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Xu Znr Diagnosfik des l iickenmarkstnmors. Von Karl Heilbronner-Utrecht. Dass Fehldiagnosen unter Umsti~nden ffir den einzelnen wie flir allgemeine Anschauungen ebenso lehrreich sein kSnnen wie noch so scharfsinnig ges~ellte gehngene, bedarf keiner Ausfiihrung; warum diese Quelle der Erkenntnis wenigstens in der Literatur weniger reich- lich fliesst, als zweifel|os der Menge vorhandenen Materials entsprechen wtirde, bedarf ebenso wenig tier Auseinanderse~zung; wo die Stellung der rieh~igen Diagnose nur dem eigenen wissenschaftliehen Gewissen Befriedigung gew~hren und nur sehr mittelbar dem therapeutisehen Handeln zugute kommen kann~ mag man sich immerhin begniigen, die gewonnene Einsicht zun~chst nut zu eigener sp/iterer Verwer~ung zu registrieren. Anders auf einem Gebie~e, wie dem der Rtickenmarks- tumoren, wo yon der richtigen und-zeitigen Diagnose das verantwor~- liche therapeu~ische Handeln abhiingt. Hier schein~ mir jeder Hinweis auf mSgliche Fehlerquellen geradezu Pflieht, und under diesem Ge- sich~spunkte mSchte ieh die folgende Beobaehtung mitteilen, so abge- kiirzt, als zur Verstiindigung noch eben mSglich ist. D. N.~ 55 Jahre, Landarbeiter. Aufgenommen 11. Sept. 1906~ ge- storben 8. Febr. 1907. Vor 13 Wochen Steifigkeit im linken Sehultergelenk mit lokalen Schmerzen, nach 3 Wochen bis auf geringe Bewegliehkeitsbesehr~tnkung geschwunden. Sonst frtiher gesund. Naehdem er wieder ca. 10 Tage gearbeitet~ Sehmerzen im Rt~cken, ausstrahlend nach den Lenden, ,,als ob erda ein Band h~tte"; beim Bilcken and Aufstehen keine Zunahme der Schmerzen; bet der Aufnahme die Schmerzen gesehwunden, nur das Baeken etwas behindert. Dagegen seien die Beine seit ca. 5 Wochen schwacher geworden; die Gangst~rung nahm raseh zu; dabei Sehmerzen yon den Lenden ausgehend, nach den Filssen ausstrahlend und ein Priekeln in den Fassen; noch jetzt Prickeln, aber keine Schmerzen. Keine Blasen- und MastdarmstOrungen; guter Appetit. Keinerlei cerebrale Symptome. Weiss nieht sicher, ob er im Verlaufe der Erkrankung magerer geworden ist.

Zur Diagnostik des Rückenmarkstumors

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Xu

Znr Diagnosfik des l iickenmarkstnmors. Von

Karl Heilbronner-Utrecht.

Dass Fehldiagnosen unter Umsti~nden ffir den einzelnen wie flir allgemeine Anschauungen ebenso lehrreich sein kSnnen wie noch so scharfsinnig ges~ellte gehngene, bedarf keiner Ausfiihrung; warum diese Quelle der Erkenntnis wenigstens in der Literatur weniger reich- lich fliesst, als zweifel|os der Menge vorhandenen Materials entsprechen wtirde, bedarf ebenso wenig tier Auseinanderse~zung; wo die Stellung der rieh~igen Diagnose nur dem eigenen wissenschaftliehen Gewissen Befriedigung gew~hren und nur sehr mittelbar dem therapeutisehen Handeln zugute kommen kann~ mag man sich immerhin begniigen, die gewonnene Einsicht zun~chst nut zu eigener sp/iterer Verwer~ung zu registrieren. Anders auf einem Gebie~e, wie dem der Rtickenmarks- tumoren, wo yon der richtigen und-zeitigen Diagnose das verantwor~- liche therapeu~ische Handeln abhiingt. Hier schein~ mir jeder Hinweis auf mSgliche Fehlerquellen geradezu Pflieht, und under diesem Ge- sich~spunkte mSchte ieh die folgende Beobaehtung mitteilen, so abge- kiirzt, als zur Verstiindigung noch eben mSglich ist.

D. N.~ 55 Jahre, Landarbeiter. Aufgenommen 11. Sept. 1906~ ge- storben 8. Febr. 1907.

Vor 13 Wochen Steifigkeit im linken Sehultergelenk mit lokalen Schmerzen, nach 3 Wochen bis auf geringe Bewegliehkeitsbesehr~tnkung geschwunden. Sonst frtiher gesund.

Naehdem er wieder ca. 10 Tage gearbeitet~ Sehmerzen im Rt~cken, ausstrahlend nach den Lenden, ,,als ob erda ein Band h~tte"; beim Bilcken and Aufstehen keine Zunahme der Schmerzen; bet der Aufnahme die Schmerzen gesehwunden, nur das Baeken etwas behindert. Dagegen seien die Beine seit ca. 5 Wochen schwacher geworden; die Gangst~rung nahm raseh zu; dabei Sehmerzen yon den Lenden ausgehend, nach den Filssen ausstrahlend und ein Priekeln in den Fassen; noch jetzt Prickeln, aber keine Schmerzen. Keine Blasen- und MastdarmstOrungen; guter Appetit. Keinerlei cerebrale Symptome. Weiss nieht sicher, ob er im Verlaufe der Erkrankung magerer geworden ist.

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Sta tus : Gehirnnerven o. B. (auch spliter). 0bere Extremitiien: Ab- gesehen yon Yersteifung des linken Schultergelenks o. B.

Untere Extremiti~ten: Kann nur, yon beiden Seiten gesti~tzt, ~ einige Sehritte vorwiirtskommen. Linkes Bein kann gestreekt bei Riickenlage des Pat. noeh ca. 45 0 gehoben werden, das reehte viel weniger; ent- sprechend alle Bewegungen rechts schwitcher als links. Keine siehere Ataxie.

Taktile Sensibiliti~t ungest6rt; passive Bewegungen der grossen Zehen ganz falseh angegeben; Schmerzempfindlichkeit stark reduziert (diese Angaben ilber die Sensibilitiit an den unteren Extremithten sehr unsieher). DiG P a t e l l a r r e f l e x e g e s t e i g e r t ; unsieherer Fusselonus und zweifel- hafter Babinski. Die ~ I u s k u l a t u r schlaff , p a s s ive B e w e g u n g e n ohne W i d e r s t a n d .

18. IX. Rechtes Bein kann naeh passiver Beugung nieht mehr ge- streekt werden, Zehenbewegungen rechts ganz ausgefallen. Links noeh etwas Streekung und Beugung des Untersehenkels mSglieh; an der Aussen- seite des reehten Fusses undeutlich begrenzte ani~sthetisehe Flecken; Warme und KMte uusieher. Patellarreflexe und Aehillesreflexe beiderseits schwaeh. Kein Babinski.

21. IX. Zum ersten Male sieher und deutlich beiderseits Babinski. 26. IX. Vibrationsgefilhl an den unteren Extremitgten unsicher, scheint

nieht ganz aufgehoben. 3. X. Leise Berfihrung (Watteknopf) an oberen Extremitiiten, Rumpf

und 0bersehenkel gut und ohne Fehler angegeben; an den Untersehenkeln viele angegeben, viele auch ausgelassen; keine sichere Abgrenzung m6glieh. Starke Abnahme der Schmerzempfindliehkeit (farad. Pinsel) an den unteren Extremiti~ten (Pat. ist auch an den oberen Extremitiiten gegen Schmerz wenig empfindlich). Passive Beweguugen der Zehen b e i d e r s e i t s - aueh maximale - - falsch angegeben.

6. X. Furunkel an den Nates. Ke ine Urinbeschwerden; uriniert mit kraftigem Strahl~ kann ihn durch Pressen versthrken, fi~hlt die Fiillung der Blase, kann den Urin halten. 0bstipation. DiG unteren Extremiti~ten jetzt in allen Gelenken total unbeweglich. Die Muskulatur i iussers t schlaff .

9. X. Beginnender Decubitus auf dem Sacrum; an den Aussenseiten der 0berschenkel streifenfOrmige Exkoriationen, dadurch entstanden, dass Pat. die Beine durch Fassen einer Hautfalte passiv umzulegen pflegt. Zum ersten ~ale inkontinent; f~hlt das Ablaufen nicht.

23. X. Hut seit der Aufnahme 1,2 kg abgenommen. Trotz der dauernden Versehlimmerung stets auffallend euphorisch. Gehirnnerven und obere Extremitiiten o. B. Bauchreflexe vorhanden, der unterste schwaeh.

Untere Extremitatrn ohne jede aktive Bewegung; passive Bewegungen zeitweise ohue j eden W i d e r s t a n d mOglich, zeitweise aber nur gegen sehr starken Widerstand dureh unwillktirliche Kontraktionen in versehiedenen (nicht nur den eben gedehnten)Muskelgruppen; bei Bewegungen des einen BeinGs in den grossen Geienken sehr hiiufig aueh langsame, selten ruck- weise Kontraktionen in weehselnden ~uskelgebieten des anderen Beins: am hi~ufigsten bei passivem Heben des gestreckten reehten Beins krliftige Kontraktion des Quadriceps und Ileopsoas links, so dass das linke Bein einige Dezimeter unwillkQrlieh gehoben wird. Pat. will diese Bewegungen

Zur Diagnostik des Rfickenmarkstumors. 291 ~

ft~hlen; passive Bewegungen in allen Gelenken der unteren Extremitaten falsch angegeben.

P a t e l l a r - and F u s s c l o n u s . B a b i n s k i nnd O p p e n h e i m deut- lieh, aber sehr ermfidbar. Anfisthesie far Berahrungen jetzt abzugrenzen: an den unteren Extremitaten reehts vorne die Grenze etwa Lig. Ponpartii, hinten oberer Rand des Os ilei, dart~ber eine Grenze mit etwas unsieheren Angaben; links die Grenze etwas tiefer, an der Vorderseite bogenf6rmig nach unten konvex fiber den Oberschenkel ziehend, die Anasthesie t~ber der linken GesasshMfte nur gering. Ausserdem auf der r e e h t e n Rumpf- seite, etwa 2 em fiber dem Nabel beginnend, eine 3 cm breite, nieht seharf begrenzte zirkulare a n a s t h e t i s c h e Zone. Warme und Kalte sowie Sehmerzempfindung entspreehend der Ansbreitung der Berfihrungsempfin- dung gestSrt.

26. X. Ffihlt zuweilen Streiehen mit dem Hammerstiel an den unteren Extremitaten. Stiche in die Fusssohlen zuweilen geffihlt, zuweilen nicht; dabei intensiver Verkfirzungsreflex.

6. XI. Aueh Ineont. alvi. 19. XI. Glaubt wieder etwas mehr Geffihl in den unteren Extremitaten

zu haben, ft~hlt aber auch Nadelstiche nur in den Fusssohlen, yon 10 cm langem Streiehen der Untersehenkel, wenn Erschfitterung auf dem Wasser- kissen vermieden wird~ nichts.

6. XII. G e s t e i g e r t e P a t e l l a r r e f l e x e , Fus se lonus . Babinski, kein Oppenheim.

Bei passiven Bewegungsversuehen zuweilen enormer Widerstand' dureh interkurrierende unwillkarliehe Kontraktionen; bleiben diese aus, dann t typo ton ie . Wird in der letzten Zeit sehr belastigt durch haufig ohne jeden nachweislichen Reiz auftretende Bewegungen: meist rasehe Ver- kfirzung, naehfolgendes langsames Streeken eines Beins.

Sensibilitat wie vorher, ffihlt aber, wenn eine Zehe gedrfiekt wird, dass etwas an den Zehen geschieht, ohne zu wissen was, gibt sogar haufig riehtig an, welehe Zehe gedrackt wird.

7. XII. Aehillesreflexe vorhanden, kein Clonus; Patellarreflexe vor- handen. Hypo ton ie . Babinski. Bauehreflexe alle vorhanden.

11. XIL Dauernde Obstipation trotz Laxantia. Bei manueller Aus- raumung erscheint der (NB. elektriseh intakte) Sphinkter klaffend, so dass 2 Finger gespreizt eingeffihrt werden k6nnen.

19. XII. Lasst man Pat. die rechte oder linke Hand kraftig sehliessen (z. B. ein Stethoskop festhalten), dann tritt in beiden Fassen Dorsal- flexion auf, kombiniert mit Streckung der grossen Zehe; dabei zuweilen langsames Ein- oder Auswartsrollen tier Beine.

Die aktive Beweglichkeit der unteren Extremitaten ganz aufgehoben, ebenso auch die Sensibilitgt der unteren Extremitaten aufgehoben.

28. XII. Trotz sieht!ichen Verfalls fortdauernd euphorisch. ~) Seit Anfang Januar unter Temperatursteigerung (Cystitis trotz Ent-

leerung durch Expression) rapider Verfall, Delirien, Benommenheit.

1) Diese Euphorie bei schweren Rfickenmarksleiden beobachten wit so h~ufig, dass in der Klinik bereits von einer ,,spin~len Euphorie" gesproeher~ wird. Sie lehrt jedenfalls, wie vorsichtig man in der ,,lokaldiagnostischen" Ver- wertung der Euphorie auch in anderen F~llen sein sollte!

292 XVII. ttEILBROI~NER

Nachgetragen seien als Resultat zahlreicher Untersuchungen folgende negative Befunde.

An der Wirbels~ule auch mit ehirurgischer Hilfe kein Befund (in den ersten Wochen schien zeitweise der u n t e r s t e Dorsal- and Lenden- teil etwas steif).

Keia Tumor in abdomine. Blur: H~moglobin 95 Prom;

rote BlutkSrperehen 4070000; weisse 6600.

l~irgends Ver~nderung der elektrisehen Erregbarkeit, aueh nicht im Sphinkter und Levator ani and den Bauchmuskeln (diese schienen in der ersten Zeit bei geftillter Blase zuweilen paretisch, wiederholte Untersuchun- gen noeh im Dezember erwiesen aber, dass Pat. wi l lk i i r l i ch in normalem Umfang die Bauchmuskeln innervieren konnte.

8. II. 07. Exitus let. Die Obdukt ion , 21. St. p. m. (Prof. Spronck), ergibt einen walzen-

fSrmigen extramedullaren Tumor yon ca. 2 em Lange reehts an tier Dura in der HShe zwisehen 6. u. 7. Dorsalwnrzel, die Dura ist unverletzt; im l~iickenmark finder sich eine seichte Delle; beim Einsehneiden keine Er- weichung; der l inke Seitenstrang erscheint etwas grau.

Im Mark des Manubr ium s te rn i findet sich eine Tumorme tas t a se . An den inneren 0rganen (Magendarmkanal, Prostata usw.) trotz eifrigen

Suehens kein Tumor. Im abrigen~ abgesehen von Cystitis nnd deren Folgeznsti~nden~ kein

~'esentlicher Befund. Mikroskopisch erweist sich der Tumor als Rundzellensarkom (nach

dem Urteil des pathologischen Anatomen wahrscheinlieh ausgegangen vom Mark des Wirbels). Die mikroskopisehe Untersuebung des Riiekenmarks ergibt nicht nur mit Ma rehi , sondern auch mit W e i g e r t naehweisbare und auf der Schnittflaehe des Celloidinblockes deutlich siehtbare, sehr erhebliche auf- und absteigende Degenerationen.

Ein 55j~hriger Mann erkrankt zun~ichs~ mit Schmerzen im Riicken, .Giirtelgefiihl und bald darauf ausstrahlenden Schmerzen und Par~sthesien in den Beinen; nach ca. 5 Woehen Parese der Beine, die naeh we- niger als 3 Mona~en zur totalen Paralyse geworden ist; die Paralyse bleibt schlaff, ,,Spasmen" werden zuweilen durch unwillkiirliche Kon- ~raktionen vorget~nseht, die beiBewegungsversuchen und aueh spontan auftreten. Die Bauehmuskulatur bleibt willktirlich beweglich; Blasen- stSrungen treten ers~ naeh ca. 3-, Ineon& alvi (naeh langer Obs~i- ration) nach 4monatliehem Leiden aus Die Reflexe der unteren Ex- tremi~gen bleiben immer' auslSsbar, sind bei den meisten Untersuehungen gesteigert und kloniseh. Die Parese is~G im Anfang der Beobachtung links e twa s geringer als reehts. Die Bertihrungsempfindlichkeit noeh bei der Aufnahme, nach 3 Monaten, erhalten, K~ilte, W~irme, Sehmerz, Stimmgabel unsicher; Wahrnehmung passiver Bewegungen fehlt yon Beginn an. Zuniiehs~ rech~s an~sthetische Flecken, naeh ca. 4 Mo-

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naten die Sensibilitgtsaufhebung ziemlieh total, reehts im ganzen Ge- bier der unteren Extremit~it d- Nares, links etwas tiefer; ausserdem yon dieser Zone getrennt~ rechts eine an~is~he~isohe 3 Finger breite Zone mR einer un~eren Grenze ca. 2 Finger oberhalb des Nabels. Exi~us an den Folgen der Cystitis naeh woehenlangen Fieberdelirien.

Es eriibrig~ sieh, bier auf die zuletzt dureh die Au~opsie als un- richtig erwiesenen diagnos~ischen Erw~igungen ]m einzelnen einzu- gehen. Bei der klinischen Vorstelhng, einige Woehen nach der Auf- nahme, sehwankte die Diagnose zwischen Tumoren der Riiekenmarks~ h~iute und einer der Formen yon ,,kombinier~er Strangaffektion" (sub- akute ataktisehe Paraplegie?). Da sieh ein primiirer Tumor trotz immer wiederhol~en Suchens nich~ naehweisen liess, der Kranke aueh niehts yon progredien~er Kaehexie erkennen liess, neigten wir sp~i~er entsehieden .mehr der zwei~en Alternative zu. Die Erinne- rung an einen kurz vorher verstorbenen Kranken, der in Symptomen und Verlauf weitgehende Analogien bet und bei dem die in rive ge- stell~e Diagnose der kombinierten S~rangaffektion autoptisch verifizier~ war, mug darauf nich~ ganz ohne Einfluss gewesen sein.

Der Befund eines Tumors an Stelle der eventuell noeh vermu- teten multiplen (gedaeh~ war am ehes~en bei dem Alter des Kranken an Carcinome tier weichen Haute) bet deshalb eine l'.~berraschung;: es ist aueh nieht ganz leieht, sich das Krankheitsbild vollstandig be- friedigend aus den Symptomen abzuleii~en; (ich brauche kaum zu ver- sichern, dass sehr nachdriick]ich naeh einem eventuellen wei~eren, cau- daleren Tumor gesuch~ wurde); gerade das, was sich nich~ ohne weiteres in das landl~iufige Bild einfh:gen will, scheint~ mir aber die ]~eobaeh~ung lehrreieh zu machen; analoge Befunde werden sieh voraussich~lich mehren, even~uell werden sich auch fiir die Ausnahmen gewisse Ge- se~zmiissigkeiten feststellen lassen; zum mindeSten kann es vor Fehl- diagnosen bewahren, wenn man sieh erinner~, dass sie vorkommen.

Ein recht ungew5hnlicher Befund ergab sich sehon beziiglieh der sens iblen A u s f a l l s e r s e r s e h e i n u n g e n : anfangs die h~iufig beobaehteten leichteren StSrungen in den dis~als~en Gebie~en, dann aber, sobald sie iiberhaup~ so wei~ s~abilisier~ waren, dass eine Abgrenzung einigermassen mSglieh war, eine doppelseitige S~Srung, die sieh auf Beine und Nares ers~reckte, daneben aber eine zwei~e einsei~ige, s~srk hypasthe~ische Zone, die bei Einzeichnung in das Seif fersche Schema einen Streifen zwischen D 7 und D~0 einnehmen wiirde. Man wird nieht fehlgehen, wenn man sie entsprechend der Lokalisa~ion des gefundenen Tumors als die oberste Grenze der iiberhaup~ vor- handenen SensibilRiitsstSrung be~rachtet, die mehr seitliche Lage des Tumors erkl~ir~ aueh naeh gel~iufigen Erfahrungen die Einseifigkeit

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der St5rung; allen gelaufigen Erfahrungen aber widersprieht es, dass diese Wurzelan~sthesie nicht unmittelbar in die An~isthesie dutch Quer- schnittsl~sion itbergeht, sondern d u t c h e ine b re i t e Zone n u t e twas v e r m i n d e r ~ e r Sens ib i l i t i~ t g e t r e n n t ist , t r o t z d e m die ,,Kom- p r e s s i o n s a n ~ s t h e s i e " d o p p e ] s e i t i g u n d fas t a b s o l u t ist , dazu g e p a a r t mi~ v o l l s t i i n d i g e r m o t o r i s c h e r P a r a p l e g i c ! Dass ein der- artiges Vorkommnis selten oder jedenfalls selten beobachte~ ist, darf ich wohl daraus sehliessen, dass ich in der vorbildlichen Behandlung der Riiekenmarks~umoren yon B r u n s I) keinen speziellen Hinweis auf diese diagnostisch bedeutsame MSglichkeit babe finden kSnnen. Singular ist iibrigens die Be0bachtung nicht; derar~ige versehonte Zwischenzonen finden sich z. B. sehr ausgepr~gt in dem yon H e n s e h e n und Len- n a n d e r 2) mit Erfolg operier~en Falle w~ihrend der ersten Zeit der Entwicklung und dann wieder beim Riiekgange der Erscheinungen. Begreiflicherweise wird eine derartige Form der Sensibilt~tss~Srung den Verdaeh~ multipler Tumoren, resp. andersartiger multipler tterde sehr nahe ]egen. In gleiehem Sinne war noeh eine andere Ersohei- hung die Diagnose irre zu leiden geeignet: die initialen Schmerzen waren an sieh reeht wenig erheblich, entfernt nicht so quglend, wie sic zumeist aufzutreten pflegen; sie waren iiberdies transitoriseher Art; diese atypischen F~ille des Rtickenmarkstumors sind ja vorwiegend durch die Mitteilungen S c h u 1 t z e s 3) bekann~ geworden ; irrefiihrender war aber ein anderes Symptom: Einige Zeit n a c h den giir~elfSrmigen Par~isthesien, die wit nachtrgglich wohl als Ausdruek der Wurzelsch~idigung an- sprechen diirfen, traten NB. g]eiehzei~ig mit der beginnenden Parese der Beine ausstrahlende Sehmerzen in den Beinen auf; Analoges berichtet t t e n s e h e n yon dem oben erw~hnten Kranken; auf die Schwierigkeiten, die sich aas dieser Irradiation der Schmerzen auf wei~ entfernte Nerven- gebiete far die Diagnose ergeben kSnnen, macht aueh B r u n s 4) im An- schluss an S c h l e s i n g e r und S c h u l t z e aufmerksam; Henschen~) beton~ besonders die Gefahr der falschliehen Annahme multipler Tu- moren. (Hypergsthesien in den un~eren Ex~remitgten konnten wir nicht nachweisen; nach B r u n s w~iren sie iiberhaupt nur im Gebie~e direkt l~dierter Wurze]n zu erwarten und als Beweis soleher unbedingt zu verwer~en; im I Iensehenschen Falle bestanden sie allerdings nach -det �9 Operation aueh unterhalb der Zone der L~ision.)

Eine sehr merkwiirdige, f~ir die Diagnose irreleitende nnd dureh

1) B runs, Gesehwiilste des Nervensystems. Berlin 1908. 2) Mitteilangen aus den Grenzgebieten usw. 10. Bd. S. 673. 3) Zuletzt Mfinch. reed. Wochenschr. 1906. S. 1362. 4) ]. c. 396]97. 5) 1. c. S. 706 nnd Grenzgebiete 11. Bd. S. ~03.

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das Ergebnis der Autopsie keineswegs gekl~rte Ubereinstimmung mit dem Befunde beziiglieh der An~sthesie ergab sich nun beziiglich der Motilitiit noeh zu einer Zei L wo die willkiirliehe Bewegung der unteren Ex~remit~ten bereits vollst~ndig aufgehoben war: konnte der Kranke nieht nut iiberhaup~ die Bauchpresse innervieren, sondern auch auf Geheiss in n o r m a l e r W e i s e seine B a u c h m u s k e l n bewegen , deren Innervationsstellen doch sicher nicht hSher als die zule~zt ge- fundene L~sion liegen (die Bauehreflexe waren bier erhal~en). Man kSnnte versueh~ sein, naeh dem Vorgange Hensehens aus diesen auffallenden Befunden Schliisse auf die Lage der zugehSrigen moto- risehen Bahnen zu ziehen; ieh mSch~e reich nicht daran wagen, urn so mehr, da dabei noch ffir eine weitere sehr auff~llige Erscheinung eine Erkl/irung zu suchen w~re: fiir das sp~te Auf~reten der Blasen- stSrung; erst am 9. X. tritt zum ersten Male ganz plStzlich Inkontinenz auf; noch drei Tage vorher wird trotz absoh~er Paraplegie der Beine festges~ellt, dass die Urinen~leerung in jeder Beziehung ungestSrt ist; naeh Eintritt der BlasenstSrung (vorher ist leider nieht darauf unter- such~) war die Blase ausdriiekbar, ein Beweis mehr, wenn es dessen noch bedurfte, dass die ausdriickbare Blase nicht, wie v. W a g n e r ursprtinglieh angenommen, bei Areflexie der unteren Extremit~en, sondern auch bei l~eflexsteigerung vorkommt, wie dies aueh v. Frank]~ H o e h w a r t 1) angibt~; wir haben die gleiche Beobaehtung auch sonst gemacht.

Die vorliegende Beobaehtung s~eht noeh in einer Hinsieht sogar mit scheinbar ganz gesicher~en Ergebnissen beztiglich der Lokalisation in den versehiedenen Riiekenmarkss~r/ingen in Widersprueh: Die bei tier seitliehen Lage des Tumors eigentlich zu erwar~ende einseitige motsorische L~hmung hat vielleicht iiberhaupt nicht bestanden, war jedenfalls nieh~ mehr zur Beobachtung gekommen; immerhin war die Lghmung zun~chst auf der Seite des Tumors s~rker, und man h~tte im Sinne einer Brown-S6qua rdsehen L~sion erwarten sollen, dass die Sensibilitg~ auf der Gegenseite stgrker ges~Srt gewesen w~re; sta~ dessert fanden sieh die e rs ten e i n i g e r m a s s e n a b g r e n z b a r e n Ge- biei~e yon ges~ 5r te r B e r i i h r u n g s e m p f i n d u n g an der m o t o r i s e h s t a r k e r b e t r o f f e n e n E x t r e m i t a t , und such sparer reiehte die an- ~sthetische Zone an dieser Seite welter naeh oben als auf der anderen, ein Plus, das bier nicht durch direkte Wurzelan/~sthesie bedingt sein konnte, da diese ja, wie oben erSrtert, getrennt und hSher lag. Aueh diese Beobachtung is~ nich~ singulgr. S e h u 1~ z e 2) beobaehtete in seinem

1) v. Frankl- t tochwart u. Zuckerkandl, Die nervSsen Erkrankungen tier ttarnblase. 2. Anti. S. 53.

2) Grenzgebiete. 12. Bd. S. 193.

296 XVII. HEILBRONNER

i0. Falle (der im iibrigen beziiglieh der Sehwierigkeiten der Diagnose, des ungewShnlieh rasehen, dele~ren Verlaufes und auch sons~ manche Analogien mit dem hier besprochenen bietet) start der zu erwartenden B r o w n- S ~ q u ar d schen Anordnung eine st~rkere Sensibili~sst5rung auf der Seite dens st~irker (und in diesem Falle auch zuerst) paretisehen Beines.

Ich glaube, wir kSnnten die klinischen Folgea eines T u m o r s auf die sensiblen Funktionen aueh dann nicht ohne weit, eres im De t a i l aus seiner Topographie ablesen, wenn uns die Lage aller in Be~racht kommenden Bahnen bekannt w~re; analog wie bei Gehirntumoren kommeu offenbar auch bier maneherlei Formen yon ~aehbarschafts- symptomen , ZirkulationstSrungen, Odeme J), die sieh in ganz un~berseh- barer Weise ausbreiteu, Vielleicht aueh die ungleichartige Empfindlieh- keit verschiedener Sys~eme in Betracht; noch weniger seheint es mir bei dem gegenw~rtigen Stand unseres Wissens aussiehtsvol], umgekehr~ aus den gefundenen Symptomen auf Grund der groben Lokalisation auf die Lage einzelner Bahnen Sehl~isse zu ziehen, am allerwenigsten - - ganz abgesehen yon den Schwierigkeiten der Fests~ellung exakter Grenzen gerade in solehen rasch progredienten F~llen - - seheint es mir zul~ssig, dieselben zur Fes~stellung der Lage der Bahnen fiir die versehiedenen Qualit~ten heranzuziehen.

Auch die anatomische Untersuehung l~sst uns fiir diese Fragen zur Zeit noeh im Stich; schon rein anatomiseh sind .wir for die Bewertung tier Schwere einer sichtbaren L~sion - - sei es im Marchi-i sei es im Mark- seheidenpr~parate - - auf sehr grobe und trfigerische Sch~tzungen ange- wiesen; wit wissen aber vor allem -- eine nicht immer genfigend be- aehtete Schwierigkeit - - auch bezfiglieh des Riiekenmarks viel zu wenig yon den quan~i~ativen Beziehungen zwischen dem Grade einer nach- weisliehen anatomisehen Ver~nderung und tier daraus en~springenden FunktionsstSrung: die Beobach~ungen yon spontanen Remissionen bei anatomiseh als nieht restituierbareraehtetenAusf~lleu (multiple Sklerose) und yon der tteilung nahe kommenden Besserungen nach der Operation lunge bestandener Rfickenmarkstumoren (oder nach Ausheilung einer komprimierenden Spondylitis) mahnen sicher zu grSss~er Vorsieht. In unserem Falle bestanden naeh kaum halbj~hrigem Leiden sehr intensive Degenera~ionen; ich weiss nicht, ob daraus der Schluss gezogen werden muss, dass eine Operation, wenn sie etwa in diesem Stadium erfolgt w~re, funktionell ergebnislos geblieben w~re, oder ob man mit R~iek-

1) Dass derartige und analoge Erscheinungen sogar die H 5 hen diagnose irreleiten kSnnen, hebt O p p e n h e i m hervor (Beitr~tge zur Diagnostik u. Therapie usw. Berlin 1907. S. 101).

Zur Diagnostik des Rfickenmarkstumors. 297

~sichL auf die nach viel 1/~ngerer L~hmung noeh mit gutem funktionellen Erfolg operierten F/~lle annehmen dart, dass ,auch solche bedenklich .aussehenden anatomischen Ver~nderungen die funktionelle Restitution nicht ausschliessen. Dariiber wKre vielleieht zu entseheiden, wenn es zuf~llig gels Riickenmarke v0n friiher mit Erfolg 0perierten naeh .Jahren zur Untersuchung zu gewinnen. Ein einigermassen analoger Fall, den ich ganz k[irzlieh beobachtete, wiirde vielleieht eher zu gunsten der zweiten Alternative spreehen: Eine Kranke mit Kompressionsmye- ]iris infolge Wirbelkaries erlag ganz plStzlich an Peritonitis infolge perforierter Darmtuberkulose: Die Sensibilit~t war in der letzten Zeit vor dem Exitus bei Extensionsbehandhng fast ganz restituiert, die Motilitgt erheblich gebessert. Die Degeneration im l%iickenmark stand an Intensit/i~ der im besehriebenen Fall gefundenen sicher nicht hath.

Diagnos~iseh und aueh theoretiseh interessant war noch eine weitere Gruppe yon Befunden, die sich auf das g e g e n s e i t i g e Verh~l tn i s 'yon Tonus und Ref lexen bezogen; dass diese beiden Erseheinungen gesondert betraehtet werden sollten und keineswegs immer im gleiehen Sinne gestSrt zu sein brauchen, wird theore~iseh wohl yon allen Seiten :anerkannt; dass darauf aber praktisch nieht immer entsprechend Riiek- ~sieht genommen wird, daftir spricht wohl, dass noeh ganz neuer- dings unter klinisc.hen (S~riimpellt)) und experimentellen (Bing2)) Gesichtspunkten auf die Beriieksichtigung angedrungen wurde. So wird aueh in der Lehre yon den Quersehnifitsl~sionen des Rfiekenmarks fast immer nur yon den als Regel geltenden spastisehen Paraplegien (mit Reflexsteigerung und Hypertonie) einerseits und den selteneren sehlaffen L~hmungen bei hohen Quersehnittsl/~sionen gesproehen. .0 p p e n heim 3) betonte ausddicklieh, dass , die Muskelrigidit~t und die ErhShung der Reflexerregbarkeit bei keinem anderen Leiden so aus- gepr~gt ist, wie bei den das Mark komprimierenden Tumoren". :Neuerdings ha~ er allerdings auf gewisse Differenzen im Verhalten des Tonus und der l~eflexe hingewiesen. Er mach~ nKmlich darauf auf- rmerksam~), dass sieh naeh operativer Entfernung yon Tumoren durch die ~anipulationen am Rtiekenmark eine vSllige Atonie mit Schwin - �9 d e n d e r Reflexe und Sehnenph~nomene einstellen kSnne, und unter- seheidet davon~ den giinstigeren unmi~telbaren Erfolg der Entlastung des Riiekenmarks, tier sieh in Atonie, aber mit e rha l t enen Reflexen dokumentiert.

Trotz maneher Beziehungen zu den diesbeziigliehen Angaben 0 p p e n-

I) Deutsche reed. Wochenschrift. 1907. S. 1933. 2) Bedeutung der spino-cerebellaren Systemc. Wiesbaden 1907. S. 83. 3) Lehrbuch. &. Aufl. 1. Bd. S. 379. ~:) Beitr/ige S. 103. 119. 131.

Deutsche Zeitsehr. f. Nervenheilkuncle. 3~. Bd. 21

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heiras war der Befund im vorliegenden Falle doeh anders: Wghrend' tier ganzen B e o b a c h t u n g s z e i t bestand eine ausgesproehene I-Iypo- tonie (wie ieh naeh~ragen will, ohne die yon mir friiher besehriebene .~ufhebung des forraerhaltenden Tonus), und dabei waren die Sehnen- reflexe nur selten sehwaeh, meist kloniseh gest.eigerg and dabei Babinski. Die iraraer und iraraer wieder naehgeprfif~e und best~tigte Erseheinung war naUirlieh am Krankenbette viel frappanter, als sie sieh hier in tier stark gekiirzten Krankengesehieh~e darstell~. I eh gestehe, dass gerade dieses gegensiitzliehe Verhalten yon Tonus nnd Reflexen zuletzt bei der Entseheidung gegen Tumor and ftir die korabinierte Strangerkran- kung den Aussehlag gab. Die Erseheinung w~re bei Riiekenmarks- ~umoren naeh den gelgufigen Darstelhngen ganz ungewShnlich: sie wird sich vielleieh~ doeh 5f~er finden, wenn auf das Yerhalten des Tonus in jedera Falle SlOeziell untersueh~ wird; ieh selbst beobaehte z. ]3. seit mehr als 11/2 Jahren einen Fall traumatiseher hoher Quer- ]gsion, bei dem anfangs Areflexie and Atonie bestanden: die Sehnen- reflexe der nnteren Extremitgten sind nach einigen Woehen zurfick- gekehrt, abet die Muskeln des Kniegelenks sind ganz atoniseh ge- blieben (ira Fussgelenk haben sieh lokale Vergnderungen ausgebilde~, die zm: partiellen Fixation ftihrten).

Hypo~onie mit Reflexsteigerung bildet eines der hgnfigsten Sym- ptorae tier ,,k0mbinierten Strangerkrankung"; zur multiplen Sklerose, bei tier diese KorabinaUon gleiehfalls niebt ganz selden vorkommk die aber auf Grund der eerebralen Symptome doeh znraeist festzustellen is~, gesellt sieh nun naeh diesen Beobaehtnngen aueh tier t~fieken- marksturaor, also eine weitere rein sp ina le Erkrankung. Dass uns aueh dieses differentialdiab~,nostisehe Momeng ira Stiehe lgsst, isg um so bedauerlicher, well die Differentialdiagnose zwisehen Tumor nnd kom~ binierger Strangerkrankung tatsgehlieh nieht allzu selten praktiseh zu werden seheint. B runs 1) hut auf diese MSgliehkeit hingewiesen. Oppenhe im 2) beriehteg fiber F~lle yon Tumoren, die an kombinierte Strangerkrankung denken liessen, Stertz3), der die gleiehe Frage er- 5rter~, mngekehrt yon einera Falle anatomiseh bestgUg~er kombinierter Strangerkrankung, die zeitweise das Bild einer Quersehnittslgsion darbot.

Bei der Wiehtigkeit derFrage darfiehwohl noeh einige Bemerkungen fiber die Prfifung des Tonus, vor allera der passiven Bewegliehkeit bei diesen Fiillen anffihren. Zun~iehst wird man sieh vor einer (aueh in uuserem Falle nahegelegenen) Verweehslung der gelegen~lieh auftre~en- den Spontankontrak~ionen rait tlypertonie zu hiiten haben; die SeheJ-

1) 1. e. S. 367. 2) 1. c. Beobachmng 6 u. 7. 3) Monatssehrift f. Psyehologie u. Neurologie. 20. Bd. S. 208.

Zur Diagnost~k des Rfickenmarkstumors. 299

dung ist bei einiger i)bung nieht allzu schwer: Der reflek~orische Tonus erzeugt, wie ich frfiher schon hervorhob ~), einen ruckartigen, dann plhtz- lich aufhhrenden Widerstand bei brf isken Bewegungsversuchen, der sich bei lasgsamem Vorgehen (solange keine Kon~rakturen vorhandcu sind) tiberwinden l~sst; er macht sich bei jedem ers~en Bewegungsver- suche geltend. Die Eigenbewegungen des Beins dagegen erzeugen einen s~arren Widerstand gegen jeden - - auch ]an gsamen - - ]~ewegungsver- such, manchmal analog den Spasmen, resp. willkiirliehen Abwehrbewe- gungen, der dann nach einiger Zeit allm~ihlich nachls und vhlliger Atonie Platz machO; er tritt auch nicht regelmgssig auf, wenn auch die :Bewegungen m a n chm al, was die Verwechslung begtinstigen kann, dutch das Manipulieren mit der Exh~emit~t ausgelhst zn werden scheinen.

Andererseits wird naUirlich, bevor man endgiil~ig Hypo~onie fest- s~ell~, zu verlangen sein, das be~ont auch St r i impel l 2) wieder, dass die Bewegung des betreffenden Gelenkes in den verschiedenen Rich- tungen geprfift ist. Die sinnf~lligste nnd zur Demonstration der er- h5hten passiven Beweglichkeit meis~ geeignete Erscheinung is~ wohl an den unteren Extremitg~en das ,,Einschnappen" im Knie, wenn man das Bein des ]iegenden Kranken in leieh~er Beugung dureh Un~er- sUitzung im Knie and Fussgelenk heht nnd dann die in der Knie- kehle ruhende Hand rasch wegzieht; man is~ dann aber noch nich~ berech~ig~, yon einer ,,Hypotonie des Beines", sondern nur yon einer solehen der Kniebeuger zn sprechen: noch kfirzlich sah ich die Er- scheinung sehr ausgesprochen in dem oben knrz erw~hn~en Falle sich resti~uierender hoher spondylitischer Querschnittsliision, bei der im Qua- driceps sehr ausgesprochene I~ypertonie bestand. Auf die neuerdings so eifrig erhrterten Beziehungen des Tonus zur aktiven Beweglichkei~ einersei~s, zu den Kontrak~uren i. e. S. anderersei~s gehe ich hier nieh~ ein; ieh verzich~e auch darauf, fiir das gegens~tzliche Verhalten yon Tonus und Reflexen in unserem Fall eine Erklgrung zu liefern, die doch hhchstens eine [-]ypothese sein khnnte; nur das eine rahchte ich bemerken, class ebenso wie fiir die Hemiplegie aneh bier die Forde- rung gestellt werden muss, dass eine Erkl~rung Bach den, gleiehviel ob h~u~igen oder seltenen, F~llen gerecht werde, in denen der Tonns dem Verhalten der Reflexe nicht parallel geht.

Dagegen mhchte ich noeh einige Bemerkungen anschliessen fiber eine viel erw~hnte, aber ~oeh keineswegs geklgr~e Erscheinung: die m o t o r i s e h e n R e i z e r s c h e i n u n g e n beim Rtiekenmarks~umor, resp. anderen, rein spinalen L~sionen; sie khnnen sehr versehiedener Art und

1) Deutsche Zeitschrift f. Nervenheilkde. 28. Bd. S. 1~. 2) s. oben.

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wohl auch Genese sein. Ein Tell gleicht etwa den Erseheinungen, die man zuweilen beobachten kann, wenn man die negative Elektrode in querer Richtung fiber einen lqervenstamm bin- und herbewegt, so dass ab- wechselnd verschiedene Btinde] desselben gereiz~ werden: kurze klonische Kontraktionen in weehselnden kleineren und grSsseren Muskelgebieten. Hier wird man am ehes~en an Reizung vorderer Wurzeln denken; am uusgepr~g~esten sah ich derar~ige NB. ganz sehmerzlose Kontraktionen an- fallsweise zwischen den versehiedenen Muskeln des Fusses und der Zehen wechselnd in einem Falle fast rein einseitiger Affek~ion der Sakral- wurzeln (mit Blasen-MastdarmstSrungen) und zwar auf der motoriseh intakten Seite. Eine andere, wohl die hgufigste und am hgufigs~en er- w~ihnte Kategorie s~ellen die meist sehr schmerzhaf~en, oft langsamer abl~ufenden, manehmal zu toniseher Starre sich steigernden, zuweilen ganze Synkinesien (Verkfirzungstypus), zuweilen nur nach Art eines Crgmpus umsehriebenere Gebiete betreffenden Kontrak~ionen dar. Fiir diese so qu~lenden Xr5mpfe (die ieh iibrigens auch in einem Falle yon kombinierter Strangerkrankung sehr ausgesprochen Cgnd) wird man am ehes~en mit Bruns J) an ,reflektoriseh yon der L~sion sensibler Wurzeln ausgehende motorisehe Symptome" denken. Je mehr ich reich tibrigens mit diesen Symptomen beseh~ftige, desto hgufiger babe ieh mir die Frage vorgelegt, ob niche, namentlieh bei den n ieh t schmerzhaffen Kontraktionen, aueh periphere refiexauslSsende Reize in Betracht kommen, die aueh B i t t o r f '2) vorwiegend fiir diese ZuckLmgen veran~wor~lich maeht. Die En~scheidung ist nicht leieht, da sich Rei- zung sensibler Wurzeln fiberhaupt hie, periphere Reize nut mi~ einem gewissen Grade yon Sicherhei~ aussehliessen l~ssen; nach Lage der Dinge ]iegen die meisten dieser Kr~nken auf Wasserkissen, die sie bei der Untersuchung allerlei unbeabsiehtig~en Lagever~nderungen ~ussetzen und auch, wenn diese vermieden zu sein scheinen, kann tier K~iltereiz bei der En~blSssung als Reiz wirken. Jedenfalls freten diese Kontrak- tionen nich~ ebenso regelmassig and in gleieh gesetzm~ssigem Ablauf auf, wie e~wa der Verki~rzungsreflex beim Ki~zeln der Planta pedis, und erweisen schon dadurch, class sie mit diesem gene~iseh nieh~ ein- fach iden~i f iz ie r t werden dgrfen.

Die vor!iegende Beobaeh~ung erweist nun noeh eine wei~ere Ent- stehungsmSgliehkeit fiir die Kontrak~ionen der gel~hmten Extremit~en: sie kSnnen als M i t b e w e g u n g e n auftre~en; ob diese Genese prak- tisch haufig in Betracht komm~, vermag ieh noch nieht zu ~ibersehen (ira Versueh sah ich sie his jetzt nut noeh einmal, allerdings nieh~ so

1) 1. c. S. 347. 2) Deutsche Zei~sehrif~ f. ~Nervenheilkde. 32. Bd. S. 332.

Zur Diagnostik des Rfickenmarkstumors. 301

intensiv bei dem oben erw~hnten Kranken mi~ hoher Quersehni~ts- l~ision bei Armbewegung gegen Widerstand; tier Hgndedruck war wegen radikulgrer Atrophien da nich~ zu prfifen). Am ehes~en w~re vielleieht daran zu denken, dass die Kontrak~ionen als Mitbewegungen bei Yersuehen zu ak~iver Lagevergnderung auf~reten. ~) Wahrsehein~ lieh wfirde genaue Verfolgung der Erseheinung Differenzen je naeh der Genese ergeben; ieh vermag bis jetzt nur anzugeben, dass sie zwar zuweiten, aber keineswegs immer im Sinne der t3einverkt~rzung, resp. Verliingerung, vielmehr in variablen Kombina~ionen ab]aufen. Die Details liessen sieh am ehes~en an der Hand guter kinematographischer Aufnahmen analysieren, die bier ta~s~ehlich nieht nur den Wer~ wissen- sehaf~lieher Spielereien h~en .

Aueh so sehon erseheinen mir diese Mi~bewegungen nieh~ ganz uninteressant: zun~ehs~ ffir die Frage der Mi~bewegungen fiberhaup~, wei~erhin aber auf Grund der ~olgenden Erw~igung: Wenn eine Spon- ~anbewegung in einem oberhalb der Querl~sion lokalisierten Gliede Mitbewegungen in einem un~erhalb lokalisierten auszulSsen vermug (die sich ~ibrigens scho~ durch ihren zei~lichen Ablauf hinreichend yon reflektoriseh beim Versuch zufs ausgelSsten un~erseheiden lassen), so kSnnen wir mi~ S iche rhe i t schliessen, dass zwisehen den beiden spinalen Innerva~ionsst~tten noeh irgend eine Verbindung bestehen muss, nnd mit grSss~er W a h r s e h e i n l i e h k e i ~ auf Grund unserer sonstigen Erfahrungen fiber die Bedingungen fiir das Zus~andekommen der Mitbewegungen, dass noeh irgend welehe mo~orisehe Fasern leitungs~ f~hig geblieben sind; diese Mi~bewegungen erweisen also in jedem Falle, class die L~sionsstelle noch ~fir die Erregung durehg~ngig ge- blieben is~. Ein Rest yon Lei~ungsf//higkei~ sensibler 13ahnen pfleg~ sieh ja bei genfigend hgufiger und genauer Untersuehung meis~ dnreh Spuren yon Sensibilitat zu dokumentieren, wie das aueh in unserem Falle zu konstatieren war; die Motili~g~ aber sehein~ viel eher total aufgehoben und der Naehweis eines erhaltenen Funktionsres~es auf dem angegebenen Wege kann under Umsf~inden einmal von Wer~ sein, sei

1) Die Annahme, dass Erscheinungen, die zun~chst als ,,Krgmpfe" impo- nieren, mSglicherweise als Mitbewegnngen aufzufassen sind, ersehein~ zungchst befremdend. Wie nahe sich beide Erscheinungen gleichwohl berfihren kSnnen, hat reich gerade in den letzten Tagen eine Beobachtung gelehrt: Bei einem Taboparalytiker (sei~ Jahren tabisch und amaurotisch) ~sraten w~ihrend einer mehrffigigen Anfallserie nach Ablauf eines vorwiegend reehtsseitigen Anfalles doppelseitige klonische Zuckungen synchron der nicht ganz rhythmisehen for- cierten Atmung auf, die einige Minuten anhielten; bei demselben Kranken wurden nach einem anderen Anfall beim ttusten dieselben Mitbewegusgen in der unteren Extremit~it beobachtet, die man aus gleichem Anlass so typisch bei ,spastischen ttemiplegien" auftreten sieht.

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es diagnosLiseh, sei es prognos~isch ffir die Frage der nach einer eventuellen Operation zu erwartenden funktionellen Restitution.

Von den iibrigen Bemerkungen, zu denen die Beobach~ung An- lass geben k5nn~e, sei nur noch eine einzige angefiig~; sie beweis~ wieder, dass auch beim ex~raduralen Tumor die diagnostiseh so be- deutsamen Wirbelerscheinungen (Druekempfindlichkei~) fehlen kSnnen; dass aueh ihr Vorhandensein bei der Differentialdiagnose zwischen kombinierter S~rangerkrankung und Tumor noeb nicht unbedingt zu- guns~en des ]etzteren sprieht, beweis~ eine Mitteilung Hennebergs l ) , der auf ihr Vorkommen bei der ,,funikul~ren Myelitis" auf Grund eigener und fremder Beobachtungen hinweist.

Man daft wohl hoffen, dass das lebhafte allgemeine Interesse an der Lehre veto Riickenmarkstmnor uns in absehbarer Zeit noch mit neuen posi~iven Erseheinungen bekann~ machO, die einer ~Terfeinerteu Differentialdiagnose zugute kommen and nns die Erkenntnis aueh der atypischen Fglle erleiehtern; nach einem allgemeinen Gesetze wgchst aach anf dem Gebiete des Rfiekenmarkstumors ihre Zahl, seitdem man iiberhaup~ ernstlicher daran denk~. Daneben abet ersehein~ es nieht nutzlos, aueh jene mehr n e g a t i v e n Befunde zu registrieren, in deneu alas Feh]en zun~ehst als obligat erachteter Symptome an der Diagnose irre zu machen geeigne~ is&

Aueh unsere Befunde gehSren dieser Ka~egorie an. Die Beobaeh- tung lehrt, um das WesentlichsLe kurz zusammenzufassen, dass, wenig- stens bei sebr rapidem Verlaufe, die Hypertonie der MuskulaLur voll- sL~ndig fehlen kann, so dass sich also eine Kombination yon Atonie mit Reflexsteigerung ergibt, die eine kombinierte Strangaffektion vor- zut~iusehen vermag. Sie lehr~ aber weiter, dass sieh gewissermassen eine Dissoziation zwisehen Wurzel- und Markerseheinungen ergeben kann. Dass die ersten sensib]en Ausfallserseheinungen infolge der Kompression mi~ besonderer Vorliebe die dis~alen Partien der un~eren Extremitgten betreffen, ist eine immer wieder zu konstatierende, aueh yon Bruns 2) gewtirdig~e Erseheinung (die Beobaehtung yon Hen- s chen s) i]lustriert besonders sehSn, wie sie naeh ge]ungener Operation aueh zuletzt wieder empfindlieh werden: ,Das Geffihl stelgt abw~rts';, wie es Hensehens Pa~ien~ ausdrtiek~e). In nnserem Falle aber ha~ sieh nieht n u r d e r sensible, sondern aueh der motorisehe Ausfall so tier abgegrenzg und stabilisiert, unter Versehonung einer yon sensibler und motoriseher StSrung freien Sgreeke zwisehen den Mark- und den Wurzelzonen, dass die Annahme eines einzigen Tumors ausge-

1) Archly f. Psych. I-Ieft 40. S.-A. S. 1S. 2) 1. e. S. 376. 3) 1. e. S. 709.

Zur Diagnostik des R~ckenmarkstumors. 303

:schlossen sehien; eventuell sehien es sich nm multiple Tumoren handeln :zu miissen. Die Autopsie hat gleichwohl nut einen einzigen ergebeD. Es ist kaum zu erwarten, dass ein derartiges Verhalten sehr hgufig wiederkehren wird; man wird annehmen dtirfen, dabs bei lgnger dauerndem Ver]auf die zwei Zonen doeh konfluieren, vielleichg auch bei unserem Kranken im Laufe der ]etzten Woehen, als an eine ge- nauere Untersuchung, vor allem der SensibilitY{, nieht mehr zu denken war, sehon konfluiert waren. Bei der malignen Natur des Tumors wgre voraussiehtlieh der Kranke aueh dutch eine Opgration niehg zu retten gewesen; immerhin wgre sie natiirlieh indizier~ gewesen, wenn die Diagnose eines einzigen Tumors gestellt worden wiire, nnd ftir das funktionelle Resulta~ wird es jedenfalls aueh bei langsamerem Verlanf nieht gleiehgtiltig sein, ob man sieh noch vor dem Konfluieren der beiden Zonen znr Operation entsehliesst oder die vo l l s t gnd i ge Leitungsunterbrechung abwar~et. Eher als eine typisehe Wiederholung des bier beobaehteten Verhaltens wird man vielleieht~ einmal den Fall .erleben, dass eine sensible und mo~orisehe Paraplegie tier unteren Extremitgten sieh mi~ geizerseheinungen (Schmerzen oder Hyper- gsthesien) in einem scheit!bar ,,zu hoch gelegenen" Segmeng kombinieren. Naeh den Lehren, die mir unser Fall geliefert, wiirde ieh in einem der- argigen Fall kein Bedenken tragen, die Operation en~spreehend den hSehsten Wurzelerseheinungen vorznschlagen, auf die Gefahr bin, dass mSglieherweise ein zweiger, tieferer Tumor besgehen kan n, abet in der Erwggung, class er nieht vorliegen muss.