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Insel Verlag Leseprobe Vermes, Geza Vom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas Aus dem Englischen von Claus-Jürgen Thornton © Insel Verlag 978-3-458-71040-0

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Insel VerlagLeseprobe

Vermes, GezaVom Jesus der Geschichte zum Christus des Dogmas

Aus dem Englischen von Claus-Jürgen Thornton

© Insel Verlag978-3-458-71040-0

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Wie konnte aus dem Prediger undWunderheiler Jesus von Nazareth,der den nahen Anbruch der Gottesherrschaft verkündigte und amKreuz das Scheitern seiner Mission erfuhr, Jahre später die prä-existente zweite Person der Trinität werden? Dicht an den Quellenentlang schreitet Geza Vermes die wichtigsten Stationen auf diesemWeg ab.Für Vermes – Sohn jüdischer, zum Katholizismus konvertierter

Eltern, selbst etliche Jahre Priester, bevor er die katholische Kircheverließ und sich zu seinen jüdischen Wurzeln bekannte – ist dieseEntwicklung des Jesusbildes letztlich die Geschichte einer geschei-terten Akkulturation, in der durch die Verdrängung des jüdischenElements und unter dem Einfluss griechischen Denkens im Chris-tentum der historische Jesus fast bis zur Unkenntlichkeit verzeichnetwurde.

Geza Vermes (-) war ein aus Ungarn stammender britischerReligionshistoriker und Judaist. Schwerpunkte des renommiertenOxforder Professors waren das antike Judentum (besonders Qum-ran) und die Jesusforschung.

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GEZA VERMESVOM JESUS

DER GESCHICHTEZUM CHRISTUSDES DOGMAS

Aus dem Englischen vonClaus-Jürgen Thornton

VERLAG DERWELTRELIGIONEN

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Titel der Originalausgabe:Christian Beginnings. From Nazareth to Nicaea, AD -

London: Allen Lane Gefördert durch die

Udo Keller Stiftung Forum Humanum

Bibliographische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographischeDaten sind im Internet abrufbar.

http://dnb.ddb.de

Erste Auflage © Verlag der Weltreligionenim Insel Verlag Berlin

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das der Übersetzung,des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

oder unter Verwendung elektronischer Systemeverarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.Einband: Hermann Michels und Regina Göllner

Satz: Satz-Offizin Hümmer GmbH, WaldbüttelbrunnDruck: Druckhaus Nomos, SinzheimBindung: Conzella Verlagsbuchbinderei

Printed in GermanyISBN ----

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VOM JESUS DER GESCHICHTE ZUMCHRISTUS DES DOGMAS

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Für Margaret und Ian, in Liebe

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INHALT

Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charismatisches Judentum von Mose bis Jesus . . . . . Die charismatische Religion Jesu . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das charismatische Frühchristentum . . . . . . . . . . . . . . . Das Christentum des Paulus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das johanneische Christentum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Didache und Barnabasbrief . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die Apostolischen Väter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Apologeten und Theologen des zweitenJahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Drei Säulen der Weisheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nizäa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Vom Charisma zum Dogma – aus der

Vogelperspektive betrachtet . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachbemerkung des Übersetzers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Abkürzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Quellenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Namen und Sachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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EINFÜHRUNG

Über vierzig Jahre ist es her, seitdem ich mich erstmals auf dasGebiet der Jesusforschung gewagt habe, ein Unternehmen,das von Jesus the Jew (dt.: Jesus der Jude, ) gekrönt wur-de. Nach der Publikation von zwölf weiteren Büchern zumThema kam mir der Gedanke, die Reihe mit einem ganzandersartigen Werk abzurunden: einem Versuch, die histori-schen Verbindungslinien zwischen Jesus, wie er in seiner ga-liläisch-charismatischen Umwelt dargestellt wird, und demersten Ökumenischen Konzil von Nizäa im Jahr n.Chr.zu skizzieren, das feierlich seine Göttlichkeit zum christlichenDogma erhob.

Bei diesem Unterfangen, dem Entwicklungsbogen nachzu-spüren, werde ich besonderen Nachdruck auf die Frage legen,wie Jesus und das aufkommende palästinische Christentumdurch das charismatische Judentum geprägt wurden. Genau-so wichtig zu beachten ist der Einfluss, den die hellenistischeGedankenwelt und Mystik auf die frühen Gemeinden ausüb-ten, die innerhalb weniger Jahrzehnte nach der Kreuzigungin Sprache und Denken weitgehend griechisch wurden. DieseTendenz setzte mit Paulus und dem Vierten Evangelium einund war ab dem zweiten Jahrhundert für die Einwirkung pla-tonischer Philosophie auf die Formulierung christlich-theolo-gischer Vorstellungen verantwortlich. Den letzten, entschei-denden Anstoß gab Kaiser Konstantin, der Druck auf dieBischöfe des Konzils von Nizäa ausübte und sie zwang, dieFolgen ihres nicht enden wollenden religiösen Streits fürden inneren Frieden des römischen Staates zu bedenken.

Um das vollständige Bild zu erfassen, betrachten wir zu-nächst das Judentum. In religiöser Hinsicht waren damit imWesentlichen Menschen gemeint, die in das jüdische Volkhineingeboren wurden. Auch Jesus hat sich seinerseits aus-

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schließlich an Juden gerichtet und seinen Abgesandten aufge-tragen, sich nur an die »verlorenen Schafe des Hauses Israel«zu wenden. Freilich hieß das Judentum auch heidnische Pro-selyten willkommen, die bereit waren, die Einzigkeit Gotteszu bekennen und sämtliche religiöse Verpflichtungen des Mo-saischen Gesetzes auf sich zu nehmen. Die rituelle Initiationerfolgte durch die Proselytentaufe, die an Anwärtern wie An-wärterinnen vollzogen wurde, und durch die Beschneidungaller männlichen Bewerber. Es versteht sich von selbst, dassin verschiedenen Epochen der jüdischen Geschichte ein-schließlich des Zeitalters Jesu in gewissem Umfang eine Mis-sionstätigkeit unter Heiden entfaltet wurde; aber wie weit ver-breitet sie in jenen Tagen war und wie tief die eschatologischeVorstellung von Israel als dem Licht der Völker in das jüdi-sche Bewusstsein eindrang, bleibt in der Forschung weiterhinumstritten.1 Der Aufnahme von Heiden in die älteste juden-christliche Gemeinde ging ursprünglich wohl die Bekehrungzum Judentum voraus. Dass ein Nichtjude ihr Glaubensge-nosse wird, war für die ersten Anhänger der Jesusbewegungkaum vorstellbar. Doch keine zwanzig Jahre nach der Kreu-zigung lenkten die Spitzenvertreter der Kirche auf Druckdes Paulus ein und schafften die Vorbedingung ab, wonachzuerst das Mosaische Gesetz angenommen werden müsse,einschließlich der Beschneidung für Konvertiten. Sie ver-pflichteten Heiden, die zur Gemeinde gehören wollten, ledig-lich dazu, einige wenige Grundregeln zu beachten, ähnlichden Noachitischen Geboten, die Götzendienst, Blutverzehrund bestimmte Formen des Sexualverhaltens, die den Judenein Gräuel waren, untersagten.

Unterhalb des im Wesentlichen am Gesetz orientierten Ju-dentums gab es auch eine weniger formelle Frömmigkeits-strömung, die sich mit den Propheten verband und sich vonihnen, den einflussreichen Sprachrohren Gottes, inspirierenließ. Charismatische heilige Männer hielten sie bis hinab insZeitalter der Rabbinen lebendig. Diese Religiosität verlangteeine fromme Haltung gegenüber der Gottheit, deren Schutzvor Krankheit, vorzeitigem Tod, Ungerechtigkeit und Krieg

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ebenso erbeten wurde wie ihre Obhut für Arme, Witwen undWaisen. Nach Gottes Gunst trachtete man auch für ein lan-ges, glückliches Leben und für das Wohlergehen der Familieund in spätbiblischer Zeit gelegentlich für den Vorzug, auf ir-gendeine rätselhafte Weise der Unterwelt zu entkommen undjenseits des Grabes in irgendeiner Form von Leben nach demTod bei Gott zu sein.

In den frühen Stadien der biblischen Geschichte stand dasJudentum weniger für den Monotheismus – den Anspruch,dass es nur einen einzigen Gott gibt – als für die Monolatrie,was bedeutet, dass die Juden nur ihren eigenen Gott verehr-ten und das Pantheon der anderen Völker praktisch unbe-achtet ließen. In der Bibel findet sich keine vernunftgemäßeWiderlegung des Polytheismus; die schlichte Behauptung,die fremden Götter seien von Menschen aus Holz, Stein oderwertvollen Metallen hergestellte Götzenbilder, kann kaum alsintellektueller Beweis für die Nichtexistenz anderer Gotthei-ten gelten (obwohl sie noch jahrhundertelang von Juden undChristen nachgesprochen wurde). Konkret hatten Juden dergesellschaftlichen und politischen Attraktivität der Religionenihrer Nachbarvölker (Kanaanäer, Philister) zu widerstehenund noch viel mehr denen ihrer Oberherren: Ägypter, Assy-rer, Babylonier, Perser, Griechen und Römer. Die Verehrungfremder Götter wurde nicht so sehr als ein Irrtum angesehendenn als Bruch einer mystischen monogamen Ehe zwischendem Himmelskönig und seiner Braut, dem erwählten Volk Is-rael. Erst unter dem Einfluss der Propheten der exilisch-nachexilischen Zeit im sechsten vorchristlichen Jahrhunderttrat Monotheismus im eigentlichen Sinne – der Gedankeeines einzigen Gottes, der für die Schöpfung der Welt unddie Erschaffung des Menschen verantwortlich ist – ins jü-dische Bewusstsein, zusammen mit der Überzeugung, dassnur dieser Gott zuletzt von der gesamten Menschheit in ge-botener Weise anerkannt werden wird. Monotheismus bliebder Kampfbegriff der Juden, während den Christen sowohlvon Juden als auch von Heiden die Kritik entgegenschlug,ihr monotheistischer Anspruch sei unberechtigt.

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Bezüglich der Eigenart der jüdischen Religion ist eines ge-wiss unstrittig: Intellektuelle religiöse Spekulation als solchespielte in der hebräischen und aramäischen jüdischen Litera-tur, die in der Zeit des Zweiten Tempels nach dem Baby-lonischen Exil und in den späteren Jahrhunderten der Misch-na, des Midrasch und des Talmud verfasst wurde, keine Rolle.Die Werke Philos von Alexandrien und Josephus’ Schrift Ge-gen Apion bilden in der Antike die wichtigsten Ausnahmen aufdiesem Gebiet. Sie waren jedoch auf Griechisch verfasst, ent-weder für heidnische Leser oder für durch und durch helleni-sierte Juden. Vor dem zehnten nachchristlichen Jahrhundertbrachten Juden keine theologischen Traktate in einer semi-tischen Sprache hervor mit der einen möglichen Ausnahmeder – in die Handschrift der Gemeinderegel aus Höhle vonQumran aufgenommenen – ›Unterweisung über die zweiGeis-ter‹ beziehungsweise ›Zwei-Geister-Lehre‹ aus dem ersten vor-christlichen Jahrhundert, worin der göttliche Schöpfungs-zweck und die Geschicke der Menschheit zusammenfassenddargelegt werden.

Das Judentum war in erster Linie eine Religion der Tat. Ab-gesehen von der Zustimmung zu der einen Lehraussage bezüg-lich der Einzigkeit Gottes lief es imWesentlichen auf eine Le-bensform hinaus. Im Tempel oder in der Synagoge, zuhauseoder am Arbeitsplatz wurde Religion durch den Gehorsamgegenüber den Satzungen praktiziert, von denen man glaubte,dass sie von der Gottheit erlassen worden seien. Diese Vor-schriften, vor allem das Gesetz Moses, wurden von der Kasteder levitischen Priester, die als die von Gott ernannten Wäch-ter von Gerechtigkeit und Frömmigkeit galten, weitergegebenund interpretiert. Ihr Monopol blieb bis ins zweite vorchrist-liche Jahrhundert unangefochten, als Laienintellektuelle – diePharisäer, die ihre Autorität ihrer Gelehrsamkeit verdankten –es ihnen streitig zu machen begannen. Die Führerschaft überdie Pharisäer sollte nach der Zerstörung des Tempels an ihreErben übergehen, die Rabbinen.

Die Religion Jesu war im Wesentlichen ein Aufruf zur es-chatologischen Tat; aber das anschließende Christentum, ob-

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wohl es ebenfalls auf Werken bestand und noch eine Zeitlangeschatologisch blieb, wurde von Paulus und Johannes in eineReligion des Glaubens umgestaltet. Ungeachtet seiner jüdi-schen Wurzeln entwickelte es sich in eine fundamental eigen-ständige Bewegung, die sich bereits bei Ignatius von Antio-chien zu Beginn des zweiten Jahrhunderts n.Chr. auf einBekenntnis gründete, und nahm mit Justin in der Mitte deszweiten Jahrhunderts eine philosophische Wendung. Die dasChristentum beherrschenden Merkmale waren der Glaubebezüglich des Wesens der Gottheit, die genaue Bestimmungvon Jesu Christi Person und Heilswerk und die erlösendeFunktion der einen, wahren Kirche. Von rechtem Glaubenhing ab, ob einer dazugehörte oder draußen war. Das persön-liche Verhalten auf religiösem Gebiet stand demgegenübererst an zweiter Stelle. Buße, obwohl von frühchristlichen Ri-goristen nur ein einziges Mal nach der Taufe zugelassen,konnte Sünden heilen, und durch tätige Reue ließ sich jedesUnrecht wiedergutmachen, solange der Glaube da war.

Verglichen mit dem Judentum stellte der kosmopolitischeCharakter des Christentums einen zweiten wesentlichen Un-terschied dar. Schon wenige Jahrzehnte nach der Kreuzigungwandte sich die Kirche vom jüdischen Tempel ab, und baldnach n.Chr. setzte die christliche Ablösungstheorie (›Su-persessionismus‹) ein, die sich auf die Ansicht gründete, dassdie Zerstörung Jerusalems und seines Heiligtums die Verwer-fung der Judenheit durch Gott und ihre Ersetzung durch einneues Gottesvolk erwiesen habe. Des Weiteren führte gegenEnde des ersten Jahrhunderts die zunehmende Unempfäng-lichkeit der Juden für die Predigt der Apostel und Missionarezu einer immer stärker werdenden Kräfteverschiebung in derJesusbewegung zugunsten hellenistischer Heidenchristen. Ih-nen ging es vor allem um die Rolle Christi bei der Erlösungder Menschheit, um seine überirdische Präexistenz, was seinegöttliche Hervorbringung vor der Zeit und seine Schöpfungs-mittlerschaft für den Kosmos vor Anbeginn der Geschichteerforderte. Das Denken der Kirchenväter unterschied sichvon dem Jesu ganz erheblich. Die Hauptaufgabe, die der Pro-

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phet aus Nazareth seinen galiläischen Jüngern auferlegte, wardas Streben nach der Gottesherrschaft in der Unmittelbarkeitdes Hier und Jetzt. Bis zum frühen vierten Jahrhundert wardas von ihm gepredigte praktische, charismatische Judentumin eine intellektuelle Religion umgewandelt, die vom Dogmabestimmt und gelenkt wurde.

Dieses Buch will seine Leser auf dem Entwicklungsgangvom Jesus der Geschichte zum vergöttlichten Christus desKonzils von Nizäa geleiten.

Oxford, Juli Geza Vermes

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1CHARISMATISCHES JUDENTUM

VON MOSE BIS JESUS

Der Vorstellung vom Charisma, ganz allgemein gefasst, wur-de erstmals von dem berühmten deutschen Soziologen MaxWeber (-) Geltung verschafft:

Der charismatische Held leitet seine Autorität nicht wie ei-ne amtliche »Kompetenz« aus Ordnungen und Satzungenund nicht wie die patrimoniale Gewalt aus hergebrachtemBrauch oder feudalem Treueversprechen ab, sondern ergewinnt und behält sie nur durch Bewährung seiner Kräfteim Leben. Er muß Wunder tun, wenn er ein Prophet, Hel-dentaten, wenn er ein Kriegsführer sein will.1

Den Begriff ›charismatisches Judentum‹ habe ich in Je-sus der Jude 2 in die bibelwissenschaftliche Terminologie ein-geführt. Da manche Leser den Ausdruck verwirrend findenmögen, beginne ich dieses Buch mit einem Überblick überdieses Phänomen in den biblischen Erzählungen von derFrühgeschichte Israels bis zum ersten Jahrhundert nach derZeitenwende, mit anderen Worten, von Mose bis Jesus.

Die landläufige offizielle, nichtcharismatische jüdische Re-ligion des alttestamentlichen Zeitalters drehte sich um Tem-pel und Thora, das Gesetz Moses. Die Bibel berichtet, dassdie Israeliten nach dem Auszug aus Ägypten Gott zunächstin einem beweglichen Zeltheiligtum in der Wüste Sinai ver-ehrt hätten. Nachdem sie sich in Kanaan niedergelassen hat-ten, taten sie das in zahllosen Tempeln an verschiedenen Or-ten Palästinas. Zuletzt, nach der Schließung der Kultstätten inder Provinz, beteten sie Gott in einem einzigen Heiligtum inder Hauptstadt, Jerusalem, an.

Die Thora wiederum ist eine sich ständig weiterentwickeln-de verpflichtende religiöse Lehre bezüglich der jüdischen Le-

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bensart. Sowohl die Durchführung des Kultes als auch dieUnterweisung im Gesetz und dessen Anwendung befandensich in den Händen einer erblichen Priesterschaft – zunächstdes ganzen Stammes Levi und dann, ab dem späten siebtenJahrhundert v.Chr., als nur noch das Jerusalemer Heiligtumin Betrieb war, der privilegierten Priesterfamilie der Aaroni-ten. Ab der Mitte des zweiten Jahrhunderts v.Chr. trat dieLaienbewegung der Pharisäer in Konkurrenz zu den Priesternals Gesetzesausleger, einschließlich der Vorschriften bezüg-lich der Tempelzeremonien.

Kurz zuvor brach auch innerhalb der Reihen der Priester-schaft ein Wettstreit aus. Nach der Ermordung des HohenPriesters Onias III. v.Chr. kehrte dessen Sohn, OniasIV., Jerusalem den Rücken und errichtete im ägyptischenLeontopolis im Nildelta ein Konkurrenzheiligtum. Tatsäch-lich führten seine Nachkommen dort ihr Amt fort, bis ihrschismatisches Kultzentrum das Schicksal Jerusalems teilenmusste und von den Römern im Jahr / n.Chr. zerstörtwurde. Als die Familie der Makkabäer die Hohepriesterwürdein Jerusalem im Jahr v.Chr. an sich gerissen hatte, sagtensich ihre Widersacher, die Essener von Qumran, vom natio-nalen Heiligtum los und ersetzten es durch einen geistigenTempel innerhalb ihrer Gemeinschaft, in dem Gebet und einheiliger Lebenswandel an die Stelle von Dankesgaben undOpfern traten; gleichwohl hatten sie die Hoffnung, am Endeder Tage die Leitung des nationalen Kultes in der Hauptstadtwieder zu übernehmen. Trotz dieser Umwälzungen im Inne-ren blieb Jerusalem für die meisten palästinischen Juden undauch für die frommen Besucher aus der Diaspora Dreh- undAngelpunkt des religiösen Lebens, besonders während derdrei jährlichen Wallfahrtsfeste. Der Tempelkult kam im Jahr n.Chr. mit der Zerstörung Jerusalems am Ende des Gro-ßen Aufstandes der Juden gegen Rom zum Erliegen. Vonda an wurden die Synagogen, die außerhalb Jerusalems imHeiligen Land und jenseits seiner Grenzen bereits religiöseZentren waren, die einzigen Sammelplätze jüdischen Gottes-dienstes.

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Und doch existierte seit den frühen Jahrhunderten nebender organisierten Form der Priesterreligion immer schon einezweite Spielart. Sie beanspruchte, auf direkter VerbindungmitdemGöttlichen zu gründen. Auf ihrer höchsten Ebene wurdediese Strömung durch ein offenbarungsgegründetes prophe-tisches Judentum repräsentiert. Es war die Religion Mosesam brennenden Dornbusch und auf dem Gipfel des BergesSinai, ererbt von den alttestamentlichen Propheten, führen-den Persönlichkeiten, die den Herrschern Israels Vorhaltun-gen machten und das Volk zu erleuchten versuchten. IhreWorte sind in der Bibel erhalten geblieben.

Unterhalb dieser Ebene gab es zu allen Zeiten auch einevon den öffentlichen Zentren und der Priesterbürokratie ab-geschnittene Volksfrömmigkeit, die ebenfalls von charisma-tischen Erscheinungen wie Ekstase und Wundertätigkeit ge-prägt war. Da sie nicht Teil der Mehrheitsreligiosität war undhäufig mit Königen und Tempelpersonal aneinandergeriet,wurde sie nur sporadisch aufgezeichnet. Gleichwohl überleb-te sie bis in die Zeit Jesu und darüber hinaus, ja sogar bis indie Neuzeit, unter Juden in Gestalt des chassidischen ›Wun-derrebbe‹ und unter Christen in Gestalt der Pfingstler unter-schiedlicher Denominationen. Ohne diese Art des charisma-tischen Judentums lassen sich die typischen Züge der ReligionJesu und des frühen Christentums nicht richtig erfassen.

Charisma, das heißt der Erweis gottgegebener Kraft, ist in derBibel von der Zeit Moses bis in die Ära des Neuen Testamentsbezeugt, aber seine eindrücklichste biblische Demonstrationfand ungefähr zwischen und v.Chr. statt. Die Strö-mung war mit drei frühen prophetischen Gestalten – Samuel,Elia und Elisa – verknüpft, die auch ›Männer Gottes‹ genanntwurden. Um das Wesen des charismatischen Judentums zubegreifen, müssen deshalb die Begriffe ›Prophet‹ und ›MannGottes‹ untersucht werden.

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Beginnen wir mit der Prophetie: Der Wörterbuchdefini-tion zufolge ist ein Prophet ein Lehrer, der die Zukunft vor-hersagt, und ›prophezeien‹ ist ein transitives Verb und meintdas Überbringen einer göttlichen Botschaft. Die hebräischeWurzel Nun-Bet-Aleph (›prophezeien‹) vermittelt eine Vor-stellung, die sich von den analogen altgriechischen, latei-nischen oder neusprachlichen Begriffen deutlich unterschei-det. Sie bezeichnet nicht die Mitteilung himmlischer Pläneoder Unterweisungen, sondern beschreibt stattdessen – inder reflexiven Verbform – die Verfassung des Propheten. Tat-sächlich erfuhr eine solche Person in den Augen des außen-stehenden Betrachters eine prophetische Verzückung oderEkstase, ausgelöst durch den göttlichen Geist, der für ihr selt-sames Gebaren verantwortlich gemacht wurde. Die nächstenmodernen Parallelen sind das Auftreten der muslimischenMystiker, der sogenannten Sufis oder tanzenden Derwische,die sich imVerlauf eines ekstatischen Tanzes ins eigene Fleischritzen und sich selbst verletzen, oder (in einer nicht so extre-men Form) die Trance schwärmerischer Gottesdienstteilneh-mer in Pfingstkirchen.

Der Zustand des ›Prophezeiens‹ erscheint erstmals in ge-mäßigter Gestalt in den ersten fünf Büchern der Bibel, demPentateuch. Mose, ein mit Wunderkraft ausgestatteter Visio-när, war der Prototyp schlechthin. Ehe er den Juden das gött-liche Gesetz überbrachte, stand er unter dem Bann des Geis-tes Gottes.

Niemals wieder ist in Israel ein Prophet wie Mose auf-getreten. Ihn hat der Herr Auge in Auge berufen. Keinerist ihm vergleichbar, wegen all der Zeichen und Wunder,die er in Ägypten im Auftrag des Herrn am Pharao, an sei-nem ganzen Hof und an seinem ganzen Land getan hat,wegen all der Beweise seiner starken Hand und wegen allder Furcht erregenden und großen Taten, die Mose vorden Augen von ganz Israel vollbracht hat.(Dtn ,-)

Der Geist, der Mose beseelte, ging auch auf die siebzig Äl-testen seines Rates über. Bei diesem speziellen Anlass führten