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Wissensorganisation im Medium zunehmender Komplexität Der enzyklopädische Wandel vom 15. - 20. Jahrhundert [email protected] Abstrakt The 18th century libraries were beautiful and manageable. Limited and manageable was also the totality of human knowledge. Today’s electronic helpers were not yet necessary. The 18th century marks also an important change how knowledge was organized. In the age of Enlightenment a turning away from an inflexible and creation centered system towards an open and flexible organization of knowledge took place. The changing can be traced very well by looking at the examples of three encyclopedic forms of knowledge organization: the „Margarita Philosophica“ of Gregor Reisch at 1508, the "Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers" of Dennis Diderot and Jean Le Rond d’Alembert, that has been created between 1750 and 1780, and the Memex concept by Vannevar Bush published in 1945. They all are popular examples of knowledge organization that minted without a doubt the thinking of a whole society. Einleitung Abb.1: Herzogin Anna-Amalia-Bibliothek 1 Prachtvoll, vor allem aber überschaubar, präsentiert sich die Welt des Wissens, organisiert in einer Bibliothek des 18. Jahrhunderts (siehe Abb.1). Es ist eine Zeit, in der die Menge an gespeichertem Wissen noch ohne elektronische Hilfen bewältigt werden konnte. 2 Und wenngleich sich das Wissen an naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Errungenschaften im 18. Jahrhundert bereits auffallend häufte, 3 so war das in der Bibliothek gespeicherte Wissen dennoch begrenzt, räumlich erfassbar, physisch begehbar und geistig durchschaubar. Es liess die Möglichkeit der Durchdringung, Erfassbarkeit und Beherrschung allen Wissens vermuten, derer ambitionierte, genievolle Individuen 4 anstrebten. Ein Buch hatte noch etwas Erhabenes und Machtvolles. Wissen einmal auf Papier geschrieben oder gedruckt, beanspruchte lange Zeit Gültigkeit, erhob höchsten Anspruch auf Wahrheit. 5 Die Vorstellung all dieses Wissen beherrschen zu können, verlieh Sicherheit. Das 18. Jahrhundert kann als wichtiger Wendepunkt der Organisation allen Wissens und damit auch des Denkens markiert werden. In der Zeit der Aufklärung markiert es die Abkehr von einem starren, dem Schöpfungsgedanken anhaftenden System und die Hinwendung zu einer offenen, zunehmend flexibleren Organisation des Wissens. Und mehr noch: Es markiert den Wandel der Überschaubarkeit allen Wissens, indem die neuen Organisationsmodelle zur (enzyklopädischen oder lexikalischen) Darstellung von Wissen sich von der Theologie als dem höchsten Wissen trennten und bereits auf ein flexibles Netz zunehmender Komplexität verweisen. Es bleibt zu fragen, ob diese neue Fülle an Wissen und deren zunehmend komplexer werdenden Zusammenhänge, welche im Reichtum an Verknüpfungen heute deutlich geworden sind, ein Gewinn oder ein Verlust des Wissens für den Einzelnen bedeutet. In jedem Fall aber prägt ein in enzyklopädischer Weise organisiertes Wissen das Denken einer ganzen Gesellschaft. Um dieses deutlich zu machen, wird nachfolgend in der Analyse von drei Beispielen unterschiedlicher Epochen insbesondere auf die Reduktion der zunehmenden Komplexität eingegangen. Die Art und Weise wie die komplexen Zusammenhänge von Wissen reduziert und bestimmten Kategorien und Organisationsstrukturen untergeordnet werden, lässt die allgemeinen Schemata des Denkens einer Gesellschaft sichtbar werden. Es soll festgestellt werden wie mit dem immer umfangreicher gewordenen Wissen über die Zeit von fast fünfhundert Jahren umgegangen wurde, dieses immer wieder auf eine gewisse Überschaubarkeit reduziert werden konnte und in dieser das Denken der jeweiligen gesellschaftliche Epoche geprägt hat. Das Medium der zunehmenden Komplexität ist wie jedes Medium, das in Relation zu seiner Form steht, zunächst unsichtbar, und dennoch durch seine Form hindurch zu erahnen. 6 Betrachten wir die Formen der drei nachfolgend erläuterten Beispiele zur enzyklopädischen Wissensorganisation, so erkennen wir in der Veränderung dieser drei Formen auch das Medium der zunehmenden Komplexität. 7 Bei allen drei Beispielen handelt es sich um populäre Werke, welche starken Einfluss auf das gesellschaftliche Denken ihrer Zeit übten.

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Wissensorganisation im Medium zunehmender Komplexität Der enzyklopädische Wandel vom 15. - 20. Jahrhundert

[email protected]

Abstrakt The 18th century libraries were beautiful and manageable. Limited and manageable was also the totality of human knowledge. Today’s electronic helpers were not yet necessary. The 18th century marks also an important change how knowledge was organized. In the age of Enlightenment a turning away from an inflexible and creation centered system towards an open and flexible organization of knowledge took place. The changing can be traced very well by looking at the examples of three encyclopedic forms of knowledge organization: the „Margarita Philosophica“ of Gregor Reisch at 1508, the "Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers" of Dennis Diderot and Jean Le Rond d’Alembert, that has been created between 1750 and 1780, and the Memex concept by Vannevar Bush published in 1945. They all are popular examples of knowledge organization that minted without a doubt the thinking of a whole society. Einleitung

Abb.1: Herzogin Anna-Amalia-Bibliothek1

Prachtvoll, vor allem aber überschaubar, präsentiert sich die Welt des Wissens, organisiert in einer Bibliothek des 18. Jahrhunderts (siehe Abb.1). Es ist eine Zeit, in der die Menge an gespeichertem Wissen noch ohne elektronische Hilfen bewältigt werden konnte.2 Und wenngleich sich das Wissen an naturwissenschaftlichen Entdeckungen und technischen Errungenschaften im 18. Jahrhundert bereits auffallend häufte,3 so war das in der Bibliothek gespeicherte Wissen dennoch begrenzt, räumlich erfassbar, physisch begehbar und geistig durchschaubar. Es liess die Möglichkeit der Durchdringung, Erfassbarkeit und Beherrschung allen Wissens vermuten, derer ambitionierte, genievolle Individuen4 anstrebten. Ein Buch hatte noch etwas Erhabenes und Machtvolles. Wissen einmal auf Papier geschrieben oder gedruckt, beanspruchte lange Zeit Gültigkeit, erhob höchsten Anspruch auf Wahrheit.5 Die Vorstellung all dieses Wissen beherrschen zu können, verlieh Sicherheit. Das 18. Jahrhundert kann als wichtiger Wendepunkt der Organisation allen Wissens und damit auch des Denkens markiert werden. In der Zeit der Aufklärung markiert es die Abkehr von einem starren, dem Schöpfungsgedanken anhaftenden System

und die Hinwendung zu einer offenen, zunehmend flexibleren Organisation des Wissens. Und mehr noch: Es markiert den Wandel der Überschaubarkeit allen Wissens, indem die neuen Organisationsmodelle zur (enzyklopädischen oder lexikalischen) Darstellung von Wissen sich von der Theologie als dem höchsten Wissen trennten und bereits auf ein flexibles Netz zunehmender Komplexität verweisen. Es bleibt zu fragen, ob diese neue Fülle an Wissen und deren zunehmend komplexer werdenden Zusammenhänge, welche im Reichtum an Verknüpfungen heute deutlich geworden sind, ein Gewinn oder ein Verlust des Wissens für den Einzelnen bedeutet. In jedem Fall aber prägt ein in enzyklopädischer Weise organisiertes Wissen das Denken einer ganzen Gesellschaft. Um dieses deutlich zu machen, wird nachfolgend in der Analyse von drei Beispielen unterschiedlicher Epochen insbesondere auf die Reduktion der zunehmenden Komplexität eingegangen. Die Art und Weise wie die komplexen Zusammenhänge von Wissen reduziert und bestimmten Kategorien und Organisationsstrukturen untergeordnet werden, lässt die allgemeinen Schemata des Denkens einer Gesellschaft sichtbar werden. Es soll festgestellt werden wie mit dem immer umfangreicher gewordenen Wissen über die Zeit von fast fünfhundert Jahren umgegangen wurde, dieses immer wieder auf eine gewisse Überschaubarkeit reduziert werden konnte und in dieser das Denken der jeweiligen gesellschaftliche Epoche geprägt hat. Das Medium der zunehmenden Komplexität ist wie jedes Medium, das in Relation zu seiner Form steht, zunächst unsichtbar, und dennoch durch seine Form hindurch zu erahnen.6 Betrachten wir die Formen der drei nachfolgend erläuterten Beispiele zur enzyklopädischen Wissensorganisation, so erkennen wir in der Veränderung dieser drei Formen auch das Medium der zunehmenden Komplexität.7 Bei allen drei Beispielen handelt es sich um populäre Werke, welche starken Einfluss auf das gesellschaftliche Denken ihrer Zeit übten.

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Das erste Beispiel ist die „Margarita Philosophica“8 („Die philosophische Perle“), welche von Gregor Reisch in den Jahren 1489 und 1496 in lateinischer Sprache verfasst, jedoch erstmals 1503 in Freiburg herausgegeben wurde. Die kurz darauf folgende, 2. Auflage wurde bereits reichlich mit wunderschönen, detailverliebten Holzschnitten bebildert. Das Gesamtwerk enthält zwölf Kapitel auf insgesamt etwa 652 Seiten.9 Die Margarita Philosophica wurde insbesondere in Deutschland zu einem der wichtigsten Kompendien in der universitären Ausbildung und erlebte bis zum Ende des 16. Jahrhunderts elf Auflagen. In der Form eines überblicksorientierten Lehrbuchs ist es der Kategorie der Enzyklopädien zugehörig. Die Margarita Philosophica gibt einen eindrucksvollen Einblick in das universitäre Curriculum und den Status Quo der vermittelten wissenschaftlichen Erkenntnisse im späten Mittelalter und zu Beginn des 16. Jahrhunderts. Das zentrale Werk, das den Wandel im 18. Jahrhundert markiert, ist die grosse französische Encyclopédie: „Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers“10 (Enzyklopädie oder ein durchdachtes Wörterbuch der Wissenschaften, Künste und des Handwerks), welche bereits in der Form eines Nachschlagewerks konzipiert, von einer Gruppe von „Enzyklopädisten“ unter der Leitung des Philosophen Denis Diderot, erstellt wurde. Der erste Textband wurde im Jahre 1751 gemeinsam mit Diderots geistesverwandten Partner, dem Philosophen und Mathematiker Jean Le Rond d’Alembert, in Paris herausgegeben. Bis zum Jahre 1765 entstanden siebzehn umfangreiche Folio-Bände; bis 1772 wurden zudem elf Tafelbände mit detaillierten Illustrationen aus allen Bereichen der Wissenschaft, der Technik und des praktischen Lebens veröffentlicht; bis 1777 folgten vier Supplement-Textbände und ein Supplement-Tafelband und bis 1780 zwei Indexbände. Das Gesamtwerk erreichte einen Umfang von fünfunddreißig Bänden mit cirka 60200 alphabetisch geordneten Stichworten. Die Encyclopédie gilt als das entscheidende Werk der Aufklärung und war aufgrund massiver staatlicher und kirchlicher Repressalien mehrmals gefährdet. Bei dem letzten Beispiel handelt es sich nicht um eine Enzyklopädie im eigentlichen Sinne und doch wird es hier in der Gegenüberstellung verwendet, da es sich ebenso wie bei den ersten beiden Beispielen um die Gesamtheit des Wissens und deren Organisation geht. Es handelt sich dabei um das Konzept der „Memex“ (Memory Extender) von Vannevar Bush, das im Juli 1945 in der amerikanischen Zeitschrift The Atlantic Monthly unter dem Titel „As We May Think“ veröffentlicht wurde.11 Als Leiter der Büros für wissenschaftliche Forschung und Entwicklung der amerikanischen Regierung hat Bush die Aktivitäten von mehr als sechstausend führenden amerikanischen Forschern koordiniert. Vor dem Hintergrund, dass das angesammelte Wissen nicht mehr überschaubar ist und oftmals auch nicht aufgefunden und genutzt wird, wenn es gebraucht wird, entwickelte Bush eine Idee, welche geradezu visionär wesentliche Züge der Computerentwicklung vorweg nimmt. Die „Margarita Philosophica“ (Gregor Reisch, 1508)

Abb.2: Margarita Philosophica, Titelbild, 1508

Im 16. Jahrhundert wurden Bücher, welche die Gesamtheit des Wissens darzustellen beabsichtigten, noch nicht als Enzyklopädien bezeichnet. Als eigene Buchgattung setzten sich diese mit entsprechenden Buchtiteln erst im 17./18. Jahrhundert durch. Dennoch gab es bereits die Vorstellung von einer enzyklopädischen Bildung, welche auf die Begriffe enkyklios (Vollkreis) und paideia (Bildung) der griechischen Antike zurückzuführen ist. Den „Kreis der Bildung“ wörtlich genommen, ist im Titelblatt der Margarita Philosophica ein markanter Ring zu sehen, der die geflügelte, dreiköpfige Figur der Margarita Philosophica und die Figurengruppe der Sieben Freien Künste (lat. Septem artes liberales)12 umschließt (Abb.2). Außerhalb ist der Ring umgeben mit den Personen und Fächern höherer Bildung (links unten Aristoteles für die Naturphilosophie, rechts unten Seneca für die Moralphilosophie, am oberen Rand die vier Kirchenväter Augustinus, Gregor, Hieronymus und Ambrosius für die Theologie). Der Ring selbst ist beschriftet, wobei der Schriftzug alle Fächer der Grundbildung und der höheren Bildung zu einem vollständigen Kreis des Wissens zusammenfasst. Diese Darstellung wird nicht nur als einführendes Titelbild,

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sondern auch am Ende des Buches, vor Beginn des alphabetisch sortierten Index, präsentiert. Das Bild repräsentiert somit zugleich den Beginn und den Abschluss des Kreises der Bildung. Es repräsentiert die Gesamtheit und zugleich die Einheit des Wissens. Bei der Margarita Philosophica handelt es sich um eines der erfolgreichsten enzyklopädischen Hand- und Lehrbücher des gesamten 16. Jahrhunderts. Die Popularität wird vor allem dem kompilatorischen Charakter zugeschrieben. Es sind insbesondere die Septem artes liberales, welche im ersten Teil des Buches in sieben aufeinander folgenden Kapiteln zusammenfassend dargestellt werden. So ersetzte dieses Buch eine ganze Zahl andere, viel benutzte Handbücher, die jeweils nur einer dieser Disziplinen galten. Es ist eine seit der Antike und bis heute beliebte Methode das angesammelte Wissen durch charakteristische Unterscheidungen auf wenige, überschaubare Kategorien zu reduzieren, die als einzelne Fachdisziplinen einem zusammenfassenden Begriff unterstellt werden. Auf diese Weise kann das gesellschaftliche Denken einer bestimmten Ordnung unterstellt, sowie Überschaubarkeit und Orientierung geschaffen werden. Um das Ordnungssystem des gesellschaftlichen Denkens im Spätmittelalter besser nachvollziehen zu können, ist die Betrachtung vom „Turm des Wissens“ oder „Turm der Bildung“ von besonders einsichtsreicher Bedeutung (Abb.3).13 Diese Darstellung folgt nur wenige Seiten nach dem oben bereits beschriebenen Titelbild und eröffnet zugleich das erste Kapitel der Sieben Freien Künste, das Kapitel der Grammatica. Das Bild trägt den Titel „Typus Grammaticae“. Jedes Kapitel der Sieben Freien Künste beginnt mit einer solchen, jeweils dem Kapitel spezifischen Typus-Tafel. Die Tafel vom Typus Grammaticae ist jedoch von besonderer Wichtigkeit:

Abb.3: Margarita Philosophica, Typus Grammaticae, 1508

Sie markiert den Ort der grundlegenden Literarisierung - die Grammaticae als den Ursprung und die Basis des gesamten weiteren Wissens, wobei das griechische Wort „grammata“ alle drei der heute sogenannten Kulturtechniken umfasst: Lesen, Schreiben und Rechnen.14 Die übergrosse Figur repräsentiert die Sprachlehre, wird auch als Nikostrate bezeichnet und gilt als Erfinderin der lateinischen Schriftzeichen.15 Sie schließt den Tempel der Weisheit auf und überreicht einem ankommenden Schüler eine große Buchstabentafel. Die Schrift am Eingang heisst „Congruitas“ und bezeichnet den ersten Abschnitt der Grammatik. Im untersten Geschoss unterrichtet der Grammatiker DONATUS. Ein Schüler befindet sich bereits auf der Treppe in die nächste Etage, wo PRSICIAN den Unterricht in die höhere Sprachlehre fortsetzt.16 Darüber erhebt sich, im Bildungswert durch eine reich verzierte Balustrade unterschieden, ein turmartiger, von Etage zu Etage sich verjüngender Bau. Die Fächer der Freien Künste werden hier deutlich von den maßgebenden Autoritäten der einzelnen Disziplinen vertreten: In der unteren Reihe – von links nach rechts (entsprechend den im Buch aufeinander folgenden Kapiteln): ARISTOTELES für die Logik, TULLIUS für Rhetorik und Poesie und BOETHIUS für die Arithmetik. Im darüberliegenden vierten

Stockwerk befinden sich wiederum drei Lehrer: Es sind PYTHAGORAS für die Musik, EUKLID für die Geometrie und PTOLEMÄUS für die Astronomie. Diese vier Stockwerke repräsentieren die Sieben Freien Künste, bestehend aus dem Trivium (Grammatik, Rhetorik Logik), den sogenannten sprechenden Wissenschaften und dem Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie), den sogenannten rechnenden Wissenschaften. Diese sind die Grundlage für den Weg zur höheren Bildung, die im einführenden und abschließenden Buchtitel außerhalb des kanonischen Rings positioniert ist und damit möglicherweise eine Entlassung der Schüler aus der Grundausbildung versinnbildlichen soll. So werden die artes liberales ergänzt: im fünften Stockwerk erneut repräsentiert durch ARISTOTELES, diesmal jedoch für die Physik und SENECA für die Moralphilosophie - sowie, als abschließende Krönung des gesamten Bildungsgangs – an der Spitze des

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Turmes – der Scholastiker Petrus Lombardus für Theologie und Metaphysik. Die Darstellung zeigt, dass die einzelnen Fächer nicht willkürlich oder gleichberechtigt nebeneinander stehend gesehen werden sollen. Bildung wird als sukzessiver Aufstieg begreifbar, wobei der Status der einzelnen Fächer und ihre näher und ferner liegenden Wechselbeziehungen untereinander noch vor Beginn des ersten Kapitels in dieser hohen Anschaulichkeit nachdrücklich festgeschrieben werden. In dieser baulichen, unveränderbaren Statik wird so die Ordnung allen weiteren Denkens vorgebildet. Es ist ein hierarchisches, pyramidenartiges System. Diejenigen, welche sich auf der untersten Ebene befinden, kommen nicht eher mit denjenigen auf der obersten Ebene in Kontakt bevor sie sämtliche Zwischenstufen abgeschlossen haben. Der Theologie und Metaphysik wird der höchste Bildungswert zugeschrieben, alle anderen Fächer sind von geringerem Wert. In jedem Fall ist die Gesamtheit des Wissens jener Zeit in dieser Darstellung gut zu überschauen, ebenso der Bildungsweg und Bildungswert. Um genauer erkennen zu können, wie dieses gesellschaftliche Bild der Welt zustande kommt, sollen nun wichtige Merkmale zusammengefasst werden, welche die Komplexität der Natur auf eben genau diese Welt, auf genau diese Ordnung des Denkens reduzieren. Die Reduktion der Komplexität wird grundlegend zunächst dadurch erkennbar, dass die bis dahin angesammelten Schriften und Theorien in der neuen enzyklopädischen Buchgattung zusammengefasst werden. Dazu werden die wichtigsten, über verschiedene Werke sich wiederholende, Informationen extrahiert. Wichtige Lehrmeinungen werden in diesem Zuge auch nicht mehr isoliert vermittelt und vertreten. Anstatt dessen werden die verschiedenen Auffassungen wichtiger Philosophen und Kirchenväter zusammengeführt und sind nun durch die unmittelbare Gegenüberstellung in ein- und demselben Werk gleichzeitig erfassbar und reflektierbar. Verschiedene Argumente und theoretische Ausrichtungen werden durch diese enzyklopädische Reduktion wieder überschaubar. Das zunehmende Wissen wird durch Subsummierung auf wenige Haupt-Disziplinen reduziert. Die einzelnen Disziplinen stehen weder isoliert, noch können diese ihre Ordnung ändern, was zu Verwirrung, Unsicherheit und zusätzlichen Denkleistungen führen würde. Es gibt nur die eine Ordnung – alles Wissen ist auf diese eine feststehende Ordnung reduziert, welche im Kreis des Wissens, sowie im Turm des Wissens fest verankert ist. In diesem anschaulichen und statischen System verschafft es den Lernenden Orientierung und Sicherheit; Treppen markieren den richtigen Weg. Alles erscheint einfach überschaubar zu sein. Der im Titelbild markante Ring verdeutlicht den immerwährenden Versuch alles Wissen auf etwas Grösseres, Zusammenhängendes und Ganzes reduzieren zu können. Auch im Text selbst wurde durch Anmerkungen an den Seitenrändern immer wieder versucht einen Bezug auf das makroskopisch reduzierte Ganze herzustellen. Vereinzelt auftauchende, narrative Elemente sollen in ihrer Folge zu einer grossen übergeordneten, logischen Erzählung zusammengefügt werden. Wem es gelingt, die Erzählung von Anfang bis Ende zu erfassen, dem soll sich letztendlich das grosse Ganze erschliessen. Das ständige Provozieren der Vorstellung von etwas Ganzen in einer stabilen Ordnung aller Dinge verweist auf etwas Absolutes, Endgültiges. Es bietet die Möglichkeit der Überschaubarkeit allen Wissens. Warum aber konnte das Wissen lange Zeit in diesem abgeschlossenen Kreis des Wissens verharren, die Welt als etwas Absolutes und dies als die Wahrheit vermitteln? Um dies besser fassen zu können, ist ein Blick auf das mittelalterliche Verfahren für die Entdeckung des Unerforschten hilfreich. Es ist auf ein induktives Verfahren zurückzuführen, das sich lediglich zwischen den menschlichen Sinnen oder dem Einzelnen und feststehenden, allgemeingültigen, obersten philosophischen Sätzen bewegen kann, aus denen sodann die mittleren Sätze gebildet werden. Es ist die maßgebende Logik des Aristoteles, welche das gesamte Mittelalter beherrschte. Von dieser überlieferten Annahme, dass die Welt auf der Grundlage von obersten philosophischen Sätzen und ihrer „unerschütterlichen Wahrheit“ ein- für allemal und so abschliessend erschlossen werden könne, will sich bereits Francis Bacon im Jahre 1620 trennen, und er veröffentlicht sein Hauptwerk: „Novum organum, sive indicia vera de interpretatione naturae“. Es wird „Novum organum“ bezeichnet, weil es die aristotelische Logik – das „Organum“ des bisherigen Denkens neu begründen soll: „There are and can be only two ways of searching into and discovering truth. The one flies from the senses and particulars to the most general axioms, and from these principles, the truth of which it takes for settled and immovable, proceeds to judgment and to the discovery of middle axioms. And this way is now in fashion. The other derives axioms from the senses and particulars, rising by a gradual and unbroken ascent, so that it arrives at the most general axioms last of all. This is the true way, but as yet untried.“17 Das wahre induktive Verfahren bezieht sich demnach auf eine allmählich erkennbare Natur, gelangt erst zuletzt zu den allgemeinsten, obersten Sätzen und setzt diese nicht schon voraus. Maßgebend für Bacons gesamte Neubegründung der Ordnung des Wissens und der Wissenschaften sind die drei Fähigkeiten des menschlichen Intellekts: Gedächtnis, Vernunft und Phantasie, von denen alles weitere Wissen abgeleitet werde. Bacons wissenschaftliche Arbeiten basieren auf der Erwartung eines ständig steigenden Zuwachses an Kenntnissen. Ein

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tatsächliches Umdenken konnte sich jedoch erst mit der Aufklärung im 18. Jahrhundert und der grossen französischen Encyclopédie von Denis Diderot und Jean Baptiste Le Rond d’Alembert durchsetzen. Die grosse Encyclopédie (Denis Diderot & Jean Baptiste Le Rond d’Alembert, 1780) Wird der Anbruch in eine neue Zeit des Wissens oft mit dem Aufkommen von Buchdruck und der damit verbundenen Vervielfältigung und Verbreitung von Wissen um 1500 markiert, so wird die tatsächliche Umorientierung, die tatsächliche Umgestaltung des gesamten Wissens und Denkens zweifellos am Ende des 18. Jahrhunderts erkennbar. Die in den Jahren 1751 bis 1780 von Dennis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert herausgegebene Enzyklopädie beeinflusste ein nachhaltiges Umdenken in ganz Europa.18 Die Encyclopédie war ein verbotenes Buch.19 Die Encyclopédie „war die Ursache des größten Kampfes um die Meinungsfreiheit des 18. Jahrhunderts und wurde zur Bibel der Aufklärung.“20 Als die großen Philosophen der Aufklärung lebten, waren die eigentlichen Schöpfer des neuen Wissens, die Gründer der neuen Mathematik, Physik, Chemie, Astronomie, Biologie, Psychologie, Erkenntnistheorie schon dahingegangen. Kepler und Newton haben mit der Aufklärung nicht viel zu tun, dennoch haben sie der Aufklärung die Waffen geliefert.21 Hatte der Mensch lange Zeit versucht sich die Naturkräfte mit Weissagung und schwarzer Magie untertan zu machen, mit Aberglauben, strengen Riten und sogar mit einer „Wissenschaft der Engel und Dämonen“22, so wurden nun die modernen Wissenschaften entdeckt und verbreitet, die durch die Vernunft aus empirischer Beobachtung erzeugt wurden. Warum aber war die Encyclopédie gefährlich? Die Encyclopédie wurde in Abkehr vom Christentum geschrieben. Doch die eigentliche Gefahr bestand weniger darin, dass die Encyclopédie einige kirchenkritische Anmerkungen enthielt, als vielmehr in der Tatsache, dass Wissenschaft auf radikal neue Weise dargestellt wurde. So wurde der epistemologische Grund gewechselt und die Kategorien des Wissens neu geordnet, wobei die katholische Kirche nicht mehr Teil der Welt des Wissens war; ihre Lehren hatten keinen Raum bei den Wissenschaften. Um die neue Ordnung des Wissens besser zu veranschaulichen, entwarfen Diderot und d’Alembert ihren Baum des Wissens, zum einen in der Darstellung eines „Figürlich dargestellten Systems der Kenntnisse des Menschen“ (Abb.4) und zum anderen in der Darstellung vom „Stammbaum des menschlichen Wissens“ (Abb.5 – ein Ausschnitt vom Stamm).

Abb. 4: Encyclopédie, Figürlich dargestelltes System der Kenntnisse des Menschen, 1751

Abb. 5: Stammbaum des menschlichen Wissens (Ausschnitt) aus dem Prospekt der Encyclopédie von Denis Diderot, 1750

Aus diesen Darstellungen geht der neue, weniger bedeutende Stellenwert der „Wissenschaft von Gott“ (Science de Dieu) deutlich hervor. Weder nimmt diese eine zentrale Position ein noch sticht sie durch besondere Größe hervor. Theologie und Religion wird gemeinsam mit allen anderen Zweigen menschlicher Erkenntnis auf ein- und denselben Ursprung reduziert, welcher im Stamm des Baumes dargestellt wird, den Verstand (L’Entendement). Dieser wird wiederum dreifach untergliedert: der dicke, umfangreich besetzte Stamm in der Mitte ist der Vernunft (La Raison) gewidmet; der mittelstark besetzte Stamm bzw. Zweig zur linken Seite wird dem Gedächtnis (La Memoire) zugeordnet und der relativ mager besetzte Zweig zur rechten Seite der Einbildungskraft (L’Imagination). In dieser Gliederung folgen Diderot und d’Alembert ihrem Vorbild Francis

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Bacon – und wie er, leiten auch sie das gesamte menschliche Wissen von den Fähigkeiten des menschlichen Intellekts ab: „Von unseren Fähigkeiten haben wir unsere Kenntnisse abgeleitet. Die Geschichte verdanken wir dem Gedächtnis, die Philosophie der Vernunft & die Poesie der Einbildungskraft. Eine fruchtbare Einteilung, der sogar die Theologie sich fügt; denn in dieser Wissenschaft leiten sich die Tatsachen doch von der Geschichte ab & beziehen sich auf das Gedächtnis, auch die Prophezeiungen, die nur eine Art Geschichte sind, bei der die Erzählung dem Ereignis vorausgeht.“23 Den Baum des Wissens, den Bacon in The Advancement of Learning (1605) dargestellt hat, ebenfalls als Entwurf einer Enzyklopädie, konnten Diderot und d’Alembert jedoch nicht ohne weiteres übernehmen, da Bacon die Göttliche und Natürliche Theologie an der Spitze des Baums positionierte und der Offenbahrungstheologie einen eigenen Baum mit reichem Blattwerk zugestand. Robert Darnton schreibt in seiner kleinen Geschichte der Encyclopédie: „Wenn man ihren Baum [von Diderot und d’Alembert] über Bacons säkularen Baum legt und die begleitenden Kommentare vergleicht, kann man genau sehen, wo sie von seinem Vorbild abwichen, um so viel wie möglich von der Theologie zu eliminieren.“24 Auch der Baum des Wissens von Ephraim Chambers’ Cyclopaedia, welche die Ausganglage für die französische Encyclopédie bildete,25 hielt an der Theologie als die Königin der Wissenschaften fest – nicht nur aufgrund der beherrschenden Stellung im Geäst der rationalen Wissenschaften, sondern auch aufgrund der methodisch im Selbsterhaltungszweck aufeinander schließenden Künste und Wissenschaften. Eine vernünftige und zeitgemäße Organisation des Wissens war Diderot und d’Alembert überaus wichtig. Keinesfalls wollten sie ein undurchdachtes Wissenssystem adaptieren noch sollte es lediglich ein weiteres, jener zusammenhangloser Wörterbücher sein von denen es bereits etliche gab. So teilten die beiden Franzosen mit dem Engländer Chambers auch die Schwierigkeit, die darin lag, die enorme Menge an Wissen überhaupt überschauen und in eine Ordnung bringen zu können. Chambers: „Die Schwierigkeit liegt in der Form und ihrer Organisation, dass sie keine verworrenen Haufen unzusammenhängender Teile bilden, sondern ein zusammenhängendes Ganzes...“26 Diderot: „Mit dem englischen Autor haben wir erkannt, dass der erste Schritt zur sinnvollen & wohldurchdachten Ausarbeitung einer Enzyklopädie darin bestehen muss, einen Stammbaum aller Wissenschaften & Künste aufzustellen, der den Ursprung jedes Zweiges unserer Kenntnisse, ihre wechselseitigen Verbindungen & ihren Zusammenhang mit dem gemeinsamen Stamm zeigen & uns dazu dienen sollte, die verschiedenen Artikel in Beziehung zu ihren Hauptgegenständen zu bringen.“27 Ob dieses Bestreben gelungen ist und ein überschaubares System menschlicher Kenntnisse entstehen konnte, soll nun geprüft werden. Reduziert werden konnte das gesamte Wissen in der Tat zunächst auf genau einen Ursprung, den Verstand. Im Stamm des Baumes steht dieser als Symbol menschlicher Geisteskräfte, als Symbol des menschlichen Intellekts. Es wird das neue anthropozentrische Weltbild der Moderne deutlich. Der Mensch steht im Mittelpunkt der Welt, fest verwurzelt und dennoch in alle Richtungen wachsend. Der Mensch wird zum Massstab und Vorbild allen Wissens. Betrachten wir den Menschen und das System seiner Kenntnisse genauer, so fällt schon im Titel der Encyclopédie auf, dass nicht nur akademische Bildung, sondern auch das Handwerk (Métier) eine Rolle spielt. Dass dieses Wissen in eine Enzyklopädie aufgenommen wird, zumal in einem übergrossen, umfangreich besetzten Zweig des Baumes, war durchaus keine Selbstverständlichkeit. Im kurzen Artikel über das Handwerk schreibt der anonyme Enzyklopädist: „Ich weiss nicht, warum sich mit diesem Wort eine Geringschätzung verbindet [...] Das Altertum machte Götter aus denen, die Handwerke erfanden; die späteren Zeiten zogen die, welche sie vervollkommnet haben, in den Schmutz. [...] Der Dichter, der Philosoph, der Redner, der Minister, der Krieger, der Held liefen nackt herum & hätten kein Brot, wenn nicht jener Handwerker wäre, den sie zum Gegenstand ihrer schrecklichen Verachtung machten.“28 Wurde in der Gesellschaft des 18. Jahrhunderts noch sehr deutlich auf die Klassen-Unterschiede der Menschen Wert gelegt (allein die prachtvolle Kleidung der Adligen vergegenwärtigte diesen Unterschied tagtäglich), und ist es nicht ohne Grund zur Französischen Revolution gekommen, so reduziert die Encyclopédie nun alle Menschen – unabhängig von Rang oder Bildung – auf den Verstand, den der Stamm des Baumes repräsentiert. In diesem wird jeder Einzelne weniger in Klassen unterteilt als vielmehr lediglich auf die Gattung Mensch reduziert, wobei sich der Einzelne in mehreren Sparten des Wissens gut auskennen kann. Diderot hat kein Verständnis für die Unvollständigkeit jener Enzyklopädien oder Wörterbücher, welche es nicht schaffen die Gesamtheit des Wissens in den Blick zu bekommen. So kritisiert er auch Chambers „Cyclopaedia“: „Chambers hat Bücher gelesen, aber wohl kaum Handwerker besucht; doch viele Dinge erfährt man nur in den Werkstätten selbst. Zudem geht es hier mit den Auslassungen nicht wie in einem anderen Werk. Eine Enzyklopädie duldet – streng genommen – keine Auslassung.“29 Diderot „mildert“ jedoch diese Unzulänglichkeit in Rücksicht auf die Umstände, dass Chambers höchstpersönlich und ausschließlich seine „Cyclopaedia“ schrieb: „Man darf also nicht überrascht sein, dass ein einzelner bei dem Projekt der Behandlung aller Wissenschaften & Künste gescheitert ist. Staunen muss man vielmehr darüber, dass ein

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Mensch so kühn & so beschränkt war, dies allein zu versuchen. Wer behauptet, er wisse alles, beweist nur, dass er die Grenzen des menschlichen Geistes nicht kennt.“30 Die grosse französische Encyclopédie ist anders: Mit Akademiker und Handwerker als gemeinsame Gruppe beginnt und schliesst dieses Buch. Sie bilden eine gemeinsame Gruppe in der Autorenschaft, als Käufergruppe und als Leserschaft. Als gemeinsame Gruppe führt dieses Buch sie in den Kreis der Bildung ein; Akademiker und Handwerker werden auf denselben Stamm menschlicher Fähigkeiten reduziert. Als gemeinsame Gruppe verantworten sie die Gesamtheit des vorliegenden Wissens. Diderot bemerkt: „Wenn man den unermesslichen Stoff der Enzyklopädie überblickt, erkennt man deutlich nur eins: nämlich dass sie keinesfalls das Werk eines einzigen Menschen sein kann.“31 Konnte das Werk der Margarita Philosophica noch von einem einzigen Menschen verfasst werden, so lässt die zunehmende Fülle an Wissen das einstige Ideal der Überschaubarkeit und Beherrschbarkeit allen Wissens allmählich immer weiter in die Ferne rücken. Pierre Lévy stellt rückblickend fest: „Es war die Zeit, als Diderot und d’Alembert ihre große Enzyklopädie herausgaben. Bis zu dieser Zeit konnte eine kleine Gruppe die Gesamtheit des Wissens (oder zumindest die wichtigsten Elemente) beherrschen und anderen das Ideal dieser Beherrschung vermitteln. Das Wissen... man konnte es noch zusammenfassen.“32 Forschen wir nach wie groß diese Gruppe der Enzyklopädisten um Diderot und d'Alembert war, so stellen wir jedoch fest, dass es insgesamt 139 namentlich bekannte Autoren gibt.33 Darunter soll sich auch eine Frau befunden haben, die bisher jedoch nicht identifiziert werden konnte. Auch wenn es im Kern immer dieselben Autoren waren oder je nach Fachgebiet eine kleinere Gruppe identifiziert werden konnte,34 so bestätigt die umfangreiche Beteiligung an der Encyclopédie doch das Ende der Überschaubarkeit allen Wissens für den Einzelnen.35 So verwundert es auch nicht, wenn der Baum des Wissens im Detail Mängel aufzeigt in der angestrebten Darstellung der „wechselseitigen Verbindungen“ des Wissens „& ihren Zusammenhang mit dem gemeinsamen Stamm“. Der Baum des Wissens, der „dazu dienen sollte, die verschiedenen Artikel in Beziehung zu ihren Hauptgegenständen zu bringen“. Die einzelnen Artikel untereinander sind nicht vernetzt, ebenso wie auch die Zweige eines Baumes nicht miteinander verflochten sind, lediglich die Beziehung der Artikel zu ihren jeweiligen Hauptgegenständen ist zumeist ersichtlich. So steht zu jedem enzyklopädischen Eintrag der jeweils zugehörige Hauptgegenstand in Klammern dahinter, wie die folgenden Beispiele zeigen: „Handwerk – Métier (Grammatik)“; „Gesunder Verstand – Bon-sens (Metaphysik)“; „Methode – Méthode (Logik)“; „Verjüngung – Rajeunissement (Medizin)“; „Vergewaltigung – Viol (Grammatik & Jurisprudenz)“; „Gewalt – Pouvoir (Naturrecht & Politik)“. Jeder Begriff wird zumeist eindeutig, d.h. genau einem Hauptgegenstand zugeordnet, hin- und wieder auch zwei oder mehr Hauptgegenständen, selten sogar fünf und mehr Hauptgegenständen, wie beispielsweise bei „Physik“ und „Seele“ – zwei Themenbereiche, die zu jener Zeit zweifellos in größtem Kontrast zueinander standen, grösste Aufmerksamkeit und so manchen Konflikt mit dem eigenen Glauben hervorgerufen haben dürften: „Physik – Physique (Verstand, Vernunft, Philosophie oder Wissenschaft, Naturwissenschaft)“; „Seele – Âme (Verstand, Vernunft, Philosophie oder Lehre von den Geistern, von Gott, von den Engeln, von der Seele)“ Es fällt auf, dass beide Artikel zunächst auf genau dieselben Hauptgegenstände reduziert wurden, auf Verstand, Vernunft und Philosophie und sich erst dann in der Zuordnung zu weiteren jeweils speziellen Hauptgegenständen unterscheiden. Dies mag den einen oder anderen in der Tat zum Nachdenken angeregt haben; nicht umsonst ist die Encyclopédie zur Bibel der Aufklärung erklärt worden. Es kommt aber auch vor, dass ein Eintrag bzw. Artikel offenbar überhaupt nirgends zugeordnet werden kann, somit völlig isoliert bleibt, jedenfalls aus dem „Kreis des Wissens“ hinausgeworfen scheint und – streng genommen – dann auch nicht dem Verstand entspringen kann. In der Tat scheint sich dies zu bestätigen, wenn wir einen genaueren Blick auf die Begriffe werfen, bei denen uns diese Heimatlosigkeit begegnet – es sind Begriffe wie: „Furz – Pet“ oder „Hässlichkeit – Laideur“. Mag uns so manche zuvor dargestellte Zuordnung bereits etwas suspekt erschienen sein, so scheint es nun, als würden selbst Diderot und d’Alembert nicht mehr ganz so viel Klarheit haben woher das Wissen entspringt und in welchen wechselseitigen Verbindungen es steht. Offenbar kann doch nicht alles Wissen nur dem einen Ursprung (und Ziel), dem Verstand, zugeordnet werden. Auch der zentrale Begriff vom „Handwerk – Métier (Grammatik)“ stiftet Verwirrung. Die Zuordnung zum Hauptgegenstand Grammatik ist im Baum des Wissens in keiner Weise nachvollziehbar – im Gegenteil, es scheint sich hier eher um sehr konträre Themenbereiche zu handeln, denn die Grammatik wird auf einen völlig anderen Zweig gesetzt als die Handwerkskunst, die beide zudem unterschiedlichen Fähigkeiten entspringen. Die Grammatik entspringt der Vernunft wogegen die Handwerkskunst dem Gedächtnis entspringt.

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Prüfen wir das Wissenssystem genauer und vergleichen drei einander gleichartige Begriffe, so versetzt auch dies in Verwunderung: Begriffe wie „Amerika – Amérique“ finden keine Zuordnung, wogegen es bei „Leipzig – Leipsie, Leipzick ou Leipzig (Geographie)“ kein Problem zu sein scheint; Wien wird sogar der modernen Geografie zugeordnet: „Wien – Vienna (Moderne Geografie)“. Dies erstaunt im Vergleich zu Amerika umso mehr, war Wien doch schon reich kultiviert bevor Amerika überhaupt entdeckt wurde. Bei genauerer Analyse lässt sich also insgesamt feststellen, dass der Baum des Wissens an sich und isoliert betrachtet zunächst zwar gut geordnet und überschaubar erscheint; das Bestreben das gesamte Wissen und die gesamte Komplexität des Systems in und zwischen den Artikeln und dem dargestellten Wissensbaum endet jedoch eher in Verwirrung und Chaos. Es scheint der Preis zu sein für die Öffnung und freie Entfaltung des Wissens. Der Baum als Symbol der belebten Natur hat die Fähigkeit zu wachsen als auch sich zu vermehren und zu verändern. Was wir mit Diderots und d’Alemberts Baum des Wissens lernen, ist der Appell an den menschlichen Verstand. Der Verstand, versinnbildlicht im Stamm des Baumes, ist nicht nur Ursprung, sondern auch Ziel allen Wissens – in diesem schliesst sich der Kreis des Wissens – nicht endgültig, sondern stetig entfaltend. Die „Memex“ (Vannevar Bush, 1945) Vannevar Bush erkannte, dass der menschliche Verstand anders funktioniert als die gängige Organisation des Wissens im bibliothekarischen Alltag. Die Speicherung und das Auffinden von Wissen in enzyklopädischen Werken und Bibliotheken erfolgt zumeist numerisch, alphabetisch oder nach Themen katalogisiert. Diese Form der Wissensorganisation ist jedoch äußerst umständlich, erfordert nicht selten wochenlanges Suchen, um die für die eigene Arbeit relevanten Informationen zu finden und zu selektieren. Eine Information kann nur wieder gefunden werden (wenn überhaupt), indem das jeweilige Kategoriensystem in seinen hierarchischen Verzweigungen von einer Unterabteilung zur nächsten Unterabteilung durchsucht wird. Die gesuchte Information kann nur an einem Platz sein, sei denn es existiert ein Duplikat. Um eine Information auffinden zu können, muss den richtigen Verzweigungen und Pfaden gefolgt werden. Dies bedarf wiederum der Kenntnis bestimmter Regeln, welche umständlich sind. Hinzu kommt, dass nach jedem Suchvorgang und eventuell gefundener Information das gesamte System wieder verlassen werden muss, um für das Auffinden einer weiteren Information erneut anzusetzen. Zwischen den Verzweigungen kann nicht recherchiert werden. Dieses zeitaufwendige Verfahren entspricht ganz und gar nicht dem menschlichen Denken: „The human mind does not work that way. It operates by association. With one item in its grasp, it snaps instantly to the next that is suggested by the association of thoughts, in accordance with some intricate web of trails carried by the cells of the brain. It has other characteristics, of course; trails that are not frequently followed are prone to fade, items are not fully permanent, memory is transitory. Yet the speed of action, the intricacy of trails, the detail of mental pictures, is awe-inspiring beyond all else in nature.“36 So erkennt Bush, dass die Organisation des Wissens im menschlichen Verstand mittels assoziativer Pfade funktioniert. Kaum ist eine Information gefunden, taucht auch schon die andere mittels Gedankenassoziation auf. Die Prozessgeschwindigkeit, die Komplexität der Pfade und die Detailgenauigkeit geistiger Bilder sind beeindruckender als alles andere in der Natur. Vannevar Bush ist begeistert von diesen geistigen Fähigkeiten und konzipiert eine Maschine, welche diesem Vorbild der Natur nahe kommen soll. Wurde das Wissen bisher aufwendig durch Indexierung organisiert, so soll die gesamte Organisation des Wissens nun in erster Linie auf die Möglichkeit des Anlegens individueller, assoziativer Pfade reduziert werden.

Abb. 6: Memex – Apparatur, 1945

Abb. 7: Memex – Display, 1945

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Die erste Abbildung (Abb. 6) zeigt die Apparatur der Memex, ein Schreibtisch mit einer Reihe von Eingabe- und Verarbeitungsgeräten. Dieses neuartige Möbelstück soll eine so grosse Speicherkapazität haben, dass es Hunderte von Jahren dauern würde diesen Schreibtisch zu füllen. Neben der neuen Idee das Wissen individuell, nach assoziativen Pfaden zu organisieren, sollen aber auch die traditionellen Methoden der Wissensorganisation weiterhin möglich sein. Bücher können mithilfe der herkömmlichen Indexierungssysteme aufgefunden und auf dem Bildschirm in der Mitte des Schreibtisches projiziert werden. Die zweite Abbildung (Abb. 7) fokussiert das Display und wie ein zukünftiger Nutzer dies verwenden kann. Auf dem rechten Bildschirm können eigene Kommentare oder Zeichnungen ergänzt werden, welche auf die Informationen des linken Bildschirms Bezug nehmen. Die neuen Informationen werden auf Supermikrofilm fotografiert und durch Eingabe passender Codesymbole am unteren Rand mit den bereits vorhandenen Informationen verknüpft. Dies ist das Kernstück der Memex: Ein Vorgang, der zwei Einträge miteinander verknüpft. Das in der Abbildung dargestellte Beispiel bezieht sich auf ein Anwendungsszenario, das Vannevar Bush in seinem Text beschreibt. In diesem geht um Pfeil und Bogen und wieso der kurze türkische Bogen bei den Gefechten der Kreuzzüge dem englischen Langbogen offensichtlich überlegen war: „He has dozens of possibly pertinent books and articles in his memex. First he runs through an encyclopedia, finds an interesting but sketchy article, leaves it projected. Next, in a history, he finds another pertinent item, and ties the two together. Thus he goes, building a trail of many items. Occasionally he inserts a comment of his own, either linking it into the main trail or joining it by a side trail to a particular item. When it becomes evident that the elastic properties of available materials had a great deal to do with the bow, he branches off on a side trail which takes him through textbooks on elasticity and tables of physical constants. He inserts a page of longhand analysis of his own. Thus he builds a trail of his interest through the maze of materials available to him.“37 In diesem Schreibtisch-Modell der Memex zeigt sich deutlich wie die Organisation vom Kreis des Wissens sich verschoben hat. Der ursprünglich einheitliche Kanon des Wissens hat sich auf ein individuelles Netz assoziativer Pfade reduziert. Die Ordnung der Gesamtheit des Wissens ist nicht mehr in einer objektiven Darstellung einer vom einzelnen Menschen unabhängigen Außenwelt zugänglich. Das gesellschaftliche Denken nachfolgender Generationen wird nicht mehr der bereits vorhandenen Organisation der Ausswelt fraglos unterworfen und uneingeschränkt angepasst; vielmehr wird die Aussenwelt dem individuellen und gesellschaftlichen Denken angepasst. Der einzelne Mensch wird nicht mehr im Kanon des Wissens einem Objektivierungsprozess unterzogen; stattdessen findet eine Subjektivierung der mechanischen Apparatur statt. Der Kreis des Wissens ist nicht bereits vorhanden, sondern entsteht erst im Schaffensprozess der Benutzer. Wissen ist relativ geworden und aktualisiert sich fortlaufend. Die Überschaubarkeit des Wissens reduziert sich methodisch auf die Kenntnisse der Indexierungsverfahren und inhaltlich auf die Pfade, die betreten werden. Würde das Netz der assoziativen Pfade visualisiert werden, so würde der aktuelle Kreis des Wissens, der aktuelle Kreis gesellschaftlichen Denkens sichtbar werden: Pfade, welche aufgrund häufiger Verwendung besonders stark ausgeprägte Kreise im Netz des Wissens ziehen, dominieren; andere Pfade dagegen verblassen oder werden gar nicht erst geknüpft. Wissen mit geringem Zugriff verblasst, wird vergessen, würde zunehmend aus dem Kreis des Wissens herausfallen. Wissen ist individuell und hoch spezialisiert. Bedeutung und Rang einzelner Wissensbereiche sind nicht vorbestimmt, sondern ergeben sich aus dem Netz der Verweise. Der menschliche Verstand ist nicht mehr lediglich Ursprung, sondern aktives Moment in der Entstehung von Wissen. Der Prozess selbst ist es, der den menschlichen Verstand so interessant macht; dieser ist es, der die Memex als erweitertes Gedächtnis und damit den Menschen beherrscht. Es muss keine Gruppe von Personen mehr organisiert werden, welche das System des menschlichen Wissens nachbildet. Das System des Wissens wird durch die mechanische Apparatur selbst gebildet. Umso mehr Wissen in die Apparatur gefüttert wird, desto mehr verliert der Einzelne oder eine Personengruppe den Überblick. Immer seltener stellt die Menschheit das (soziale) Netzwerk dar, in welchem der Kreis des Wissens erarbeitet und festgeschrieben wird; das ausgelagerte System kann diese Arbeit im Netzwerk des Wissens übernehmen; in diesem entsteht und verändert sich nun fortlaufend das grosse Bild der Organisation allen Wissens. Conclusion - Zusammenfassender Vergleich Die Gegenüberstellung der drei Beispiele konnte zeigen, wie das Enzyklopädische, das im „Kreis des Wissens“ manifestiert ist, sich vom 15. bis zum 20. Jahrhundert im Wesentlichen gewandelt hat. In der Margarita Philosophica hat sich der Kreis des Wissens bereits im Titelbild als markanter Ring gezeigt, der insbesondere die Artes Liberales als grundlegende Fächer einschließt und im Turm des Wissens die jeweilige Positionierung in einer feststehenden, unveränderlichen Ordnung anzeigt. Im letzten Kapitel des Buches und an der Spitze des Turmes angelangt, schliesst der Kreis der Bildung mit der Theologie und Metaphysik als höchstes Wissen. Es ist ein absolutes, abgeschlossenes System. In der grossen französischen Encyclopédie beginnt und endet der

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Kreis des Wissens im Stamm des Baumes. Dort ist der Ursprung für die Entstehung von Wissens zu finden als auch das Ziel für die Rezeption des Wissens, das im fortlaufenden Wachstum seine auf den Verstand reduzierten Kreise zieht. In der Memex ist der Kreis des Wissens weder stabil oder abgeschlossen noch für alle Personen gleichartig. Wissen und Denken ist relativ. Die Stabilität des Kreises vollzieht sich im Netz der assoziativen Pfade, welche weniger bereits vorgegeben und damit passiv rezipiert und wiedergegeben werden als vielmehr aktiv durch individuelle Beteiligung kreiert werden. Überschaubarkeit wird in Gregor Reischs pyramidenartigen Turm des Wissens erst erreicht, wenn sich eine Person im bottom up Prinzip kontinuierlich von ganz unten, im Durchlaufen aller Ebenen bis ganz oben hinaufgearbeitet hat. In Diderots und d’Alemberts Baum des Wissens wird dagegen im top down Verfahren vorab ein Überblick verschafft und verliert sich erst dann im Detail der Verzweigungen. Im Netz des Wissens der Memex ist Überschaubarkeit nicht gegeben bzw. wird erst im assoziativen Netz individuell erarbeitet. Abschließend werden wichtige Merkmale der drei präsentierten Beispiele zusammenfassend gegenübergestellt.

Pyramide: hierarchisch, starrer, abgeschlossener Denkprozess

Baum: hierarchisch, wachsender, offener Denkprozess

Netz: assoziativer Denkprozess, individuelles Wissensnetz

- Wissensinhalte sind auf eine akademische Bildung ausgerichtet

- Wissensinhalte schliessen auch Handwerkskünste ein, nicht nur akademische Bildung

- Wissensinhalte können jederzeit und ohne Begrenzung (auf Kapazität oder eine bestimmten Inhalt) erweitert werden

- ein geschlossenes, starres Wissenssystem

- ein offenes, aber unflexibles Wissenssystem

- ein offenes, flexible Wissenssystem

- Wissen ist gut überschaubar

- Wissen ist umfangreich, das Wissenssystem selbst bereits komplex und mitunter verwirrend, Wissen ist jedoch in Begrenzung auf die Buchform überschaubar

- Wissen ist in der Gesamtheit keinesfalls mehr überschaubar, Überschaubarkeit reduziert sich auf das individuell angelegte Wissenssystem

- es besteht ein einheitliches Wissen

- ein einheitlich, gemeinsames Wissen ist in Bezug auf die wichtigsten Elemente möglich

- ein einheitlich, gemeinsames Wissen ist nicht mehr möglich

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- das Subjekt wird der allgemeingültigen, feststehenden (Schöpfungs-)Ordnung des Wissens untergeordnet

- das Subjekt wird den Fähig-keiten des menschlichen Intellekts untergeordnet, dem System der Kenntnisse des Menschen

- es besteht individuelles, fachspezifisches Wissen, welches dem Subjekt und dessen Interessen untergeordnet wird

- Einfügung in den Kanon des Wissens; Auswendiglernen; Wiedergabe feststehender oberster Sätze

- Einfügung weniger in den Kanon des Wissens als vielmehr mehr in den Entdecker- und Forschergeist

- kein Kanon des Wissens; stark Lernerzentriert: Erforschung des Wissens

- ein Einzelner hat das Wissen überschaut und das Werk verfasst

- eine grössere Gruppe hat verteilt gearbeitet, jeder auf seinem Gebiet bzw. jene Gebiete, die er beherrschte (zunehmende Herausbildung von Fachexperten)

- jeder kann mitarbeiten; voranging, um das eigene Wissen zu vermehren

und anschlussfähig zu machen; zweitrangig als Aufgabe das Wissen

für andere aufzubereiten - Organisches Wachstum des Wissens ist nicht möglich

- Organisches Wachstum des Wissens ist nur innerhalb der jeweiligen Zweige möglich (nicht der Zweige untereinander)

- Organisches Wachstum in der Gesamtheit des Wissens

- Wissen ist kontrollierbar

- Wissen ist eingeschränkt kontrollierbar

- Wissen in der Gesamtheit ist nicht kontrollierbar

Oft ist die Rede vom „Kreis des Wissens“, doch kaum im Detail thematisiert oder vergleichend gegenübergestellt. Mit diesem Beitrag konnte ein Ansatz dargestellt werden, wie die unterschiedlichen Kreise des Wissens durch Beobachtung komplexitätsreduzierender Merkmale nachgezeichnet werden können. Wissen als auch Denken, einst so absolut, ist nun sehr relativ geworden. Es bedarf noch weitere Spezifikationen in der Analyse und insbesondere Erweiterung in der Analyse des gegenwärtigen Kreises des Wissens, der sich im Beispiel der Wikipedia besonders erfolgreich zeigt. 1 Die Herzogin Anna Amalia Bibliothek im Stil der Weimarer Klassik gehört seit dem 18. Jahrhundert zu den bekanntesten Bibliotheken in Deutschland. Ein bedeutender Vertreter, der die Bibliothek u.a. ihren Ruhm verdankt, ist Johann Wolfgang von Goethe. In der Nacht 2./3. September 2004 verbrennt ein grosser Teil des Bibliotheksbestands. Der Bibliotheksbrand gilt als der größte in Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg. 2 Dazu ganz im Gegenteil die unüberschaubare, kaum zu bewältigende Menge an Bücher in heutigen, oft an chronischem Platzmangel leidenden, Bibliotheken bzw. Fachbibliotheken. Vgl.: Giesecke, Michael: „ Buchkultur – Exemplarische Anamnese und Diagnose“ unter: http://www.mythen-der-buchkultur.de/Mythen3D.htm; last accessed: 04/2007 Die WebSite www.mythen-der-buchkultur.de - kurz: 'Mythen 3D' - ist Teil des transmedialen Projektes: Von den Mythen der Buchkultur zu den Visionen der Informationsgesellschaft – Trendforschungen zur kulturellen Medienökologie. 3 Zusammengefasst wurde dieses Wissen in dem populären Werk der grossen französischen Encyclopédie von Denis Diderot und Jean Le Rond d’Alembert. Jacques Le Goff berichtet rückblickend auf diese Zeit über die Reichweite dieser Enzyklopädie: „Die Encyclopédie verbreitete die Vorstellung, dass die Menschheit in Europa unter materiellen, wissenschaftlichen und philosophischen Gesichtpunkten Entdeckungen gemacht habe, die alles überträfen, was seit der Antike gegolten habe. Das war die Vorstellung vom „Fortschritt“, der die Europäer beflügelte und den sie in der ganzen Welt verbreiteten.“ Jacques Le Goff (1997): erzählt Die Geschichte Europas. Sonderausgabe für die Bundeszentrale für politische Bildung. Campus Verlag Frankfurt/New York 1997 (Die französische Originalausgabe erschien 1996 unter dem Titel: L’Europe racontée aux jeunes, bei Editions du Seuil, Paris), S. 63 4 Von „genievolle Individuen“ spricht Wilhelm von Humboldt und bezeichnet damit jene, die in der Lage sein sollen, das Ganze zu überschauen, um damit vor sich selbst verständlich zu werden; und verurteilt gleichzeitig die anderen, welche das nicht tun: „Der Mathematiker, der Naturforscher, der Künstler, ja oft selbst der Philosoph beginnen nicht nur jetzt gewöhnlich ihr Geschäft, ohne seine eigentliche Natur zu kennen und es in seiner Vollständigkeit zu übersehen, sondern auch nur wenige erheben sich selbst späterhin zu diesem höheren Standpunkt und dieser allgemeineren Uebersicht. In einer noch schlimmeren Lage aber befindet sich derjenige, welcher, ohne ein einzelnes jener Fächer ausschliessend zu wählen, nur aus allen für seine Ausbildung Vortheil ziehen will. In der Verlegenheit der Wahl unter mehreren, und aus Mangel an Fertigkeit,

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irgend eins, aus den engeren Schranken desselben heraus, zu seinem eignen allgemeineren Endzweck zu benutzen ...“ Humboldt, Wilhelm von (1767-1835): Theorie der Bildung des Menschen. Bruchstück. I. Klassische Problemformulierungen. In: Heinz-Elmar Tenorth (Hrsg.) Allgemeine Bildung: Analysen zu ihrer Wirklichkeit. Versuche über ihre Zukunft. Juventa-Verlag, Weinheim/München 1986, S. 32 5 siehe Fussnote ... 6 Zum Theorieteil von „Medium und Form“ vgl. Niklas Luhmann sowie die hervorragende Darstellung von Sybille Krämer: Luhmann, Niklas (1997): Medium und Form. In: Die Gesellschaft der Gesellschaft. 1. Teilband, Suhrkamp Taschenbuch Verlag, Frankfurt am Main; ISBN: 3-518-28960-8, S. 190-202 Luhmann, Niklas (2002): Medium und Form. In: Das Erziehungssystem der Gesellschaft. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main; ISBN: 3-518-58320-4, S. 82-101 Krämer, Sybille (1998): Form als Vollzug. Oder: Was gewinnen wir mit Niklas Luhmanns Unterscheidung von Medium und Form? In: Rechtshistorisches Journal VIII (17). Krämer, S. (2001) Die Medientheorie als eine neuartige Theorie der Form. In: Sprache, Sprechakt, Kommunikation. Sprachtheoretische Positionen des 20. Jahrhunderts. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main, S. 156-158 7 Das „Medium“ an sich soll in diesem Artikel nicht weiter thematisiert werden. Die Erwähnung, dass dieses im Kontext von „Medium und Form“ zu verstehen ist, soll lediglich anderweitige Vorstellungen oder Erwartungen von „Medium“ oder „Medien“ ausschließen. 8 Reisch, Gregor (1508).: Margarita philosophica nova. 3 tomi. Intr. di L. Andreini. Nachdruck der Ausgabe Strassburg 1508. Salzburg 2002. 9 Da die Seiten des gesamten Buches nicht durchnummeriert wurden, ist es nicht möglich mit korrekten Seitenangaben zu arbeiten. 10 Für die nachfolgende Untersuchung, insbesondere die genauere Betrachtung einzelner Artikel, wurde u.a. eine deutschsprachige Fassung verwendet: Enzenberger, Hans Magnus (2001): Die Welt der Encylopédie. Die Andere Bibliothek. Eichborn AG, Frankfurt am Main 11 Bush, Vannevar (1945): As We May Think. Bereitgestellt (ohne Bildmaterial) in: The Atlantic Online: http://www.theatlantic.com/doc/print/194507/bush; (last accessed 11-05-2006) Bush, Vannevar (1945): As We May Think. Bereitgestellt und neu aufbereitet (inkl. Bildmaterial) in: The ACM Digital Library, Volume 3, Issue 2 (March 1996), ISSN:1072-5520, ACM Press New York, NY, USA, 1996, pp. 35-46 12 Die Septem artes liberales sind ein in der Antike entstandener Kanon von sieben Studienfächern, welche die Bildungsziele der freien Bürger darstellten. Auch im Mittelalter galten diese für die Ausbildung des freien Mannes, der nicht auf materiellen Broterwerb angewiesen war. Mehr noch galten die Sieben Freien Künste als Vorbereitung für das eigentliche wissenschaftliche Studium der Theologie, Jurisprudenz und Medizin. Vgl.: Rötzer, Andreas (2003): Exkurs: Septem Artes Liberales. In: Die Einteilung der Wissenschaften. Analyse und Topologisierung von Wissenschaftsklassifikationen. Dissertation an der philosophischen Fakultät der Universität Passau, S. 215-221 13 Die Darstellung wird auch als „Haus des Lernens“ oder „Turm der Fächer“ oder auch als „Tempel der Weisheit“ bezeichnet. Vgl.: Oelkers, Jürgen (2003): Fachunterricht in historischer Sicht. Vortrag auf der Tagung „Allgemeine Didaktik revisited“ am 10. September 2003 in der Pädagogischen Hochschule Zürich Vgl.: Beschreibung zur Abbildung aus Gregor Reischs Margarita Philosophica im Artikel „Buchstabentafel“ der Wikipedia; ein Artikel, der wegen seiner hohen Qualität in die Liste der „Exzellenten Artikel“ aufgenommen wurde: http://de.wikipedia.org/wiki/Buchstabentafel 14 Martens, Ekkehard (2001): Platon: Über die Weisheit. Platon: Theages. In: Philosophische Meisterstücke II. Reclam Verlag. Stuttgart 2001, S. 19 15 Siegel, Steffen (2004): Architektur des Wissens. Die figurative Ordnung der artes in Gregor Reischs Margarita Philosophica. In: Frank Büttner, Gabriele Wimböck (Hrsg.): Das Bild als Autorität. Die normierende Kraft des Bildes, Münster 2004, (Pluralisierung & Autorität 4), S. 355 16 Oelkers, Jürgen (2003): Fachunterricht in historischer Sicht. Vortrag auf der Tagung „Allgemeine Didaktik revisited“ am 10. September 2003 in der Pädagogischen Hochschule Zürich, S. 2 17 Francis Bacon (1620): The New Organon or True Directions concerning the interpretation of Nature. The University of Adelaide Library, web edition published by eBooks@Adelaide 2004, APHORISM. BOOK ONE. Nr.: XIX; eBook: http://etext.library.adelaide.edu.au/b/bacon/francis/organon/ 18 Nicht nur die Encyclopédie an sich beeinflusste das Denken der Zeit, auch Diderot als tragender Kopf der Encyclopédie höchstpersönlich, indem er als Berater und Philosoph der Aufklärung an die Höfe der großen Herrscher gerufen wurde. Den Ruf erteilten Friedrich II., der König von Preußen ebenso wie Zarin Katharina die Große und Kaiser Joseph II. von Österreich. Der Großzügigkeit Katharinas der Großen hatte es Diderot zudem zu verdanken, dass er finanziell abgesichert war: Die russische Zarin kaufte 1765 die gesamte Bibliothek

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Diderots und gab ihm dafür einen Vorschuss von 50 Jahren Lohn. Vgl.: Stokes, Philip (2004): Dennis Diderot (1713-1784). In: Philosophen. 100 große Denker und ihre Ideen von der Antike bis heute. Deutschsprachige Ausgabe bei Gondrom Verlag Bindlach 2004, S. 93 19 Am 2. Februar 1752 wird die Encyclopédie auf Befehl des Königs verboten: „wegen mehrerer Maximen, die darauf abzielen, die königliche Autorität zu zerstören, den Geist der Unabhängigkeit und der Revolte zu befestigen, und mit dunklen und zweideutigen Begriffen die Grundlagen des Irrtums, der Sittenverderbnis und des Unglaubens zu errichten.“ Das Verbot wird wieder aufgehoben und erneut im Januar 1759 angeordnet, indem das Parlament den weiteren Verkauf der Encyclopédie untersagt. Papst Clemens XII. fordert alle katholischen Eigentümer der Encyclopédie auf, diese durch einen Prieser verbrennen zu lassen. Im Herbst selbigen Jahres wird das Unternehmen der Encyclopédie unter dem Deckmantel einer bewilligten Sammlung von Bildtafeln fortgesetzt. Im Jahre 1760 wird unter stillschweigender Duldung der Behörden die redaktionelle Arbeit der noch ausstehenden Textbände fortgesetzt. Im Dezember 1765 erscheint die Lage für die Publikation weiterer Textbände günstig; sie werden unter Angabe eines falschen Druckortes ausgeliefert. Vgl. Zeittafel der Encyclopédie. In: Enzenberger, Hans Magnus (2001): Die Welt der Encyclopédie. Die Andere Bibliothek. Eichborn AG, Frankfurt am Main, S. 475f. 20 Darnton, Robert: Eine kleine Geschichte der Encyclopédie und des enzyklopädischen Geistes. In: Enzenberger, Hans Magnus (2001): Die Welt der Encylopédie. Die Andere Bibliothek. Eichborn AG, Frankfurt am Main, S. 455 21 Koch, Richard (1923): Einleitung zur „Unterhaltung“. In: Diderot: Der Traum d’Alemberts. Eingeleitet und erläutert von Richard Koch. Übersetzt von Curt Sigmar Gutkind. F. Frommanns Verlag (H. Kurtz), Stuttgart 1923, S. 11 22 Auch in Diderots Baum des Wissens blieb die „Wissenschaft der Engel und Dämonen“ noch erhalten, jedoch auf einem eher sehr abgelegenen Zweig. Vgl. Stammbaum des menschlichen Wissens (Ausschnitt) aus dem Prospekt der Encyclopédie von Denis Diderot (1750); Vgl. Figürlich dargestelltes System der Kenntnisse des Menschen. Aus dem ersten Band der Encyclopédie, Paris 1751 23 Diderot, Denis (1750): Prospekt der Encyclopédie. In: Enzenberger, Hans Magnus (2001): Die Welt der Encyclopédie. Die Andere Bibliothek. Eichborn AG, Frankfurt am Main, S. 466 24 Darnton, Robert, ebd., S. 457 25 Die französische Encyclopédie war ursprünglich als eine Adaption von Chambers’ 1728 in England erschienener, zweibändiger „Cyclopaedia or an universal dictionary of arts and sciences“ vorgesehen. Der Verleger Le Breton vermutete aufgrund des riesigen Erfolgs von Chambers „Cyclopaedia“ große Gewinnchancen für eine französische Fassung. Der Plan zerschlug sich jedoch nachdem Diderot und d’Alembert 1747 als Herausgeber ernannt wurden. Im Prospekt der „Encyclopédie“ (1750) sowie in seinem Artikel unter dem Stichwort „Enzyklopädie – Encyclopédie“ (1755) berichtet Diderot über die Unzulänglichkeiten einer direkten Übersetzung von Chambers „Cyclopaedia“ für das französische Publikum. 26 Chambers, Ephraim (1741): Cyclopaedia: or an Universal Dictionary of Arts and Sciences, 5. Aufl., London, Bd.1, S. II.; zitiert in: Darnton, Robert, ebd., S. 457 27 Diderot, Denis (1750), ebd., S. 466 28 Enzenberger, Hans Magnus (2001), ebd., S. 164 29 Diderot, Denis (1750), ebd., S. 465 30 ebd., S. 466 31 Diderot, Denis (1755): Enzyklopädie – Encyclopédie (Philosophie). In: Enzenberger, Hans Magnus (2001): Die Welt der Encyclopédie. Die Andere Bibliothek. Eichborn AG, Frankfurt am Main, S. 68 32 Lévy, Pierre (1996): Cyberkultur. Universalität ohne Totalität. In: Bollmann, S.; Heibach, Ch. (Hrsg.): Kursbuch Internet. Anschlüsse an Wirtschaft und Politik, Wissenschaft und Kultur.Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 1998, S. 63 33 Spindler, Ulrike: Die Encyclopédie. In: Madame de Pompadour und ihre Zeit. historicum.net Archiv: http://www.pompadour.historicum-archiv.net/ (last accessed: 01/2007) 34 Beispielsweise konnten für den Bereich der Architektur insgesamt lediglich 23 Autoren gefunden werden – eine überschaubare Gruppe. Russell, Terence M. (Hrsg.; 1993): Architecture in the Encyclopédie of Diderot and d’Alembert. The Letterpress Articles and Selected Engravings. Scolar Press; printed in Great Britain by the University Press, Cambridge 35 Natürlich ist zu bezweifeln, dass es überhaupt jemals eine Überschaubarkeit allen Wissens für einen Einzelnen gab oder geben wird – an dieser Stelle geht es jedoch lediglich um die Durchdringung und das Verstehen der Masse an verfügbarem Material zur Rezeption eines enzyklopädischen Wissens in Buchform. Zur Frage nach einem enzyklopädisch-einheitlichen Wissen in einem einzigen Geist siehe den ausgezeichneten Beitrag von: Nyíri, Kristóf (2004): Enzyklopädisches Wissen im 21. Jahrhundert. In: Vernetztes Wissen: Philosophie im Zeitalter des Internets. 1. Auflage, Passagen Verlag, Wien, S. 157-173 36 Bush, Vannevar (1945); ebd. The Atlantic Online, S. 8 37 ebd., S. 9f.