die einem konstruktivis-tischen oder postmodernistischen Denken verpflichtet sind (vgl. etwa Brown1987, 1992; Denzin 1997; Banks/Banks 1998). Aus dieser Perspektive mussjede realistische Interpretation von Literatur naiv und antiquiert wirken. Hierkann nur kurz kommentiert werden, welche Schlüsse wir aus dem „linguisticturn“, dem „literary turn“, dem „interpretive turn“ und dem „rhetorical turn“gezogen haben. Zweifellos ist ein simples Abbildmodell der Erkenntnis inad-äquat; insofern ist auch der Hinweis auf den „konstruktivistischen“ Charaktervon Erkenntnis angebracht. Wenn aber eine Kritik an der vermeintlichenDenotationsfunktion wissenschaftlicher Aussagen darin mündet, deren Cha-rakter lasse sich nur als rhetorischer fassen und daher müsse die Überprüfungder Reliabilität der Plausibilisierung von Authentizität weichen, ist eine Posi-tion erreicht, die Wissenschaft insgesamt in Frage stellt und die nicht dieunsere ist.

Wir halten es aber für zweckmäßiger, hier nicht in eine Diskussion überKonstruktivismus und Postmoderne einzutreten, sondern durch exemplarischeAnalysen anzudeuten, welche Möglichkeiten wir sehen, Literatur soziologischzu interpretieren. Unsere beiden Beispiele unterscheiden sich insofern, als ineinem Fall der Beitrag eines literarischen Textes für eine Erklärung des Entste-hens von Gruppengefühlen und Loyalitäten herausgearbeitet wird (Hornby),während im anderen Fall (Tolstoi)vor allem die heuristische Funktion von Ro-manliteratur für die Bildung von Forschungshypothesen und die Strukturie-rung eines Untersuchungsfeldes im Vordergrund steht.

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2. Die Beliebigkeit von Nation und Nationalgefühl in denSozialwissenschaften oder: Alles ist konstruiert und erfunden

Es gibt eine starke – ja dominante – Strömung in den Sozialwissenschaften, Na-tionen als etwas willkürlich Erfundenes oder zumindest Konstruiertes anzuse-hen; dazu gehört vor allem eine entsprechende Einstellung gegenüber den zur„Nation“ gehörigen Gefühlen, des „Nationalstolzes“ und des „Patriotismus“,die entweder als etwas wenig Wichtiges angesehen werden, als etwas, das zwargelegentlich vorhanden ist, aber wohl bald einer aufgeklärteren Einstellungweichen sollte, oder als etwas, das Züge des ziemlich Lachhaften und Lächerli-chen aufweist. Manchmal nehmen Anstrengungen, sich dieses Themas wissen-schaftlich anzunehmen, die Gestalt eines demonstrativen Zynismus an, wie et-wa in Eric Hobsbawms „Nations and Nationalism since 1780“:

„The present writer recalls being submitted to such a piece of (unsuccessful) politicalinvention in an Austrian primary school of the middle 1920s, in the form of a new na-tional anthem desperately attempting to convince children that a few provinces leftover when the rest of a large Habsburg empire seceded or was torn from them, formeda coherent whole, deserving love and patriotic devotion; a task not made any easierby the fact that the only thing they had in common was what made the overwhelmingmajority of their inhabitants want to join Germany. ,German Austria‘, this curiousand short-lived anthem began, ,thou magnificent (herrliches) land, we love the‘, con-tinuing, as one might expect, with a travelogue or geography lesson following the al-pine streams down from glaciers to the Danube valley and Vienna, and concludingwith the assertion that this new rump-Austria was ,my homeland‘ (mein Heimat-land).“ (Hobsbawm 1990: 92)

Nun, es gibt wohl etliche Nationalhymnen auf dieser Welt, die Geographie-stunden ähneln, und Österreich wurde nicht nur in den 20er Jahren, sondernauch nach 1945 wieder „erfunden“, wie dies Hobsbawm hier nahe legt. Nunkönnte man annehmen, dass Hobsbawm diesen Zynismus vor allem gegenüberÖsterreich entwickelt, wäre nicht das ganze Buch von dieser Haltung getragen:Es betrachtet Nationalgefühle durchwegs als etwas Absurdes oder von obenher Konstruiertes, auch wenn er zugesteht, dass solche Konstruktionen manch-mal erfolgreich sein können oder dass ihnen Mittel- oder Untermittelschichtenmit entsprechenden vorgängigen Nationalismen diese Aufgabe erleichternkönnen. Wie viele andere Soziologen und Sozialhistoriker wünscht sich auchHobsbawm, dass „die Eule der Minerva“ endlich rund um Nation und Nationa-lismus kreist, weil bereits die Dämmerung für beide angebrochen sei; diesenGedanken drückt er jedenfalls im zuversichtlichen Schlusssatz (S. 183) seines1990 veröffentlichten Werkes aus. Das war vor den Balkankriegen und denchauvinistischen Exzessen in den USA nach dem 11. September 2001 und somit

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wohl etwas voreilig. Aber Hobsbawm steht mit seiner Einschätzung von Nationund Nationalgefühl keineswegs allein; so spricht B. Anderson (1983) von „ima-gined communities“, wenn er Nationen meint; auch Ernest Gellner weist zuersteinmal die Idee zurück, Nationen seien etwas Natürliches: „But we must notaccept the myth. Nations are not inscribed into the nature of things, they donot constitute a political version of the doctrine of natural kinds.“ (Gellner1983: 49). Es wurden selbst tote Sprachen zu nationalem Zweck aktiviert, Tra-ditionen erfunden und fiktive ethnische Reinheiten restauriert (Gellner 1983:56); Standarderzählungen von Nationalisten weisen Hobsbawm, Gellner undA. D. Smith (1986) gleichermaßen zurück, wenn sie „Legenden und Land-schaften“ (Smith), Abstammungsmythen, goldene Zeitalter, Geschichten vonUnterdrückung und Befreiung als romantischen Unfug abtun. Ein Autor hatdiese neue Sicht von Nation wie folgt zusammengefasst:

„The fact that nowadays we study national images and national stereotypes ratherthan national identities and national characters bespeaks an important epistemolo-gical shift, which has taken place over the last decades: the shift from essentialism toconstructivism. (. . .) Nationality now counts, at least in the human sciences, as amodality of perception and reputation than as a matter of essence or substance.“(Leerssen 1997: 285)

Nun ist es offenkundig, dass Nationalstaaten gerade in Europa fast ausnahmslosaus älteren Fürstenstaaten hervorgegangen sind und somit, gemeinsam mit Indu-strialisierung, Bürokratisierung und bürgerlicher Demokratisierung, fast so etwaswie kennzeichnend für das stehen, was wir oft als „Moderne“ auffassen. Dassoziologische Rätsel besteht weniger darin, dass Nationalstaaten Fürstenstaatenhistorisch in ähnlicher Form ablösen wie industrielle Klassen die alte Ständege-sellschaft, sondern dass dieser Vorgang häufig von den unerhörtesten Emotionenbegleitet war und letztlich in furchtbare Kriege mündete. Der Affekt gegen sol-che treibt ja vermutlich auch die genannten Forscher an, Nationalgefühle als et-was prinzipiell Lächerliches und Atavistisches (wenn auch im Sinne eines Ata-vismus, der an erfundene Traditionen gekoppelt ist) anzusehen.

Für Gellner ist so Nationalismus eine Form sozialer Selbst-Anbetung, diesich einstellt, wenn – unter den Bedingungen von Industrialisierung, Urbani-sierung und neuer Verwaltungserfordernisse – sich eine dominante Schriftkul-tur herausbildet, die an die Stelle älterer Volkskulturen von Lokalgruppen tritt.Urbanisierte, gebildete Schichten bemächtigen sich einer ethnischen Vergan-genheit (besonders auch jene, die noch vor kurzem „ruritanische“, unterdrück-te Bauern in der dominanten Kultur „Megalomaniens“ waren (das deutlichZüge der alten Donaumonarchie trägt) und werden so – ohne bewusste Kalku-lation, die Gellner als Erklärung zurückweist (Gellner 1983: 60) – zu mehr oder

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minder glühenden Nationalisten. „Subjectively, one must suppose that theyhad the motives and feelings which are so vigorously expressed in the literatureof the national revival.“ (Gellner 1983: 60) Aber wie kommt es zu ihnen? NachGellner begleiteten sie die Erfahrung neuer Mobilität und beamtenartigerBeschäftigung: „They soon learned the difference between dealing with aco-national, one understanding and sympathizing with their culture, and some-one hostile to it.“ (Gellner 1983: 61)

Für eher marginale kulturelle oder linguistische Gruppen geht es nun um ei-nen Kampf um soziale Gleichstellung, der letztlich zum Ruf nach einem schüt-zenden Staat für die neue „Hochkultur“ führt. Gellners Theorie entstammt so-mit zum größeren Teil aus der Erfahrung der untergegangen Habsburgermonar-chie (er selbst emigrierte aus der Tschechoslowakei kurz vor dem ZweitenWeltkrieg nach England). Letztlich ist, nach Gellner, dieser neue Nationalis-mus für die ihn Teilenden von Vorteil, auch wenn man ihn kaum daraus erklä-ren kann. Aber wie es nun zu diesem Gefühl, seiner besonderen Stärke kommtund wie es sein kann, dass sich Menschen lebenslänglich mit einem „Phantasie-gebilde“ so identifizieren können, dass dies sogar einen Teil ihrer persönlichenIdentität ausmacht (Elias spricht hier von Wir-Ich-Balancen und Wir-Gefüh-len, die sich an die Ebene von Nationalstaaten als neue Überlebenseinheiten inder politisch-militärischen Entwicklung heften1), das bleibt bei Gellner merk-würdig diffus und vage. Noch vager allerdings ist die Behandlung von National-gefühlen bei Hobsbawm – allein durch die große Fülle von Beispielen vor-na-tionalstaatlicher Gleichgültigkeit und nationalstaatlicher Anstrengungen, ei-nen Patriotismus von oben zu erschaffen, werden schon die dazugehörigen Ge-fühle als fast beliebig erzeugbar hingestellt. In der Erklärung nimmt HobsbawmAnleihen bei Anderson (Sprachnationalismus als Ergebnis der Modernisierungin Verwaltung und Unterricht) und bei Hroch (von der Romantik kleiner Eli-ten über Phase B der bewussten Aktivisten zur Phase C der Massenunterstüt-zung); allerdings benannte er auch die vielen Ausnahmen, in denen die Spra-che (Irland, Serben und Kroaten) viel weniger wichtig war als Religion oder ir-gendwelche anderen kulturellen Besonderheiten.

Alle genannten Autoren – Gellner, Hobsbawm, Andersson, aber auch derin vieler Hinsicht vorbildlich material- und kenntnisreiche A. D. Smith in sei-ner Suche nach ethnischen Ursprüngen der Nationen – lassen uns letztlich miteinem profunden soziologischen Rätsel zurück: Warum heften Menschen ihreGefühle an so etwas offenkundig Absurdes (so erscheint es den meisten Sozio-logen auch heute noch) wie die „Nation“? Wie kommt es dazu, dass sie dieseGefühle zum Teil ihrer persönlichen Identität erheben – wie wir gerade z. B.bei den Amerikanern sehen, bei denen kein Hollywoodfilm ohne amerikani-sche Fahne auskommt und die höchste Gefühlswerte für ein Land empfinden,

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das 12 Prozent seiner männlichen afroamerikanischen Mitbürger2 ins Gefäng-nis einsperrt und dennoch für Freiheit und Demokratie in den Krieg zieht? DieAntwort wird uns in weniger spektakuläre Regionen entführen: nämlich in dasfußballbegeisterte männliche England; sie wird auch nicht von professionellenSoziologen entwickelt, sondern von einem – allerdings begabten – Schriftstel-ler: Nick Hornby in seinem Buch „Fever Pitch“.

3. Nick Hornbys „Fever Pitch“ als Beschreibung von Wir-Gefühlen alsElementen einer persönlichen Identität

Hornbys Buch über seine lebenslange Bindung an den Londoner FußballvereinArsenal ist Anfang der 90er Jahre des letzten Jahrhunderts erschienen (1992)und seitdem zu Recht als großartiger Fußballroman gerühmt worden. Es ist un-zweifelhaft autobiographisch und schildert das größerenteils schwere Schicksaleines echten Fans, der in unverrückbarer Loyalität zu seinem Verein steht undmit diesem durch dick und dünn – meistens: durch dünn – geht. Schon sein ers-ter Besuch in Highbury, zu dem ihn sein getrennt von der Familie lebender Vatermitnimmt, enthüllt ihm eine parodoxe Wahrheit:

„What impressed me most was just how much most of the men around me hated, real-ly hated, being there. As far as I could tell, nobody seemed to enjoy, in the way that Iunderstood the word, anything that happened during the entire afternoon. Withinminutes of the kick-off there was real anger (‘You’re a DISGRACE, Gould. He’s aDISGRACE!’ A hundred quid a week? A HUNDRED QUID A WEEK! They shouldgive that to me for watching you.’); as the game went on, the anger turned into out-rage, and then seemed to curdle into sullen, silent discontent. Yes, yes, I know all thejokes. What else could I have expected at Highbury? But I went to Chelsea and toTottenham and to Rangers, and saw the same thing: that the natural state of the foot-ball fan is bitter disappointment, no matter what the score.“ (Hornby 1996: 20)

Niemand zwingt diese Leute, zum Fußballplatz zu gehen, und dennoch ver-dammt diese freiwillig gewählte Beziehung den Anhänger zu bitterstemSchmerz, zu jeder Menge Enttäuschungen. Sie hat ebenso wenig mit „Unter-haltung“ zu tun (S. 21) wie mit einer moralischen Entscheidung (S. 35; Loyali-tät erscheint Hornby eher als eine Art von Stigma wie eine Warze oder ein Bu-ckel, keineswegs etwas Schönes wie Tapferkeit oder Freundlichkeit). Schondiese wenigen Bemerkungen eröffnen ein tiefes Verständnis für Gruppenge-fühle, die der Fußballanhänger genauso hat wie der glühende Fan seiner Na-tion, ein tieferes Verständnis als alles, was von Hobsbawm oder Gellner zu die-sem Thema gesagt wurde. Diese Autoren können sich als Nationalgefühleigentlich nur die nationale Hybris vorstellen, die in romantischer Verklärung

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der Vergangenheit oder in bösartiger Herabsetzung der anderen besteht. Horn-by macht das ganze Buch hindurch klar, dass auch eine selbst gewählte Bin-dung (Konstruktivisten können aufjubeln, Arsenal ist sicherlich ein ephemeresWesen, das in dieser Hinsicht einem jungen Nationalstaat eher gleicht als ei-nem traditionellen und die Bindung zum Verein wird darüber hinaus wederdurch Schulpflicht noch durch Militärdienst erzwungen) tragische Folgen ha-ben kann. Theorien vom „primordialen“ (Smith 1986: 7 ff.) Charakter der Na-tion werden von den Konstruktivisten ja entrüstet zurückgewiesen – geradeweil sie den Aspekt der Schicksalhaftigkeit, der Nationen anhaftet, nicht lei-den können; sie könnten sich diese Mühe sparen, denn, wie uns Hornby zeigt,führen selbst gewählte Bindungen zur selben Ausweglosigkeit wie „primordi-ale“, „familienhafte“:

„I had discovered after the Swindon game that loyalty, at least in football terms, wasnot a moral choice like bravery or kindness; it was more like a wart or a hump, some-thing you were stuck with. Marriages are nowhere near as rigid – you won’t catch anyArsenal fans slipping off to Tottenham for a bit of extra-marital slap and tickle, andthough divorce is a possibility (you can just stop going if things get too bad), gettinghitched again is out of the question. There have been many times over the last twen-ty-three years when I have pored over the small print of my contract looking for a wayout, but there isn’t one. Each humiliating defeat (Swindon, Tranmere, York, Walsall,Rotherham, Wrexham) must be borne with patience, fortitude and forbearance;there is simply nothing that can be done, and that is a realisation that can make yousimply squirm with frustration.“ (Hornby 1996: 35)

Die flinken Vielschreiber zum Thema Nation und Nationalismus können unszu keinem Verständnis verhelfen, wie a) solche Gefühle entstehen, was b) ihreEigenart ausmacht (bohrender, quälender Schmerz der Niederlage, seltener:ekstatische Freude), wie c) sie zum Teil des Selbstkonzeptes eines Menschenwerden können, in der Art, dass sich ein großer Teil ihres Lebens rund um dieseObsession rankt.

Ad a) Hornby wird zum Arsenal-Fan nicht, weil der Klub so großartig spielt(vor seinem ersten Besuch im Stadium war er sogar „spektakulär erfolglos“ ge-wesen), und auch nicht, weil er großartige Unterhaltung bietet:

„I’d been to public entertainments before, of course; I’d been to the cinema and thepantomime and to see my mother sing in the chorus of the White Horse Inn at theTown Hall. But that was different. The audiences I had hitherto been a part of hadpaid to have a good time and, though occasionally one might spot a fidgety child or ayawning adult, I hadn’t ever noticed faces contorted by rage or despair or frustration.Entertainment as pain was an idea entirely new to me, and it seemed to be somethingI’d been waiting for.“ (Hornby 1996: 21)

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Österreicher zu sein, bringt auch selten sehr gute Unterhaltung; das heißt abernoch lange nicht, dass man sich so leicht aus dieser Gemeinschaft davonsteh-len kann. Doch während man immerhin Österreicher oft seit der Geburt ist,verdankt Hornby seine Schicksalsbindung einem flüchtigen Nachmittag inHighbury:

„Just this one afternoon started the whole thing off – there was no prolonged court-ship – and I can see now that if I’d gone to White Hart Lane or Stamford Bridge thesame thing would have happened, so overwhelming was the experience the first time.In a desperate and percipient attempt to stop the inevitable, Dad quickly took me toSpurs to see Jimmy Greaves score four against Sunderland in a 5–1 win, but the dam-age had been done, and the six goals and all the great players left me cold: I’d alreadyfallen for the team that beat Stoke 1–0 from a penalty rebound.“ (Hornby 1996: 21)

Das kann man zwar auch nicht eine befriedigende Erklärung des sich fast zufäl-lig einstellenden Wir-Gefühls nennen; hierin ähnelt Hornby den „Konstrukti-visten“. Was er dort gefunden hat, wird dem Leser aber sukzessive enthüllt: Esist ein Gefühl der Zugehörigkeit, das weiter öfter zu Trauer und Schmerz führtals zu triumphalem Machtrausch:

„This sense of belonging is crucial to an understanding of why people travel to themeaningless game in Plymouth on a Wednesday night, and without it football wouldfail as a business. But where does it end? Those fans who travel the length andbreadth of the country every week; does the club ‘belong’ to them more than it doesto me? And the old geezer who only gets along ten times a season, but has been goingto Highbury since 1938 . . . doesn’t the club belong to him too, and he to the club? Ofcourse. But it took me another few years to discover that; in the meantime, it was nopain, no gain. Unless I had suffered and shivered, wept into my scarf and paid throughthe nose, it was simply not possible to take pleasure in or credit for the good times.“(Hornby 1996: 64 f.)

Man kann annehmen, dass die Einsamkeit des Scheidungswaisen Nick seineBindung gefördert hat, aber sind die 60.000 anderen Fans auch Scheidungswai-sen? Wohl kaum. Wenn auch Nicks Beziehung zu „seinem“ Klub (Arsenalspielt im Norden Londons, Nicks Heimatklub wäre weit eher Reading, das na-he seinem Wohnort liegt) fast zufällig beginnt, entwickelt sie sich doch zu ei-ner, die nicht einmal der Tod mehr scheiden kann, wie zumindest in folgenderPhantasie deutlich wird:

„I do not wish to die in mid-season but, on the other hand, I am one of those who would,I think, be happy to have my ashes scattered over the Highbury pitch (although I un-derstand that there are restrictions: too many widows contact the club, and there arefears that the turf would not respond kindly to the contents of urn after urn). It wouldbe nice to think that I could hang around inside the stadium in some form, and watch

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the first team one Saturday, the reserves the next; I would like to feel that my childrenand grandchildren will be Arsenal fans and that I could watch with them. It doesn’tseem a bad way to spend eternity, and certainly I’d rather be sprinkled over the EastStand than dumped into the Atlantic or left up some mountain.“ (Hornby 1996: 72)

Möglicherweise hängt der mangelnde Wille oder die mangelnde Fähigkeit vonSozialwissenschaftlern, Nationalgefühle ernst zu nehmen und wissenschaftlichzu behandeln, mit ihren eigenen Biographien zusammen, die sie zu tiefer Skep-sis solchen Bindungen gegenüber erzogen haben; Hobsbawm lässt in seiner Ein-leitung (Hobsbawm 1990: 13) seine Distanz anklingen. Nun ist es sicher rich-tig, dass Distanz gegenüber den eigenen Gefühlen nötig ist, um Angst- oderWunschdenken zu vermeiden; zu viel Distanz aber kann auch dazu führen, dassman die Identifikation anderer nicht mehr versteht.

Hornbys Fankarriere verläuft fast ungebrochen sein ganzes weiteres Leben;es gibt nur eine kurze Unterbrechung – eine Zeit des jugendlichen Erwachens,in dem junge Liebe und der aufgesetzte Habitus eines werdenden Intellektuel-len seine Beziehung zu Arsenal dämpfen –, aber bald stellt sich bei Nick die alteBegeisterung wieder ein. Hornby weiß, dass seiner Anhänglichkeit an den Klubetwas Unreifes, Regressives anhaftet, das ihm auch manche persönliche Ent-wicklung verbaut, doch ist ihm der Verein zugleich auch so etwas wie ein Halt,sein persönliches Rückgrat. (Hornby 1996: 100)

ad b) Viele Sozialwissenschaftler haben wahrscheinlich auch Schwierigkei-ten, die Intensität, die Stärke der Gefühle zu verstehen, die jemanden an eineGruppe binden – hier ist es eine Sport treibende, die in Wettkämpfen ohne blu-tigen Ernstcharakter das Publikum zum stellvertretenden Mitleben und Mit-empfinden bringt (vgl. Elias/Dunning 1986).

Nicks Gefühle gehen weit über einen oberflächlichen Nervenkitzel hinaus:

„On matchdays I awoke with a nervous churning in the stomach, a feeling that wouldcontinue to intensify until Arsenal had taken a two goal lead, when I would begin torelax: I had only relaxed once, when we beat Everton 3–1 just before Christmas. Suchwas my Saturday sickness that I insisted on being inside the stadium shortly after oneo’clock, some two hours before the kick-off; this quirk my father bore with patienceand good humour, even though it was frequently cold and from 2.15 onwards my dis-traction was such that all communication was impossible.“ (Hornby 1996: 24)

Die Belohnung für all diese nervliche Anspannung, die stellvertretende, aberdennoch reale Angst, mit dem Verein zu verlieren, tritt selten ein; nur einmalim Buch beschreibt Hornby einen Moment ekstatischer Freude nach einemSieg im Cupfinale (das Kapitel ist betitelt: „Wembley IV – the catharsis“). Kurz,nachdem Manchester Uniteds Ausgleich gerade wieder Nicks Hoffnungen aufgrimmige Weise erstickt hatte, geschieht ein Wunder:

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„And it really was for only two minutes. When the game restarted, Liam Brady took theball deep into the United half (afterwards he said that he was knackered, and was onlytrying to prevent the loss of a third goal) and pushed it out wide to Rix. I was watchingthis, but not seeing it; even when Rix’s cross came over and United’s goalkeeper Gary Bai-ley missed it I wasn’t paying much attention. But then Alan Sunderland got his foot to theball, poked it in, right into the goal in front of us, and I was shouting not ‘Yes’ or ‘Goal’ orany of the other noises that customarily come to my throat at these times but just a noise,‘AAAARRRRGGGGHHHH’, a noise born of utter joy and stunned disbelief, and sud-denly there were people on the concrete terraces again, but they were rolling around ontop of each other, bug-eyed and berserk. Brian, the American kid, looked at me, smiledpolitely and tried to find his hands amidst the mayhem below him so that he could raisethem and clap with an enthusiasm I suspected he did not feel.“ (Hornby 1996: 116)

Diese Freude hält wohl eine Woche an, hat etwas Triumphales und den Cha-rakter einer spirituellen Erlösung. Sie ist wohl mitverantwortlich für eine starkeGruppenbindung, die hier in ähnlicher Weise durch Kampf, Sieg oder Nieder-lage zustande kommt, wie es die Erfahrung einer nationalstaatlichen „Schick-salsgemeinschaft“ zu bewirken vermag. Doch wesentlich öfter beschreibtHornby Gefühle der Verzweiflung, Enttäuschung oder solche des dumpfen, fa-den Mittelmaßes, zu dem Arsenal, der ungeliebteste Klub Englands, verdammtzu sein scheint. Schmerz über Niederlagen des Klubs wird von Nick wie zuSchmerz über eigenes Versagen. „Identität“ ist in weiten Regionen kritischerSoziologie und Sozialpsychologie ein Wort mit Leerformelcharakter (dasselbegilt für den Begriff der „nationalen Identität“), mit dem man kaum Emotionenassoziieren kann. Das folgende Zitat sagt um einiges mehr über Nicks „Identi-tät“ aus, insofern sie auch aus Wir-Gefühlen aufgebaut ist: Sie ist eine Identitätin der Stunde bitterster Beschämung und Niederlage.

„As the end of the game approached I braced myself for the grief that I knew wouldswallow me whole, as it had done after the Swindon match. I was fifteen, and the op-tion of tears was not available as it had been in 1969; when the final whistle went Ican recall my knees buckling slightly. I didn’t feel sorry for the team or for the rest ofthe fans, but for myself, although now I realise that all football sorrow takes this form.When our teams lose at Wembley we think of the colleagues and class-mates we haveto face on Monday morning, and of the delirium that has been denied us; it seems in-conceivable that we will allow ourselves to be this vulnerable ever again. I felt that Ididn’t have the courage to be a football fan. How could I contemplate going throughthis again? Was I going to come to Wembley every three or four years for the rest ofmy life and end up feeling like this?“ (Hornby 1996: 66)

Auch als Erwachsenem geht es Hornby nicht viel anders. Die Verletzlichkeitentsteht natürlich auch dadurch, dass er als Arsenalanhänger von den Fans an-derer Vereine gehänselt werden wird, sodass sich die Realität des Spiels weit

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über die 90 Minuten hinaus auswirkt und sozial mehrfach reproduziert wird.Wir sehen von hier aus auch, dass die empirische Messung von „Nationalstolz“und „Nationalgefühl“ scheitern muss, wenn sie nicht den komplexen begriffli-chen Charakter dieser Phänomene zu treffen imstande ist: Am größten ist dienationale Bindung oft im Stadium der Scham; dauernde Scham allerdings mages zur Folge haben, dass man die schamerzeugende Bindung abzustreifen ver-sucht; wobei unklar ist, wie viel davon dem befragten Individuum selbst be-wusst sein mag. Der Nationalstolz kleiner Nationen ist wohl immer etwas sehrZerbrechliches: Wie viele Siege kann man schon an seine Fahnen heften, wenndie Gegner meist übermächtig sind? Nicht umsonst erinnern sich Österreicherfür immer und ewig an das eine, triumphale 3 : 2 über Deutschland im unver-gesslichen Cordoba.3

Hobsbawm und Gellner, Smith und Anderson betrachten auch die Ge-schichtsmythen der Nationen vorrangig unter dem Aspekt der ideologischenGeschichtsklitterung, frei nach dem Satz von Ernest Renan, dem zufolge derhistorische Irrtum zur Nationswerdung gehört.4 Was sie kaum verstehen, sinddie realen Tränen, die bei der Nacherzählung etwa der blutigen Schlacht amAmselfeld an serbischen Lagerfeuern noch Jahrhunderte später fließen. Siesind oft geschichtsmächtiger als die wenigen Siege. Wie korrekt die Erinnerungist, spielt nur eine geringe Rolle.

ad c) Nationale Identität, Nationalstolz und nationaler Habitus (oder „Na-tionalcharakter“) werden oft wenig sorgsam unterschieden. Daher ist noch einWort dazu zu sagen, dass „Fever Pitch“ wenig über den „Habitus“ oder „Cha-rakter“ eines Fans sagt; wenn, dann nur in recht allgemeinen Worten. Mankann den Habitus einer Region oder eines Nationalstaats (sein Tiroler- oderÖsterreichertum) ganz sichtbar in Körperausdruck und Sprachhabitus veran-kert haben und muss dennoch keine Gefühle der Loyalität oder Zugehörigkeitzu Tirol oder Österreich entwickelt haben. Wie allerdings eine Gruppenzuge-hörigkeit so Teil der Persönlichkeit werden kann – und somit zu dem, was wir„persönliche Identität“ nennen, einem Sinn dafür, sich an sich selbst alsMensch zu erinnern, der man einmal war, und der man vielleicht höchstselbstauch noch in ferner Zukunft sein wird –, das erfährt man bei Hornby in präziserSprache.

Es beginnt damit, dass Nick Arsenals Schicksal in seiner eigenen Biographiewiederentdeckt:

„For the first, but certainly not the last, time, I began to believe that Arsenal’s moodsand fortunes somehow reflected my own. It wasn’t to much that we were both playingbrilliantly and winning (although my two recent O-level passes were all the proof Ineeded that I was a genuine Championship of Life contender); . . .“ (Hornby1996: 67)

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Die meiste Zeit allerdings hasst er Arsenal, so wie er wahrscheinlich sich selbsthasst wegen diverser Unfähigkeiten; sich mit einem in ganz England unbelieb-ten Klub zu verbinden, sagt auch etwas über den Gefühlszustand des sich Bin-denden aus:

„To the nation’s delight, Arsenal lost. Saint Trevor of England scored the only goaland slew the odious monster, the Huns were repelled, children could sleep safely intheir beds again. So what are we left with, us Arsenal fans, who for most of our liveshave allowed ourselves to become identified with the villains? Nothing; and oursense of stoicism and grievance is almost thrilling.“ (Hornby 1996: 126)

Hornbys Identität ist auch die eines mit Arsenal geteilten Schamzustands, ei-nes Zustands des Selbsthasses. In ähnlicher Weise beschreibt er selbst seine Be-ziehung zur englischen Nation:

„By the early seventies I had become an Englishman – that is to say, I hated England justas much as half my compatriots seemed to do. (. . .) Is it like this everywhere? I knowthat in the past the Italians have greeted their boys with rotten tomatoes at the airportwhen they return from overseas humiliations, but even that sort of commitment is be-yond my comprehension. ‘I hope they get stuffed,’ I have heard Englishmen say onnumerous occasions in reference to the England team. Is there an Italian or Brazilian orSpanish version of that sentence? It is difficult to imagine.“ (Hornby 1996: 30)

Hornby drückt hier Skepsis gegenüber seiner eigenen Nation als Gemeinschaftaus, die zur Identifikation einlädt. Aber er tut es mit Worten, die man schongut aus seiner Beziehung zum Klub kennt und die überdies auch Aspekte seinesSelbst bezeichnen. Alle seine Probleme, die vielen Erlebnisse der Frustrationund die wenigen der strahlenden Freude führen nur dazu, dass Arsenal tief inNicks persönliche Identität eingebrannt wird.

„At this point I feel that I have to defend the accuracy of my memory, and perhaps thatof all football fans. I have never kept a football diary, and I have forgotten hundreds andhundreds of games entirely; but I have measured out my life in Arsenal fixtures, and anyevent of any significance has a footballing shadow. The first time I was best man at awedding? We lost 1–0 to Spurs in the FA Cup third round, and I listened to the accountfor Pat Jennings’ tragic mistake in a windy Cornish car park. When did my first real loveaffair end? The day after a disappointing 2–2 draw with Coventry in 1981. That theseevents are commemorated is perhaps understandable, but what I cannot explain is whyI remember some of the other stuff.“ (Hornby 1996: 81)

Es war in den vergangenen Jahren in den Sozialwissenschaften immer wiedervom „Ende des Nationalstaats“ in einer globalisierten, so genannten „Weltgesell-schaft“ die Rede. Es ist wohl berechtigt, solchen Aussagen bis auf weiteres pro-fundes Misstrauen entgegenzubringen. Nach wie vor übersteigt das Interesse anNationenwettkämpfen – von Fußballweltmeisterschaften bis zu Olympischen

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Spielen – alles, was als Interesse sonstigen Sportveranstaltungen entgegenge-bracht wird. Die Identifikation mit einzelnen Athleten fremder Nationen ist ge-ring. Aber auch die beharrliche Erziehungsarbeit der Heere unzähliger Volks-schullehrerinnen wird grotesk unterschätzt; das eingangs zitierte Hobs-bawm-Diktum von der lächerlichen Geographiestunde, als die sich Österreichsheute vergessene Nationalhymne präsentierte, ist – generell verstanden – zy-nisch und gedankenlos. Hornbys „Fever Pitch“ zeigt an dem „unschuldigen“ Bei-spiel der Vereinsanhängerschaft, wie sehr Menschen Gruppenwesen sind undwie sehr sie in ihrer höchstpersönlichen Identität von diesen Gruppen beeinflusstsind. Was aber für die flüchtig begonnene, später unzertrennliche Beziehung zueinem Fußballklub gilt, gilt wohl a fortiori für die vielfachen Bande der Nationoder des Nationalstaates; jedenfalls können wir sie nicht verstehen, wenn wir sienicht in ihrer empirischen und begrifflichen Komplexität wenigstens so genaurekonstruieren können wie der Romanautor Nick Hornby.

4. Der Gutsbesitzer Konstantin Lewin als Landarbeiter: Interpretationeines Kapitels aus Tolstois Anna Karenina

Wir haben in unserem Buch Literatur als Soziologie (Kuzmics/Mozetic 2003,Kapitel 10) die Beschreibungen ländlicher Arbeits- und Lebenswelten bei PeterRosegger und Franz Innerhofer verglichen. Obwohl Roseggers Darstellung desbäuerlichen Lebens am Ende des 19. Jahrhunderts idealisierend-idyllische Zügeaufweist, erfasst sie eine zentrale Problematik des sozialen Wandels zur „moder-nen“ Gesellschaft seismographisch genau: nämlich den Druck, unter den dieBauern durch Industrialisierung und Vermarktlichung geraten und der schließ-lich zur „Landflucht“ führt. Stimmt die zeitliche Verortung dieses Vorgangs mitden üblichen Vorstellungen von der Auflösung agrarisch dominierter Wirt-schaften und der Durchsetzung der Industriegesellschaft weitgehend überein(die „verspätete“ Industrialisierung des „alten“ Österreich), wird uns durchInnerhofers autobiographisch gefärbten Roman Schöne Tage in lebensweltlicherAnschaulichkeit bewusst, dass es in der alpin-bäuerlichen Welt um die Mitte des20. Jahrhunderts immer noch patriarchalische Herrschaftsverhältnisse gibt, dieein so hohes Ausmaß an Gewalt, Zwang und Demütigung enthalten, dass sichdie Hauptfigur Holl, das uneheliche Kind des Bauern, wie ein Leibeigener vor-kommt. Diese Zeit ist uns also zeitlich weit näher, als es durch ein simples Modellder „Modernisierung“ nahe gelegt wird, und ein literarisches Werk wie dasInnerhofers kann uns vielleicht auch sensibel machen für eine „generationelleLagerung“, nämlich das noch in den 1950er Jahren massenhafte Verlassenbäuerlicher Lebensverhältnisse, die den Sozialcharakter einer „Aufsteiger“-

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Generation wohl entscheidend mitgeprägt haben. Jede soziologische Charakte-risierung dieser Generation, die deren bäuerliche Wurzeln vernachlässigt, mussals unbedarft und oberflächlich kritisiert werden. Wie groß ökonomisch-sozialeUmbrüche sind, wird man mit statistischen Daten etwa zur Verschiebung zwi-schen den Produktionssektoren belegen können – und so zeigen die österreichi-schen Volkszählungsergebnisse von 1951, dass noch fast ein Drittel aller Be-schäftigten in der Land- und Forstwirtschaft tätig war, also sehr viel im Vergleichzu den unter fünf Prozent heute. Wollen wir aber wissen, was solche Verschie-bungen lebensweltlich bedeuten und inwiefern sie die Denk- und Handlungs-weisen der betroffenen Menschen modellieren, wird die Lektüre literarischerWerke ergiebig sein. Für die Umwälzungen agrarischen Lebens ließe sich leichtein umfangreiches Leseprogramm zusammenstellen, beginnend vielleicht mitBalzacs Die Bauern. Überhaupt könnte eine vergleichende soziologische Analy-se des sozialen Wandels literarischen Werken eine ganz Menge von Hinweisenund Anregungen entnehmen. Wer etwa Stendhals Rot und Schwarz und Theo-dor Dreisers Amerikanische Tragödie gelesen hat, wird sich besser vorbereitetdem Thema der sozialen Mobilität zuwenden. Wir wollen hier ein anderes Bei-spiel besprechen, das in Leo N. Tolstois Anna Karenina zu finden ist und als Er-gänzung zu den Rosegger-Innerhofer-Analysen gelesen werden kann.

Im Gutsbesitzer Konstantin Lewin zeichnet Tolstoi das Porträt eines Man-nes, der seine ansehnliche ökonomisch-soziale Position zwar dem alten Feudal-system verdankt, aber der in Russland erst 1861 aufgehobenen Leibeigenschaftnicht nachtrauert, sondern in mancherlei Hinsicht, so etwa in Bezug auf dielandwirtschaftlichen Produktionstechniken, dem Neuen zugewandt ist. Er ver-spürt zudem Bedürfnisse, die für einen Großgrundbesitzer seiner Zeit wohl alsungewöhnlich gelten dürfen. In den folgenden Auszügen erleben wir einen Le-win, der sich seinen großen Wunsch erfüllt, bei der Heumahd mitzumachen(die folgenden Stellen werden zitiert nach Tolstoi 2000: 303–306):

„Je näher Lewin kam, um so besser konnte er die langgezogene Kette der Bauern über-sehen, die zum Teil noch in ihrem Kaftan und teils im Hemd mähten und ihre Sensenjeder nach seiner Art schwangen. Er zählte zweiundvierzig Mann. [. . .]Lewin nahm sie [die Sense] und holte probeweise ein paarmal aus. Die Mäher, die mitihrer Reihe fertig waren, traten schweißgebadet einer nach dem andern auf die Straßeund begrüßten fröhlich den Gutsherrn. Sie blickten ihn an, sagten aber kein Wort, bissich ein bartloser alter Mann mit runzligem Gesicht an ihn wandte: ,Sieh zu, gnädigerHerr, daß du es auch schaffst, wenn du einmal damit angefangen hast!‘ Lewin bemerk-te, daß die übrigen Mäher diese Worte mit einem verhaltenen Lachen begleiteten.,Ich werde mir Mühe geben, euch nicht nachzustehen‘, erwiderte er. Er stellte sich hin-ter Tit auf und wartete auf den Wiederbeginn der Arbeit.,Ja, paß nur auf!‘ wiederholte der Alte.“

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Der Gutsherr Lewin begibt sich hier freiwillig in eine Situation, in der er auf sei-ne soziale Überlegenheit gegenüber den Bauern verzichtet. Jetzt kommt es nurmehr darauf an, ob er jene Leistung erbringen kann, die für diese Bauern undLandarbeiter selbstverständlich ist. Die Worte des Alten mahnen ihn noch ein-mal, was auf dem Spiel steht. Schafft er es nicht, wären ihm Spott und Gering-schätzung gewiss, und das wäre umso schwerer zu ertragen, weil es eine Konter-karierung seines hohen Platzes in der gesellschaftlichen Hierarchie bedeutete.Lewin geht also ein hohes Risiko ein, und es müssen daher starke Motive sein,die ihn veranlassen, bei der Heumahd mitzumachen.

„Tit räumte Lewin einen Platz ein, und er folgte ihm. Das Gras am Straßenrand war niedrig,und da Lewin lange keine Sense in der Hand gehabt hatte, mähte er in den ersten Augen-blicken ungeschickt, obgleich er weit ausholte. Er hörte hinter sich Stimmen: ,Er setzt nichtrichtig an, der Griff sitzt ihm zu hoch, schau mal her, wie er sich bücken muß‘, sagte einer.,Halt die Klinge flacher‘, riet ein anderer.,Macht nichts, er wird’s schon herausbringen‘, begütigte der Alte. ,Schau mal, wie er insZeug geht . . . Du nimmst die Reihe zu breit, so wirst du bald müde werden . . . So geht dasnicht, aber er ist ja der Herr, der machen kann, was er will. Schau mal, wie hoch die Stengelsind, die er übrigläßt. Unsereiner würde dafür den Buckel voll kriegen!‘“

Lewin ist zwar der Gutsherr, er weiß aber sehr genau, dass er sich jetzt ein- undunterordnen muss, dass er hier keine fachliche Autorität besitzt. Die Bauernzeigen auch keine Scheu, offen auszusprechen, was er falsch macht. So groß diesozialen Unterschiede zwischen dem adeligen Großgrundbesitzer und den ein-fachen Bauern auch sind, beim Mähen ist es Lewin, der sich anpassen muss undvollauf damit beschäftigt ist, das allen anderen Abverlangte auch selbst zuschaffen. Er steht auf dem Prüfstand, und nicht er bestimmt die Pausen für dasFrühstück und das Mittagessen. Begibt er sich – im wörtlichen und übertrage-nen Sinne – auf dieses Feld der Arbeit, dann kann Lewin weder befehlen nochauf Sonderrechte pochen, sondern muss sich gleichsam der Logik der Arbeit,einer „Sachordnung“ unterwerfen.

„Jetzt wurde das Gras viel weicher. Lewin, der hörte, was die Leute sagten, aber nichtdarauf antwortete, ging hinter Tit her und bemühte sich, so gut wie möglich zu mä-hen. So waren sie etwa hundert Schritt vorangekommen. Tit setzte seinen Weg fort,ohne die geringste Ermüdung zu zeigen, aber Lewin wurde es immer saurer; er war soermattet, daß er fürchtete, nicht durchhalten zu können.Er fühlte, daß er seine letzten Kräfte aufbieten mußte, und beschloß, Tit zu bitten,eine Pause zu machen. Doch dieser tat es schon von selbst [. . .]“

Weil Lewin nicht für sich jenes Tempo und jene Arbeitsdauer wählen kann, dieseiner eigenen Leistungsfähigkeit entsprechen, sondern sich als Element einerArbeitsgruppe einfügen muss, gerät er schnell an die Grenzen zur Überforderung.

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Auch ländliche Arbeit ist mehr als die bloße Summierung von Einzelleistungen,dem sozialen Zwang des Kollektivs kann sich hier niemand entziehen (und dieserdürfte um nichts geringer sein als jener Zwang, den der maschinelle Arbeits-rhythmus in den Fabriken der Industrie ausübt). Es fehlte nicht viel und Lewinhätte durch die Bitte um eine Pause eingestehen müssen, den Strapazen der Ar-beit nicht gewachsen zu sein.

„Es folgten weitere Reihen – längere und kürzere, mit gutem und mit weniger gutemGras. Lewin verlor jedes Gefühl für die Zeit und wußte schließlich überhaupt nichtmehr, ob es früh oder spät war. Seine Arbeitsweise änderte sich jetzt, was ihm einengroßen Genuß verschaffte. Es gab Momente, wo er vollkommen vergaß, was er tat,wo ihm alles leicht von der Hand ging, und in diesen Augenblicken gerieten ihm sei-ne Reihen fast ebenso schön und gerade wie Tit. Kaum aber wurde er sich seinesTuns und seines Wunsches bewußt, seine Sache möglichst gut zu machen, empfander sofort von neuem, wie schwer und anstrengend es war, und die Reihe wurdeschlecht.“

Dass die Phasen der Selbstvergessenheit „großen Genuß“ verschaffen, ist ge-wissermaßen eine paradoxe Erfahrung. Je weniger dieses Ich sich seiner selbstbewusst ist, umso befriedigender und besser gelingt die Arbeit. Bewusste Hand-lungsorientierung und reflexives Ich-Bewusstsein erweisen sich in dieser Hin-sicht als wenig zweckmäßig. Ein Ziel ständig vor Augen zu haben und es mit al-ler Besessenheit anzustreben ist der sicherste Weg, es zu verfehlen. Um als Per-son glücklich zu sein, muss sich diese Person gleichsam im Tätigsein verlieren.Ersichtlich geht es hier um einen Beitrag zum in jüngerer Zeit intensiv disku-tierten Thema der nicht direkt erreichbaren Ziele, und es sollte einleuchten,warum solche Beschreibungen für eine soziologische Handlungstheorie vonBedeutung sind.

Warum tut Lewin also etwas, was für einen russischen Gutsherrn des19. Jahrhunderts auch nach der Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern(1861) sehr ungewöhnlich erscheint?

Als Hauptmotiv Lewins wird genannt, dass ihm die Arbeit des Mähens selbstgroßes Vergnügen bereitet, aber „Vergnügen“ ist eine ziemlich vage Kategorie,und Tolstoi begnügt sich auch nicht mit ihr. Er lässt in seiner Beschreibung dasAnstrengende, das Schweißtreibende der Arbeit des Mähens deutlich hervor-treten: Es ist harte Arbeit, die Können verlangt und Ausdauer. (Mit der Schil-derung der Arbeitsmühen steht Tolstoj übrigens näher bei Innerhofer als beiseinem Zeitgenossen Rosegger.) Was für die Bauern das Selbstverständliche ist,wird für Lewin zu einer außergewöhnlichen Körpererfahrung – und zur Quelletiefer Befriedigung. Es bleibt offen, ob die Bauern beim Mähen Ähnliches emp-finden wie Lewin, aber aus der gut ausgeführten, richtigen Arbeit beziehen

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sie zweifellos Selbstbewusstsein und Stolz. Lewin anerkennt deren Kompetenzund Arbeitsmoral ohne Vorbehalte: „Die zweiundvierzig Mann hatten einStück Arbeit geleistet, das sich sehen lassen konnte. Die ganze große Wiese,die früher, zur Zeit der Fronarbeit, dreißig Sensen im Lauf von zwei Tagenbewältigt hatten, war bereits [in einem Tag] gemäht.“ (Ebd.: 309 f.) Auch beiTolstoi taucht also das alte ökonomische Rationalitätsargument gegen die un-freie Arbeit von Sklaven und Leibeigenen auf: In 42 Mann-Tagen kann das ge-leistet werden, wofür zur Zeit der Leibeigenschaft 60 Mann-Tage erforderlichwaren.

Es gibt neben dem Motiv der Körpererfahrung und des „Vergnügens“ nocheinen weiteren Gesichtspunkt, der in Lewins folgender Überlegung angespro-chen wird: „Ich brauche körperliche Bewegung, sonst nimmt mein Charakterganz gewiß Schaden“ (ebd.: 302). Obwohl sein Bruder bei ihm auf Besuch weilt(der für Lewins Handlungsweise überhaupt kein Verständnis aufbringt) undobwohl er weiß, dass viele über ihn den Kopf schütteln, lässt er sich von seinemVorhaben nicht abbringen: Er „beschloß zu mähen, sosehr er sich auch vor sei-nem Bruder und den Leuten schämte“ (ebd.).

Diese Scham Lewins ist ein wichtiger Hinweis darauf, dass in ihm die Nor-men der alten Feudalgesellschaft noch lebendig sind, die seine Arbeitstätigkeitals Widerspruch zu seinem sozialen Rang erscheinen lassen; doch dass er sichvon diesen Normen nicht beherrschen lässt und sich über die Scham hinweg-setzt, ist nicht minder bedeutsam. Insofern ist Lewin ein „aufgeklärter“ Guts-herr, dessen Arbeitseinstellung und Bedürfnishaushalt schon auf eine neueWelt verweisen. An diesem Thema kann man auch sehr gut ein Problem disku-tieren, das sich bei der soziologischen Verwendung von Literatur immer stellt.Auf die Frage, wie viele Lewins es in der russischen Gesellschaft um 1870 be-reits gibt, kann ein Roman keine Antwort geben. Es wäre ja auch denkbar, dassTolstoi mit dieser Romanfigur etwas von ihm Erwünschtes und Erhofftes aus-drückt, das seiner Wahrnehmung nach noch gar nicht existiert. Vielleichtsteht Lewin aber für einen allmählichen Mentalitätswandel in Teilen des russi-schen Adels, der sich zeitgenössischen Tendenzen zum Egalitarismus und zurDemokratisierung nicht mehr ganz zu verschließen vermochte. Zweifellos wirdman viele andere Quellen heranziehen müssen, um dazu etwas Fundiertes sa-gen zu können. Damit ist auch schon angedeutet, worin die mögliche heuristi-sche Fruchtbarkeit von Tolstois Roman bestehen könnte. Allgemeiner gesagt,wäre es überaus reizvoll, literarisch geschilderte Handlungen und Handlungs-zusammenhänge systematisch als Beiträge zum Prozess der Modernisierung auf-zufassen und in Forschungshypothesen zu verwandeln, deren Überprüfungvielleicht sogar zu einer Korrektur am soziologischen Modernisierungsmodellführen könnte.

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5. Schlussbemerkungen

Wir haben versucht, den Nutzen der Literatur für die Zwecke soziologischerBeschreibung und Erklärung an zwei Beispielen zu skizzieren. Das Erste betrafdie Verwendung eines autobiographischen Romans, der in detailreicher An-schaulichkeit das Erleben und die soziale Einbettung von Gruppengefühlenzeigt: Es gibt neben den offenkundigen Unterschieden auch verblüffende Ge-meinsamkeiten zwischen nationalen Wir-Gefühlen und den Emotionen undLoyalitäten eines englischen Fußballanhängers von der leidenschaftlichenund treuen Art. Im Vergleich mit sozialwissenschaftlich-analytischer wie his-torischer Literatur wurde sichtbar, dass der Roman wichtige Leerstellen derBeschreibung und somit auch der Erklärung ausfüllt, die entstehen, wenn sichdie „wissenschaftlichen“ Autoren aus den verschiedensten Gründen wenigum die von Akteuren erfahrene Realität von Emotionen kümmern, ohne de-ren Berücksichtigung man auch kaum das makrostrukturelle Gebilde der „Na-tion“ oder des „Nationalstaats“ verstehen kann. Wir haben diese Gründe hiernicht genauer studiert (obwohl dies sicher lohnend wäre), wir können nurvermuten, dass gewisse Werthaltungen – vielleicht eine Feindseligkeit gegen-über erlebten Nationalismen, vielleicht der generellere Pazifismus und Uni-versalismus als Berufsideologie der Sozialwissenschaft, vielleicht die Orientie-rung am Modell der „friedlichen, hauptsächlich ökonomisch orientierten In-dustriegesellschaft“ als kognitiver Leitschiene dazu geführt haben, eine dis-tanzierte und teilweise zynische Haltung gegenüber Kollektivgefühlen einzu-nehmen. Doch damit verbaut man sich auch Erklärungen, und das sollte hiergezeigt werden. Dazu kommt die professionelle Spezialisierung von theoreti-sierenden Sozialhistorikern und Philosophen, die eher zur Beschäftigung mitBegriffen und Denkweisen führt, die eine Art von hermeneutischem Zirkelbilden, der einigermaßen abgeschlossen gegenüber gewissen Arten der All-tagserfahrung ist – diese jedoch wird im Roman auf reichhaltigste und eben-falls theoretisch anschlussfähige Weise eingebracht. Wir haben in diesemAufsatz nicht versucht, den quantifizierenden Sozialwissenschaften die Kon-trastfolie einer um etliches reicheren sozialen Wirklichkeit entgegenzuhalten,obwohl sich dies bei den oft recht simplizistisch anmutenden Messungen vonKonstrukten wie „Nationalstolz“ und „nationale Identität“ angeboten hätte.Es ist unsere Überzeugung, dass dies ebenso möglich wie fruchtbar ist. Die em-pirisch-statistisch generalisierende Sozialwissenschaft war auch nicht unserVergleichsbezugspunkt beim zweiten Beispiel dieses Aufsatzes, der Tolstois„Anna Karenina“ die Beschreibung eines hart arbeitenden, den Alltag seinerBauern kurzfristig teilenden russischen Gutsherrn entnahm. Hier wurde zuzeigen versucht, wie reduziert das gewöhnliche Alphabet der soziologischen

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Auffassung von Moderne und Modernisierung ist, wenn sie mit literarischenBeschreibungen verglichen wird, die auf eine markante, auffällige Anomaliedieses Prozesses verweisen. Mit unserem Standardbild der Modernisierung ei-nes rückständigen, großteils noch „feudal“ zu nennenden Sozialsystemsschlägt sich die Vorstellung von einem sich demonstrativ auf die Seite derBauern schlagenden und deren Erfahrungen teilen wollenden Gutsherrn, derdoch ihr Klassenfeind sein müsste – umso mehr, als sich die Beschreibung derArbeitssituation (Heumahd) durch große empirische Genauigkeit des Voka-bulars des Erlebens auszeichnet. Hier ging es vor allem um den Nutzen eineranderen Heuristik, die zu neuen Rätseln und vielleicht ungewöhnlichen Ant-worten führen kann, und es nahe legt, die ausgetretenen Pfade abstrakt-nomothetisierender Theorien zu verlassen.

Die praktische Brauchbarkeit der Literatur – hier: der so genannten „guten“,auch ästhetisch anspruchsvollen – wird von zwei größeren Strömungen zeitge-nössischen Denkens bestritten. Die dem Ideal der intersubjektiven Nachprüf-barkeit anhängenden Sozialwissenschaften – seien es die am historischenDokument oder die an der exakt reproduzierbaren statistischen Erhebung ori-entierten – werden einwenden, dass es keine Möglichkeit gibt, die Reliabilitätder belletristischen Aussagen zweifelsfrei zu bestimmen. Unsere Beispiele ent-halten ganz oder weitgehend autobiographische Beschreibungen, aber natür-lich sind sie keine photographischen Wiedergaben der erinnerten Wirklich-keit. Doch wie viel weniger literarisch sind die wissenschaftlichen Beschreibun-gen und Erklärungen? Das Argument ist keines vom qualitativen Sprung, son-dern vom bestenfalls graduellen, nuancierten Unterschied: Hobsbawms Zynis-mus, der einen Erzählstil einführt, der auch ein gutes Stück vom distanziert-objektivierenden ,wissenschaftlichen‘ Duktus wegführt, bietet hier ein gutesBeispiel. Die zweite Strömung zeitgenössischen Denkens, die sich gegen einerealistische Interpretation von gesellschaftsbezogener Literatur richtet,stammt letztlich aus den Literaturwissenschaften selbst und trägt heute denNamen Postmodernismus oder Konstruktivismus/Dekonstruktivismus. Die-sem Ansatz sind alle Wirklichkeitsbezüge verdächtig und ist an der Welt alleskonstruiert. Wir haben hier jene sozialwissenschaftlichen Versuche zurückge-wiesen, die alles an „Nation“ oder „Nationalgefühl“ als scheinbar beliebig oderwillkürlich konstruiert betrachten. Zweifellos könnte man in geduldig-wissens-soziologischer Rekonstruktion zeigen, dass und inwiefern auch unsere Roman-autoren gestaltet und nicht nur abgebildet haben. Und dennoch halten wir ihreAnnäherungen für genauso wahrheitsfähig wie die der Sozialwissenschaftenselbst; auch hier ist es so, dass bei beiden eine wissenssoziologische Situierungihrer Aussagen möglich ist, ohne dass man im Irrgarten des Relativismus verlo-ren gehen muss.

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Anmerkungen1 Elias wörtlich: „Nationalstaaten sind, so könnte man sagen, in Kriegen und für Kriege

geboren.“ (Elias 1987: 277)2 In der Altersgruppe von 20–34; vgl. New York Times vom 10. 4. 2003.3 Um Irrtümern vorzubeugen: Natürlich gibt es zwischen dem hoch individualisierten, quasi

anonym erlebten und durch Imagination ergänzten Wir-Gefühl des Fußballfans (Hornbybeschreibt seine eigene Einsamkeit dabei sehr gut) und realen Gruppenerlebnissen einer-seits, dem Kollektivrausch der Nation andererseits auch Unterschiede. Die verbleibendenGemeinsamkeiten sind dennoch stark.

4 „L’oubli et je dirai même l’erreur historique, sont un facteur essentiel de la formationd’une nation et c’est ainsi que le progrès des études historiques est souvent pour la natio-nalité un danger.“ (Renan, nach Hobsbawm 1990: 12)

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