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MZ AM SONNT AG THEMA DER WOCHE SONNTAG, 9. APRIL 2017 02 uten Tag“, sagt die Stewardess freund- lich zum Fluggast unten an der Gang- way. „Guten Morgen“, sagt die gleiche Stewardess lächelnd kurz darauf oben an der Tür. Nanu? Das ist doch nicht möglich! Die Fluggäste sind sichtlich irritiert, die Stewar- dessen amüsiert. Die Zwillingsschwestern Beate Hose und Silke Frank aus Neumarkt lachen heu- te herzlich über diese Situation vor ein paar Jah- ren, als beide noch als Flugbegleiterinnen unter- wegs waren. In Uniform und mit gleicher Frisur war die Ähnlichkeit frappierend. Manchmal war eine vorn im Flugzeug beschäftigt, die andere hinten, was die Gäste oft höchst verwirrte. „In der Schule haben wir das nie ausgenutzt, eigentlich waren wir viel zu brav . Nie hat die eine mal eine Prüfung für die andere gemacht“, sagen die Schwestern heute bedauernd. Sieben Jahre lang waren die eineiigen Zwillinge bei Air Berlin als Flugbegleiterinnen beschäftigt, heute betrei- ben sie – natürlich gemeinsam – ein Kosmetik- studio in Neumarkt. „Wir haben oft versucht, uns voneinander zu lösen, es aber immer nur kurz ausgehalten“, gibt Silke Frank zu und seufzt ein wenig. Fluch und Segen zugleich sei es, als eineiiger Zwilling geboren worden zu sein, sagen die beiden 40-Jährigen übereinstimmend, wie sie auch sonst immer der gleichen Meinung sind. Es sei schon eine sehr besondere, innige Beziehung. Aber zweifach zu sein, ist nicht einfach. Das Band sei so stark, dass jeder Versuch sich abzu- grenzen scheitere. „Wenn es meiner Schwester schlecht geht, sehe ich ihr das sofort an. Ich leide dann so sehr mit, dass es mir kurz darauf noch schlechter geht als ihr“, berichtet Beate Hose. Wenn eine allein shoppen geht, kauft sie die Blu- se gleich zweimal und trifft immer den richtigen, weil denselben, Geschmack der Schwester gleich mit. Nicht, dass sie immer gleich angezogen sein wollen – es ergebe sich eben einfach. „Wenn es die Bluse nur einmal gibt, kaufe ich sie lieber nicht oder schenke sie dann meiner Schwester“, erklärt Silke Frank. „Ich stecke lieber zurück und freue mich umso mehr , wenn sie sich freut.“ Die eine Schwester kann einfach nicht ohne die andere sein Vor einigen Monaten stand ihre Schwester Beate ganz plötzlich mit ihren Kindern vor ihrer Tür. Die Ehe stand vor dem Aus, und Beate suchte ei- ne neue Bleibe. „Es war doch keine Frage, dass sie mit den Kindern zu mir gezogen ist“, so Frank, obwohl ihre Wohnung nur 70 Quadratmeter groß ist. Sie selbst ist geschieden und hat keine G Kinder. „Aber ich höre auch auf Mama“, sagt sie und lacht. Die Kleinen ihrer Schwester, fünf und sechs Jahre alt, würden Mama und Tante zwar auseinanderhalten, aber es komme trotzdem hin und wieder vor, dass die Kinder Mama zu ihr sa- gen. Fast wie ihre eigenen Kinder seien sie. Und so wohnen alle jetzt zusammen, denn wieder einmal ist ein Versuch, sich voneinander zu lö- sen, gescheitert. Die erste schmerzliche Tren- nungserfahrung hätten sie mit 16 Jahren ma- chen müssen. „Da hatte Beate den ersten Freund und ich nicht. Ich heulte, als er sie mit dem Rol- ler abholte und ich daheim blieb. Ich war so eifer- süchtig“, erinnert sich Frank sehr gut. Wenn eine etwas alleine unternimmt, dann hat sie oft ein schlechtes Gewissen Nach der Schule machten beide eine Ausbildung zur Sozialversicherungsangestellten und arbeite- ten einige Jahre bei derselben Krankenkasse. Als sich Silke Frank als Stewardess bewarb und ge- nommen wurde, dauerte es nur ein Jahr, bis ihre Schwester das Gleiche tat. „Eigentlich hat es mich anfangs geärgert. Kann ich nicht auch mal was alleine machen?“, berichtet Frank offen und räumt ein: „Natürlich war es dann doch schön.“ Ihre Schwester heiratete schließlich einen Pilo- ten, sie selbst hing irgendwann den anstrengen- den Flugbegleiterjob an den Nagel und eröffnete nach Ausbildung zur Kosmetikerin ein eigenes Studio in Nürnberg, wo die Zwillinge auch aufge- wachsen sind. „Und was passiert? Ein Jahr später macht Beate das Gleiche! Dabei wollte ich end- lich mein Ding machen und dachte, warum macht sie mir alles nach? Aber auch hier habe ich ihr dann sofort geholfen“, erzählt Silke Frank. Beate Hose eröffnet also ein Studio in Altdorf, bis – ja, bis sich die Schwestern sagen: „Es wäre doch viel einfacher, ein gemeinsames Studio zu haben, dann bräuchten wir nur einmal Miete zahlen.“ Gesagt, getan. „Wir kommen einfach nicht vonei- nander los“, sagen die Schwestern kopfschüt- telnd. Seit einigen Jahren betreiben sie nun das Geschäft in Neumarkt zusammen und haben diesen Schritt bis heute nie bereut. „Ich möchte sie nicht missen“, sagt Beate und schaut ihre Schwester an, und Silke nickt. Natürlich sei es nervig gewesen, immer die „Zwillinge“ und nie „Beate und Silke“ zu sein. Doch diese enge Beziehung sei auch „wunder- schön“. Nie fühlen sie sich allein. „Es ist aber au- ßerdem eine Verpflichtung und nicht immer nur einfach.“ Wenn eine etwas allein unternimmt, hat sie ein schlechtes Gewissen. Wie es der Schwester wohl geht? Natürlich ist der Freundes- kreis derselbe, überhaupt machen sie alles zu- sammen, schon als Kind waren sie nicht viel mit anderen Kindern beieinander. „Wir haben ja un- sere beste Freundin immer dabei. Dazu eine, der wir blind vertrauen.“ Immer würden sie fühlen, was die andere denkt. Zumindest die beengte Wohnsituation hat bald ein Ende. Silke Frank hat ein Haus gekauft, für sich, ihre Schwester und deren Kinder. „Wenn Beates Scheidung abge- schlossen ist, kann sie mir ja etwas zurückzah- len. Es ist von vornherein unser Haus, und mein Geld ist auch ihr Geld, und umgekehrt, das war schon immer so.“ Auf das neue Zuhause freuen sie sich sehr. Männer, nein, die wollen sie nicht mehr. Die Schwestern schütteln energisch den Kopf. „Wir haben doch uns. Das ist viel intensi- ver und schöner als eine Ehe.“ Innige Geschwis- terliebe ist das Eine, aber wie empfinden Zwil- E E i i n n e e G G e e s s c c h h w w i i s s t t e e r r l l i i e e b b e e f f ü ü r r s s g g a a n n z z e e L L e e b b e e n n FAMILIE Eineiige Zwillinge verbindet weit mehr miteinander als nur das gleiche Aussehen. Meis- tens sind sich die Geschwister auch emotional sehr nahe, wie unsere Autorin Renate Ahrens be- stätigt. Sie hat sich mit Zwillingspaaren unterhalten. HINTERGRUNDGESCHICHTE Eine interessante Geschichte kann der Zwillingsforscher Pro- fessor Dr. Christian Kandler über getrennt aufgewachsene eineiige Zwillinge erzählen, nämlich den Fall von James Springer und James Lewis. Bei der Geburt wur- den sie in zwei Adoptionsfami- lien getrennt und erst mit 39 Jah- ren wieder vereint. Erstaunliches wurde festgestellt. Beide … waren 1,83 m groß und wo- gen 81 kg, nannten ihre Erstgeborenen James Alan und James Allen, nannten ihren Hund Toy, liebten Zeichnen und Tisch- lern, hatten eine gutbestückte Hobbywerkstatt, bevorzugten dieselbe Biersor- te und Zigarettenmarke (Miller Lite, Salem), liebten Autorennen und hassten Baseball, hatten den gleichen hohen Blutdruck, litten unter einer Sehschwä- che auf demselben Auge, hatten ein Tattoo an dersel- ben Stelle des Körpers, heirateten beide zuerst eine Frau namens Linda und als zwei- te eine Frau namens Betty. Sind unzertrennlich, seit sie denken können: die Zwillingsschwestern Bea- te Hose (rechts) und Silke Frank aus Neumarkt. Fotos: privat Foto: prostooleh-Fotolia THEMA DER WOCHE MZ AM SONNTAG SONNTAG, 9. APRIL 2017 03 willinge erlauben uns eine informative und spannende Einsicht in die Natur zwi- schenmenschlicher Unter- schiede. Professor Dr. Christian Kandler (34), seit 2007 Wissenschaftli- cher Mitarbeiter und seit 2012 Akade- mischer Rat am Lehrstuhl für Diffe- rentielle Psychologie der Universität Bielefeld, forscht seit vielen Jahren zu Themen der Persönlichkeitsentwick- lung. Seit Anfang April lehrt und forscht Kandler als Professor für Diffe- rentielle und Persönlichkeitspsycholo- gie außerdem an der „Medical School“ in Berlin. Herr Kandler, was ist überhaupt der Un- terschied zwischen ein- und zweieiigen Zwillingen? Eineiige Zwillinge sind genetisch identische Individuen, während zwei- eiige Zwillinge nicht ähnlicher sind als gewöhnliche Geschwister ersten Gra- des. Zweieiige Zwillinge sind aller- dings genau wie eineiige Zwillinge gleichen Alters und teilen sich somit die gleiche Entwicklungsstufe. Sind Persönlichkeitsmerkmale nun gene- Z tisch bedingt oder durch äußere Einflüsse? Beides hängt stark zu- sammen und beeinflusst sich gegenseitig. Wir wis- sen zum Beispiel aus unse- rer Forschung, dass sich Menschen genau die Um- welt suchen, die zu ihren Anlagen und genetischen Neigungen passt. So hän- gen Umwelt und Gene eng zusammen und be- einflussen sich wechselsei- tig. Wie kann man Rückschlüsse ziehen? Wenn sich eineiige Zwillinge in den erfassbaren Persönlichkeitscha- rakteristiken wie Temperament, Cha- rakter, Motive oder Wertorientierun- gen ähnlicher sind als zweieiige, dann ist dieser Unterschied auf einen geneti- schen Beitrag zurückzuführen. Zwil- lingsähnlichkeiten erlauben also Auf- schlüsse darüber, zu welchem Grad Persönlichkeitsunterschiede zwischen Menschen genetisch beeinflusst sind. Da Unterschiede zwischen eineiigen Zwillingen ausschließlich auf unter- schiedliche Umwelteinflüsse und Er- fahrungen zurückzuführen sind, kann der Einfluss ganz individueller Erfah- rungen an Persönlichkeitsunterschie- den abgeschätzt werden. Welche Umweltfaktoren können die Men- schen zum Beispiel beeinflussen? Wenn man etwa einen genetischen Hang zum Übergewicht hat, kann er sich nur in Überflussgesellschaften zeigen, nicht in Mangel- gesellschaften. Dort kann er sich nicht aus- drücken. Das gilt unter anderem auch für gene- tisch angelegte Vorlieben für bestimmte Speisen. Es heißt, Menschen sind zu mehr als 99,9 Prozent gene- tisch identisch. Wie kann man dann die großen Unter- schiede erklären? Der genetische Code hat et- wa drei Milliarden Stellen. Wenn wir uns also auch nur durch et- wa 0,1 Prozent unterscheiden, dann sind das immer noch drei Millionen Stellen. Daraus können unzählige Un- terschiede resultieren. Theoretisch wä- ren damit alle Persönlichkeitsunter- schiede zwischen allen Menschen der Erde erklärbar. Aber wir wissen, dass jede Pflanze auch bewässert werden muss, damit sie wachsen kann. Welchen Einfluss hat die Kultur, in der wir aufwachsen? Die Kultur ist ein starker Umwelt- einfluss. Es kann ein deutlicher Unter- schied sein, ob jemand in einer eher kollektivistischen oder individualisti- schen Gesellschaft aufwächst. Beim Tsunami im japanischen Fukushima war ein Verhalten zu beobachten, das besonders war. Dort haben Menschen Wasser in den Supermärkten stehen- gelassen, obwohl sie selbst welches brauchten. Sie nahmen an, dass even- tuell noch schwangere Frauen oder Kinder kommen könnten, die es noch nötiger hätten. Ich glaube kaum, dass das hier oder in den USA, in sehr indi- vidualistischen Gesellschaften, so pas- siert wäre. Beschäftigen Sie sich schon seit ihrem Stu- dium mit Zwillingsforschung? Die Zwillingsforschung ist Teil der psychologischen Ausbildung im Studi- um. Die Frage, was in uns von Geburt angelegt ist und was noch beeinfluss- bar, veränderbar und erlernbar ist, hat mich sehr beeindruckt. Daraus ent- stand mein Forschungsschwerpunkt schon im Studium. Was fasziniert Sie persönlich daran? Ich finde den Aspekt spannend, wie es sein kann, dass die Natur so etwas wie ein genetisch identisches Zwil- lingspaar hervorbringt. Dabei stelle ich mir auch immer wieder die Frage: Was macht uns einzigartig? Laut Ihrer Studie ist sogar zum Teil gene- tisch bedingt, welche politischen Ansichten wir vertreten und welche Partei wir wäh- len. Stimmt das tatsächlich? Natürlich beeinflussen Gene die po- litische Einstellung nicht direkt. Aber etwa zwei Drittel unserer Gene entfal- ten ihre Wirkung im Gehirn und im Nervensystem, das die biologische Ba- sis unserer Psyche ist. Das Nervensys- tem kann wiederum durch Umwelt- einflüsse geformt und verändert wer- den. Also entwickeln sich politische Einstellungen aus einem Wechselspiel zwischen genetischen Faktoren und Erfahrungen. Insgesamt kann festge- halten werden, dass die beobachtbare Ähnlichkeit zwischen genetisch Ver- wandten in Bezug auf ihre politische Orientierung in erster Linie auf ihre genetische Ähnlichkeit zurückgeführt werden kann, denn der Beitrag geteil- ter Umwelteinflüsse ist geringer. Kann der Mensch sich denn trotz des gro- ßen Einflusses der Gene noch verändern? Wir haben vielleicht eine bestimm- te Anlage, uns so zu verhalten, wie wir es gewöhnlich tun, sind eher schüch- tern oder draufgängerisch, fleißig oder faul, nett oder unfreundlich. Wir sind aber lernfähig und reifen an unseren Erfahrungen. Meine Forschung hat ge- zeigt, dass wir offenbar bis zum jun- gen Erwachsenenalter sowohl gene- tisch als auch umweltbeeinflusst rei- fen, danach verändern und entwickeln wir uns nur noch aufgrund unserer Er- fahrungen, die wir in unserem weite- ren Leben machen. Ganz interessant ist es, in diesem Zusammenhang ge- trennt voneinander aufgewachsene eineiige Zwillinge zu untersuchen. Wie ähnlich sind sie trotz unterschied- licher Umwelten und worin unter- scheiden sie sich? Das grundlegende Ziel unserer Studien ist ein tiefes Ver- ständnis von dem, was uns als Indivi- duen im Kern einzigartig macht und warum wir uns in unserem Fühlen, Denken und Handeln voneinander un- terscheiden. Unser Forschungsteam möchte untersuchen, was genau den Kern dieser „Persönlichkeit“ ausmacht und ein Modell entwickeln, mit dem wir die sehr unterschiedlichen Persön- lichkeiten von Menschen möglichst gut beschreiben können. Außerdem wollen wir verstehen, wie sich unsere Persönlichkeit im Laufe unseres Le- bens verändert. INTERVIEW Autorin Renate Ah- rens hat sich mit Professor Christian Kandler über den neuesten Stand der Zwil- lingsforschung und den überraschend großen Ein- fluss der Gene auf unser Le- ben unterhalten. Die K ultur ist ein starker Einfluss lingseltern das doppelte Glück? „Gut, dass ich zwei Hände habe“, sagt Micha- ela Brücklmeier und lacht. „Drillinge zu versorgen stelle ich mir sehr schwierig vor.“ Sehr gut erinnert sie sich an die Zeit, als ihre Zwillinge Ma- ximilian und Johannes Babys waren. „Von der ersten Sekunde an haben sie gleichzeitig getrunken und geschlafen – und meist sogar gleichzeitig in die Windeln gemacht.“ Die beiden heute Elfjährigen, die mit ihren Eltern am gemütlichen Esstisch im neu gebauten Haus in Burglengenfeld sitzen, finden das ganz normal. „Heute fällt es uns schwer, sie auf den Babyfotos ausein- anderzuhalten“, erklärt der Vater, Josef Brücklmeier, während er in den Alben blättert. Zwillingseltern stehen manchmal vor großen Herausforderungen In der 36. Schwangerschaftswoche ka- men die Kinder durch eine natürliche Geburt auf die Welt. Natürlich stehen Zwillingseltern vor großen Herausfor- derungen. „Es war aber mit ihnen im- mer genauso schön wie anstrengend“, denkt der Vater an die Kleinkinder- Zeit zurück. In der 13. Schwanger- schaftswoche hatte ihn seine Frau auf- geregt noch vom Arzt aus angerufen. „Stell dir vor, wir bekommen Zwillin- ge!“ Natürlich habe er sich gleich ge- freut, sagt er. „Am Anfang erschrickt man schon“, räumt die 44-Jährige ein. Doch auch bei ihr stellte sich sofort die Freude ein. „Wir haben es genommen, wie es kommt“, stellt Josef Brücklmei- er fest, so pragmatisch, wie es eben sei- ne Art ist. Heute ist das Paar sehr stolz auf ihre Buben. Wunderbar würde es mit ihnen klappen, ob in der Schule oder daheim. Manchmal sieht die Mutter ih- re Söhne stundenlang nicht. Dann weiß sie, dass sie in der Autowerkstatt der Familie gleich neben dem Wohnhaus wieder einen Motor zerlegen oder über einer komplizierten Reparatur stecken. „Sie woll- ten schon als Kleinkinder lie- ber in die Werkstatt als in den Kindergarten“, sagt Michaela Brücklmeier. Einmal sagten sie als Dreijährige sogar zur Erzieherin, sie könnten morgen nicht kommen, weil sie eine Motorhaube fertiglackieren müssten. Noch heute lachen die Eltern darüber. Schon damals hatten die Zwillinge ihr eigenes Werkzeug, im- mer wurden sie im Familienbetrieb in- tegriert. „Sie hatten nie das Bedürfnis, mit anderen Kindern zusammen zu sein. Sie haben ja ihren besten Freund immer dabei.“ Ein Dritter habe es oh- nehin nicht leicht, sagt die Mutter schmunzelnd. Schließlich treten die beiden im Doppelpack auf und hätten immer die die gleichen Ansichten und Ideen. „Schimpfe ich einen, ist der an- dere auch beleidigt“, so der Vater. Wenn im Kindergarten der eine krank war, durfte der andere auch daheim bleiben – er wurde ohnehin spätestens am nächsten Tag auch krank. „In der Schule ging es aber natürlich nicht mehr, einfach daheim zu bleiben, und dann gab es Tränen.“ Schön sei es eben nicht ohne Bruder, denn „dann ist nie- mand da zum Reden“, sagen die Buben übereinstimmend. Was der eine sagt, ist auch die Meinung des anderen. Als Kleinkinder hatten sie sogar, wie viele eineiige Zwillinge, eine eige- ne Sprache, zum Beispiel für das Wort „wir“. Schwer sei es ihnen gefallen, so die Mutter, zwischen „ich“ und „du“, also dem Bruder und sich selbst, zu unterschei- den. Die Jungs waren ein- fach eine Einheit. Als der Umzug ins neue Haus an- stand, wurden ihre Betten ein paar Meter getrennt von- einander aufgestellt. „Spät- abends kamen sie und woll- ten die Betten wieder aneinander ha- ben“, erinnern sich die Eltern. Heute hat jeder der Jungs ein eigenes Zim- mer, aber die Tür bleibe meist offen, vor allem bei den Hausaufgaben. Einer sagt dabei an, was gemacht wird, und der andere wartet bei jeder Aufgabe, bis auch der Bruder fertig ist. „Na ja, manchmal sagt der eine dem andern schon die Lösung“, gesteht Maximili- an, der um 13 Minuten ältere und bei der Geburt um 400 Gramm leichtere Zwilling, spitzbübisch. Johannes packt die Schultaschen, dafür macht Max beide Betten Arbeitsteilung macht das Leben halt einfacher, das haben die beiden Real- schüler ganz von selbst herausgefun- den. Das geht schon in der Früh los. J o- hannes packt beide Schultaschen, da- für macht Max beide Betten. Auch beim Akkordeonspielen genügt ein kurzer Blick zwischen ihnen, und sie fangen an zu spielen, ohne sich ab- stimmen zu müssen. Seit über vier Jah- ren spielen die Brüder das Instrument mit Begeisterung, viele erfolgreiche Auftritte hatten sie schon, etwa bei Musikantenstammtischen. Und ob- wohl sie erst in der sechsten Klasse sind, wissen die Zwillinge ganz genau, was sie später einmal machen wollen: Automechatroniker. „Sie sollen aber nicht bei mir lernen“, betont der Vater, ein Kfz-Meister. „Am besten jeder bei einer anderen Automarke.“ Die Zwil- linge nicken. Dann hätten sie einmal doch nicht alles gemeinsam. Aber schließlich wollen sie irgendwann Pa- pas Werkstatt übernehmen. Und wer ist dann der Chef? Was für eine Frage! „Wir beide“, sagen Johannes und Maxi- milian im Chor. Schön ist es nicht ohne Bruder , denn dann ist niemand da zum Reden. MAXIMILIAN UND JOHANNES BRÜCKLMEIER MERKMALE Eineiige Zwillinge: sind zu 100 Prozent genetisch identische Geschwister teilen bestimmte Erfahrungen, die sie ähn- lich machen Unterschiede zwischen ihnen können nur durch Umwelteinflüsse erklärt werden HÄUFIGKEIT VON ZWILLINGSGEBURTEN Weltweit ist jede 40. Geburt eine Zwillingsge- burt. Allerdings variiert dies innerhalb der Kon- tinente und Kulturen. Bei den Yoruba in Afrika erblickt bei jeder fünften Geburt ein Zwillings- paar das Licht der Welt, in Japan nur bei jeder hundertsten. In Deutschland ist jede 60. Ge- burt eine Zwillingsgeburt. ZUNAHME DER MEHRLINGSGEBURTEN IN DEUTSCHLAND Quelle: Statistisches Bundesamt MZ-Infografik Gesamtanzahl der Mehrlingsgeburten: davon Zwillingsgeburten: Sonstige Mehrlingsgeburten: + + 2011 2012 2013 2014 2015 11 490 11 881 12 355 13 270 13 637 11 254 11 648 12 119 12 977 13 368 236 233 236 293 269 Fotos: Ahrens/privat

zum Reden. ffüürrss ggaannzzee LLeebbeenn - … · Das ist doch nicht möglich! Die Fluggäste sind sichtlich irritiert, ... tens sind sich die Geschwister auch emotional ... Eineiige

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MZ AM SONNTAGTHEMA DER WOCHESONNTAG, 9. APRIL 201702

uten Tag“, sagt die Stewardess freund-lich zum Fluggast unten an der Gang-way. „Guten Morgen“, sagt die gleicheStewardess lächelnd kurz darauf oben

an der Tür. Nanu? Das ist doch nicht möglich!Die Fluggäste sind sichtlich irritiert, die Stewar-dessen amüsiert. Die Zwillingsschwestern BeateHose und Silke Frank aus Neumarkt lachen heu-te herzlich über diese Situation vor ein paar Jah-ren, als beide noch als Flugbegleiterinnen unter-wegs waren. In Uniform und mit gleicher Frisurwar die Ähnlichkeit frappierend. Manchmal wareine vorn im Flugzeug beschäftigt, die anderehinten, was die Gäste oft höchst verwirrte.

„In der Schule haben wir das nie ausgenutzt,eigentlich waren wir viel zu brav. Nie hat die einemal eine Prüfung für die andere gemacht“, sagendie Schwestern heute bedauernd. Sieben Jahrelang waren die eineiigen Zwillinge bei Air Berlinals Flugbegleiterinnen beschäftigt, heute betrei-ben sie – natürlich gemeinsam – ein Kosmetik-studio in Neumarkt. „Wir haben oft versucht,uns voneinander zu lösen, es aber immer nurkurz ausgehalten“, gibt Silke Frank zu und seufztein wenig. Fluch und Segen zugleich sei es, alseineiiger Zwilling geboren worden zu sein, sagendie beiden 40-Jährigen übereinstimmend, wie sieauch sonst immer der gleichen Meinung sind. Essei schon eine sehr besondere, innige Beziehung.Aber zweifach zu sein, ist nicht einfach. DasBand sei so stark, dass jeder Versuch sich abzu-grenzen scheitere. „Wenn es meiner Schwesterschlecht geht, sehe ich ihr das sofort an. Ich leidedann so sehr mit, dass es mir kurz darauf nochschlechter geht als ihr“, berichtet Beate Hose.Wenn eine allein shoppen geht, kauft sie die Blu-se gleich zweimal und trifft immer den richtigen,weil denselben, Geschmack der Schwester gleichmit. Nicht, dass sie immer gleich angezogen seinwollen – es ergebe sich eben einfach. „Wenn esdie Bluse nur einmal gibt, kaufe ich sie liebernicht oder schenke sie dann meiner Schwester“,erklärt Silke Frank. „Ich stecke lieber zurück undfreue mich umso mehr, wenn sie sich freut.“

Die eine Schwester kann einfachnicht ohne die andere seinVor einigen Monaten stand ihre Schwester Beateganz plötzlich mit ihren Kindern vor ihrer Tür.Die Ehe stand vor dem Aus, und Beate suchte ei-ne neue Bleibe. „Es war doch keine Frage, dass siemit den Kindern zu mir gezogen ist“, so Frank,obwohl ihre Wohnung nur 70 Quadratmetergroß ist. Sie selbst ist geschieden und hat keine

G Kinder. „Aber ich höre auch auf Mama“, sagt sieund lacht. Die Kleinen ihrer Schwester, fünf undsechs Jahre alt, würden Mama und Tante zwarauseinanderhalten, aber es komme trotzdem hinund wieder vor, dass die Kinder Mama zu ihr sa-gen. Fast wie ihre eigenen Kinder seien sie. Undso wohnen alle jetzt zusammen, denn wiedereinmal ist ein Versuch, sich voneinander zu lö-sen, gescheitert. Die erste schmerzliche Tren-nungserfahrung hätten sie mit 16 Jahren ma-chen müssen. „Da hatte Beate den ersten Freundund ich nicht. Ich heulte, als er sie mit dem Rol-ler abholte und ich daheim blieb. Ich war so eifer-süchtig“, erinnert sich Frank sehr gut.

Wenn eine etwas alleine unternimmt,dann hat sie oft ein schlechtes GewissenNach der Schule machten beide eine Ausbildungzur Sozialversicherungsangestellten und arbeite-ten einige Jahre bei derselben Krankenkasse. Alssich Silke Frank als Stewardess bewarb und ge-nommen wurde, dauerte es nur ein Jahr, bis ihreSchwester das Gleiche tat. „Eigentlich hat esmich anfangs geärgert. Kann ich nicht auch malwas alleine machen?“, berichtet Frank offen undräumt ein: „Natürlich war es dann doch schön.“Ihre Schwester heiratete schließlich einen Pilo-ten, sie selbst hing irgendwann den anstrengen-den Flugbegleiterjob an den Nagel und eröffnetenach Ausbildung zur Kosmetikerin ein eigenesStudio in Nürnberg, wo die Zwillinge auch aufge-wachsen sind. „Und was passiert? Ein Jahr spätermacht Beate das Gleiche! Dabei wollte ich end-lich mein Ding machen und dachte, warummacht sie mir alles nach? Aber auch hier habeich ihr dann sofort geholfen“, erzählt Silke Frank.Beate Hose eröffnet also ein Studio in Altdorf, bis– ja, bis sich die Schwestern sagen: „Es wäre dochviel einfacher, ein gemeinsames Studio zu haben,dann bräuchten wir nur einmal Miete zahlen.“Gesagt, getan. „Wir kommen einfach nicht vonei-nander los“, sagen die Schwestern kopfschüt-telnd. Seit einigen Jahren betreiben sie nun dasGeschäft in Neumarkt zusammen und habendiesen Schritt bis heute nie bereut. „Ich möchtesie nicht missen“, sagt Beate und schaut ihreSchwester an, und Silke nickt.

Natürlich sei es nervig gewesen, immer die„Zwillinge“ und nie „Beate und Silke“ zu sein.Doch diese enge Beziehung sei auch „wunder-schön“. Nie fühlen sie sich allein. „Es ist aber au-ßerdem eine Verpflichtung und nicht immer nureinfach.“ Wenn eine etwas allein unternimmt,hat sie ein schlechtes Gewissen. Wie es der

Schwester wohl geht? Natürlich ist der Freundes-kreis derselbe, überhaupt machen sie alles zu-sammen, schon als Kind waren sie nicht viel mitanderen Kindern beieinander. „Wir haben ja un-sere beste Freundin immer dabei. Dazu eine, derwir blind vertrauen.“ Immer würden sie fühlen,was die andere denkt. Zumindest die beengteWohnsituation hat bald ein Ende. Silke Frankhat ein Haus gekauft, für sich, ihre Schwesterund deren Kinder. „Wenn Beates Scheidung abge-schlossen ist, kann sie mir ja etwas zurückzah-len. Es ist von vornherein unser Haus, und meinGeld ist auch ihr Geld, und umgekehrt, das warschon immer so.“ Auf das neue Zuhause freuensie sich sehr. Männer, nein, die wollen sie nichtmehr. Die Schwestern schütteln energisch denKopf. „Wir haben doch uns. Das ist viel intensi-ver und schöner als eine Ehe.“ Innige Geschwis-terliebe ist das Eine, aber wie empfinden Zwil-

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FAMILIE Eineiige Zwillinge verbindet weit mehrmiteinander als nur das gleiche Aussehen. Meis-tens sind sich die Geschwister auch emotional

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unterhalten.

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HINTERGRUNDGESCHICHTE

Eine interessante Geschichtekann der Zwillingsforscher Pro-fessor Dr. Christian Kandler übergetrennt aufgewachsene eineiigeZwillinge erzählen, nämlich denFall von James Springer undJames Lewis. Bei der Geburt wur-den sie in zwei Adoptionsfami-lien getrennt und erst mit 39 Jah-ren wieder vereint. Erstaunlicheswurde festgestellt. Beide …

� waren 1,83 m groß und wo-gen 81 kg,

� nannten ihre ErstgeborenenJames Alan und James Allen,

� nannten ihren Hund Toy,� liebten Zeichnen und Tisch-

lern, hatten eine gutbestückteHobbywerkstatt,

�bevorzugten dieselbe Biersor-te und Zigarettenmarke (MillerLite, Salem),

� liebten Autorennen undhassten Baseball,

� hatten den gleichen hohenBlutdruck,

� litten unter einer Sehschwä-che auf demselben Auge,

� hatten ein Tattoo an dersel-ben Stelle des Körpers,

� heirateten beide zuerst eineFrau namens Linda und als zwei-te eine Frau namens Betty.

Sind unzertrennlich, seit sie denkenkönnen: die Zwillingsschwestern Bea-te Hose (rechts) und Silke Frank ausNeumarkt. Fotos: privat

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THEMA DER WOCHEMZ AM SONNTAG SONNTAG, 9. APRIL 2017 03

willinge erlauben uns eineinformative und spannendeEinsicht in die Natur zwi-schenmenschlicher Unter-

schiede. Professor Dr. ChristianKandler (34), seit 2007 Wissenschaftli-cher Mitarbeiter und seit 2012 Akade-mischer Rat am Lehrstuhl für Diffe-rentielle Psychologie der UniversitätBielefeld, forscht seit vielen Jahren zuThemen der Persönlichkeitsentwick-lung. Seit Anfang April lehrt undforscht Kandler als Professor für Diffe-rentielle und Persönlichkeitspsycholo-gie außerdem an der „Medical School“in Berlin.

Herr Kandler, was ist überhaupt der Un-terschied zwischen ein- und zweieiigenZwillingen?

Eineiige Zwillinge sind genetischidentische Individuen, während zwei-eiige Zwillinge nicht ähnlicher sind alsgewöhnliche Geschwister ersten Gra-des. Zweieiige Zwillinge sind aller-dings genau wie eineiige Zwillingegleichen Alters und teilen sich somitdie gleiche Entwicklungsstufe.

Sind Persönlichkeitsmerkmale nun gene-

Z

tisch bedingt oder durch äußereEinflüsse?

Beides hängt stark zu-sammen und beeinflusstsich gegenseitig. Wir wis-sen zum Beispiel aus unse-rer Forschung, dass sichMenschen genau die Um-welt suchen, die zu ihrenAnlagen und genetischenNeigungen passt. So hän-gen Umwelt und Geneeng zusammen und be-einflussen sich wechselsei-tig.

Wie kann man Rückschlüsse ziehen?

Wenn sich eineiige Zwillinge inden erfassbaren Persönlichkeitscha-rakteristiken wie Temperament, Cha-rakter, Motive oder Wertorientierun-gen ähnlicher sind als zweieiige, dannist dieser Unterschied auf einen geneti-schen Beitrag zurückzuführen. Zwil-lingsähnlichkeiten erlauben also Auf-schlüsse darüber, zu welchem GradPersönlichkeitsunterschiede zwischenMenschen genetisch beeinflusst sind.Da Unterschiede zwischen eineiigenZwillingen ausschließlich auf unter-schiedliche Umwelteinflüsse und Er-fahrungen zurückzuführen sind, kannder Einfluss ganz individueller Erfah-rungen an Persönlichkeitsunterschie-den abgeschätzt werden.

Welche Umweltfaktoren können die Men-schen zum Beispiel beeinflussen?

Wenn man etwa einen genetischenHang zum Übergewicht hat, kann ersich nur in Überflussgesellschaften

zeigen, nicht in Mangel-gesellschaften. Dortkann er sich nicht aus-drücken. Das gilt unteranderem auch für gene-tisch angelegte Vorliebenfür bestimmte Speisen.

Es heißt, Menschen sind zumehr als 99,9 Prozent gene-tisch identisch. Wie kannman dann die großen Unter-schiede erklären?

Der genetische Code hat et-wa drei Milliarden Stellen.

Wenn wir uns also auch nur durch et-wa 0,1 Prozent unterscheiden, dannsind das immer noch drei MillionenStellen. Daraus können unzählige Un-terschiede resultieren. Theoretisch wä-ren damit alle Persönlichkeitsunter-schiede zwischen allen Menschen derErde erklärbar. Aber wir wissen, dassjede Pflanze auch bewässert werdenmuss, damit sie wachsen kann.

Welchen Einfluss hat die Kultur, in derwir aufwachsen?

Die Kultur ist ein starker Umwelt-einfluss. Es kann ein deutlicher Unter-schied sein, ob jemand in einer eherkollektivistischen oder individualisti-schen Gesellschaft aufwächst. BeimTsunami im japanischen Fukushimawar ein Verhalten zu beobachten, dasbesonders war. Dort haben MenschenWasser in den Supermärkten stehen-gelassen, obwohl sie selbst welchesbrauchten. Sie nahmen an, dass even-tuell noch schwangere Frauen oderKinder kommen könnten, die es nochnötiger hätten. Ich glaube kaum, dass

das hier oder in den USA, in sehr indi-vidualistischen Gesellschaften, so pas-siert wäre.

Beschäftigen Sie sich schon seit ihrem Stu-dium mit Zwillingsforschung?

Die Zwillingsforschung ist Teil derpsychologischen Ausbildung im Studi-um. Die Frage, was in uns von Geburtangelegt ist und was noch beeinfluss-bar, veränderbar und erlernbar ist, hatmich sehr beeindruckt. Daraus ent-stand mein Forschungsschwerpunktschon im Studium.

Was fasziniert Sie persönlich daran?

Ich finde den Aspekt spannend, wiees sein kann, dass die Natur so etwaswie ein genetisch identisches Zwil-lingspaar hervorbringt. Dabei stelleich mir auch immer wieder die Frage:Was macht uns einzigartig?

Laut Ihrer Studie ist sogar zum Teil gene-tisch bedingt, welche politischen Ansichtenwir vertreten und welche Partei wir wäh-len. Stimmt das tatsächlich?

Natürlich beeinflussen Gene die po-litische Einstellung nicht direkt. Aberetwa zwei Drittel unserer Gene entfal-ten ihre Wirkung im Gehirn und imNervensystem, das die biologische Ba-sis unserer Psyche ist. Das Nervensys-tem kann wiederum durch Umwelt-einflüsse geformt und verändert wer-den. Also entwickeln sich politischeEinstellungen aus einem Wechselspielzwischen genetischen Faktoren undErfahrungen. Insgesamt kann festge-halten werden, dass die beobachtbareÄhnlichkeit zwischen genetisch Ver-wandten in Bezug auf ihre politische

Orientierung in erster Linie auf ihregenetische Ähnlichkeit zurückgeführtwerden kann, denn der Beitrag geteil-ter Umwelteinflüsse ist geringer.

Kann der Mensch sich denn trotz des gro-ßen Einflusses der Gene noch verändern?

Wir haben vielleicht eine bestimm-te Anlage, uns so zu verhalten, wie wires gewöhnlich tun, sind eher schüch-tern oder draufgängerisch, fleißig oderfaul, nett oder unfreundlich. Wir sindaber lernfähig und reifen an unserenErfahrungen. Meine Forschung hat ge-zeigt, dass wir offenbar bis zum jun-gen Erwachsenenalter sowohl gene-tisch als auch umweltbeeinflusst rei-fen, danach verändern und entwickelnwir uns nur noch aufgrund unserer Er-fahrungen, die wir in unserem weite-ren Leben machen. Ganz interessantist es, in diesem Zusammenhang ge-trennt voneinander aufgewachseneeineiige Zwillinge zu untersuchen.Wie ähnlich sind sie trotz unterschied-licher Umwelten und worin unter-scheiden sie sich? Das grundlegendeZiel unserer Studien ist ein tiefes Ver-ständnis von dem, was uns als Indivi-duen im Kern einzigartig macht undwarum wir uns in unserem Fühlen,Denken und Handeln voneinander un-terscheiden. Unser Forschungsteammöchte untersuchen, was genau denKern dieser „Persönlichkeit“ ausmachtund ein Modell entwickeln, mit demwir die sehr unterschiedlichen Persön-lichkeiten von Menschen möglichstgut beschreiben können. Außerdemwollen wir verstehen, wie sich unserePersönlichkeit im Laufe unseres Le-bens verändert.

INTERVIEW Autorin Renate Ah-rens hat sich mit ProfessorChristian Kandler über denneuesten Stand der Zwil-lingsforschung und denüberraschend großen Ein-fluss der Gene auf unser Le-ben unterhalten.

Die Kultur ist ein starker Einfluss

lingseltern das doppelte Glück? „Gut,dass ich zwei Hände habe“, sagt Micha-ela Brücklmeier und lacht. „Drillingezu versorgen stelle ich mir sehrschwierig vor.“ Sehr gut erinnert siesich an die Zeit, als ihre Zwillinge Ma-ximilian und Johannes Babys waren.„Von der ersten Sekunde an haben siegleichzeitig getrunken und geschlafen– und meist sogar gleichzeitig in dieWindeln gemacht.“ Die beiden heuteElfjährigen, die mit ihren Eltern amgemütlichen Esstisch im neu gebautenHaus in Burglengenfeld sitzen, findendas ganz normal. „Heute fällt es unsschwer, sie auf den Babyfotos ausein-anderzuhalten“, erklärt der Vater, JosefBrücklmeier, während er in den Albenblättert.

Zwillingseltern stehen manchmalvor großen HerausforderungenIn der 36. Schwangerschaftswoche ka-men die Kinder durch eine natürlicheGeburt auf die Welt. Natürlich stehenZwillingseltern vor großen Herausfor-derungen. „Es war aber mit ihnen im-mer genauso schön wie anstrengend“,denkt der Vater an die Kleinkinder-Zeit zurück. In der 13. Schwanger-schaftswoche hatte ihn seine Frau auf-geregt noch vom Arzt aus angerufen.„Stell dir vor, wir bekommen Zwillin-ge!“ Natürlich habe er sich gleich ge-freut, sagt er. „Am Anfang erschricktman schon“, räumt die 44-Jährige ein.Doch auch bei ihr stellte sich sofort dieFreude ein. „Wir haben es genommen,wie es kommt“, stellt Josef Brücklmei-er fest, so pragmatisch, wie es eben sei-

ne Art ist. Heute ist das Paar sehrstolz auf ihre Buben. Wunderbarwürde es mit ihnen klappen, ob in

der Schule oder daheim.Manchmal sieht die Mutter ih-re Söhne stundenlang nicht.Dann weiß sie, dass sie in derAutowerkstatt der Familiegleich neben dem Wohnhauswieder einen Motor zerlegenoder über einer kompliziertenReparatur stecken. „Sie woll-ten schon als Kleinkinder lie-ber in die Werkstatt als in denKindergarten“, sagt MichaelaBrücklmeier. Einmal sagten sie alsDreijährige sogar zur Erzieherin, siekönnten morgen nicht kommen, weilsie eine Motorhaube fertiglackierenmüssten. Noch heute lachen die Elterndarüber. Schon damals hatten dieZwillinge ihr eigenes Werkzeug, im-mer wurden sie im Familienbetrieb in-tegriert. „Sie hatten nie das Bedürfnis,mit anderen Kindern zusammen zusein. Sie haben ja ihren besten Freundimmer dabei.“ Ein Dritter habe es oh-nehin nicht leicht, sagt die Mutterschmunzelnd. Schließlich treten diebeiden im Doppelpack auf und hättenimmer die die gleichen Ansichten undIdeen. „Schimpfe ich einen, ist der an-dere auch beleidigt“, so der Vater.Wenn im Kindergarten der eine krankwar, durfte der andere auch daheimbleiben – er wurde ohnehin spätestensam nächsten Tag auch krank. „In derSchule ging es aber natürlich nichtmehr, einfach daheim zu bleiben, unddann gab es Tränen.“ Schön sei es ebennicht ohne Bruder, denn „dann ist nie-mand da zum Reden“, sagen die Bubenübereinstimmend. Was der eine sagt,ist auch die Meinung des anderen.

Als Kleinkinder hatten sie sogar,wie viele eineiige Zwillinge, eine eige-

ne Sprache, zum Beispiel fürdas Wort „wir“. Schwer seies ihnen gefallen, so dieMutter, zwischen „ich“ und„du“, also dem Bruder undsich selbst, zu unterschei-den. Die Jungs waren ein-fach eine Einheit. Als derUmzug ins neue Haus an-stand, wurden ihre Bettenein paar Meter getrennt von-einander aufgestellt. „Spät-abends kamen sie und woll-

ten die Betten wieder aneinander ha-ben“, erinnern sich die Eltern. Heutehat jeder der Jungs ein eigenes Zim-mer, aber die Tür bleibe meist offen,vor allem bei den Hausaufgaben. Einersagt dabei an, was gemacht wird, undder andere wartet bei jeder Aufgabe,bis auch der Bruder fertig ist. „Na ja,manchmal sagt der eine dem andernschon die Lösung“, gesteht Maximili-an, der um 13 Minuten ältere und beider Geburt um 400 Gramm leichtereZwilling, spitzbübisch.

Johannes packt die Schultaschen,dafür macht Max beide BettenArbeitsteilung macht das Leben halteinfacher, das haben die beiden Real-schüler ganz von selbst herausgefun-den. Das geht schon in der Früh los. Jo-hannes packt beide Schultaschen, da-für macht Max beide Betten. Auchbeim Akkordeonspielen genügt einkurzer Blick zwischen ihnen, und siefangen an zu spielen, ohne sich ab-stimmen zu müssen. Seit über vier Jah-ren spielen die Brüder das Instrumentmit Begeisterung, viele erfolgreicheAuftritte hatten sie schon, etwa beiMusikantenstammtischen. Und ob-wohl sie erst in der sechsten Klassesind, wissen die Zwillinge ganz genau,was sie später einmal machen wollen:Automechatroniker. „Sie sollen abernicht bei mir lernen“, betont der Vater,ein Kfz-Meister. „Am besten jeder beieiner anderen Automarke.“ Die Zwil-linge nicken. Dann hätten sie einmaldoch nicht alles gemeinsam. Aberschließlich wollen sie irgendwann Pa-pas Werkstatt übernehmen. Und werist dann der Chef? Was für eine Frage!„Wir beide“, sagen Johannes und Maxi-milian im Chor.

„Schön ist es nicht ohne Bruder, denn dann ist niemand dazum Reden.MAXIMILIAN UND JOHANNES BRÜCKLMEIER

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MERKMALE

Eineiige Zwillinge:� sind zu 100 Prozent genetisch identischeGeschwister� teilen bestimmte Erfahrungen, die sie ähn-lich machen� Unterschiede zwischen ihnen können nurdurch Umwelteinflüsse erklärt werden

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HÄUFIGKEIT VONZWILLINGSGEBURTEN

Weltweit ist jede 40. Geburt eine Zwillingsge-burt. Allerdings variiert dies innerhalb der Kon-tinente und Kulturen. Bei den Yoruba in Afrikaerblickt bei jeder fünften Geburt ein Zwillings-paar das Licht der Welt, in Japan nur bei jederhundertsten. In Deutschland ist jede 60. Ge-burt eine Zwillingsgeburt.

ZUNAHME DER MEHRLINGSGEBURTEN IN DEUTSCHLAND

Quelle: Statistisches Bundesamt MZ-Infografik

Gesamtanzahlder Mehrlingsgeburten:

davon

Zwillingsgeburten:

SonstigeMehrlingsgeburten:

+

+

2011 2012 2013 2014 2015

11 490 11 881 12 355 13 270 13 637

11 254 11 648 12 119 12 977 13 368

236 233 236 293 269

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