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(Aus der Nervenabteilung des Moskauer Medizinisch-biologischenInstituts [Leiter: Prof. S. N. Dawidenkow] und dem Kaschtschenko'schen St~dtischen Psychiatrischen Krankenhause (Oberarzt Dr. J. N. Kaganowitsch].) Zur Frage des ungiinstigen Endzustandes bei manisch-depressivem Irresein. Von Dr. A. Galatschian. Mit 2 Textabbildungen. (Eingegangen am 7. Dezember 1931.) Das Studium der Frage des ungiinstigen Endzustandes des manisch- depressiven Irreseins ist mit einer ganzen Reihe yon Schwierigkeiten verknfipft. Die haupts~chlichste Schwierigkeit besteht in der differen- tiellen Abgrenzung dieses Endzustandes yon der arteriosklerotischen Ersch6pfung des seelischen Lebens. Alle Forscher, die den eigenartigen defekten seelischen Zustand infolge wiederholter Anfs yon manischer Erregung und Depression in einigen F~llen yon zirkul~rer Psychose 1 mehr oder weniger genau beschrieben, sprachen mit grol~er Vorsicht yon der Scheidung desselben yon der cerebralen Arteriosklerose. 1 Uber genaue Literaturangaben hinsichtlich dieser Frage siehe unseren Artikel ,,~ber den ungtinstigen Endzustand bei manisch-depressivem Irresein". ,,Arb. psychiatr. Klin. 1. Moskauer staatl. Univ." 1928, H. 3. In vielen F~llen yon maniseh-depressivem Irresein wurde ein eigenartiger invalider psychischer Zustand beobachtet, der im Alter yon 37--39 Jahren nach einer Reihe yon Psychoseanf~llen (yon 3--8) eintrat. Der psychische Defekt verlief mit einer Abnahme des emotionalen Willenstonus ; es wurde eine Abnahme der Initiative beobach%et, ein Sinken der Energie und Aktivit~t, eine Schlaffheit, Gleichgfiltigkeit und Somnalit~tt, die Kranken zogen sich vom Leben zmiick ohne den moratischen Kontakt mit der Umgebung zu verlieren und unter Aufrechterhaltung des Pflicht- gefiihls. Parallel damit ging einVerblassen der Krankheitssymptome inden Perioden der Exaltation und Depression einher. Das Bild dieses defekten Zustandes der Psyche pa$te weder in den Rahmen der cerebralen Arteriosklerose noch in den Rahmen seniler Erkrankungen. In allen F~llen wurden Ver~nderungen seitens des vegetativen Nervensystems und des mit demselben verbundenen endokrinen z. f. d. g. Neut. u. Psych. 139. 16

Zur Frage des ungünstigen Endzustandes bei manisch-depressivem Irresein

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Page 1: Zur Frage des ungünstigen Endzustandes bei manisch-depressivem Irresein

(Aus der Nervenabteilung des Moskauer Medizinisch-biologischen Instituts [Leiter: Prof. S. N. Dawidenkow] und dem Kaschtschenko'schen St~dtischen Psychiatrischen

Krankenhause (Oberarzt Dr. J . N. Kaganowitsch].)

Zur Frage des ungiinstigen Endzustandes bei manisch-depressivem Irresein.

Von

Dr. A. Galatschian.

Mit 2 Textabbildungen.

(Eingegangen am 7. Dezember 1931.)

Das S tud ium der F rage des ungi ins t igen Endzus t andes des manisch- depress iven I r reseins ist m i t einer ganzen Reihe yon Schwier igkei ten verknfipft . Die haupts~chl ichs te Schwierigkei t bes teh t in der differen- t ie l len Abgrenzung dieses Endzus t andes yon der ar ter iosklero t i schen Ersch6pfung des seelischen Lebens. Alle Forscher , die den eigenar t igen defekten seelischen Zus tand infolge wiederhol te r Anfs yon manischer Erregung und Depression in einigen F~l len yon zirkul~rer Psychose 1 mehr oder weniger genau beschrieben, sprachen mi t grol~er Vorsicht yon der Scheidung desselben yon der cerebra len Arter iosklerose.

1 Uber genaue Literaturangaben hinsichtlich dieser Frage siehe unseren Artikel ,,~ber den ungtinstigen Endzustand bei manisch-depressivem Irresein". ,,Arb. psychiatr. Klin. 1. Moskauer staatl. Univ." 1928, H. 3.

In vielen F~llen yon maniseh-depressivem Irresein wurde ein eigenartiger invalider psychischer Zustand beobachtet, der im Alter yon 37--39 Jahren nach einer Reihe yon Psychoseanf~llen (yon 3--8) eintrat. Der psychische Defekt verlief mit einer Abnahme des emotionalen Willenstonus ; es wurde eine Abnahme der Initiative beobach%et, ein Sinken der Energie und Aktivit~t, eine Schlaffheit, Gleichgfiltigkeit und Somnalit~tt, die Kranken zogen sich vom Leben zmiick ohne den moratischen Kontakt mit der Umgebung zu verlieren und unter Aufrechterhaltung des Pflicht- gefiihls. Parallel damit ging einVerblassen der Krankheitssymptome inden Perioden der Exaltation und Depression einher. Das Bild dieses defekten Zustandes der Psyche pa$te weder in den Rahmen der cerebralen Arteriosklerose noch in den Rahmen seniler Erkrankungen. In allen F~llen wurden Ver~nderungen seitens des vegetativen Nervensystems und des mit demselben verbundenen endokrinen

z. f. d. g. Neut. u. Psych. 139. 16

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242 A. Galatschian: Zur Frage

In jedem einzelnen Fall eines ungfinstigen Verlaufes des manisch- depressiven Irresein~ entsteht die Frage: Is t der defekte psychische Zu- stand nicht vieneicht auf Rechnung einer hinzugekommenen, mSglicher- weise speziell lokahsierten Gehirn-Arteriosklerose zur Grunderkrankung zu setzen ? Obgleieh das klinische Bild des eigenartigen Endzustandes absolut nicht in den Rahmen der arteriosklerotischen psychischen Ver/tnderungen paBt und bestimmte Angaben hervorragender Forscher (Riidin u. a.) darfiber vorliegen, dab arteriosklerotische Komplikationen des maniseh-depressiven Irreseins durchaus nieht so h/~ufig sind, wie gewShnlich angenommen wird, ist die Frage des Zusammenhangs des ungiinstigen Endzustandes der zirkul/~ren Psyehose mit der sklerotischen Degeneration der Gehirngef/tBe bis jetzt noch nicht endgfiltig geklart.. ~brigens ist eine K1/~rung auch kaum mSglich, solange die Forscher nur fiber klinisches Material verffigen. Das letzte entscheidende Wort gehSrt dem Ergebnis einer genauen mikroskopischen Untersuehung des Sektionsmateriales.

Ein derartiges Material ist bisher nieht verSffentlicht worden. Weder in der Arbeit yon Gaupp und Mauz, noch yon Judin und Ksenokratow, und auch wir haben keinen Fall mit letalem Ausgang beobachtet. Gegen- wiirtig steht ein solcher Fall uns zur Verfiigung. Die mikroskopische Untersuchung der Gehirnschnitte zeigte, dal~ die Gef/~l~wandungen in ausgezeichnetem Zustand waren und keine Spur einer sklerotischen Degeneration vorlag. Somit haben unsere klinischen SchluBfolgerungen, da6 der eigenartige Endzustand in einigen F/illen des mansich-depressiven Irreseins nichts mit der cerebralen Arteriosklerose gemein hat, volle Best/~tigung gefunden. Die psychische Invalidit/~t verl/~uft hier auf irgendwelchen anderen Bahnen, aber nicht infolge yon Abnutzung des Gef/~Bsystems oder irgendwelcher anderen Mechanismen.

Patient Bar., 59 Jahre alt, Z~hler des Eiehamtes, trat in das Kaschtschenkoer Psychiatrische Krankenhaus am 8. Dezember 1930 ein, stark an Gesichtsrose am 21. Januar 1931.

Patient, wuehs auf und entwickelte sich normal. Absolvierte die ]~ealschule und darauf eine teehnische Hochschule als Erster. Lernte gut, war sehr begabt. In der technischen Hochsehule zeichnete er sieh durch seine F~higkeiten aus und half alien bei den Entwiirfen. Dem Charakter nach war er lebhaft, fr6hlich, mit- teilsam, gutmiitig, bescheiden, gleichzeitig jedoch heftig; er hatte einen so offenen Charakter, dal3 man ihn ,,einen Menschen ohne Geheimnisse" nennen konnte. Hat keinerlei Infektionskrankheiten durchgemaeht.

Der erste Anfall einer Geistesst6rung trat im Alter yon 23 Jahren ein. Er erkrankte ohne jeden/~ul3eren An]alL Die Erkrankung ging in manische Erregung

Apparates beobachtet. (Autoreferat.) Im Jahre 1929 erschien die Arbeit yon Judin und Ksenokratow: ,,Die Abhi~ngigkeit des klinischen Verlaufes des maniseh- depressiven Irreseins yon der Eigentiimlichkeit der erblichen Struktur der Pers6n- lichkeit." Russ. eugenisehe Z. Bd. 7. Es ist an diesem Orte auch die gediegene und inhaltsreiche Arbeit yon Mauz ,,Die Prognostik der endogenen Psychosen", 1980, zu nennen.

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fiber. Der Anfall dauerte 51/2 bis 6 Monate. Patient befand sich in einem Kranken- hause in St. Petersburg. Die Einzelheiten des ldinischen Bildes dieses AnfaUes sind unbekannt. Er erhotte sich vollstgndig, nahm das nnterbroehene Studium wieder auf, absolvierte die technisehe Hochsehule, lieferte eine ausgezeiehnete Diplom- arbeit, trat in Dienst auf dem Telegraphenamt und erledigte die Arbeit ausge- zeichnet. Charaktervergnderungen waren nicht zu bemerken. (Die anamnestisehen Daten gab seine Frau. die ihn fiber 30 Jahre kennt.) Der zweite Krankheitsanfall ereignete sich 10 Jahre spgter und fiel mit einer Reihe dienstlicher Unannehm- ]ichkeiten im Zusammenhang damit zusammen, dab der Kranke wghrend der Revolution 1905 yon den Arbeitern, die ihn sehr verehrten, zum Vorsitzenden des Streikkomitees gewghlt wurde. Er erkrankte plOtzlich, war sehr erregt, verbarri- kadierte das Haus, erwartete einen Uberfall, hOrte im Rausehen des Windes die Stimmen der Feinde, wurde in einer Irrenanstalt in Simbirsk interniert, we er etwa 11 Monate blieb. Fast die ganze Zeit hielt die grolte Erregung an, darauf ging sie allmghlich in einen gedriickten Zustand fiber; e: wurde dann naeh Hause genommen, ging an die Arbeit, der gedrtiekte Zustand dauerte jedoch fort. =&us diesem Grunde wurde er aus dem Dienst entlassen. Nach 6--8 Monaten erholte er sieh vollst~ndig und trat abermals in den Dienst.

Im Jahre 1910 (im Alter von 38--39 Jahren) erfolgte ein neuer Krankheits- anfall; Patient kam in die Privatklinik yon Dr. Bary. Er war erregt, unordentlich, zyniseh, hatte ebenso wie in den vorangegangenen Anfgllen, mit Ausnahme des ersten, yon dem seine Fran nichts Genaues mitteilten konnte, VerfoIgungs- und GrOl~enwahnideen, halluzinierte. Es schien ihm, als wolle man ihn tOten, spiel]on, dab Spione ihn verfolgten. Er war geschwgtzig, wiederholte dieselben Spgsse und Worte wie bei den friiheren AnfMlen, machte sich fiber seine Vorgesetzten lustig, erinnerte sich ldeiner Vorkommnisse im Dienst, spraeh mit verstellter Stimme, widerspraeh sich selbst und korrigierte sich, hielt sieh fiir einen auBerordentlieh begabten Mensehen, f fir den Autor vieler welt tiber die MOglichkeit hinausgehenden teehnisehen Projekte, Bauten usw. Uberhaupt waren die Anfglle, naeh Aussage der Frau, einander guBerst ghnlieh. Das Benehmen, die Sprechweise usw. waren dieselben.

Die Krankengeschiehte lautet: Aufgenommen am 10. Dezember 1910; die gegenwgrtige Erkrankung begann vor einigen Tagen naeh dienstliehen Unannehm- lichkeiten. Er wurde reizbar, verlor Schlaf und Appetit. Gestern bestand eine starke motorische Erregung. Er gul~erte Gr61~enwahnideen. Wurde in das Hospital eingeliefert im Zustande der Verwirrtheit und starker motoriseher Erregung. Der Kranke singt die ganze Zeit und verweigert die Einnahme yon Arzneien. 17. 12. Hat schlecht geschlafen, uriniert in seinem Zimmer, die Verwirrtheit ist die gleiche. Zeitweise ist er aggressiv. Appetit gut. Verweigert die Einnahme yon Arzneien. 18. 12. Hat schlecht gegessen, bekreuzigt sieh bestgndig. 20. 12. Hat fast nichts gegessen, geht n~ekt umher, das Bewufltsein ist vollstgndig verwirrt. Im Juni 1911 trat eine Bessermlg ein, er wurde naeh Hause genommen, aber im September wurde er wieder in das Hospital gebraeht im Zustande einer manisehen Erregung. Dieses Mal sind jedoeh viele hebephrenisehe Einschlgge zu bemerken. 2. 9. Beim Ersteigen der Treppe flfisterte er etwas, sehnitt Fratzen, gestikulierte. 3. 9. Schneider Fratzen, spuckt, gestikuliert. 28.--29. 9. Dasselbe. Im Januar 1912 wurde er als vollkommen genesen entlassen mit der Diagnose manisch-depressives Irresein. Nach dem Verlassen des Hospitals nimmt er jedoch die Arbeit nieht auf. Er war 8 Jahre pensioniert.

Im Jah~e 1914 erfolgte ein neuer Anfall, der im allgemeinen an die frtiheren manisehen Zustgnde erinnerte. Im ganzen dauerte diese Erkrankung etwa 2 Jahre. Zu Beginn des Jahres 1916 trat eine Besserung ein. Er wurde aus dem Hospital entlassen, aber nach zwei Wochen erfolgte ein Rezidiv der Erregung und er wurde

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abermals in das Krankenhaus eingeliefert. (Anf~nglieh befand er sich in der Privat- klinik yon Dr. Bary, sp~ter -- nach der mil3glfickten Entlassung -- im Kranken- hause ,,Aller Leidtragenden". Nach der zweiten Internierung im Krankenhause wurde eine Apathie, Sehlaifheit und EinfSrmigkeit beobaehtet. In diesem Zu- stande wurde er im Februar 1917 entlassen. Zu Hause fiihlte er sich sofort gut, undes gelang ihm sehr bald eine Stellung zu finden. Seit der Zeit war er ununter- brochen im Dienst, arbeitete jedoch nicht mehr so erfolgreich wie vordem, wurde zweimal abgebaut, beldeidete allmhhlieh niedrigere Posten, zuletzt arbeitete er im Eichamt, zuerst als Z~hler and danaeh als Elektroteehniker.

Bis zur letzten Zeit war der Zustand seiner geistigen Gesundheit ziemlieh gut und gleichm~Big. Einige Tage vor der Einlieferung in das Kaschtsehenkoer Krankenhaus erhielt er im Dienst einen Verweis. Er wurde sehr verstimmt, begann fiber Schmerzen im Magen und in der Brust zu ldagen, danach trat Schwatzhaftig- keit ein, er begann mit verstellter Stimme zu spreehen, fiihrte Selbstgespr~che und allm~hlieh entwiekelte sich der bekannte Zustand psychischer Erregung mit zusammenhanglosen Gespr~chen, Unordentlichkeit, Zynismus. Ins Krankenhaus wurde er im Zustande einer manisehen Erregung aufgenommen. Er war verwirrt, schrie laut, spraeh unzusammenh~ngend und zerfahren, halluzinierte, spraeh mit jemand und redete yon ,,Str6men". Er war unnatiirlich, schnitt Fratzen. Ge- d~chtnia war geschwiteht. Status somatieus yon mittlerem Wuehs, schlecht gen~hrt, dumpfe Herzt6ne. Von seiten des Nervensystems wurden organische Symptome nicht festgestellt.

Die Erregung h/~lt sich ungef/ghr 6 Woehen (bis zum 19. Januar) in gleicher H6he, dana entwiekelte sich infolge des physischen Leidens und der ]qahrungs- verweigerung eine Schw/iche. Am 14. Januar konstatierte der konsultierende Chirurg Gesichtsrose. Temperatur 38,5 ~ Die k6rperliche Schwi~che machte rasche Fortschritte und am 21. Januar starb der Patient.

Nach dem dritten KrankheitsanfaU im Jahre 1910 wurde eine psychisehe Ver- ~nderung beobachtet, die sich mit jedem neuen Anfall immer mehr zu einem eigenartigen Invalidit/~tsznstand ausbildete. Allm/~hlich wurde der Interessenkreis enger, der Kranke hSrte auf, sieh wissenschaftlich zu vervollkommnen, interessierte sieh weniger ffir das Leben und wurde gleichgfiltiger gegen die Umgebung. Die frfiheren grellen Farben des Anfalles verblaBten, mit jedem Jahr sank immer mehr sein psyehiseher Reiehtum. Er zehrte haupts/gchlich von alten Vorr/~ten ohne irgendwelche neuen Werte zu erwerben. Auch in seiner dienstlichen Stellung machte er Riicksehritte. In den letzten Jahren konnte er nur mit Mtihe, mit groBer Anstrengung den Pflichten eines einfachen Technikers genfigen. Vor dem, bemerkt die Frau, spiirte der Kranke im Zusammenhang mit dem Ffinfjahrplan der Ent- wicklung der Industrie einen Aufschwung (es war vielleicht eine Phase eines hypo- manischen Zustandes), die verbla6ten F/ghigkeiten verseh&rften sich gewisser- maBen, er ergriff die Arbeit mit Interesse, ermfidete aber schnell und war bald ersehSpft.

Die Grundeigenschaften der Pers6nlichkeit blieben unver/~ndert, relativ erhalten blieb auch das Ged/ichtnis, im Dienst wurde er auch in den letzten Jahren noeh ,,das Auskunftsbiiro" genannt. Der Kranke ffihlte sich im Kreise anderer Leute, seiner Bekannten und Freunde, nieht frei, er gab sich Mfihe, gastfreund[ich zu sein und seine G/~ste zu bewirten, wurde aber bald miide und erschSpft. ,,Der bedeu- tende Mann der Vergangenheit wurde auf diese Weise zum ]qichts", sagt die Frau des Kranken. Der Kranke sehnte sich nach einer ruhigen, stillen Archivarbeit, konnte mit der ,,[ebendigen" Arbeit nicht Sehritt ha[ten. Um eine ruhigere Arbeit zu erha[ten, schrieb er in einem Fragebogen, er habe nur Mittelschulbildung genossen. Im Zusammenhang mit diesem fortschreitenden Sinken der psychischen F/ghigkeiten, mit der psychisehen Verarmung und der Abnahme der emotionellen Willenssphgre

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verlief auch der letzte Krankheitsanfall viel blasser und ohne die friihere Grellheit und Lebendigkeit der Erregung.

Inhalg der geneologischen Tabelle der Familie Bar.

A 1 Datea feMen; A 2 ,,Trinker"; A 3 Daten fehleu; A 4 ,,Trinker". B 1, B 2, B 3, B 4, B 5 starben im Alter, genaue Daten liegen nieht vor; B 6

starb alt, ,,gesund", begabt, gew6hnlich, guter Charakter; B7 starb ,,infolge einer Erk/iltung" im Alter yon 23--24 Jahren, energisch, t~tig, Notar, genaue Daten liegeu nicht vor.

C 1 Daten fehlen; C 2 geisteskrank gestorben im Alter yon 28--29 Jahren im Irrenhause in Rjasan; es lag albernes, unverst~ndliches Benehmen vor, ftihrte Selbstgesprache, maehte best~ndig Berechnungen, halluzinierte, schlug die Kinder;

Familie Bar.

[ Z J /~ 5 6

Schizophrenie m ; schizoide Psychopathie [ ] @ + cycloide Elemente ~ @

AlkoholismUSchronica /7 ; cycloide Pers6nlichkeiten [ ] ~ + sehizoide Elemente [ ] ~ Daten fehlen

Abb. 1.

iiber sein Benehmen im Irrenhause fehlen Daten. C 3 starb, 52 Jahre alt, an Tuberkulose (?) w~hrend der Hungerjahre, ein weichherziger, gutmiitiger Geselle, liebte die Einsamkeit, Gutsverwalter. C 4, 50 Jahre alt, energische, begabte, mit- teilsame, immer pessimistisch gestimmte Frau, merkliche Sehwankungen der Stimmung lagen nicht vor. C 5 starb, 24 Jahre alt, in geisteskrankem Zustande an Ersch6pfung, lag zu Hause, verweigerte die Nahrung, hatte Geh6rshalluzinationen, Verfolgungs- und Vergiftungsideen. C 6 Proband, maniseh-depressives Irresein. C 7 starb jung an einer Geburt, gesund. C 8 starb im Alter yon etwa 50 Jahren an Ersch6pfung in der Hungerzeit, Beamter, guter, weicher Charakter, jedoeh nicht sehr umg/inglich, vielleicht infolge der unbefriedigenden materiellen Lage der Familie. C 9 starb jung im Irrenhause in Rjasan, erkrankte im Alter yon ungef/~hr 20 Jahren, war die ganze Zeit unzug~nglieh, sehweigsam, miirrisch, lag best~indig auf dem Bett, verkehrte mit niemand.

D 1 starb am Typhus, etwa 30 Jahre alt. Schweigsamer, verschlossener Charak- ter. D 2 starb jung im Irrenhause in Rjasan w/ihrend der Hungerjahre. Erkrankte zu Beginn der Revolution, war tobsiichtig, hatte Verfolgungswahnideen, war immer nachdenklich und schweigsam. D 3, 27 Jahre alt, kr~ftige Lehrerin, yon weichem, ruhigem, gutmiitigem, nicht sehr mitteilsamem Charakter. D 4, 24 Jahre

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alt, l~echnungsfiihrerin, lustig, umg~nglich, aber verschlossen und eher egoistiseh. D 5, 20 Jahre alt, Elektromonteur, weich, umganglich, fr6hlich. D 6, 17 Jahre alt, lebensfrohe, selbstbewuBte, umggngliche Schiilerin.

Die mikroskopische Untersuchung der Schnitte aus den Stirn- und Schlgfen- teilen der Gehirrrrinde und den basalen Ganglien, die yon M. 0. Gurewitsch an- gestellt worden war, zeigte iibereinstimmend folgendes Bild: Die Gefglle sind erweitert, mit Blutelementen gefiillt, die Zellen der Intima gedehnt, in der Adventitia sind Infiltrationselemente nieht vorhandetb die Media verdiirmt, in den Nervenzellerr ausgesproehene Ver~ndertmgen (yon infekti6sem Charakter).

A.bb. 2.

Im vorliegenden Fall haben wit es mit einem zweifellosen manisch- depressiven Irresein mit charakteristischen AnfMlen yon manischer Exal- tation und Depression zu tun. An der pr/~psychotischen PersSnliehkeit wurde aul~er zykloiden Eigentiimlichkeiten eine nieht in den R a h m e n der letzteren passende Heftigkeit bemerkt. Konstitutionelle Einsehl/~ge einer anderen biologischen Natur ~ul~erten sich scharf in den Anfi~llen der manischen Exaltation und Depression (GehSrshalluzinationen, Angst, Verfolgungswahn, Schlaffheit, EinfSrmigkeit). Die AnfMle verliefen durchaus giinstig, der Kranke blieb nicht nur in seiner sozialen Ent- wicklung nieht zuriick, sondern machte Fortschritte, legte Priifungen ab, lieferte seine Diplomarbeit, bekleidete verantwortungsvolle Stellungen. Aber seit dem dritten Anfall f/~ngt der Kranke an nachzulassen und allm~hhch tr i t t alas charakteristische Bild des eigenartigen defekten

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psychischen Zustandes zutage, das yon einer ganzen Reihe von Autoren (Kraepelin, Stransky, Gruhle, Bumke, Rehm u. a.) vermerkt and von uns in einer unseren frfiheren Arbeiten genau besehrieben wurde. (Arbeiten der Psychiatrischen Klinik der I. Moskauer Staats-Uni- versit~t, Lief. 3.)

Die Resultate der mikroskopischen Untersuehung gestatten uns jetzt, die Anteilnahme der cerebralen Arteriosklerose an diesem eigenartigen defekten Zustande bedingungslos auszusehlieBen. Offen bleibt jedoch die Frage, worauf dieser defekte psychisehe Zustand zuriickzuffihren ist: auf die natfirliche Abnutzung infolge yon ~beranstrengung der am Affektleben beteiligten Mechanismen ? Dagegen scheint aber der Umstand zu sprechen, dab wir viele (die meisten) Fiille von manisch-depressivem Irresein kennen, in denen trotz vielfacher schwerer Exaltations- und Depressionsanf~lle das psyehische Leben bis ins hohe Alter vollkommen erhalten bleibt. Oder auf die anderen konstitutionellen Faktoren am Genotyp dieser F~lle, Faktoren, die nach Ansicht yon Gaupp and Mauz und Judin and Ksenokratow zum schizophrenen Kreise gehSren ? Bei unseren frfiheren Fi~llen war infolge des Fehlens yon Daten der Familien- anamnese eine detaillierte genetische Analyse nicht mSglich; der gegen- w~rtige Fall hefert in dieser Hinsicht viele interessante Daten.

In der Familie unseres Kranken haben wir drei l%lle yon Schizo- phrenie (ein leiblicher Bruder, ein Vetter und ein Neffe). Die Erkrankung des Neffen mu]~ mit der Krankheit des Vaters in Zusammenhang gebracht werden, jedenfalls aber mug die Mutter als heterozygot hinsichtlieh der sehizophrenen Genese betrachtet werden. Bei den anderen Geschwistern unseres Kranken sowie bei einigen Neffen und Nichten sind zykloide und sehizoide konstitutionelle Eigentiimlichkeiten in verschiedenen Proportionen vermischt. Sehizoide Einsehl~ge hat such unser Kranker (obgleich er in der ~amilie als cycloiden Natur galt).

Aller Wahrscheinlichkeit nach muB auch der ungiinstige Ausgangs- zustand einiger F~lle von manisch-depressivem Irresein dureh hinzu- getretene genotypische Faktoren aus dem erblichen schizophrenen Kreise erkl~rt werden. Offenbar handelt es sieh in diesen Fallen um heterozygote Tr~ger schizophrener Faktoren (abgesehen v o n d e r Homo- zygotiti~t hinsichttieh der manisch-depressiven Anlage), um Leute, die vom Gesichtspunkt der entsprechenden biologischen Mechanismen minderwertig sind. Die Anfs des manisch-depressiven Irreseins spielen fiir sie gewissermaBen die Rolle ~uBerer, exogener Sch~dliehkeiten, die abnutzend auf diese erblich nieht vielwertigen Meehanismen wirken und den eigenartigen invaliden psyehisehen Zustand hervorrufen.

Literaturverzeichnis. Bumke: Lehrbuch der Geisteskrankheiten, 1924. -- Gau~p u. Mauz: Krank-

heitseinheit und Mischpsychosen. Z. Neur. 101. -- Gruhle: Psychiatrie fiir )~rzte,

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248 A. Galatschian: Zur Frage des ungiinstigen Endzustandes usw.

1922. -- Galatschian: Uber den ungiinstigen Endzus tand bei manisch-depressivem Irreseim Arb. psychiatr . Klin. 1. Moskauer staatl . Univ., 1928. H. 3 (russ.). - - Judin u. Ksenokratow: Die Abh/~ngigkeit des ldinischen Verlaufes des manisch- depressiven Irreseins yon der Eigentiimlichkeit der erblichen S t ruk tur der Per- sfnlichkeit. Russ. eugen. Z. 7. -- Kraepelin: Lehrbuch der Psyehiatrie, Bd. 2 u. 3. 1923. -- Mauz: Die Prognost ik der endogenen Psychosen, 1930. -- Pilcz: Lehrbuch der speziellen Psychiatrie, 1926. -- Rehm: Das maniseh-melancholische Irresein, 1919. -- Riidin: Erbbiologisch-psychiatrische Streitfragen. Z. Neur. 108. - - Stransky: Lehrbuch, Bd. 1--2. 1914--1919; Das manisch-depressive Irresein, 1911.