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Fresenius leitschrilt tiir Fresenius Z Anal Chem (1988) 331:236-244 Springer-Verlag1988 Zum Paradigma der Analytischen Chemie* Hanns Malissa Institut ffir Analytische Chemie, Technische Universitfit Wien, Getreidemarkt 9, A-1060 Wien, Osterreich A paradigm for analytical chemistry Summary. After a general discussion on paradigm and the demonstration of some examples (Boyle's law etc.) the para- digm of truth is considered. The main point is that truth can be reached by induction and deduction only hyperbolically. The first trial of establishing an own paradigm for analytics includes science as well as philosophy whereas both are hyphenated by the canons of the relevant systems. This trial needs further discussions. 1 Einleitung Es mag vielen Fachkollegen reichlich fiberzogen erscheinen, zum gegenw/irtigen Zeitpunkt ffir ein eigenes Paradigrna der Analytischen Chemie bzw. der Analytik zu pl/idieren oder auch nur zu sprechen und dazu Beitr~ige zu liefern. Die Anerkennung unseres Faches ist allenthalben sowieso sicht- bar. Wenn wir aber z. B. nur das in den letzten Jahrhunderten enorm vergr613erte Inventar der Analytischen Chemie be- trachten, so sehen wir nicht nur die Notwendigkeit erweiter- ter und neuer Einteilungsprinzipien als jener aus der Chemie kommender, sondernd wir werden auch gewahr, dab Analy- tische Chemie bereits synonym ffir Analytik gebraucht wird. Wenn wir weiters vom Bild des Determinierers und Da- tenschauflers weg und unsere echte T/itigkeit als ,,Analyti- ker" im Sinne des urteilenden Aufkl/irers erffillen wollen, so mfissen wir auch fibergeordnete Standpunkte aus der Philosophie in unser Programm einbeziehen. Es geht schon lange nicht mehr nur um Richtigkeit und Genauigkeit u./i., sondern um die Wahrheit von Urteilen in Sache der materiel- len Welt. Was ist eine Oberflfiche, was ist ,,die" Probe und vieles andere mehr verlangen nach neuen Perspektiven. In dem Mage wie wir uns bei der Signalerzeugung und des - empfanges dem Einflul3 der Heisenberg-Relation n/ihern, mfissen wir uns der Bedeutung der Dioptrik, der Kanonisie- rung im allgemeinen bewuBt werden. Alles, was wir messen * Dieser Beitrag ist nicht nur ein Ausdruck der langen Verbunden- heit mit Professor Dr. W. Fresenius und dem seiner Familie zu verdankenden Sprachrohr der Analytischen Chemie, sondern ist auch Anlal3 ffir die herzlichen Glfickwiinsche zum 75. Geburtstag von Prof. Fresenius. Dieses Essay behandelt ein Thema (Eigenst/in- digkeit der Analytischen Chemie), das in seinem Lebenswerk oft aufklingt und in ,,seiner" Zeitschrift bereits in einigen Variationen bearbeitet wird und wurde. Es betrifft auch die Kernfrage nach der Zukunft der Analytischen Chemie als wichtigste Informationsquelle fiber unsere materielle Welt k6nnen, existiert auch, erst recht wenn wir mehrere objekt- bezogene Parameter gleichzeitig erfassen k6nnen. Aber zur Interpretation, zur ,,Bildkonstruktion" ben6tigen wir neue (so neu sind sie ja gar nicht) holistische Betrachtungsweisen. So wie wir bereits ,,um die Ecke und hinter das Objekt" schauen k6nnen, mfissen wir auch die noch wenig gebr/iuch- lichen Denkmodelle anwenden oder gar erst entwickeln. Or- tega y Gasset's berfihmter Ausspruch bei seinen Betrachtun- gen fiber die Technik [1]: ,,Daraus m6gen die Ingenieure ersehen, dab es nicht damit getan ist Ingenieur zu sein, um wirklich Ingenieur zu sein. Wfihrend sie mit ihrer besonderen Aufgabe besch/iftigt sind, zieht die Geschichte ihnen den Boden unter den Ffil3en weg. Man mul3 wachsam sein und aus seinem Berufskreis heraustreten, die Landschaft des Le- bens beobachten, die immer ein Ganzes ist. Die h6chste F/ihigkeit zu leben verbfirgt nicht irgendein Amt oder irgen- deine Wissenschaft; es ist die Zusammenfassung aller Be- rufe, aller Wissenschaften und noch viele Dinge mehr" aus dem Jahre 1929 (?) gilt erst recht ffir uns Analytiker. Auch wir dfirfen uns den Boden unter den FfiBen nicht wegziehen lassen. Wenn darfiber hinaus ein wertvolles, geschichtstr/ichti- ges, weithin geachtetes und Generationen Heimstatt gewor- denes Geb/iude renoviert, saniert und ausgebaut werden soll, so genfigt es nicht nur, die Fassade neu zu ,,f/irbeln", sondern wir mfissen wissen, auf welchem Boden unser Haus errichtet ist, wie sieht die Grundstatik aus und welche Baumaterialien stehen zum Ausbau zur Verffigung. Da eine wissenschaftliche Hypothese nur dann von be- sonderem Wert ist, wenn sie nicht nur das vorliegende, expe- rimentelle Datenmaterial zu deuten gestattet, sondern dar- fiber hinaus neuartige Erscheinungen vorhersagt und vermu- ten 1/igt, sind die Fakten zu dieser These immer einer beson- deren und sorgffiltigen Analyse zu unterziehen. Fallweise analysieren wir deduktiv das Datenmaterial und fallweise synthetisieren wir induktiv aus dem Datenmaterial neue Features. In jedem Fall wird aber Datenmaterial fiber reelle Systeme vonder Analytischen Chemie geliefert, aber nicht immer gebfihrend ausgewertet und riehtig bewertet. Dies vorwiegend aus Mangel eines eigenen Paradigmas. 2 Was ist ein Paradigma? Herkommend vom griechischen para+deiknynai (gegen, darfiber hinaus etc. -I- sehen, schauen) bedeutete dieses Wort eine geordnete Folge von Dingen, W6rtern, Vorg/ingen, Bei- spielen, Regeln, aber auch Vorbild, Schema, Schablone, Mo- dell und Gesetz. Nach Riedl [2] ist ein Paradigma in der

Zum Paradigma der Analytischen Chemie

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Fresenius leitschrilt tiir Fresenius Z Anal Chem (1988) 331:236-244

�9 Springer-Verlag 1988

Zum Paradigma der Analytischen Chemie* Hanns Malissa

Institut ffir Analytische Chemie, Technische Universitfit Wien, Getreidemarkt 9, A-1060 Wien, Osterreich

A paradigm for analytical chemistry

Summary. After a general discussion on paradigm and the demonstration of some examples (Boyle's law etc.) the para- digm of truth is considered. The main point is that truth can be reached by induction and deduction only hyperbolically. The first trial of establishing an own paradigm for analytics includes science as well as philosophy whereas both are hyphenated by the canons of the relevant systems. This trial needs further discussions.

1 Einleitung

Es mag vielen Fachkollegen reichlich fiberzogen erscheinen, zum gegenw/irtigen Zeitpunkt ffir ein eigenes Paradigrna der Analytischen Chemie bzw. der Analytik zu pl/idieren oder auch nur zu sprechen und dazu Beitr~ige zu liefern. Die Anerkennung unseres Faches ist allenthalben sowieso sicht- bar. Wenn wir aber z. B. nur das in den letzten Jahrhunderten enorm vergr613erte Inventar der Analytischen Chemie be- trachten, so sehen wir nicht nur die Notwendigkeit erweiter- ter und neuer Einteilungsprinzipien als jener aus der Chemie kommender, sondernd wir werden auch gewahr, dab Analy- tische Chemie bereits synonym ffir Analytik gebraucht wird.

Wenn wir weiters vom Bild des Determinierers und Da- tenschauflers weg und unsere echte T/itigkeit als ,,Analyti- ker" im Sinne des urteilenden Aufkl/irers erffillen wollen, so mfissen wir auch fibergeordnete Standpunkte aus der Philosophie in unser Programm einbeziehen. Es geht schon lange nicht mehr nur um Richtigkeit und Genauigkeit u./i., sondern um die Wahrheit von Urteilen in Sache der materiel- len Welt. Was ist eine Oberflfiche, was ist ,,die" Probe und vieles andere mehr verlangen nach neuen Perspektiven. In dem Mage wie wir uns bei der Signalerzeugung und des - empfanges dem Einflul3 der Heisenberg-Relation n/ihern, mfissen wir uns der Bedeutung der Dioptrik, der Kanonisie- rung im allgemeinen bewuBt werden. Alles, was wir messen

* Dieser Beitrag ist nicht nur ein Ausdruck der langen Verbunden- heit mit Professor Dr. W. Fresenius und dem seiner Familie zu verdankenden Sprachrohr der Analytischen Chemie, sondern ist auch Anlal3 ffir die herzlichen Glfickwiinsche zum 75. Geburtstag von Prof. Fresenius. Dieses Essay behandelt ein Thema (Eigenst/in- digkeit der Analytischen Chemie), das in seinem Lebenswerk oft aufklingt und in ,,seiner" Zeitschrift bereits in einigen Variationen bearbeitet wird und wurde. Es betrifft auch die Kernfrage nach der Zukunft der Analytischen Chemie als wichtigste Informationsquelle fiber unsere materielle Welt

k6nnen, existiert auch, erst recht wenn wir mehrere objekt- bezogene Parameter gleichzeitig erfassen k6nnen. Aber zur Interpretation, zur ,,Bildkonstruktion" ben6tigen wir neue (so neu sind sie ja gar nicht) holistische Betrachtungsweisen. So wie wir bereits ,,um die Ecke und hinter das Objekt" schauen k6nnen, mfissen wir auch die noch wenig gebr/iuch- lichen Denkmodelle anwenden oder gar erst entwickeln. Or- tega y Gasset's berfihmter Ausspruch bei seinen Betrachtun- gen fiber die Technik [1]: ,,Daraus m6gen die Ingenieure ersehen, dab es nicht damit getan ist Ingenieur zu sein, um wirklich Ingenieur zu sein. Wfihrend sie mit ihrer besonderen Aufgabe besch/iftigt sind, zieht die Geschichte ihnen den Boden unter den Ffil3en weg. Man mul3 wachsam sein und aus seinem Berufskreis heraustreten, die Landschaft des Le- bens beobachten, die immer ein Ganzes ist. Die h6chste F/ihigkeit zu leben verbfirgt nicht irgendein Amt oder irgen- deine Wissenschaft; es ist die Zusammenfassung aller Be- rufe, aller Wissenschaften und noch viele Dinge mehr" aus dem Jahre 1929 (?) gilt erst recht ffir uns Analytiker. Auch wir dfirfen uns den Boden unter den FfiBen nicht wegziehen lassen.

Wenn darfiber hinaus ein wertvolles, geschichtstr/ichti- ges, weithin geachtetes und Generationen Heimstatt gewor- denes Geb/iude renoviert, saniert und ausgebaut werden soll, so genfigt es nicht nur, die Fassade neu zu ,,f/irbeln", sondern wir mfissen wissen, auf welchem Boden unser Haus errichtet ist, wie sieht die Grundstatik aus und welche Baumaterialien stehen zum Ausbau zur Verffigung.

Da eine wissenschaftliche Hypothese nur dann von be- sonderem Wert ist, wenn sie nicht nur das vorliegende, expe- rimentelle Datenmaterial zu deuten gestattet, sondern dar- fiber hinaus neuartige Erscheinungen vorhersagt und vermu- ten 1/igt, sind die Fakten zu dieser These immer einer beson- deren und sorgffiltigen Analyse zu unterziehen. Fallweise analysieren wir deduktiv das Datenmaterial und fallweise synthetisieren wir induktiv aus dem Datenmaterial neue Features. In jedem Fall wird aber Datenmaterial fiber reelle Systeme vonde r Analytischen Chemie geliefert, aber nicht immer gebfihrend ausgewertet und riehtig bewertet. Dies vorwiegend aus Mangel eines eigenen Paradigmas.

2 Was ist ein Paradigma?

Herkommend vom griechischen para+deiknynai (gegen, darfiber hinaus etc. -I- sehen, schauen) bedeutete dieses Wort eine geordnete Folge von Dingen, W6rtern, Vorg/ingen, Bei- spielen, Regeln, aber auch Vorbild, Schema, Schablone, Mo- dell und Gesetz. Nach Riedl [2] ist ein Paradigma in der

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Wissenschaft das Grundkonzept mit den Voraussetzungen und Annahmen einer Schule oder einer Zeit. Kuhn [3] ordnet einem Paradigma all das zu, was den Mitgliedern einer wis- senschaftlichen Genossenschaft gemeinsam ist, und umge- kehrt besteht eine wissenschaftliche Gemeinschaft aus Men- schen, die ein Paradigma teilen.

Bewul3t oder unbewul3t, freiwillig oder unfreiwillig, ha- ben wir und folgen wir religi6sen, politischen, wissenschaftli- chert usw. Paradigmata oder sind uns solche auferlegt; in allen Ffillen sind es die jeweiligen Grundkonzept e einschliel3- lich Pr/imissen und Syllogismen, die sowohl unser Gesamt- bild formen als auch Teilbilder davon. Von grol3em Interesse sind in dieser Hinsicht z.B. die Ausffihrungen von Jantsch [4] fiber die Selbstorganisation des Universums als auch die paradigmatische ,,Logik der Forschung" [5] bzw. ,,Objektive Erkenntnis" [6] von Sir Popper, die ,,Evolution/ire Erkennt- nistheorie" von Vollmer [7] u.v.a. Am wesentlichsten aber ist nach den jfin.gsten Ausffihrungen Liitterfelds [8] ffir uns: ..... Sofern die Uberzeugung vorherrscht, dab zwischen den wissenschaftsexternen Faktoren (z. B. soziale Bedfirfnisse, pers6nliche Vorliebe usw.) und dem gedanklichen Inhalt einer Theorie keine s/iuberliche, eindeutige Trennung m6g- lich ist, scheint auch jenes platonische Ideal einer sogenann- ten Wahrheit an sich verworfen werden zu mfissen ... Wenn die Wahrheit einer Theorie nicht relativ zu Raum und Zeit, zur Gesellschaft, zu Wissenschaftstypen usw. ist, so dab sie in keiner Weise als Funktion geschichtlich wechselndes Paradigma aufgefal3t werden daf t und es keineswegs eine gleichsam demokratische Pluralit/it von Ansammlungen wahrheitsf/ihiger und auch m6glicherweise wahrer Theorien geben k6nnte, darum scheint man einem Wahrheitsideal anzuh/ingen, das ffir die normale Wissenschaft v611ig irrele- vant zu sein scheint, eben weil die Abh/ingigkeit einer wissen- schaftlichen Praxis yon den erw/ihnten externen Faktoren immer bestand und besteht.

Doch hat sich gerade das platonische Wahrheitsideal in historischen Auseinandersetzungen mit skeptischen und relativistischen Positionen entwickelt sowie aus deren imma- neuter Selbstwiderlegung herausentwickelt. Insofern ist die Idee einer objektiven Wahrheit ein unverzichtbarer wissen- schaftssteuernder, regulativer Begriff...". Damit ist es auch ffir uns klar, dab wir in der Wahrheitsfindung ein Paradigma haben, dab wir dieses zur Erkl/irung brauchen, aber noch nicht ausformuliert ist. Da es aber auch der Zeit unterworfen ist, ist auch der Wechsel von Paradigmen unvermeidlich.

Lange Zeit, vielleicht zu lange Zeit, war unser bisheriges Paradigma das Paradigma der ,,Determinatoren", weil wir uns der unvermeidlichen philosophischen Komponente zur jeweiligen Fragenstellung nicht gestellt haben.

Auf der Suche nach Zusammenh/ingen in der Religions- entwicklung z. B. gibt Kfing [9] der Kuhnschen Paradigmen- theorie breiten Raum, spricht von Grol3paradigmen und sagt u.a. : ..... weil es bier um Paradigmen geht, um lang herangereifte, tief verwurzelte, alles beeinflussende, oft be- wul3te und oft unbewul3te Grundannahmen, ist der Streit zwischen sogenannten ,Progressisten' und ,Konservativen' scheinbar so unvers6hnlich". A, hnliches sehen wir in den Naturwissenschaften.

Die grol3e Bedeutung eines Paradigmas wird ganz klar z. B. bei der Pflanzenbestimmung im Bereich der Vegetation. Das Schema C. v. Linn6s, seine ,,Systema naturae", ist auch heute noch immer das Werkzeug der wissenschaftlichen Pflanzenordnung und Vegetationsbetrachtung. Die ganze Sinnhaftigkeit und der groge Wert eines Paradigmas wird

uns bei Betrachtung und Gebrauch des PSE Periodischen Systems der Elemente bewuBt. Hier sehen wir die fiber Jahrhunderte angesammelte Ffille des Detailwissens fiber chemische Elemente in fibersichtlicher, leicht erkennbarer Form dargestellt. Aber es war nicht immer so und es ist auch heute noch Wandlungen unterworfen.

Ober den Paradigmenwechsel in der Chemie v o n d e r Alchemie zur 6kologischen Chemie und die Abl6sung der Phlogistontheorie durch die Oxidationstheorie (mit Hilfe der Analytischen Chemie) wurde bereits berichtet [10].

3 Entstehung des Paradigmas fiir die Analytische Chemie

In den Naturwissenschaften gehen die Entstehung, Aufstel- lung, Gebrauch und Wechsel eines Paradigmas meist in drei wesentlichen Stufen vor sich, so auch ffir die Analytische Chemie:

1. die empirische Beobachtung und Faktensammlung zur These, Axiom etc. ftihrt zur Paradigma-Artikulierung

2. Versuche zur Obereinstimmung zwischen Natur (res) und Theorie (intellectus) ffihren zur Paradigma-Theorie, und

3. die Faktensammlung, die sich aus diesem Paradigma er- gibt, ffihrt fiber den Gebrauch zur Paradigma-Bewah- rung oder zum Paradigma-Wechsel.

Ein gutes Beispiel der grogen Bedeutung der Datenana- lyse zeigen die Entwicklung und der Wechsel des Paradigmas der Gasgesetze. Wann die Zusammenh/inge zwischen Druck und Volumen erstmals erkannt wurden ist unbekannt; unbe- stritten sind jedoch die Messungen Boyles 1681 an durch Hg komprimierter Luft und seine aus den MeBdaten gewonne- nen Produkte yon P • V, die sich als ,,konstant" erwiesen. Zusammen mit dem Avogadroschen und Charlesschen Ge- setz (die erst etwa 100 Jahre sp/iter gefunden wurden) haben wir das heute noch fibliche Gesetz ffir ideale Gase.

Die graphische Darstellung (Abb. 1) zeigt die bekannte Hyperbel (Abb. I a) und kann der allgemeinen Gleichung x . y = const, zugeschrieben werden, und im ideal-theoreti- schen Fall mfil3te das ideale Gasgesetz die Form des rechten oberen Astes der idealen Hyperbel wie z.B. in Abb. 1 d haben.

H/itte er die Mel3punkte genauer analysiert - z.B. Druck gegen die jeweilige Differenz benachbarter P . V- Werte (Abb. 1 C), h/itte er sicherlich erkannt, dab von einer Verallgemeinerung nicht gesprochen werden kann. So dau- erte es abermals etwa 100 Jahre, bis Van der Waals 1873 die bekannte Gleichung ffir reale Gase aufstellen konnte. Der Paradigmenwechsel fiber die zwei Jahrhunderte von 1670

b i s / 8 8 0 g i n g a l s o v o n P . V = R . T ~ P + . ( V -

b) = R �9 T und ist mit vielen Namen wie z.B. Gay-Lussac, Avogadro, vor allem aber mit Van der Waals verbunden, und heute mfissen wir, je nach spezifischem Zweck, neben diesen beiden noch jene Paradigmen, die zu den Formulie- rungen von Berthelot oder Dieterici und weiter zu den ,,tech- nischen" Gasgesetzen ffihren, hinzunehmen. Das heute all- gemein gfiltige Grol3-Paradigma der Gase (primary para- digm) folgt, in der Sprache der physikalischen Chemie dem Virialansatz

P " V = R �9 T + B P + C P 2 + . . ,

wobei B den zweiten und C den dritten Virialkoeffizienten bezeichnet. All diese ,,Gesetze" und die dazugeh6rigen Ar- beitstechniken stellen ,,das" Paradigma der Gastechnik dar,

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B

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N

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40-

20-

0 0

238

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I I 1o 3; 5'o V (willkLirliche Finheiten)

120-

100-

80-

60-

t.0-

20-

0 0

b

B

I I I O. 2 0.04 0.06 0.08 C

1IV (willkQrliche Einheiten )

2 0 -

.r ee P.V = const.

50- p �9

80- �9

e ~ PV4~ const. 110- �9

1420 1380 13/-0 c ~ PxV

Abb. 1 a - d . Paradigma des ,,idealen Gasgesetzes"

y '

K

1

o - g 2 = r 0F2=2

Boyles Originaldaten fiir den Zusammenhang zwischen Druck und Volumen von atmosph/irischer Luft

Volumen, V Druck, P (Markierungen entlang (Zoll Rohr mit gleichmfiBigem Quecksilbers/iule) Querschnitt)

P . V

A 48 29~ 1400 46 30~16 1406 44 3111~ 1408 42 33~ 1410 40 351~ 1412 38 37 1408 36 39~ 1416 34 41~ 1420 32 44~ 1416 30 47~ 1414 28 50~ 1410 26 54~ 1412 24 58~ 1414 23 61~ 1411 22 64~ 1411 21 67~ 1410 20 70~ 1415 19 742-16 1410 18 77~ 1403 17 82~ 1410 16 87~ 1407 15 93~ 1398 15 100~16 1408 13 107~ 1395

B 12 111~ 1342

wie dies in Abb. 2 dargestellt ist, wobei ,,die" Gastechnik die Hiillkurve fiber die Paradigmen ist, und das ontogenetische Paradigma als Ordinate und die phylogenetische, entwick- lungsgeschichtliche Paradigmenentwicklung aus der Zeit- achse hervorgeht.

Wenn wir zur Paradigmenentwicklung auch noch den analytisch fa6baren Ereignisraum mit seinen r/iumlichen und zeitlichen, jeweils fiber 40 Zehnerpotenzen umfassenden Dimensionen betrachten, so sehen wir sofort, dal3 ein solches System, um wissenschaftlich glaubwfirdig beschrieben zu

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Jahr Abb. 2. Paradigma der Gastechnik. 1 Toricelli; 2 Boyle; 3 Mariotte; 4 Charles; 5 Gay-Lussac; 6 Dalton; 7 Avogadro; 8 Clausius; 9 Loschmidt; 10 V.d. Waals; 11 v. Linde; 12 Maxwell; 13 Thomson; 14 Berthelot; 15 Boltzmann; 16 Kamerlingh-Onnes; 17 Hertz; 18 Clusius

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Abb. 3. Phylogenese des Paradigmas der Lichttheorie. 1 Undulationstheorie, Huyghens 1678 ; 2 Emissionstheorie, Newton 1704; 3 Elektroma- gnetische Lichttheorie, Maxwell 1865; 4 Quantentheorie, Planck 1900; 5 Quantentheorie, Einstein 1905; 6 Materiewellentheofie, De Broglie 1924

werden, nur fiber den systematisierten Makro-, Meso- und Mikrokosmos erfaBt werden kann. Dazu sind auger einer Kanonisierung natfirlich unterschiedliche Perspektiven und deren Abbildungsmechanismus notwendig sowie deren Grenzbereichsdefinitionen.

Das zu einem bestimmten Zeitpunkt herrschende oder vorgegebene, ontogenetische, a priori gfiltige Paradigma ist immer nut aus seiner historischen Entwicklung, also aus seiner Phylogenese - also a posteriori - zu verstehen. Ein gutes Beis.p.iel ist das derzeit gfiltige, aus Bfichern, Vorlesun- gen und Ubungen erlernbare Paradigma der allgemeinen

Lichttheorie, und die dazugehgrigen Tatsachen m/issen nicht jedesmal neu entdeckt und erforscht werden - sie sind vorhanden. Die Entwicklung 1/igt sich - vergrgbert - in 6 Perioden verfolgen:

1. 1678 Undulationstheorie 2. 1704 Emissionstheorie 3. 1865 elektrornagnetische Lichttheorie 4. 1900 Quantentheorie 5. 1905 Quantengesetz 6. 1924 Materiewellentheorie

Huyghens Newton Maxwell Planck Einstein de Broglie.

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Tabelle 1. Kategorien

Quantit/it Qualit/it Relation Modalit/it (Umfang) (Giiltigkeit) (Beziehung) (Art der Giiltigkeit)

Allgemein Bejahend Kategorisch Problematisch (vermutend)

Besonders Verneinend Hypothetisch Assertorisch (behauptend)

Einzel Unendlich Disjunktiv Apodiktisch (notwendig)

Die graphisehe Darstellung in Abb. 3 zeigt skizzenhaft das Gesamtparadigma der Lichttheorie, wobei keines der sechs Teilparadigmen verschwindet (im Gegensatz zur Phlo- gistontheorie). Zur Anwendung der Lichttheorie in der Ana- lytik kommen aber noch viele Entwicklungen und Beobach- tungen auf anderen Gebieten hinzu, so dab z.B. fiber die Mechanik, Glastechnik, Elektrik und Elektronik, fiber Fraunhofer, Kirchhoff und Bunsen, Michelson, Mosely, R6ntgen, Lundeg~rdh u.v.a. ,,unsere" Spektroskopie entste- hen konnte. Die wesentliche Aussage dieser Skizze liegt aber darin, dab aus der Abscisse der zeitliche Verlauf, also die Phylogenese (die Entstehung) des Paradigmas ersehen wer- den kann; aus der Ordinate aber der zum Zeitpunkt x gfiltige ontogenetische, d.h. der inh/irente Paradigmen-Inhalt ange- zeigt wird. Es zeigt das (in Bibliotheken, Lehrbfichern usw.) vorhandene kumulierte Wissen an und ist somit apriorisch geworden. In diesem Sinn mfissen auch Kuhn u. a., z. B [10], verstanden werden.

Analytik ohne aristotelischer-kantianischer Kategorien- lehre, oder - wie es in der Scholastik hieg - Pr/idikatibi- lenlehre und den Syllogismen der Urteilsbildung, ist ein un- m6gliches Beginnen. Schon allein die Ffille der Urteile (Er- gebnisbegrfindungen) ist heute, der Kantschen Philosophie gehorchend, in 12 Kategorien einzuteilen, denen wir aller- dings meist nur unbewul3t und nicht immer logisch folgen. Dabei wird im Einklang mit der Kategorienlehre der analyti- schen Philosophie ein Urteil: als ein analytischer oder syn- thetischer Satz aus dem Wortvorrat des Subjektbegriffes, der Kopula (Verbindung) und deren Pr/idikatenbegriff nach Tabelle I gebildet.

Ganz gleichgfiltig, ob wir Daten selbst erarbeitet haben oder ob sie ein ,,Automat" liefert, immer mul3 das daraus gebildete Urteil, auch wenn es nur ff = 16% lautet, seine Qualit~t, Quantit/it, Relation und Modalit/it deutlich zum Ausdruck bringen. Diese Kantsche Forderung ist, da sich Relation auf die ,,inneren" Beziehungen, und Modalit/it auf die ,,/iul3eren" bezieht, heute in die vereinfachte Form des ,,logischen Quadrates", Tabelle 2, gebracht werden.

Tabelle 2. Logisches Quadrat

Quantits.t

s = Subjekt

QualitS.t

universal partikular

bejahend verneinend

S a P S e P S i P S o P

P = Pr/idikat a = bejahend allgemein e = verneinend allgemein i = bejahend im einzelnen o = verneinend im einzelnen

Zum Beispiel ist der Satz: ,,Niemals reagiert Xe mit F"

nach Tabelle I apodiktisch, diskonjunktiv, allgemein und unendlich; nach Tabelle 2 S e P, d.h. universal verneinend; der Satz:

,,Der Wert X ist richtig" dagegen assertorisch, kategorisch, bejahend und einzel bzw. S i P partikul~ir bejahend.

Damit ist zwar die Kategorienlehre bei weitem nicht ersch6pft, doch die Einteilung nach Quantit~it und Qualit~it ist ffir uns die wichtigste, und geben wit Urteile nach diesen Gfitemerkmalen ab, so sind wir - wie Amerikaner sagen w/irden - keine ,,Determinatoren", sondern Analytiker.

Die Geschichte der Analytischen Chemie - wie sie z. B. von Szabadvary [11] entworfen wurde - gibt einen ausge- zeichneten Hintergrund zur Erstellung des Paradigmas der Analytik. Dies abet genfigt noch immer nicht, denn es mils- sen diese ,,technischen" Daten in das erkenntnistheoretische philosophische Umfeld eingebaut werden.

Gerade bei der extremen Mikro- (Attogramm-Bereich) und Spurenanalyse (ppq-Bereich), aber z.B. auch bei der Oberfl/ichenanalyse n/ihern wir uns dem Gebiet, wo das sichere Wissen oder auch nur das wahrscheinliche Wissen aufh6rt, und der Spekulation ein sehr weiter ,,Spiel-Raum" gegeben ist. Hier ist auch ein Grenzgebiet, wo Chemie und Physik (aber auch Biologie) anfangen in die Philosophie fiberzugehen. Ein Gebiet, welches Emich vor 80 Jahren schon als das ,,Gebiet der unsicheren Reaktionen" bezeich- nete. Hier kommen schon die Grundkategorien yon Sub- stanz, Kraft und Kausalit/it zum Tragen. Daher scheint es zwingend geboten, sich fiber den Kanon bzw. die Kanonisie- rung der Systeme Makro - Meso - Mikro ernsthafte Ge- danken zu machen, denn erst diese gestattet es, als ,,Ko- pula", als Bindeglied zwischen Wissenschaft und Philoso- phie zu dienen. Bezeichnete ursprfinglich das Wort Kanon einen geraden Stab, so ist methaphorisch die jeweilige Regel (oder sind die Regeln) gemeint, die die Dinge zu einer (lo- gisch) geraden Folge anordnen (z. B. das Kanonische Recht der katholischen Kirche). Deutlicher kommen die kanoni- schen Regeln schon in der Musik hervor, und Hofstadter [12] gibt in seinem Buch ,,G6del - Escher - Bach, An Eternal Golden Braid" mit der kanonischen Betrachtung der DNA einen Zugang zur Molekularbiologie. F/Jr uns liegt in der Kanonisierung der wesentliche Punkt darin, dab wir sagen k6nnen: ,,Ein kanonisches Ensemble ist ein geordneter Satz von Replikationen von imagin/iren oder reellen Einhei- ten." Wenn z.B. dieser Satz (set) 1 mol ist, so wissen wir, dab immer 6,022... 1023 elementarer Einheiten das Ensem- ble darstellt (ein Ensemble ist immer eine aufeinander abge- stimmte Gruppe). Daraus ergeben sich viele weitere Fra- gen - wie z.B. die des Fractalen-Konzeptes in Mikro- und Makrowelten. Hier sehen wir abet auch, wie dringend die Systemtheorie mit Graphentheorie usw. ist.

F/ir alle Systeme, insbesondere fiir die gasf6rmigen und die Energiezustfinde tritt das Entropiekonzept besonders stark hervor. Die Entwicklung dieses, ffir die Analytik (chem. und phys.) wichtigen Konzepts zeigt schon in seiner erweiterten Boltzmann-Planck-Formulierung [13]

S = k . l o g . W (E, N , V, fl)

(__wobei E = innere Energie, N = mittlere Teilchenzahl, V = mittleres Volumen und fl = Mittelwert der inneren Zustandsparameter bezeichnen) die engen Beziehungen Vo-

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lumen-Teilchenzahl, und wir sehen bereits die Wichtigkeit der Kanonisierung. Fiir die Praxis hat z. B. Benedetti-Pichler [14] schon 1951 gezeigt, dab fiir eine ,,erfolgreiche" chemi- sche Reaktion 60000 Molekfile notwendig sind, was bei einem mittleren Molekulargewicht von 100 zur Masse 1,7.10-16 g ffihrt. Unter Einbeziehung des N/V-Verhfiltnis- ses und der Kollisionstheorie sehen wir z.B. ganz deutlich den Unterschied von Mikro- und Makrosystemen und den Unterschied zwischen Mikro- und Spurenanalyse, denn glei- che Mengen in 100 ml oder 100 gl gel6st zeigen unterschied- liches Reaktionsverhalten.

Die Kanonisierung, die auch das systemtheoretisch rich- tige Vorgehen z.B. die Form der PAMS-Technik (Problem- stellung, Abgrenzung, Modellierung und Simulation) [14] beinhalten mul3, gestattet erst die Erstellung von Arbeits- techniken in den einzelnen Bereichen. Zumindest ebenso wichtig ist die Kanonisierung der Probenahme. Eine Analyse kann niemals besser sein als es die Probe erlaubt, das Urteil aber reflektiert auf das gesamte Kollektiv! Gemessener Wert und beurteiltes Kollektiv stehen mitunter im Verh/iltnis von 1:102~ (Umweltanalytik). Und doch wird dieses Kapitel kaum in Lehrbiichern der Analytischen Chemie behandelt und auch in der Lehre spielt es bisher eine meist untergeord- nete Rolle. Kennt man nur etwas die Arbeitsweise, das Ri- tual der vereidigten Probenehmer und deren wirtschaftliche Bedeutung, so wundert man sich nur fiber die oberfl/ichliche Behandlung dieses Arbeitsgebietes. Die vor 60 Jahren er- schienene grundlegende Arbeit von Baule und Benedetti- Pichler [14] sollte zur Pflichtlektiire jedes Analytikers geh6- ren. Die ungeheure Rolle der kanonisierten Probenahme ist ganz deutlich bei umweltrelevanten Fragen erkennbar. Abet ebenso wichtig ist z.B. die Frage: Was ist eine Oberfl/iche? Hier kommen wir ohne eine kanonisierte Definition sehr bald nicht weiter. Das heil3t, wir mfissen den Grundformen der Definitionsvarianten mehr Beachtung als bisher schen- ken, wollen wir eine gemeinsame Basis nicht verlieren.

Nicht umsonst widmet v. Weizsficker in seinem Buch ,,Einheit der Natur" [16] einen ganzen Abschnitt der Imma- nenz Kants in der Natur-(Welt-)Beschreibung. Ohne diese ist eine Beurteilung oder daraus abgeleitete Beschreibung und Abbildung der ,,Dinge" - seien es Entitfiten, Monaden o.a. genannt - nicht m6glich. Kants ,,Kritik der reinen Vernunft", vor allem aber seine ,,Kritik der Urtheilskraft" [17] sind auch ffir uns nicht nur richtungsweisend sondern im Hinblick auf die Gr6ge des bereits erfal3baren Kosmos unentbehrlich. Denn es ist der Weg, der Modus, d, wie wir die Entit/iten und deren Eigenschaften beschreiben und be- urteilen k6nnen. Kant teilt dieses Werk in zwei grol3e Teile, und zwar in die Kritik der/isthetischen (d. h. hier ,,sinnlich erfal3baren") und teleologischen (d. h. hier ,,zielgerichteten" wie etwa bei Aristoteles ,,causa finalis") Urteilskraft. Zusam- men mit den Paradigmen der natiirlichen und Metasprachen ist eine tiefere Befassung gerade im Hinblick auf die Oberlas- sung vieler Analysenschritte an die ,,ktinstliche Intelligenz" und Expertensysteme bei der modernen Analytik unerl/iB- lich.

Der wichtigste Schritt zum Paradigma der Analytischen Chemie (oder besser: Analytik) ist:

4 Das Paradigma der Wahrheit

Da dieses zentrale Problem immer wieder Gegenstand yon (tiefgrfindigen) fQberlegungen und Betrachtungen ist, sollte

es auch bier nicht ausgeschlossen sein, zumal es ja auch die Grundlage unserer analytischen und/oder synthetischen Urteile ist. Dabei steht der alte, unerffillbare Wunsch, ,,wahr- heitsbewahrende Erweiterungsschlfisse" zur Kenntnis unse- rer materiellen Welt sicher erstellen zu k6nnen, an vorderster Stelle. DaB dies aus prinzipiellen Gegebenheiten unm6glich ist, sagt uns schon die strikte Anwendung der ,,unendlichen" Induktion (siehe Popper [4]). Dies aber zwingt uns, praktisch faBbare und mathematisch fiberschaubare Bereiche system- theoretisch abzudecken, und zwar in Makro-, Meso- und Mikrokosmos, wobei aber Makro- und Mikrokosmos zu ,,offenen" Enden ffihren und nur der Mesokosmos (unser erweiterter, fiberschaubarer Ereignisraum) annfihernd ab- grenzbar ist. Daraus ergeben sich aber schon die Grundzfige der wichtigsten Paradigmen (primary paradigms) [10]. Das sind jene, die sich mit den derzeit gfiltigen Gesetzen, Axio- men und Regeln befassen.

Ffir die zur modernen Analytik geh6renden Zweige kom- men dann die sekund/iren, den Methoden gewidmeten Para- digmen hinzu (secondary paradigms) [10].

Dieses Paradigma ist, gemfii3 dem von F. Hecht vermit- telten Slogan das ,,Prima lex analyticae est, nequid false dicere audeat", aber auch das schwierigste. Damit war weni- ger an ,,Schwindeleien" gedacht als an die Notwendigkeit, das erhaltene Resultat nach allen Richtungen hin abzusi- chern.

Ffir ein gegebenes Problem (analytischer Art im Sinne der Naturwissenschaften) kann es nur eine wahre L6sung geben, unabhfingig davon, mit welcher Methode es gel6st erscheint, und es gelten dabei die Aussagen Bavniks [18]: ,,Die Wahrheit wird (...) nicht vom Geiste erzeugt, sondern nnr erfal3t, freilich nur in einem Prozeg unendlicher Ann/ihe- rung" und Lichtenbergs: ,,Die Wahrheit ist die Asymptote der Forschung" [18]. Grosso modo kommen wir aber auch nach Inanspruchnahme aller Statistik im empirischen Be- reich nur zur einfachen analytischen Wahrheit mit den drei wichtigsten Aussagen: Mittelwert, Standardabweichung und den sich daraus ergebenden Variationskoeffizienten. Da sich darauf die Urteile oft nur als Zahlenergebnisse darstel- len, mul3 ein gewaltiger Impuls an Philosophie bereits hier eingebracht werden.

Da es nur einen wahren Wert x gibt (auch wenn wir ihn nicht erreichen k6nnen), kann die allgemeine Form x = f(v, s) = const, ftir die Praxis auch als x = v- 1. s angeschrie- ben werden, und wir bekommen in der Hyperbelfunktion wiederum einen Hinweis daffir, dab wir uns dem wahren Wert nur asymptotisch nfihern k6nnen.

Wie sich dies in der analytischen Praxis zu erkennen gibt, zeigen die Beispiele in Abb. 4. Hier ist z.B. in Abb. 4a der prozentuelle Variationskoeffizient gegen C-Gehalt in Eisen- werkstoffen und in Abb. 4b die prozentuelle Standardab- weichung verschiedener Elemente in St/iuben gegen Konzen- tration aufgetragen, in Abb. 4 c schlieglich ist der hyperboli- sche Zusammenhang c --- 2v dargestellt.

Wenn wir von unserem ,,/iberschaubaren" Kosmos, yon der Ultra-Ultra-Mikroanalyse bis zur Teleanalyse ausgehen, stogen wir zur Wahrheitsfindung immer auf die Forderung der Korrelation yon rei et intellectus, und die Antwort auf diese Forderung ist eine 45~ [18]! Diese wiederum ist eine Hauptachse des Hyperbelsystems mit der Gleichung x. y = 1, die entsteht, wenn wir den aus der Rotation um die x- (oder y-)Achse des Koordinatensystems der 45~ entstandenen Doppelkegel mit einer Ebene parallel zu x oder y schneiden, wie dies in Abb. 5 angedeutet ist.

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242

20-

15-

c

N 10 C O "C O >

\\c ~i \\ ~o-

\ \ \ _ 3 0 -

o~ \ \

\ eLektrometrisches \ ,~ \,

~ Verfohre i ~4\ \ \ 3

\\ gasvolumetrisches \ . k \ Verfohren

" \ 7,1. b "k/x'B'--._..N.\ . .

z --- Q - �9

100 1000 10 000 a - - p.gC

- - Analysis of five spots

- - - Analysis of one spot ( 5 measures)

l~ Vl ZnBrlSI AI

Nn Ti K Pb Average concentration (wt %)

Fe Si Ca

1000-

900-

800-

700-

600-

500-

~00-

300-

200-

100-

0 I I I / I I I I I I 100 200 300 Z,00 500 600 700 800 900 1000

c V 7500

Abb. 4 a - c Hyperbolische Zusammenh/inge. a C in Eisenwerkstoffen [22]; b verschiedene Elemente in St/iuben [23]; c Wellenl/inge und Frequenz

Damit ergibt sich f/Jr das Paradigma der naturwissen- schaftlichen Wahrheit etwa folgender Ansatzpunkt: Da es, als hypothetisches Axiom, nur eine Wahrheit geben kann (allerdings aus unterschiedlichen Perspektiven betrachtbar), muB diese sowohl durch rationalistisch-deduktive Argumen- tation als auch durch empirizistisch-induktive Arbeitsweisen auffindbar sein, d.h., die aus der Deduktion gezogenen ana- lytischen Schl/isse mfissen zum gleichen Ergebnis wie die aus der Induktion gezogenen, synthetischen ffihren. Dabei gilt dies selbstverst/indlich wegen des Humeschen Induktions- problems nur ffir ,,abgeschlossene Systeme".

W~ihrend beim Schnitt des Kegels mit der Ebene parallel zur Basis Kreise im Kegel erhalten werden, gehen diese mit der Neigung der Ebene in Ellipsen fiber, und sobald sie die Basisflfiche parallel zur Mantelgeraden schneiden, in eine Parabel. In all diesen Ffillen bewegen wir uns aber immer nur in einem Kegel und somit im Bereich der Induktion oder

Deduktion. Wenn die Ebenen parallel zur Kegelachse den Doppelkegel schneiden, ergeben sich symmetrische Hyper- beln. Das hei6t also, wir k6nnen, wenn wir die volle Oberein- stimmung zwischen reis et intellectus fordern, die Wahrheit nur in hyperbolischer Weise erreichen.

Ein derartiges, hyperbolisches Wahrheitskonzept steht keineswegs im Widerspruch mit Poppers ,,Logik der For- schung" [5], noch mit der evolution/iren Erkenntnistheorie Vollmers [7], Riedls [2] u. a.

5 Weitere Paradigmen zur Analytischen Chemie

Wenn auch das Paradigma der Wahrheit, als hyperbolisches Konzept, yon gr6gter Wichtigkeit ist, so sind zur Erreichung des GroB-Paradigmas der Analytik noch die mehr aus der Methodologie kommenden Paradigmen der Analysendurch- ffihmng notwendig.

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Deduktion L

/// / I

Induktion /

/ [ /

/ / / Z /2

2

|

I I

I I

Deduktion

Induktion

Abb. 5 a, b. Hyperbel-System. a Schnitte eines symmetrischen Doppelkegels mit einer Ebene. 1 Parallel zur GrundflS.che = Kreis; 2 geneigt zur Kegelachse = Ellipse; 3 parallel zur Mantellinie = Parabel und durch die Basis; 4 dutch beide Kegel auSerhalb der Spitze = Hyperbel. b Schnitt eines Doppelkegels parallel zur Kegetachse ergibt eine Hyperbel

L Noturwissenschaften

Chemische Physikalische Biologische COBAC [24] Analyse [20] Analyse [20] Analyse [20]

MWG Thermod. etc.

E = mc 2 E= hv etc,

Taxonomie etc.

System- und Informationstheorie

I L Mathematik

Roboter Computer AI

I L L TroditioneUe Formale Logik I Pr~dikat Logik I Aussage Logik I

- - T -

Philosophie ]

Empir ie Rationol ismus Erkenntnis- theorie

Positivismus Ideenlehre Analyt. P h i l . Kritischer

" Idealismus Induktion .:

Deduktion

I I Wahrheitstheorien

Hermeneutik (Perspektiven) Adaequatio rei et inteltectus

Evotution. Erkenntnist. 3 Weiten

I I I

J Synthetische und analytische Urteiie: Verifikot[on- Faisifikation

Abb, 6. Entwurf eines Paradigmas der Analytik

Das Paradigma der Repriisentation der Probe

Unabh/ingig v o n d e r Kanonisierung der Probenahme, die selbstverst/indlich zum Paradigma der Probe als Repr/isen- tant eines zu beurteilenden Kollektivs notwendig ist, gibt es hier einen praktisch sichtbaren Zusammenhang zwischen Deduktion und Induktion. Beim ,,Ziehen" einer Probe un- terstellt man, dab die gesuchte Eigenschaft, das Pr~idikat des Satzes unseres zu f/illenden Urteils proport ional zum Kollektiv unver/indert in Form und Zahl auch vorhanden sei und schlieBt induktiv aus einer Anzahl von Bestimmun- gen auf das Kollektiv zurfick.

Da die ,,Probe" als Repr/isentant des zu untersuchenden Kollektives alle Informationen enth~ilt, gilt ffir dieses Para- digma:

Substantia investigationem (testendam) ne mutaveris: ,,Andere die zu untersuchende Probe nicht, damit keine In- formation verloren geht".

Hier kommt der mit der Informationstheorie verknfipfte Ausdruck: Probe = Materie + Information zum Tragen [20], weil die Probe der Inforrnationsrepr/isentant des Kol- lektivs (des Problems) ist.

Auch diese Forderung ist im Prinzip unerfiillbar, da es kein (MeB-)Signal ohne Anderung gibt. Aber wir kSnnen

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dieses Grundproblem mindern indem wir m6glichst wenig Anderungen an der Probe vornehmen und statt dessen das geeignetste ,,Reagens" verwenden. Dies rfittelt natfirlich an der Grundeinteilung der Analytischen Chemic. Dazu wurde schon Stellung bezogen und ffihrt u.a. zur Einteilung der Analytischen Chemic nach chemischen, physikalischen und biologischen Reagentien [20]:

dem Paradigma der chemischen Analyse, repr/isentiert dutch das chemische Massenwirkungsgesetz, f/Jr das allge- meine Reaktionsschema aA + bB ,-~ cC + dD, der Thermo- dynamik, der Reaktionskinetik in konzentrierten und ver- dfinnten Medien usw.;

dem Paradigma der physikalischen Analyse, repr/isen- tiert durch die Einstein-Beziehung E = mc 2 bzw. e = hv mit den Gesetzen der elektromagnetischen Schwingungen und den Wechselbeziehungen mit der Materie, den Sputter- und Implantationserscheinungen usw.;

dem Paradigma der biologischen Analyse, mit z.B. der zeitabh/ingigen biologischen Aktivit/it, Taxonomic und Ta- xonometrie, wie dies z. B. in der Abwasser- oder Sequenzana- lyse der Fall ist.

6 Entwurf eines Paradigmas fiir die Analytik

Die Zukunft der Analytischen Chemic als eigenst/indige Wissenschaft hfingt weitgehend von der F/ihigkeit ab, die zweifellos vorhandenen philosophischen Grundsfitze so ein- zubauen, dab dutch Formulierung eines Paradigmas ein selbst/indiges Lehrgebfiude entsteht. Dies ist erst nach Dis- kussionen mit Vertretern der Philosophic m6glich, und dazu soll ein weiterer AnstoB gegeben werden. Ob dann noch der Titel ,,Analytische Chemic", auBer aus historischen Griin- den (die aber nicht zu vernachlfissigen sind) gerechtfertigt ist, muB der Zukunft fiberlassen bleiben.

Versucht man aber das Paradigma der Analytik bildlich darzustellen, so kann Abb. 6 als erster Entwurf hierzu ange- sehen werden. Die Ffille der Fachbereiche, die einerseits aus der Wissenschaft und andererseits aus der Philosophic kommen, deutet schon darauf hin, dab sich hier nicht nut ein weites Forschungsgebiet auftut, sondern die Lehre der Analytik nach Eigenst/indigkeit verlangt.

In Vermeidung yon Wiederholungen sei auf den Artikel ,,Changes of Paradigms in Analytical Chemistry" [10] hinge- wiesen und zum Paradigmaentwurf der Analytischen Che- mic (oder besser: der Analytik) zusammenfassend folgendes festgestellt:

1. Das Paradigma der Analytik hat seine Wurzeln sowohl im Rationalismus als auch im Empirizismus, wobei das Ende aller Argumentation via Deduktion analytische Schlfisse sind und Best/itigungen liefert, beim induktiven Weg hinge- gen sind es synthetische Schl/isse, die eventuell zu neuen Qualitfitsmerkmalen ffihren und unser Wissen erweitern.

2. Daraus folgt, dab empirische Fakten der Methodolo- gien (der chemischen, physikalischen und/oder biologischen Analyse) fiber kanonisierte G/iltigkeits- bzw. Anwendungs- bereiche als Verbindungsglied mit der rationalistischen Phi- losophie verknfipft werden mfissen.

3. Die Verwendung des Substantives ,,Analytik" an Stelle von Analytischer Chemic ist in dreierlei Hinsicht gerechtfer- tigt. Einmal aus sprachlichen Grfinden - denn analytisch als Prfidikat zur Chemic bezieht sich nur auf chemische

Probleme, und der hauptw6rtliche Gebrauch erfordert zu- s/itzliche Erl/iuterung; zweitens aus Grfinden der enormen Erweiterung unseres ,,Inventariums" und drittens der Rekrutierung der Gilde der Analytiker aus Bereichen aul3er- halb der traditionellen Chemic, die eine Heimat brauchen.

4. Analytik - zusammengesetzt aus analysis und techne - sagt aus, dab es sich, wie bei der Mathematik, Physik etc., - u m eine eigenstfindige Wissenschaft handelt, die sowohl die Technik des Analysierens als auch die philoso- phisch-wissenschaftlichen Urteilsbegriindungen umfal3t. Das verneint nicht die Frage ihrer punktuellen Stellung als Hilfswissenschaft - gleich wie Mathematik usw. - bei der L6sung bestimmter Probleme, zeigt aber, dab sic in der Lehre und Forschung selbst/indig ist.

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