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Wolfram Ette Adornos Musiktheorie der Tragödie 1 Eine Theorie der Tragödie im engeren Sinn hat Adorno nicht hinterlassen, eine Theorie also, die sich mit der griechischen Tragödie und ihren Konsequenzen für die europäische Kultur befasst. Es gibt eine Stelle in der ›Ästhetischen Theorie‹, an der sich Adorno in enger Anlehnung an Benjamin in dem Sinn auf die griechische Tragödie bezieht, dass sie das Erwachen des autonomen Subjekts darstellen (GS 7, 344 f.). Das ist eine Stelle von nicht zu unterschätzender theoretischer Tragweite. Sie bleibt aber in Adornos Werk vereinzelt. Insgesamt bleibt die Tragödie als literarische Form ausgespart. Dies ist ja aus zwei Gründen merkwürdig. Zum einen genießt die Tragödie von allen politischen Gattungen wohl die höchste philosophische Dignität. Aristoteles, Hegel, Schelling, Schopenhauer und Nietzsche haben ihr eine Schlüsselstellung in ihrem jeweiligen philosophischen System eingeräumt; und noch in der Verwerfung der Tragödie bei Platon zeichnet sich eine widerwillige Anerkennung dieser Form als der gefährlichsten Konkurrentin zur philosophischen Rationalität ab, die sonst keiner Kunstform zuteil wird. Angesichts dessen und angesichts der zentralen Rolle, die die Tragödie im Denken Benjamins bis zum Trauerspielbuch spielt, nimmt es Wunder, dass Adornos Äußerungen darüber so spärlich ausfallen. Diese Verwunderung verstärkt sich noch, wenn man sich klarmacht, was für eine herausragende systematische Rolle die Tragödie insbesondere bei Hegel spielt – der für Adorno zumindest aktenkundig wichtigste Vorläufer, derjenige Philosoph, in dessen Tradition Adorno sich unmittelbar und bewusst stellt. Bei Hegel verhält es sich ja so, dass phasenweise der tragische und der dialektische Prozess kaum auseinanderzuhalten sind; sei es, dass er wie im Naturrechtsaufsatz das Modell eines tragischen Gesellschaftsprozesses unter dem Titel einer Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute ewig mit sich selbst spielt (Hegel 1986, 495) entwirft; sei es, dass wie in der ›Phänomeno- logie des Geistes‹ ein Stück – nämlich die ›Antigone‹ – wie ein Schatten den dialektischen Prozess der Erfahrung des Bewusstseins begleitet. Diese enge Überblendung von tragischen und dialektischen Prozess lässt zwar nach der ›Phänomenologie des Geistes‹ nach. Dennoch würde Hegel in der Ästhetik nicht von der ›Antigone‹ als dem vortrefflichsten, befriedigensten Kunstwerk des menschlichen Geistes sprechen (Hegel 1996, 550), wenn er ihr bei aller historischen Fixierung an die griechische Antike (die er 1

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Wolfram Ette

Adornos Musiktheorie der Tragödie

1

Eine Theorie der Tragödie im engeren Sinn hat Adorno nicht hinterlassen, eine Theorie

also, die sich mit der griechischen Tragödie und ihren Konsequenzen für die europäische

Kultur befasst. Es gibt eine Stelle in der ›Ästhetischen Theorie‹, an der sich Adorno in

enger Anlehnung an Benjamin in dem Sinn auf die griechische Tragödie bezieht, dass sie

das Erwachen des autonomen Subjekts darstellen (GS 7, 344 f.). Das ist eine Stelle von

nicht zu unterschätzender theoretischer Tragweite. Sie bleibt aber in Adornos Werk

vereinzelt. Insgesamt bleibt die Tragödie als literarische Form ausgespart.

Dies ist ja aus zwei Gründen merkwürdig. Zum einen genießt die Tragödie von allen

politischen Gattungen wohl die höchste philosophische Dignität. Aristoteles, Hegel,

Schelling, Schopenhauer und Nietzsche haben ihr eine Schlüsselstellung in ihrem

jeweiligen philosophischen System eingeräumt; und noch in der Verwerfung der Tragödie

bei Platon zeichnet sich eine widerwillige Anerkennung dieser Form als der gefährlichsten

Konkurrentin zur philosophischen Rationalität ab, die sonst keiner Kunstform zuteil wird.

Angesichts dessen und angesichts der zentralen Rolle, die die Tragödie im Denken

Benjamins bis zum Trauerspielbuch spielt, nimmt es Wunder, dass Adornos Äußerungen

darüber so spärlich ausfallen.

Diese Verwunderung verstärkt sich noch, wenn man sich klarmacht, was für eine

herausragende systematische Rolle die Tragödie insbesondere bei Hegel spielt – der für

Adorno zumindest aktenkundig wichtigste Vorläufer, derjenige Philosoph, in dessen

Tradition Adorno sich unmittelbar und bewusst stellt. Bei Hegel verhält es sich ja so, dass

phasenweise der tragische und der dialektische Prozess kaum auseinanderzuhalten sind;

sei es, dass er wie im Naturrechtsaufsatz das Modell eines tragischen

Gesellschaftsprozesses unter dem Titel einer Tragödie im Sittlichen, welche das Absolute

ewig mit sich selbst spielt (Hegel 1986, 495) entwirft; sei es, dass wie in der ›Phänomeno-

logie des Geistes‹ ein Stück – nämlich die ›Antigone‹ – wie ein Schatten den dialektischen

Prozess der Erfahrung des Bewusstseins begleitet. Diese enge Überblendung von

tragischen und dialektischen Prozess lässt zwar nach der ›Phänomenologie des Geistes‹

nach. Dennoch würde Hegel in der Ästhetik nicht von der ›Antigone‹ als dem

vortrefflichsten, befriedigensten Kunstwerk des menschlichen Geistes sprechen (Hegel 1996,

550), wenn er ihr bei aller historischen Fixierung an die griechische Antike (die er

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Page 2: Wolfram Ette Adornos Musiktheorie der Tragödie · Wolfram Ette Adornos Musiktheorie der Tragödie 1 Eine Theorie der Tragödie im engeren Sinn hat Adorno nicht hinterlassen, eine

gegenüber dem Frühwerk stärker betont) nicht eine tiefe strukturelle Nähe zum Kern des

eigenen Philosophierens zuschriebe. Dialektische Philosophie ist ein Stück weit

Philosophie aus dem Geist der Tragödie; und da ist es schon erstaunlich, dass sich der

Philosoph des 20. Jahrhunderts, der sich wie wenige anddere in die Tradition der Hegel-

schen Philosophie gestellt hat, diesen systematisch entscheidenden Punkt so sehr über-

geht.

Nun hat Adorno seine eigene Philosophie ja nicht umstandslos als Dialektik bezeichnet

sondern als negative Dialektik, die als Gegenentwurf zur Hegelschen positiven Dialektik

doch jedenfalls bei aller Nähe zu Hegel eine Kritik an dialektischen Verfahren formuliert.

Gleichzeitig beansprucht diese Kritik nicht, den Bezirk dialektischen Philosophierens ganz

zu verlassen; sie beansprucht vielmehr, eine Dialektik zu entwerfen, die sich eben negativ,

negierend zur Hegelschen Dialektik verhält und dennoch im Kern Dialektik bleibt; sie

beansprucht also, eine andere, eine alternative Dialektik zu formulieren – so vage dies

zunächst einmal bleibt.

So wäre also zu fragen, ob die Absenz der Tragödie in Adornos Werk etwas mit diesem

Entwurf einer alternativen negativen Dialektik zu tun hat. Adorno bliebe Hegel indirekt

insofern treu, als er die Korrelation von Tragödie und positiver Dialektik übernimmt; und

in diesem Sinn würde die Tragödie denn doch eine fundierenden Bedeutung für Adornos

Philosophie besitzen – als ein Fundament, auf dem sie sich erhebt und über das sie

zugleich hinauswill.

Dafür, dass dem so ist, liefern nun weder die philosophische Schriften im engeren

Sinne noch die ›Ästhetische Theorie‹ noch die Schriften zur Literatur einen Beleg, sondern

die Musikphilosophie. Aus diesem Grund ist im Titel meines Textes von der »Musiktheorie

der Tragödie« die Rede. Die Musikphilosophie ist der Ort, an dem Adorno die Tragödie

und die Möglichkeiten, sich von ihr künstlerisch zu emanzipieren, auslotet. Wenn das

stimmt, dann ist die Musikphilosophie auch der Ort, an dem materialiter erkennbar wird,

wie sich positive und negative Dialektik zueinander verhalten. In Adornos Musikphiloso-

phie (also in dem Bereich ästhetische Erfahrung, in dem er über den sichersten systemati-

schen Zugriff verfügte) ist das Erfahrungsmaterial versammelt, das dann in der ›Negativen

Dialektik‹ methodologisch reflektiert wird.

In dieser Musikphilosophie spielt Beethoven die entscheidende Rolle. Er ist die

Schlüsselfigur; er steht am Ende des klassischen Zeitalters der neuzeitlichen Musik, deren

Tendenzen er in sich vereinigt und vollendet; und er steht am Beginn der Moderne, deren

Tendenzen er weit vorausnimmt. In Beethovens Musik wird die Auseinandersetzung zwi-

schen positiver und negativer Dialektik – und eben damit auch ein spezifischer Begriff der

Tragödie aktenkundig, der sich sonst an keiner Stelle von Adornos Werk so findet.

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Darauf, dass sich Beethovens Musik auf das intensivste mit Adornos philosophischen

Intentionen im engeren Sinn berührt, weist eine erste Stelle aus dem Beethovenbuch:

Beethovens Musik ist die Hegelsche Philosophie; sie ist aber zugleich wahrer als diese, d.h. es steckt

in ihr die Überzeugung, daß die Selbstreproduktion der Gesellschaft als einer identischen nicht

genug, ja daß sie falsch ist. Logische Identität als produzierte und ästhetische Formimmanenz

werden von Beethoven gleichzeitig konstituiert und kritisiert. Das Siegel ihrer Wahrheit in der

Beethovenschen Musik ist ihre Suspension: die Transzendenz zur Form, durch die erst die Form

ihren eigentlichen Sinn gewinnt. Die Formtranszendenz bei Beethoven ist die Darstellung – nicht

der Ausdruck – der Hoffnung. (Adorno 1994, 36)Wenn Adorno sagt, dass Beethovens Musik die Hegelsche Philosophie sei (also nicht

etwa bedeute oder sich in einem analogischen Verhältnis zu ihr verhalte – vgl. ebd., 33 f.),

dann steht in Beethovens Musik eben auch das Essential dieser Philosophie zur Debatte

und auf dem Prüfstand, nämlich die Dialektik.

Wenn Adorno dann fortsetzt, das Beethovens Musik »zugleich wahrer« als die

philosophische Parallelunternehmung Hegels sei, dann ist es wohl legitim, dies auf das

Verhältnis von positiver und negativer Dialektik zu beziehen. Das heißt, im Verhältnis von

immanenter Form und Formtranszendenz scheint zugleich etwas auf vom Verhältnis von

positiver und negativer Dialektik.

Das Kernstück der von Beethoven irgendwie kritisierten positiven Dialektik ist offenbar

– ich zitiere das noch einmal – »logische Identität als produzierte und ästhetische Form-

immanenz«. Was bedeutet logische Identität in einem Kunstwerk? Was bedeutet sie bei

Beethoven? Adorno hat hier offenbar die Sonatenhauptsatzform im Blick. Diese

produziert logische Identität dadurch, dass ihre dreiteilige Form im Kern zirkulär angelegt

ist; dass im Ende der Anfang in nur leicht veränderter Form wiederkehrt; dass es sich also

bei dem Konflikt, auf den hin diese Form durch die zwei exponierenden Themen und ihre

antagonistischen Vermittlung in der Durchführung angelegt ist, offenbar nicht um einen

echten Konflikt mit offenem Ausgang handelt, sondern um einen Schein, aus dem sich

faktisch nichts ergibt und der zu einem Ergebnis prozessiert, das von Anfang an festgelegt

war. In der Reprise, so könnte man sagen, wird all das an offener Zukunft all das an

revolutionären Hoffnungen, das sich in der Durchführung ausdrückt, kassiert; sie ist so

etwas wie die musikalische Gegenaufklärung.

Das lässt sich anhand eines zweiten Zitats belegen: Zum Problem der Reprise: Beethoven

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hat sie gleichsam zum Siegel des Idealismus in seiner Musik gemacht, d.h. durch sie erweist

sich das Resultat der Arbeit, der universalen Vermittlung, als identisch mit der

Unmittelbarkeit, die in der Reflexion, ihrer immanenten Entwicklung nämlich, sich auflöst.

(…) Aber es ist tief bezeichnend, daß trotzdem bei Beethoven die Reprise in demselben tiefen

Sinn ästhetisch fragwürdig bleibt wie bei Hegel die These der Identität, und zwar tiefsinnig

paradoxer Weise bei beiden abstrakt, mechanisch. Beethoven hat aus der Reprise die Identität

des Nichtidentischen gemacht. Dabei steckt darin, daß die Reprise an sich das Positive,

dinghaft Konventionelle ist, zugleich das Moment der Unwahrheit, der Ideologie. (Adorno

1994, 39)

Die Formimmanenz also, die sich am nachdrücklichen bei Beethoven in der

Sonatenhauptsatzform produziert zeichnet sich dadurch aus, dass durch die »universale

Vermittlung« alles in ihr motivisch-thematisch funktionalisiert ist; dass es kein

ungenutztes Material, keine leeren Stellen gibt; und dass dies in einer Prozessform

geschieht, in der Anfang und Ende mit besonderem Nachdruck auf einander bezogen sind

– wie es beispielsweise bei einer Fuge nicht der Fall ist.

Nun ist es für das Verständnis dessen, was Adorno hier behauptet, entscheidend, dass

sich dieser Formtypus auf den mittleren Beethoven bezieht – also auf das Corpus, das in

den Werken mit den Opuszahlen 90 ff. langsam ausläuft. Adorno selbst führt unter

anderem den dritten Satz des Streichquartetts op. 59.1 und den ersten Satz der ›Eroica‹ an;

ich würde dem noch ersten Satz der fünften Symphonie und den ersten Satz des

›Erzherzogtrios‹ (op. 97) als ein Werk des Übergangs, in dem noch einmal ganz deutlich

wird, auf welche Weise logische Identität als Immanenz der Form sich produziert,

hinzufügen.

Nun sagt Adorno an der zuerst zitierte Stelle aber ausdrücklich, dass die logische

Identität in diesen Werken gleichzeitig konstituiert und kritisiert wird, und dass sich dieses

Zugleich von Konstitution und Kritik im Modus der Suspension, also des Aufschubs

vollzieht. Was ist damit gemeint?

Nehmen wir ein Werk wie den ersten Satz der Fünften Symphonie: ein Werk, das in

einer fast monomanen Weise aus der Selbstvermittlung musikalischen Elementarmaterials

besteht. Wenn Adorno an einer anderen Stelle sagt, dass Beethoven ›die Tonalität

auskomponiert‹ (Adorno 1994, 90) habe, dann meint das eben diese Zerschlagung eines

quasi natürwüchsigen Materials (das alle möglichen historischen Konventionen und

Formeln mit sich schleppt) in Elementarbestandteile: hier die fallende Terz und das

primitive rhythmische Pattern des ersten Themas; die Kürze und fast etwas charakterlose

Simplizität auch des zweiten. Dieser Satz ähnelt einem Gebäude, das nicht mehr aus

Natursteinen errichtet ist, auf dessen Form und Materialbeschaffenheit die Maurer

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Rücksicht zu nehmen haben, sondern einen monumentalen Ziegelbau, der sich aus

identischen, vorgefertigten Bauteilen zusammensetzt. Im ›Versuch über Wagner‹ hat

Adorno dies so ausgedrückt: Bei Beethoven ist das Einzelne, der »Einfall« kunstvoll-nichtig,

wo immer die Idee der Totalität den Vorrang hat; das Motiv wird als ein an sich ganz

Abstraktes eingeführt, lediglich als Prinzip des reinen Werdens, und indem daraus das Ganze

sich entfaltet, wird das Einzelne, das im Ganzen untergeht, zugleich auch von diesem

konkretisiert und bestätigt. (GS 13, 49)

Diese Verherrlichung menschlicher Arbeit und Emanzipation von der Natur hat

durchaus etwas Bedrückendes und, um das Klischee doch einmal zu bemühen,

›Schicksalshaftes‹; die Immanenz der Form, so großartig sie sich produziert, wirkt

ausweglos; die rigide Beschränkung des Materials erscheint beklemmend; der

Arbeitsprozess wird zum Selbstläufer ohne Alternative, in dem sich nun nicht mehr die

menschliche Freiheit, sondern einen selbst auferlegten Zwang darstellt

Beethoven scheint dies selbst gespürt zu haben, denn er hat genau an dem

neuralgischen Punkt, an dem die Form sich schließt, also zu Beginn der Reprise eine

Unterbrechung eingebaut – eine Suspension und zwar in Gestalt eines Oboenrezitativs.

Dieses Rezitativ ist ein absoluter Fremdkörper: Seine rhythmische Freiheit widerspricht

der in diesem Stück mit besonderer Rücksichtslosigkeit durchexekutierten Taktrhythmik;

das Soloinstrument spielt eine Melodie, die sich unabhängig von aller Vermittlung der

einzelnen Stimmen durch die Allheit der anderen Stimmen entfaltet; und schließlich wird

kulturgeschichtlich eine andere Welt entworfen: die Oboe geht einher mit Reminiszenzen

an Hirtenkulturen, Schalmeienklang und Schäferidyllen – es werden durch sie archaische

Bilder eines nicht herrschaftlichen Verhältnis der Natur gegenüber aufgerufen.

Das eben meint Produktion der immanenten Form durch ihre Suspension; durch den

Aufschub wird die Schließung der Form nicht einfach vollzogen sondern als bewusste

geleistet und eben damit, wenn nicht kritisiert, so doch kritisierbar.

Ich möchte noch ein zweites Beispiel anfügen; eines, auf das Adorno selbst verweist

und in dem die Dinge sich auf ähnliche Weise, wenn auch etwas komplizierter verhalten.

Es geht hier um den langsamen Satz des ersten Rasumowskyquartetts op. 59.1 – und es

geht auch wieder um den neuralgischen Punkt der Überleitung zur Reprise. Komplizierter

als die Fünfte Symphonie ist dieser langsame Satz dadurch, dass sich sein motivisches

Material nicht exakt mit dem Material deckt, das von den beiden Themen gestellt wird.

Beethoven hat hier Kurzformeln musikalischer Elementareinheiten dazu komponiert, die

zusammen mit dem tendenziell auch in seine Einzelmotive zerfallenden thematischen

Material erst den Stoff bildet, aus dem das gesamte Werk gemacht ist.

In Takt 68 nun – also am Ende der Durchführung – setzt ein ganz neues Thema in Des-

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Dur ein, das motivisch und thematisch mit dem vorangegangenen gar nichts zu tun hat.

Hier erscheint die Antithese weniger strikt und schockierend als in der Fünften

Symphonie. Die Suspension ist kein totaler Fremdkörper sondern harmonischer in die

prozessuale Vermittlung des Gesamtsatzes eingebettet. Bereits im vierten Takt also Takt 71

des Satzes drängt sich ein kleines Motiv in den Verlauf (ich habe es blau markiert), das

selber nicht zu den Hauptthemen gehört sondern eher einen Überleitungscharakter

besitzt. Beethoven verwendet es aber so häufig in diesem Satz, dass es im Nachhinein

quasi thematische Qualität gewinnt. Umgekehrt werden die Sextolen, die das Seitenthema

ab Takt 68 den mittleren Streichern begleiten, in einer leicht veränderten, aber doch

wiedererkennbaren Form in die Wiederkehr des Hauptthemas in der Reprise ab Takt 80

übernommen (das ist die rot markierte Stelle). Die Transzendenz der Form bleibt also

weitgehend zur Form vermittelt – jedenfalls mehr als der in diesem Betracht kühneren

fünften Symphonie. Dennoch empfindet man es so, dass die Form hier von sich

zurücktritt, gleichsam Luft holt und dem Arbeitsprozess ihrer Konstitution Einhalt geboten

wird.

Noch einmal: Das meint Adorno, wenn er von Suspension der Form spricht. Es heißt,

dass die immanente Form durch das was sie momenthaft transzendiert, nicht

durchbrochen oder aufgehoben wird, sondern eben bloß aufgeschoben. Durch den

Fremdkörper entsteht nichts Neues, sondern bloß ein Moment der Besinnung der

Reflexion. Die Form schließt sich nicht einfach im blinden Vollzug, sondern der Prozess

ihrer Produktion (deswegen spricht Adorno von produzierter Formimmanenz und von

Transzendenz zur Form) wird bewusst gemacht und erst in dieser Form eben auch

kritisierbar.

Eben darin wird für Adorno die Hoffnung dargestellt. Ich vermute, das der Unterschied

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von Darstellung und Ausdruck der Hoffnung, den Adorno hier macht, sich darauf bezieht,

dass hier kein subjektives Ausdrucksmoment hervortritt (etwa ein bestimmter

konventionell festgelegter Charakter eines Themas, einer Formel oder eines musikalischen

Phraseologismus, die so etwas wie Hoffnung oder Sehnsucht ausdrückt), sondern dass es

sich eben um eine formale Veranstaltung handelt, in deren innerer Reflexivität die

Hoffnung aufgeht, dass die Form doch einmal durchbrochen werden könnte; dass es doch

noch einmal anders ausgehen könnte; dass, mit anderen Worten, die Gesellschaft von der

Adorno ja zu Beginn der ersten von mir zitierten Stelle spricht, sich nicht bloß selbst

reproduziert, so dass alles beim alten bleibt, sondern dass sie sich qualitativ verändern

könnte.

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Diesen Formtypus des mittleren Beethoven, in dem sich die Form durch ihre kritische,

reflexive Überschreitung konstituiert, so dass man also tatsächlich nicht von einer

Transzendenz der Form sondern von einer Transzendenz zur Form sprechen muss,

identifiziert Adorno nun an einer späteren Stelle des Beethovenbuchs mit einem Denken,

das er Metaphysik der Tragödie nennt: Wenn man die mittlere Phase als die Metaphysik der

Tragödie ansprechen kann – die Totalität der Negationen als Position, die Bekräftigung dessen

was ist in der Wiederkunft als Sinn – so ist die Spätphase Kritik von Tragik als Schein. Dieses

Moment aber ist in der mittleren Phase teleologisch bereits angelegt insofern jener Sinn nicht

gegenwärtig [ist], sondern durch den Nachdruck der Musik beschworen wird, und eben dies

ist die mythische Schicht Beethovens. Zentralstück der Konstruktion. (Adorno 1994, 253

[Fragment Nr. 368])

Ich möchte zunächst versuchen den Ausdruck Metaphysik der Tragödie etwas zu

erläutern. Die Tragödie firmiert hier offenbar nicht als literarische Form, sondern es

verhält sich umgekehrt: Die literarische Form ist ihrerseits nur der Niederschlag, nur die

Chiffre eines Denkens, das die Wahrheit des Seienden (also das was die Metaphysik

auszudrücken beansprucht) eben als Transzendenz zur Form als produzierte

Formimmanenz auffasst. Die Wahrheit, der ›Sinn‹ der empirischen, prozesshaft

miteinander verflochtenen Dinge, ist ihre Transzendenz zur Form und ein anderer

Ausdruck für diese reflektierte Transzendenz zur Form ist die Metaphysik der Tragödie.

Es gibt nun einen Philosophen, der wortwörtlich die Transzendenz zur Form als

Quintessenz des tragischen Prozesses – als seinen metaphysischen Sinn beschrieben hat

und zwar auf höchst folgenreiche Weise. Das ist zunächst einmal nicht Hegel, sondern

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Aristoteles. Die entscheidende philosophische Operation, mithilfe derer Aristoteles den in

den Tragödien dargestellten Prozessen einen metaphysischen Sinn verleiht besteht darin

dass er sie mit dem Prozess des Wachstums und der Reproduktion von Lebewesen

analogisiert (vgl. Ette 2003). Etwas vereinfacht formuliert: mit derselben naturgegebenen

Unausweichlichkeit, mit der sich aus einer Buchecker eine Buche, und keine Eiche,

entwickelt, und die Buchecker zur Form der Buche transzendiert, indem sie zugleich diese

Form als eine vorgegebene reproduziert, soll sich nach Aristoteles auch die tragische

Handlung entwickeln die auf ein Ziel zusteuert dass ihr vorgegeben wenn auch in vielen

Fällen noch nicht sichtbar ist.

Das entscheidende Zitat findet sich in Kapitel 23 der ›Poetik‹: Was die erzählende und

nur in Versen nachahmende Dichtung angeht, so ist folgendes klar: man muß die Fabeln wie in

den Tragödien so zusammenfügen, daß sie dramatisch sind und sich auf eine einzige, ganze

und in sich geschlossene Handlung mit Anfang, Mitte und Ende beziehen, damit diese, in ihrer

Einheit und Ganzheit einem Lebewesen vergleichbar, das ihr eigentümliche Vergnügen

bewirken kann. (Arist. Poet. 1459 a 18-21)

Der Vergleich mit einem Lebewesen – einem zoon – ist nicht beiläufig, sondern führt

ins Zentrum der Sache. Die physis, hat Heidegger einmal gesagt ist – aristotelisch gedacht

– das Sein (Heidegger 1939, 258). Etwas gemäßigter formuliert: Der Kreislauf des Lebens,

in dem – in aller Regel wenigstens – nichts seine ihm durch seine innere Form (das eidos,

die morphe) vorher bestimmte Bahn verlässt, ist die privilegierte Explikationsgestalt des

aristotelischen Seins.

Wenn das nun in Bezug auf die griechische Tragödie stimmen sollte, wären die Folgen

verheerend. Denn in der Tragödie würden dem Aristoteles zufolge menschliche

Handlungen, die man doch irgendwie mit der Vorstellung von Freiheit und Verantwortung

verbindet, dem Prozess der Physis subsumiert; Geschichte würde naturalisiert und die

Idee einer offenen, von den Menschen selbst verantworteten Zukunft, in die sie sich durch

ihr Handeln entwerfen, wäre bloßer Schein – eine Illusion, die durch die Idee einer

»einzigen ganzen und in sich geschlossenen Handlung mit Anfang Mitte und Ende« also

durch die totale »Formimmanenz« wieder und wieder Lügen gestraft werden würde.

Nun ist diese Vorstellung der Tragödie, in der das Geschehen mit quasi naturhafter

Notwendigkeit abrollt und eben dadurch die Einheit der Form – d.h. mit Adorno

formuliert die logische Identität des Prozesses – verbürgt wird, sicherlich nicht ganz falsch

und vollkommen absurd: zumindest dann wenn man sich an den Wortlaut der Tragödien

hält. Menschliches Handeln ohne Freiheit, naturalisierte Geschichte –: das ist ein anderer

Ausdruck für das, was wir unter Schicksal verstehen (das Wort kommt bei Aristoteles, der

den tragischen Prozess nach Kräften zu logifizieren versucht, nicht vor; dafür aber in den

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Tragödien umso häufiger).

Aber Aristoteles vereinseitigt diese Idee so sehr – er entscheidet den Konflikt zwischen

Freiheit und Notwendigkeit, der in jeder Tragödie aufs Neue unter anderen

Voraussetzungen und mit offenem Ausgang ausgetragen wird, so eindeutig zu Gunsten

des Schicksals also der Physis der Handlung, dass das Gesamtbild des tragischen

Prozesses, das er entwirft, auf eine groteske Weise verzerrt wird. Bis heute sind Tragödie

und Trauerspiel (das nun tatsächlich von der Vorstellung eines totalitär durch alles

hindurchregierenden Schicksals bestimmt ist) trübe miteinander vermischt und der

Ursprung dieser Vermischung geht zuletzt auf Aristoteles zurück.

Das hat auch Folgen für den Begriff der Tragödie im Beethovenbuch. Wenn Adorno in

Beethoven von der Metaphysik der Tragödie spricht dann koinzidiert das eben nicht mit

dem Geschichtsbewusstsein, von den das Corpus der tatsächlichen antiken und modernen

Tragödien Zeugnis ablegt, sondern mit der Denkform, die Aristoteles in der ›Poetik‹ den

Tragödien übergestülpt hat und die die Auffassung von der Tragödie bis heute bestimmt.

Wenn Adorno bestimmte Elemente des Beethovenschen Spätwerks als Kritik von Tragik als

Schein hervorhebt, so fällt der Begriff der Tragik letztlich mit der philosophischen

(aristotelischen) Bestimmung der Tragödie zusammen.

Für diese Entdifferenzierung spricht nicht zuletzt die Bestimmung der tragischen

Denkform selber. Es hieß ja: die Totalität der Negationen als Position, die Bekräftigung

dessen was ist in der Wiederkunft als Sinn. Was ist damit gemeint?

Adorno bezieht sich offensichtlich auf die Logik des musikalischen Fortschreitens bei

Beethoven, das als Negation aufgefasst wird. Den Unterschied von Negation und bloßer

Differenz würde ich nun so bestimmen, dass die Negation immer auf ein Gemeinsames,

auf eine übergreifende Identität bezogen ist. Während die Differenz ein einfaches

zweistelliges Verhältnis artikuliert, stellt sich in der Negation ein dreistelliges Verhältnis

dar – zwischen dem Negierten, dem Negierenden der übergreifenden Identität von

beiden. Adorno hat an einigen Stellen erläutert, was Negation bei Beethoven musikalisch

bedeutet. Er führt dort die Kategorien der Hemmung und des Abbrechens (Adorno 1994,

42 f.)ein, und es ist das Ziel dieser spezifischen Verfahrensweisen, den musikalischen

Prozess unablässig weiterzutreiben, keinen Stillstand zuzulassen und durch die

wechselseitige Negation aller Einzelmomente ihre Aufhebung durch das Ganze des Werks

herbeizuführen.

In dieser Bestimmung treffen die Metaphysik der Tragödie, die Adorno dem mittleren

Beethoven zuschreibt und die Hegelsche Dialektik zusammen: denn diese Dialektik ist ja

prozessuale Entfaltung durch Negation und zumindest in der Form, in der sie Adorno bei

Hegel vor Augen steht, ist diese prozessuale Entfaltung durch Negation zugleich eine, in

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der keine offene oder neue Zukunft sich auftut, sondern eine, die auf ein von vornherein

festgelegtes Ziel bezogen ist –: ein Ziel, das selbst nichts anderes ist als der verwirklichte,

vollständig vermittelte, sich selbst begründende und durchartikulierte Anfang ist – eine

geschlossene Form also; und es ist eben dies das teleologische, will sagen: aristotelische

Erbe in Hegel, von dem er sich – wenigstens was das Ganze des dialektischen Prozesses

betrifft – nicht emanzipiert hat. Der dialektische Gesamtprozess (so muss man wohl

sagen) ist wie die Tragödie bei Aristoteles eine einzige ganze und in sich geschlossene

Handlung.

Damit ist die tragische Dialektik, von der die Werke des mittleren Beethoven ein

ästhetisches Abbild geben, eine reflektierte Transzendenz zur Form. Das, was sich im

Verlauf des musikalisch-tragisch-dialektischen Prozesses ändert, ist nicht seine inhaltliche

Bestimmtheit, also nicht das Verhältnis von Ursprung und Ziel, Anfang und Ende, sondern

der Grad seiner Bewusstheit. Er wird nicht einfach vollzogen: Das Schicksal eines Themas

wie Schönberg einmal die Musik genannt hat wird zum begriffenen Schicksal wie es Hegel

zufolge (1974, 155) in der antiken Tragödie dargestellt wird.

Gesellschaftlich entspricht dem ein Stand der Aufklärung der Gesellschaft über sich

selbst, wie ihn Kant in seiner berühmten Programmschrift ›Beantwortung der Frage: Was

ist Aufklärung?‹ fordert, in der die Freiheit des Geistes und die Gehorsamspflicht

gegenüber der Obrigkeit nebeneinander bestehen und nebeneinander bestehen sollen, so

dass der Verdacht sich aufdrängt, die Freiheit des Geistes habe bloß eine

kompensatorische Funktion, beruhige die Gemüter und diene letztlich dazu, das, was

Adorno in der ersten Stelle, die ich zitiert habe, die Selbstreproduktion der Gesellschaft als

einer identischen nennt, zu garantieren.

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Dieser Komplex von Vorstellungen wird vom späten Beethoven aufgekündigt. Die Kritik,

die der späte Beethoven an der Immanenz der Form führt, geht über die bloße

Unterbrechung und Suspension hinaus; sie bedeutet Destruktion: An die Stelle der

Transzendenz zur Form tritt die Transzendenz der Form; an die Stelle der tragischen

Metaphysik treten Prozesse, die sich wenigstens Adorno zufolge nicht mehr im Rahmen

des tragischen Weltbildes verhandeln lassen; an die Stelle der ebenso verfassten positiven

Dialektik tritt die negative Dialektik; und an die Stelle der identischen Selbstreproduktion

der Gesellschaft tritt die Perspektive auf ihre Veränderung.

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Ich kann hier keinen detaillierten Einblick in die formalen Verfahrensweisen zu geben,

mit denen der späte Beethoven arbeitet. Was ihnen aber gemeinsam zu sein oder besser sie

zu begründen scheint ist eine Tendenz zum Zerfall; und das, worin sich diese Tendenz zum

Zerfall am elementarsten ausdrückt nennt Adorno das Absterben der Harmonie:

Am späten Beethoven scheint mir technisch nicht das Entscheidende die Polyphonie, die

sich durchaus in Grenzen hält (...). Sondern es ist eigentlich die Aufspaltung nach Extremen,

die vorliegt: zwischen Polyphonie und Monodie. Es ist eine Dissoziation der Mitte. Mit anderen

Worten: das Absterben der Harmonie. (...) die Harmonie selber, die ja weithin überlebt,

bekommt etwas Maskenhaftes oder Hülsenhaftes. Sie wird zu einer aufrechterhaltenen

Konvention, der die Substanzialität weithin entzogen ist. Man kann wenigstens in den letzten

Quartetten kaum mehr von einer Konstruktion der Tonalität reden. Sie hat gleichsam kein

Eigengesetz der Bewegung mehr, sondern bleibt als Klanghülle zurück (...). Um sich die

Bedeutung dieses Prozesses klarzumachen, muß man wohl auf die Konstruktion der Tonalität

rekurrieren. Deren Wesen besteht darin, daß durch die Formation der Musik deren

Voraussetzung zum Resultat erhoben wird (...). Die »Harmonie« [des mittleren Beethoven] ist

die Identität von Voraussetzung und Resultat. Es geht [beim späten Beethoven] gegen diese

Identität, d.h. eigentlich gegen die von Subjekt und Objekt. (...) Der Identitätszwang wird

durchbrochen und die Konventionen sind seine Trümmer. Die Musik spricht die Sprache der

Archaik, der Kinder, der Wilden und Gottes aber nicht des Individuums. (Adorno 1994, 225-

227)

Adorno fügt dem, was wir bisher von ihm gehört haben, noch ein weiteres Element

dazu nämlich, das Element der Tonalität. Beim mittleren Beethoven ist sie das

entscheidende Mittel, durch das logische Identität via negationis hergestellt wird und das

Werk zur immanenten Form transzendiert. Zugleich erfüllt sie die Formbestimmung der

Tragödie aus der Aufzeichnung Nr. 368, und zwar aus folgendem Grund: Im tonalen

System, genauer gesagt: im System der funktionalen Tonalität ist jeder musikalische

Augenblick, jede harmonische Fortschreitung die Negation des vorhergehenden

Augenblicks – Negation in dem Sinne, dass jeder dieser Augenblicke in einem

funktionalen Zusammenhang steht, in dem er auf Anfang und Ende des Gesamtprozesses

bezogen ist. Es gibt also streng genommen im System der Funktionsharmonik, das

Beethoven auskomponiert hat, keine freien, funktionslosen Momente, die außerhalb des

Gesamtzusammenhangs für sich stünden.

Damit gibt es nun im strengen Sinne in dieser Musik des mittleren Beethovens – von

den Momenten reflektiver Transzendenz sehe ich jetzt einmal ab – keine Gegenwart;

nichts das für sich steht und sich in sich selbst erfüllte. Dahlhaus hat in seiner

Untersuchungen zur Oper die These aufgestellt, dass das gesprochene Wort, das Wort im

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Sprechdrama, in sich Vergangenheit und Zukunft vermittele; es ist dramatisches Wort,

insofern es den Verweis auf Anfang und Ende: das Ganze des dramatischen

Zusammenhangs in sich enthält und austrägt, und im Grunde auf diesen Verweis reduziert

erscheint. Das heißt, es ist dramatisches Wort, insofern es nicht Gegenwart ist, nicht aus

der Gegenwart heraus gesprochen ist, sondern umgekehrt die Determination der

Gegenwart durch Vergangenheit und Zukunft geltend macht. Das dramatische Wort im

strengsten Sinn nennt Gründe und macht Vorausdeutungen; eine Gegenwart, die sich

spontan kundgibt und sich damit aus jenem Beziehungsgeflecht herauslösen würde, ist

ihm fremd (vgl. Dahlhaus 2001, 423 ff). Die symphonische Form – also eben der Formtyp,

den Adorno vor allem im Sinn hat wenn er vom mittleren Beethoven spricht – entspricht

dieser dramatischen Totalvermittlung des einzelnen durch das Ganze so weit als das in der

Musik überhaupt möglich ist. Das aber heißt Gegenwartsverlust. Die Gegenwart ist bloß

ein Vehikel, um Zukunft und Gegenwart, Anfang und Ende des dramatisch tragischen

Prozesses zu vermitteln.

Es ist eine zwiespältige Angelegenheit. Aauf der einen Seite bekundet sich in der

kompletten Durchfunktionalisierung des Gesamtzusammenhanges die Autonomie des

Subjekts, das diesen Gesamtzusammenhang erzeugt; auf der anderen Seite jedoch

verkehrt sich die Autonomie in dem Moment, in dem sie alternativlos wird, in einen

schicksalshaften Zwang: in Heteronomie.

Wenn Adorno nun in dem letzten Zitat diese Prozessstruktur mit der Identität von

Subjekt und Objekt gleichsetzt, so steht damit offenbar noch etwas anderes in Rede als ein

musikalischer Sachverhalt: nämlich der Kern dessen, was Adorno identifizierendes

Denken nennt. Die Identität von Subjekt und Objekt wird im Satz hergestellt – in der

propositionalen Fügung, deren grammatische Struktur ebenfalls einer Logik des Sich-

Öffnens und Sich-Schließens folgt. Jeder Satz vollzieht den Prozess der Entäußerung und

der Rückkehr zu sich, und zwar in eben dem Moment in dem die verstreuten Worte einen

Sinnzusammenhang ergeben, in dem Moment also, in dem der Satz verstanden wird.

Was hat dies mit der Musik zu tun? Der Satz verhält sich zur Rede oder zu einem Text

wie der tonale Elementarvorgang der Kadenz zu der musikalischen Verlaufsform, die sie

am vollkommensten ausdrückt, weil sie sie selbst in gewisser Weise noch einmal ist:

nämlich der Sonatenhauptsatzform. All das sind alles Spielarten dessen, was Adorno

»Metaphysik der Tragödie« nennt, die ihrerseits in der Gesamtanlage von Hegels positiver

Dialektik und von Beethovens Konstruktion der Tonalität im mittleren Werk ihren

vollkommensten und zugleich dramatischen Ausdruck gefunden hat.

Wenn nun der späte Beethoven diese Zusammenhänge zwischen der Kadenz und dem

propositionalen Urteil auf der einen Seite und dem gesamten Werk bzw. dem

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dialektischen Gesamtprozess zur Identität kritisiert, indem er ihn in seine einzelnen

Bestandteile zerfallen lässt die nun von allem möglichen zusammengehalten werden – von

den archaischen Formen der Polyphonie und der Liturgie; von der regressiven Form der

Variation; von der konstellativen Form, wie sie sich in den Bagatellen oder im Patchwork

des zweiten Satzes von Opus 110 ausdrückt; in pathetischen Formen wie den zahlreichen

Bezugnahmen zur Oper im Spätwerk –, die aber allesamt nicht mehr aus sich heraus einen

organischen Zusammenhang konstituieren, – dann liegt auf der Hand, dass Beethoven

damit Adornos ureigene philosophische Interessen in musicis vertritt. Beethoven –: das ist

nicht bloß, wie das Nachlasswerk vom Herausgeber genannt wurde, ›Philosophie der

Musik‹, sondern es ist zugleich die Musik der Philosophie, der Philosophie nämlich, die

Adorno vertrat und für notwendig hielt. Der späte Beethoven realisiert musikalisch, was

Adorno in der ›Negativen Dialektik‹ methodisch von der Philosophie fordert.

Natürlich ist dies erst einmal eine bloße Behauptung – eine Behauptung zumal, die ich

hier gar nicht belegen kann weil man dazu den Kanon der methodologischen Forderungen

der negativen Dialektik genau durchgehen müsste. Aber ich möchte mir doch erlauben,

einige Stichworte namhaft zu machen, die dafür sprechen, Beethovens antitragisches,

zum Zerfall tendierendes Spätwerk und Adornos negative Dialektik im Zeichen einer

Kritik von Tragik in eine solche Nähe zu rücken, wie ich hier tue:

• Es ist die Tendenz zur kleinen Form (›Der Essay als Form‹) bis hin zum Fragment;

• es ist die Methode der Konstellation;

• es ist die Kritik an der Identität und die Theorie des Nichtidentischen in der

›Negativen Dialektik‹ ;

• es ist das, was Adorno in der ›Negativen Dialektik‹ als Logik des Zerfalls verhandelt.

Wenn es mit diesen Andeutungen seine Richtigkeit hat, dann geht aus ihnen doch soviel

hervor, dass Beethovens Musik und die formalen Fragen, mit denen sich Beethoven

beschäftigte, tief in die Fundamente von Adornos Philosophie eingelassen sind –: in die

Fundamente eines Denkens also das sich gegen das Identitätsdenken, das

Ursprungsdenken und gegen die Teleologie innerhalb der Europäischen Rationalität

richtet. Alle drei – also Identitätsdenken, Ursprungsdenken und Teleologie – sind

miteinander verflochten und es ist eben die Tragödie bzw. das Bild von ihr, dass die

aristotelische Metaphysik davon durch die Jahrhunderte überliefert hat, die diese drei

Stränge in ein verbindliches und darüber hinaus anschauliches öffentliches Prozessmodell

zusammengefasst hat. In diesem Sinne ist Adornos Musiktheorie der Tragödie zugleich

eine Kritik am tragischen Unterstrom des gesamten europäischen Denkens und

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Beethovens Musik ist vermutlich einer seiner stärksten Bundesgenossen in diesem

kritischen Unternehmen, das die tragische Verfassung der Europäischen Rationalität

einerseits bewusst machen, andererseits überschreiten will.

Zitierte Literatur

Adorno 1994: Theodor W. Adorno, Beethoven. Philosophie der Musik, Frankfurt am Main 1994.

Aristoteles, Poetik. Übersetzt und herausgegeben von manfred Fuhrmann. Griechisch-deutsch,

Stuttgart 1982.

Dahlhaus 2001: Carl Dahlhaus, Zeitstrukturen in der Oper, in: Gesammelte Schriften 2:

Allgemeine Theorie der Musik II, Laaber 2001, 423-432.

Ette 2003: Wolfram Ette, Die Aufhebung der Zeit in das Schicksal. Zur 'Poetik' des Aristoteles,

Berlin 2003

Hegel 1986: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten

des Naturrechts, seine Stelle in der praktischen Philosophie und sein Verhältnis zu den

positiven Rechtwissenschaften (1803), in: Werke 2: Jenaer Schriften 1801-1807, ed.

Moldenhauer / Michels, Frankfurt am Main 1986, 434-533.

Hegel 1996: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, Band III, Werke,

ed. Moldenhauer / Michels, Band 15, Frankfurt am Main 1996

Hegel 1974: Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion, ed.

Lasson, Band II/1: Die bestimmte Religion, Hamburg 1974

Heidegger 1939: Martin Heidegger, Vom Wesen und Begriff der Physis (Aristoteles, Physik B,

1), in: Wegmarken, Frankfurt am Main 1978, 237-300.

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