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Zur Geschichte der musikalischen Quellenüberlieferung und Quellenkunde Author(s): Friedrich W. Riedel Source: Acta Musicologica, Vol. 38, Fasc. 1 (Jan. - Mar., 1966), pp. 3-27 Published by: International Musicological Society Stable URL: http://www.jstor.org/stable/932302 . Accessed: 17/06/2014 23:39 Your use of the JSTOR archive indicates your acceptance of the Terms & Conditions of Use, available at . http://www.jstor.org/page/info/about/policies/terms.jsp . JSTOR is a not-for-profit service that helps scholars, researchers, and students discover, use, and build upon a wide range of content in a trusted digital archive. We use information technology and tools to increase productivity and facilitate new forms of scholarship. For more information about JSTOR, please contact [email protected]. . International Musicological Society is collaborating with JSTOR to digitize, preserve and extend access to Acta Musicologica. http://www.jstor.org This content downloaded from 195.34.78.245 on Tue, 17 Jun 2014 23:39:18 PM All use subject to JSTOR Terms and Conditions

Zur Geschichte der musikalischen Quellenüberlieferung und Quellenkunde

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Zur Geschichte der musikalischen Quellenüberlieferung und QuellenkundeAuthor(s): Friedrich W. RiedelSource: Acta Musicologica, Vol. 38, Fasc. 1 (Jan. - Mar., 1966), pp. 3-27Published by: International Musicological SocietyStable URL: http://www.jstor.org/stable/932302 .

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Zur Geschichte der musikalischen Quelleniiberlieferung und Quellenkunde

FRIEDRICH W. RIEDEL (KASSEL)

Eine Geschichte der musikhistorischen Grundlagenforschung und ihrer vielfriltigen Aufgaben der Sammlung, Registrierung, Dokumentation, Kritik und Publikation von Quellen steht noch aus. Sie zu schreiben diirfte noch ein verfriihtes Unternehmen sein. Daher will die folgende Darstellung nur ein Versuch sein, gewisse Entwick- lungslinien und -schichten aufzuzeigen. Vollstaindigkeit hinsichtlich der Aufzdihlung von Publikationen und Pers6nlichkeiten kann wegen der Materialfiille und aus Griin- den der Umfangsbegrenzung nicht erstrebt werden 1. tiber das Gebiet der Denkmailer- publikation wurde bereits an anderer Stelle ausfiihrlich berichtet2, so daB es hier unberiicksichtigt bleibt. Es kam dem Verfasser vielmehr darauf an, in gedraingter Ubersicht die musikalische Quellenilberlieferung und Quellenkunde auf ihrem all- gemein-, gesellschafts- und geistesgeschichtlichen Hintergrund und im Zusammen- hang mit der Entwicklung der kritischen Geschichtsforschung zu betrachten.

I. DIE VERSCHIEDENEN ARTEN VON MUSIKSAMMLUNGEN UND DIE

ANFANGE DER QUELLENBESCHREIBUNG

Karl-Heinz K6hler3 unterscheidet ,,zwei Grundtypen historischer Musiksammlun- gen", die auch heute noch nebeneinander existieren: Sammlungen, die auf der Basis eines ,,ausgesprochenen musikalischen Gegenwartsbewufltseins" fiir die unmittel- baren praktischen Bediirfnisse geschaffen wurden, und solche, die ihre Entstehung einer ,,betont historisierenden Geisteshaltung" verdanken. Stellt der zweite Typus im allgemeinen das dar, was man heute als ,,wissenschaftliche Musikbibliothek" bezeichnet, so betrifft der erste die Repertoires musikalischer Institutionen, deren praktischem Gebrauch sie entstammen. Je nach Art oder Zweck der besitzenden oder verwaltenden Institution handelt es sich bei dieser dilteren Gruppe von Musiksamm- lungen meist um ganz spezielle Repertoires, sei es kirchlicher, theatralischer oder instrumentaler Musik.

1 Der Verfasser ist seinem Mitarbeiter Dr. Ernst Hilmar fiir die freundliche Hilfe bei der Material-- sammlung fiir diesen Forschungsbericht sehr zu Dank verpflichtet. 2 HANS JOACHIM MOSER, Das musikalische Denkmilerwesen in Deutschland, Kassel-Basel 1952. ' KARL-HEINz K6HLER, Zwei Grundtypen historischer Musiksammlungen, in: Bericht iiber den Siebentet Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongrefl Kiiln 1958, Kassel etc. 1959, S. 162 ff.

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Die kirchlichen Sammlungen - die gr6Bte Gruppe dieser Art - zerfallen in mehrere

Abteilungen, deren Umfang und Bedeutung verschieden ist. An erster Stelle stehen die Kathedralarchive, die vor allem in den siideuropdiischen Liindern noch zahlreich vorhanden sind4. Ihnen an Umfang und Vielseitigkeit zum Teil iiberlegen sind die

Musiksammlungen der Kl6ster. Vor allem die Stifte hochfreier Ordensgemein- schaften5 sind insofern musikgeschichtlich bedeutsam, als ihre Sammlungen nicht nur jeweils von einem gewissen Zeitpunkt an verhailtnismliBig gut erhalten sind und

friihzeitig katalogmaBig erschlossen wurden, sondern auch gegeniiber anderen kirch- lichen Sammlungen ein auBerordentlich breites Repertoire aufweisen. Bescheidener und mehr auf die gottesdienstliche Musik konzentriert sind die Musikarchive der Kl6ster der sogenannten Mendikantenorden (Franziskaner, Minoriten, Kapuziner, Dominikaner) 6. Eine besondere Stellung hatten die Kollegien-, ProfeB- und Novizen-

hiiuser der Jesuiten, deren auBerordentlich hochstehende Musikpflege neben dem Gottesdienst sich vornehmlich auf das Theater (Schuldrama) erstreckte7. Die weitaus

gr6Bte und am wenigsten iibersehbare Abteilung kirchlicher Musiksammlungen bil- den die Notenarchive der Pfarrkirchen, deren Repertoire in der Regel den Durch-

4 Aus der groBen Zahl italienischer Domkirchen seien auBer St. Peter in Rom noch erwfhnt: Bergamo, Bologna, Faenza, Ferrara, Firenze, Cremona, Brescia, Piacenza, Pistoia, Milano, Siena und Vercelli. Auch viele spanische Kathedralarchive wie Gerona, Malaga, Plasencia, Palma (Mallorca), Segovia, Tarragona, Valladolid und Zaragoza sind erhalten. Ebenso Evora in Portugal. Weniger giinstig liegen die Verhiltnisse in Frankreich, ebenso in Deutschland, wo nur in wenigen Domkirchen wie Aachen, K6ln, Bautzen, Freising, Passau und Trier noch Altere Musikalienbestlinde nachweisbar sind. An fiber- seeischen Sammiungen sind die der Washington Cathedral und die der kanadischen Dome in Fredricton und Quebec zu nennen. Nichtkatholische Bischofskirchen mit Musikarchiven gibt es vor allem in Eng- land (Canterbury, Gloucester, Westminster/London, Durham, Worcester) und in Schweden (VisterAs, Vixj6, Skara). Ahnlich wie in Deutschland sind auch im astlichen Mitteleuropa nur noch wenige der alten Kathedralarchive erhalten, in Polen z. B. Gniezno und Przemy'l, in der Tschechoslowakei das gut geordnete Musikarchiv von St. Veit in Prag, in Osterreich vor allem Salzburg (wihrend in Wien und St. P61ten nur Restbestainde erhalten sind), in Ungarn Eger (Esztergom), Kalocsa, Vac und Veszprem, in Jugoslawien Split, Trogir und Zagreb. 5 ErwAhnt seien die erhaltenen Sammlungen der Benediktinerstifte Montecassino in Italien, Montserrat in Spanien, Einsiedeln und Engelberg in der Schweiz, Ottobeuren, Metten und Scheyern in Deutsch- land, G6ttweig, Kremsmiinster, Lambach, Melk, Michaelbeuern, St. Paul, Salzburg/St. Peter, Seiten- stetten, Wien/Schotten in Osterreich und Blevnov (jetzt im Nationalmuseum Prag) und Raigern (jetzt im Mihrischen Museum Briinn) in der Tschechoslowakei, die der Zisterzienserstifte Heiligenkreuz, Lilienfeld, Rein, Wilhering, Stams und Zwettl in Osterreich, Osek in B6hmen (jetzt im National- museum Prag) und Mogila in Polen, die der Augustinerchorherrenstifte Herzogenburg, Klosterneuburg, St. Florian, Reichersberg und Vorau in Osterreich, Gaesdonck und Indersdorf in Deutschland (beide aufgehoben, aber Musikarchive erhalten), Rheinfelden in der Schweiz (aufgehoben, aber Musikarchiv erhalten), die der Primonstratenserstifte Geras, Schligl und Wilten in Osterreich, Strahov (jetzt im Nationalmuseum Prag) und Svaty Kopevek (jetzt im Mihrischen Museum Briinn) in der Tschecho- slowakei, die der Kollegiatstifte wie Mattsee und Seekirchen in Osterreich, Kromeifi in Mihren. 6 Z. B. die wichtigen Sammlungen in Assisi (Italien), Dubrovnik (Jugoslawien), Wien (Minoriten- konvent) und Giissing (Burgenland/Osterreich). 7 Durch die Aufhebung des Jesuitenordens 1773 sind leider viele dieser interessanten Sammlungen vernichtet oder verstreut worden. Teile gelangten in die UniversitAtsbibliotheken, erhalten blieben u. a. Bestlinde in Schlesien (heute in der Universit

itsbibliothek Warschau), aus St. Nikolaus auf der

Kleinseite in Prag (heute im Nationalmuseum Prag) und in Gy6r (Ungarn, heute in der Benediktiner- abtei Pannonhalma).

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schnitt der Musikpflege in den Stidten und auf dem Lande darstellt8. Eigentiimliche Repertoires weisen auch die Musikarchive der katholischen Wallfahrtskirchen auf, wo sich nicht nur Werke von besonders festlichem Charakter, sondern auch spezielle Andachtsmusiken (Oratorien, Soloarien) erhalten haben9. Die Sammlungen der Kirchenmusikvereine des 19. Jahrhunderts als Nachfolgeinstitute der um 1800 auf- gellsten Kirchenkapellen iibernahmen oft die Notensammlungen der letzteren und fiihrten sie bis in die Gegenwart weiter1?.

Die zweite Gruppe spezieller Repertoiresammlungen stellen die Archive der Opern- und Theaterhauser dar. Hier wurden Partituren und Stimmen wie auch Libretti von musikdramatischen Werken fiir Auffiihrungszwecke gesammelt .

Sammlungen mit iiberwiegend instrumentaler Ensemblemusik begegnen uns in den Kapellarchiven der gri83eren Adelsresidenzen und der seit dem Ende des 18. Jahr- hunderts aufkommenden akademischen Orchestervereinigungen 12. Vorwiegend soli- stische und didaktische Literatur kommt in den sehr selten und meist fragmentarisch erhaltenen Nachlassen von biirgerlichen oder adeligen Dilettanten sowie von Fach- musikern, insbesondere Kapellmeistern und Organisten vor 13

Neben diesen, einem ganz bestimmten Sammelgebiet zugewandten Kollektionen gab es natiirlich auch schon in friiherer Zeit gemischte Repertoires, vor allem dort, wo eine Kapelle zugleich geistliche und weltliche Funktionen ausiibte oder wo neben der Kirchenmusik auch gesellige Musik gepflegt wurde. Dies trifft vor allem fiir die fiirstlichen Residenzen, die Hbfe des Hochadels und fiir die Stifte der hochfreien Orden zu. An erster Stelle ist der kaiserliche Hof in Wien zu nennen, wo alle musi- kalischen Gattungen im Gebrauch waren, ebenso in den Residenzen der europHiischen Kbnigs- und Fiirstenhaiuser. Kirchenmusik, Opern und Oratorien, Tafel- und Kam- mermusik, private musikalische Ergbtzung der allerh6chsten und durchlauchtigsten Personen vollzog sich in standigem Wechsel. Der Kernbestand der Musiksammlung der Osterreichischen Nationalbibliothek spiegelt noch das vielfdltige Bild der Musik- pflege am kaiserlichen Hofe wider. Kleinere Fiirstentiimer, die Stifte und der Adel suchten sich in der Nacheiferung zu iiberbieten. War zwar in gewisser Weise der

s Vgl. beispielsweise den Katalog von KARL SCHNiiRL, Das alte Musikarchiv der Pfarrkirche St. Stephan in Tulln (Tabulae Musicae Austriacae, Band I), Wien 1964; besonders hingewiesen sei hier auch auf die teilweise recht weit zuriickreichenden Sammlungen protestantischer Pfarrkirchen in Sachsen, Thfirin- gen und Franken, in denen die Musik der lutherischen Gottesdienste des 16., 17. und 18. Jahrhunderts erhalten ist.

9 Erwihnenswert sind vor allem Loreto in Italien, Santiago di Compostela in Spanien, Maria Limbach

und Iphofen (jetzt Wiirzburg, St. Joseph) in Deutschland, Dub bei Olmiitz in MAhren (jetzt Mfihri- sches Museum in Briinn), Mariazell, Maria Taferl und Sonntagberg in Osterreich. Manche Stiftskirchen waren iUbrigens zugleich Wallfahrtskirchen, z. B. G6ttweig. 1o So iibernahm der Kirchenmusikverein der Pfarre Alservorstadt in Wien Teile des Notenbestandes der alten Minoritenkirche, der Kirchenmusikverein der Pfarre Krems an der Donau die in der Pfarr- kirche vorhandenen Musikalien. 11 Man denke an die zahlreichen italienischen Opernunternehmungen. an die Pariser Opernbibliothek, an die Archive der Wiener Theater (jetzt in der Osterreichischen Nationalbibliothek), an die Stock- holmer Theatersammlung im SchloB Drottningholm und an die

Bestinde aus den ehemaligen deutschen

Residenztheatern wie Dresden, Meiningen, Stuttgart, Weimar oder Miinchen. 12 Z. B. in Stockholm, Abo und Jena. 13 Vgl. hierzu den Abschnitt Zur Quellenlage im Artikel Orgelmusik in MGG X, Sp. 336 ff.

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Geschmack des jeweiligen regierenden Herren oder des Kapellmeisters fiir die Zu-

sammensetzung des Repertoires matgebend, so hat man sich doch andererseits bemiiht, planmdiig eine m6glichst vollstdindige Sammlung der zeitgen6ssischen Pro- duktion in einem gewissen Umkreis oder von einem bestimmten Komponistenkreis anzulegen.

Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, haben die natiirlich gewachsenen Samm-

lungen, soweit sie noch existieren, einen unschitzbaren Wert fiir die heutige Quellen- forschung. Ihre Geschichte ist - vom bibliographischen Standpunkt gesehen - mit der Entwicklung der musikalischen Notations- und Vervielfiltigungsformen ver-

kniipft. In dem Moment, wo neben dem in wenigen Riesenfolianten (Choral- und

Chorbiichern) vereinigten Repertoire auch kleinere Werke in Stimmbiichern in gr6Be- rer Zahl angeschafft wurden, war eine genaue Ordnung und Inventarisierung not-

wendig. Soweit heute bekannt ist, scheint man gegen 1600 zu dieser Praxis iibergegan- gen zu sein. Derartige Inventare wurden meist beim Dienstantritt eines neuen Kapell- meisters oder Chorregenten, auch bei der UIbergabe des Besitzes an einen neuen

Eigentiimer oder Verwalter angefertigt14. Eine bestimmte Ordnung bei der Anlage der Verzeichnisse, die mehrfach auch die Musikinstrumente erfassen, scheint man nicht befolgt zu haben, nur das Gr6lBenformat der Werke oder die Reihenfolge der

Anschaffung diirfte maBgebend gewesen sein. Titel und Autorennamen wurden ver-

kiirzt, nicht selten entstellt wiedergegeben. Druckort und -jahr fehlen in der Regel ganz, nur die Zahl der Stimmbiicher ist haiufig aus praktischen Griinden genau an-

gegeben. Da man die Werke aus den gedruckten Stimmbitchern hiufig wieder in Chorbiicher

fibertrug, handelt es sich bei diesen Inventaren lediglich um Bestandsaufnahmen der vorhandenen Biicher. Musikalische oder gar wissenschaftliche Gesichtspunkte ent- fielen somit ganz. Nichtsdestoweniger ist der historische Wert dieser Verzeichnisse sehr groB, weil sie nicht nur Nachweise verschollener Werke bieten, sondern auch die

Verbreitung der immensen italienischen, niederlindischen und deutschen Druckpro- duktion des spaiten 16. und friihen 17. Jahrhunderts widerspiegeln. Mit deren Nach-

lassen trat allerdings ein wesentlicher Wandel ein. Die handschriftliche tberlieferung gewann immer mehr an Bedeutung, bekam jedoch ein v6llig neues Gesicht. Das Auf- kommen der konzertierenden Kirchenmusik mit selbstaindigen instrumentalen Par- tien setzte die Chorbuchnotation auBer Kurs bzw.

schriinkte den praktischen Gebrauch

14 Z. B. ein undatiertes Inventar des Stiftes Seckau, das u. a. Proprien von Heinrich Isaac und gedruckte Sammelwerke von 1564 und 1568 verzeichnet, vgl. HELLMUTFEDERHOFER und RENATE FEDERHOFER-K5NIGS,

Mehrstimmigkeit in dem Augustiner-Chorherrenstift Seckau (Steiermark), in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 42, 1958, S. 101; ferner das Inventar des Stiftes Gbttweig aus dem Jahre 1612, vgl. FRIEDRICH

WILHELM RIEDEL, Musikpflege im Benediktinerstift Gattweig (Niederasterreidi) um 1600, a. a. 0., 46, 1962, S. 83 ff. Als Beispiele fiir lihnliche Inventare aus dieser Zeit sind zu erwihnen ein Musikalien- inventar des Fiirstbischofs von Laibach (vgl. DRAGOTIN CVETKO, Ein unbekanntes Inventarium librorum musicalium aus dem Jahre 1620, a. a. 0. 42, 1958, S. 77ff.) ein solches des Ffirstbischofs von Gurk aus dem Jahre 1622 (vgl. HELLMUT FEDERHOFER, Italienische Musik am Hofe des Fiirstbischofs von Gurk, Johann Jakob Lamberg [1603-1630], in: Collectanea Historiae Musicae II, 1956, S. 172ff.) und das Musikalienverzeichnis der Stadtpfarrkirche zu Villach/Kdirnten von 1626 (vgl. HELLMUT FEDERHOFER, Das Musikleben in Villacd bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts, in: 900 Jahre Villach-Neue Beitrdige zur Stadtgeschichte, Villach 1960, S. 283 ff.).

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der alten Kodizes auf die instrumentenlose Fasten- und Adventszeit ein15. Statt- dessen legte man fiir jedes einzelne Werk eine Stimmengarnitur an, die in der Regel auf gew6hnliches Kanzleipapier geschrieben wurde. Hatte sich bisher der Kapell- meister an Hand der Indizes der Chorbiicher oder der gedruckten Sammlungen die Musik fiir jeden Gottesdienst leicht zusammenstellen kinnen, so wurde jetzt eine Ordnung des Materials nach Gattungen und Texten notwendig. Diese Anlage der Archive

l•it sich aus den Inventaren und Katalogen seit der Mitte des 17. Jahrhun-

derts ableiten16. Innerhalb der einzelnen Abteilungen herrscht gewdhnlich keine systematische oder alphabetische Ordnung. Eine seltene Ausnahme bildet das Inven- tar der Hofmusik Kaiser Leopolds I. (um 1700) 7. Hier sind die Kompositionen im Sinne moderner Werkverzeichnisse fuir jeden Autor gesondert gattungsweise zusam- mengestellt.

Da die vielfach variierenden Titel der Manuskripte geringe Anhaltspunkte fUir das schnelle Auffinden eines Werkes boten, ging man im Laufe des 18. Jahrhunderts dazu

fiber, das Noteninzipit als wesentlichste Erkennungsmarke jedes Musikstiicks zu notie- ren. Die Gliederung nach Gattungen blieb auch in diesen thematischen Archivkata- logen vorherrschend, die Unterteilung erfolgte nicht nach Komponisten, sondern allenfalls nach Besetzungen und Tonarten Is. Musikalische bzw. auffiihrungspraktische Griinde waren allein ma3gebend. Gelegentliche biographische Notizen iiber die Kom- ponisten in den Katalogen oder auf Umschliigen sind die ersten Keime eines histo- rischen Interesses, das sich mehr und mehr entfalten sollte. Die josephinische Reform- gesetzgebung und die Franz6sische Revolution mit ihren verheerenden Auswirkungen auf die Musikalienbestdinde der aufgehobenen Kl6ster und Wallfahrtskirchen weckten

'5 In der kaiserlichen Hofkapelle zu Wien waren die Chorbiicher wihrend der Karwoche teilweise noch bis zum Anfang des 18. Jahrhunderts im Gebrauch. 16 Als Beispiele seien genannt: Das Inventar fiber die von Erzherzog Siegmund Franz von Tirol hinter- lassenen Musikalien 1665 (vgl. FRANz WALDNER, Zwei Inventarien aus dem XVI. und XVII. Jahr- hundert iiber hinterlassene Musikinstrumente und Musikalien am Innsbrucker Hofe, in: Studien zur Musikwissenschaft IV, 1916, S. 128 ff.); das Inventar der Musikaliensammlung des Fiirstbischofs von Olmiitz Karl von Liechtenstein-Kastelkorn (vgl. ANTONIN BREITENBACHER, Hudebni Archiv Kole- gidtniho Kostela Sv. Mofice v Krome'ifi, Krom"iiv 1928); zwei Inventare vom Ende des 17. Jahr- hunderts und vom 2. XII. 1706 aus der ffirstlich Eggenbergischen Kapelle in Krumau/Bihmen (freund- liche Mitteilung von Herm Jifi Sehnal, Brno); der Index Musicalium von 1723 aus der Pfarrkirche zu Meran (vgl. RENATO LUNELLI, Di alcuni inventari delle musiche gid possedute dal coro della Parroc- chiale di Merano, in: Studien zur Musikwissenschaft 25, 1962, S. 347ff.); das Inventar 1725 des Benediktinerstifts Raigern in Miihren (freundliche Mitteilung von Frau Dr. Theodora StrakovA, Moravsk' Museum, Brno); das Musikalieninventar des Benediktinerstiftes Michaelbeuern/Salzburg von 1714 (vgl. HELLMUT FEDERHOFER, Zur Musikpflege im Benediktinerstift Michaelbeuern (Salzburg), in: Festschrift K. G. Fellerer, Regensburg 1962, S. 106 ff.); das 1747 durch P. Nonnosus Stadler in Kremsmiinster angefertigte Inventar (vgl. ALTMAN KELLNER, Musikgeschichte des Stiftes Kremsmanster, Kassel-Basel 1956, S. 347 ff.); das um 1700 angelegte Inventar des Stiftes St. Paul und die Inventare des Stiftes G68 von 1750 und 1775 (vgl. HELLMUT FEDERHOFER, Alte Musikalien-Inventare der K16ster St. Paul/Kidrnten und Gfl/Steiermark, in: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 35, 1951, S. 97ff.). 17 Distinta Specificatione Dell'Archivio Musicale per il Servizio della Cappella, e Camera Cesarea, Ms. in Wien, Osterreichische Nationalbibliothek, Musiksammlung, S. m. 2451. 18 Z. B. Catalogus Selectiorum Musicalium Chori Ducumburgensis . . . 1751 (Augustiner-Chorherren- stift Herzogenburg/Nieder6sterreich); thematischer Musikalienkatalog um 1750 im Zisterzienserstift Wilhering/Ober6sterreich; thematischer Musikalienkatalog 1763 ff. der Stadtpfarrkirche St. Jacob in Briinn (jetzt im Staatsarchiv Briinn).

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hier und da das Bewu8tsein fuir den Traditions- und Geschichtswert der Quellen. Anstatt das praktisch nicht mehr benutzte Material zu vernichten, richtete man Archive ein und legte entsprechende Kataloge an. So geschah es an der kaiserlichen

Hofkapelle wie auch in mehreren Stiften, die auf die Wahrung der Tradition ihres Hauses bedacht waren.

Da3 hier der Benediktinerorden voranging, nimmt nicht wunder. Ist doch die wissenschaft- liche Quellenkritik von dem gelehrten Dom Jean Mabillon OSB (t 1707) begriindet worden, dessen grundlegendem Werk De re diplomatica das imposante Chronicon Gotwicense des universal gebildeten Abtes Gottfried von Bessel (1 1749) folgte, das in Wirklichkeit eine Diplomatik der mittelalterlichen Kaiserurkunden darstellt. Die musikgeschichtliche Quellen- forschung fand einen ihrer ersten Vertreter in dem Fiirstabt Martin Gerbert von St. Blasien. So finden wir eine sorgfaltige Verwahrung, Ordnung und Katalogisierung alter Musikalien vor allem in Benediktinerstiften wie Einsiedeln, Ottobeuren, Kremsmiinster, Lambach, Melk, Gattweig oder im Wiener Schottenstift. Als Musterbeispiel kann der zweibindige thematische Katalog des G6ttweiger Kapitulars P. Heinrich Wondratsch von 1830 hingestellt werdeno9. Zwar halt er an der gattungsmaiBigen Einteilung fest, nimmt aber jeweils die Unterteilung alphabetisch nach Komponisten vor, verzeichnet genauestens Besetzungsangaben und Anschaf- fungsdaten, bringt auch biographische Notizen iiber die Autoren, die im alphabetischen Generalregister noch einmal zusammengefa3t sind. Auch um die Erweiterung der historischen Musiksammlung war man in G6ttweig bemiiht. Der Prior und Bibliothekar Gottfried Reichardt, auf dessen Vorarbeiten der heutige Inkunabelnkatalog fui3t, bereiste um die Mitte des 19. Jahr- hunderts viele

europiische Bibliotheken und kopierte wichtige musikalische Quellen (z. B. im

British Museum zu London). Seiner Freundschaft mit Aloys Fuchs verdankt das Stift einen

groBen Teil von dessen Sammlung und damit auch den literarischen NachlaB von Raphael Georg Kiesewetter20. Ahnliche Bestrebungen gab es in Kremsmiinster vor allem unter den Chorregenten P. Gunther Kronecker (1803-1847) und P. Maximilian K erschbaum (1805 bis 1874)21.

Wir kommen damit zu den individuellen Sammlern, die einen wichtigen Faktor in der Geschichte der musikalischen Quelleniiberlieferung bilden, gewissermaBen das Bindeglied zwischen den alten Gebrauchssammlungen und den modernen, wissen-

schaftlich organisierten Bibliotheken. Es waren Minner, die musikalische Quellen

weniger fUr den praktischen Gebrauch als fiir Studienzwecke, aus Pietit, aus Lieb-

haberei fiir alte Drucke und Handschriften oder aus ernstem historischen Interesse

gesammelt haben. Sieht man von patrizischen Sammlungen wie der Bibliothek des

Fernando Colon22 oder vorwiegend Dedikationsexemplare verwahrende fiirstliche Kollektionen wie der Bibliotheca Cubicularis Kaiser Leopolds I. ab, so kann man

Sammeltaitigkeit fiir Studienzwecke unter gewissen historischen Aspekten bereits

bei einzelnen Musikern des 17. Jahrhunderts feststellen. Das gilt vor allem fiir die

19 Katalogus Operum Musicalium in choro musicali Monasterii O. S. P. B. Gottwicensi R. R. D. D. Altmanno Abbate per R. D. Henricum Wondratsch p. T. chori regentem, conscriptus Anno MDCCCXXX, Ms. im Musikarchiv des Stiftes Gittweig/Niederdsterreich. 20 Vgl. FRIEDRICH W. RIEDEL, Der Wiener Musiksammler Aloys Fuchs und seine Beziehungen zum

Stift Gbttweig, in: Aus der Heimat, Jahrgang I, Krems an der Donau 1962. 21 ALTMAN KELLNER, Musikgeschichte des Stiftes Kremsmiinster, Kassel-Basel 1956, S. 651 f., 669f. 22 Vgl. KNUD JEPPESEN, Die neuentdeckten Bicher der Lauden des Ottaviano dei Petrucci und andere musikalische Seltenheiten der Biblioteca Colombina zu Sevilla, in: Zeitschrift fUr Musikwissenschaft XII, 1929/30, S. 73 ff.

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Palestrina-Nachfolge. Werke im strengen Stil wurden vorzugsweise gesammelt, nattir- lich in erster Linie als Muster fiir den kontrapunktischen Satz. Die historische Bedeu- tung der Werke wird gelegentlich in den Notizen der Abschreiber gewiirdigt. Pale- strina, Morales, Frescobaldi, Fontana, Battiferri finden sich vorzugsweise in den Studienrepertoires der Kapellmeister und Organisten in Rom um Bernardo Pasquini und Girolamo Chiti sowie in Wien um Alessandro Poglietti und Johann Joseph

Fux23. Das Gesicht solcher Kollektionen 15It sich an den noch teilweise erhaltenen

Nachlaissen der Fux-Schiiler P. Alexander Giessel24, Johann Dismas Zelenka und Gottlieb Muffat erkennen. Neben Kompositionen im strengen Stil und Klaviermusik sammelte man aber auch Partituren alterer und zeitgenbssischer Kirchenwerke.

Dasselbe gilt fiir die groBen Sammlungen von Georg Osterreich und Heinrich Bokemeyer in Norddeutschland und Gustav Diiben in Stockholm25. Auch Johann Sebastian Bach sammelte und kopierte Werke alterer und zeitgen6ssischer Kom- ponisten, ebenso sein Nachfolger Johann Gottlob Harrer, der vor allem italienische und siiddeutsche Kirchenmusik sammelte 26, ferner Carl Philipp Emanuel Bach und besonders der Bach-Schiller Kirnberger, der seiner vornehmen Schiilerin, der Prin- zessin Anna Amalia von PreuBen, die bekannte groBe Musiksammlung aufbaute.27 Auch bedeutende r6mische Musiker wie Girolamo Chiti waren fleiBige Sammler 5lterer Werke, insbesondere aus der Palestrina-Schule. Eine der umfangreichsten und interessantesten italienischen Sammlungen ist die des Marchese Flavio Chigi (1714 bis 1769) aus Siena28. In ihr sind Quellen aus den Nachldssen r6mischer Kom- ponisten wie Basili, Bencini, Chiti und Pasquini vereinigt. Palestrina und seine Schule nehmen den breitesten Raum ein, doch sind auch Franzosen wie Le Begue und Deutsche wie HaBler, Fux, Handel, Hasse und Wagenseil, selbst iltere Niederliinder wie Gombert und Monte vertreten. Eine gr6*Bere Breite erreichte die Sammlung des P. Giambattista Martini, der das Material noch dazu in seinen historischen Arbeiten auswertete.

Mittlerweile war im Zuge des Rationalismus die Anschauung von der Musik als einer,,Wissenschaft" aufgekommen, wodurch die Beschaiftigung mit der alteren Musik eine neue Tendenz bekam. Das Studium der historischen Musik diente der Weiter-

23 Vgl. FRIEDRICH WILHELM RIEDEL, Johann Joseph Fux und die rbmische Palestrina-Tradition, in: Die Musikforschung XIV, 1961, S. 14ff.; derselbe, Ein Skizzenbuch von Alessandro Poglietti, in: Essays in honor of Willi Apel on his seventieth birthday (im Druck). 24 Vgl. FRIEDRICH WILHELM RIEDEL, Das Musikarchiv im Minoritenkonvent zu Wien (Katalog des alteren Bestandes vor 1784), Kassel 1964. 15 Vgl. HARALD K~iMMERLING, Gottorfer Bestiinde in der Sammlung Bokemeyer, in: Norddeutsche und Nordeuropaische Musik, (Kieler Schriften zur Musik Band 16), Kassel etc. 1965, S. 92 ff. (Kiimmerling bereitet einen Katalog der Bokemeyer-Sammlung vor); BRUNO GRUSNICK, Die Datierungen der Dilben- sammlung, ib. S. 27ff. 26 Vgl. ARNOLD SCHERING, Der Thomaskantor Johann Gottlob Harrer (1703-1755), in: Bach-Jahr- buch 28, 1931, S. 112 ff. 27 Vgl. RENATE BLECHSCHMIDT, Die Amalien-Bibliothek. Musikbibliothek der Prinzessin Anna Amalie von Preuflen (1723-1787). Katalog mit Hinweisen auf die Schreiber der Handschriften (Berliner Studien zur Musikwissenschaft Band 8 - in Vorbereitung). 28 Die Sammlung wurde im 19. Jahrhundert von dem in Rom lebenden deutschen Pianisten Ludwig Landsberg erworben, nach dessen Tod sie in die k6nigliche Bibliothek in Berlin gelangte.

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entwicklung der gegenwirtigen.

Dieser pragmatische Standpunkt, den wir bei groBen Komponisten wie Bach und Fux mehr oder weniger bewu6t empfinden, trat bei den

privaten Sammlern des 18. Jahrhunderts immer sta*rker hervor, verbunden mit einem wachsenden bibliographischen Interesse. Es entstanden die ersten Lexika mit Quel- lenverzeichnissen: Von Brossard iiber Walther fiihrte die Linie zu Forkel und Gerber. Die Geschichtsschreibung fand ihre ersten Vertreter - wenn man von Printz ab- sieht - in Minnern wie Martini, Gerbert, Hawkins, Burney, La Borde und Forke129. Die Quellenbasis ihrer Schriften ist die altere Literatur einerseits und die ihnen zu-

ginglichen Primirquellen andererseits. Somit waren die Privatsammlungen der Lexiko-

graphen und Historiker schon speziell auf diese Ziele hin angelegt worden. Eine weitere Art von Sammlungen sind jene, deren Besitzer vornehmlich an einer

praktischen Wiederbelebung ailterer Musik interessiert waren, worin man eine Paral-

lele zur Shakespeare-Renaissance in der Literatur- und Theatergeschichte des 18. Jahr- hunderts sehen k6nnte.

Als Beispiele seien die Barone Van Swieten und Voss genannt. Beide erwarben - iihnlich wie der erwdihnte Marchese Chigi - bereits vorhandene iltere Sammlungen, Van Swieten offensichtlich die des kaiserlichen Hoforganisten und Fux-Schiilers Gottlieb Muffat, Voss die des Leipziger Thomaskantors Johann Gottlob Harrer. Van Swieten wurde als 6isterrei- chischer Gesandter in Berlin mit dem Schaffen J. S. Bachs bekannt, fiir dessen Pflege er sich

spiiter in Wien einsetzte. Ferner galt sein Interesse Handel, Scarlatti und anderen Kom- ponisten des 18. Jahrhunderts 3. Otto von Voss, der spitere preuBische Minister, war Schiller des als Kopist und Sammler Bachscher Werke bekannten Berliner Musikers Hering, dessen musikalischen NachlaB er iibernahm. Sein Hauptinteresse galt der italienischen und deutschen katholischen Kirchenmusik des 17. und 18. Jahrhunderts wie auch der zeitgen6ssischen, ins- besondere Wiener Instrumentalmusik. Voss legte eigenhtindig zwei groBe Kataloge seiner Sammlung an. Der erste31 ist nach Gattungen geordnet, aber nicht alphabetisch oder nach Tonarten untergliedert. Bei Instrumentalwerken in Stimmen sind die Inzipits notiert, die

iibrigen Quellen sind nur inventarmiiBig aufgenommen. Ffir die Partituren der Kirchenwerke existiert ein zweiter Katalog32, der simtliche Inzipits enthalt. Dieser ist nicht nach Gattungen, sondern nach dem Alphabet der Autorennamen geordnet, die allerdings innerhalb des jewei- ligen Anfangsbuchstabens willkiirlich durcheinander stehen. Die Sammlung Voss bildete

spiter einen der wichtigsten Fonds fur den Aufbau der Musikabteilung der k6niglichen Biblio- thek in Berlin, w~ihrend der NachlaB Van Swietens auf dem Auktionswege verstreut wurde3. Teile sind in der Lobkowitzschen Sammlung (ehemals Raudnitz, jetzt Nationalmuseum Prag) nachweisbar, andere in der Sammlung des Barons Doblhoff-Dier in Wien, einem der zahl- reichen adeligen Musiksammler um die Jahrhundertwende, von denen noch der Graf Fuchs34,

29 Vgl. HELMUTH OSTHOFF, Die Anfiinge der Musikgeschichtsschreibung in Deutschland, in: Acta Musicologica V, 1933, S. 97ff. 30 Vgl. ANDREAS HOLSCHNEIDER, Die musikalisdre Bibliothek Gottfried van Swietens, in: Berchdt iiber den Internationalen Musikwissenschaftlichen Kongrefl Kassel 1962, Kassel etc. 1963, S. 174 ff.; FRIEDRICH WILHELM RIEDEL, Johann Joseph Fux, Werke ftir Tasteninstrumente, Graz - Kassel etc. 1964, S. 70 ff. 31 Berlin, Deutsche Staatsbibliothek, Mus. ms. theor. Kat. 21. 32 Ebenda.

33 Der von REINHOLD BERNHARDT, Van Swieten und seine Judas Maccabiius-Bearbeitung, in: Zeit-

schrift fiar Musikwissenschaft XVII, 1935, S. 513, erwaihnte Auktionskatalog von 1804 ist im Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien unauffindbar.

34 Vgl. ERICH SCHENK, Eine Wiener Musiksamnmlung der Beethoven-Zeit, in: Festschrift Heinrich

Besseler, Leipzig 1962, S. 377ff.

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die Barone Kees und Du Beine sowie als vornehmster der Beethoven-Schiiler Kardinal-Erzherzog Rudolf zu nennen sind. Mit diesen stehen wir bereits am Beginn einer neuen Epoche. Sie ist geprligt durch die Aufl6sung der alten Gesellschaftsordnung und durch den Heroenkult der Romantik.

II. DIE MUSIKSAMMLUNGEN IM 19. JAHRHUNDERT

Um 1800 vollzog sich in der Musikgeschichte ein tiefgreifender Wandel, so daO man hier aus mannigfachen Griinden eine Epochengrenze setzen m6chte. Das gilt zumindest fiir die soziale Struktur des Musiklebens, fiir die musikalische Quellen-

iiberlieferung und fuir das geistige Verstindnis des musikalischen Kunstwerks. Ver-

gegenwdirtigen wir uns kurz die historischen Fakten der Entwicklung: 1773 wurde der um die Kirchen- und Schulmusik hochverdiente Jesuitenorden aufgehoben, 1782

begann der josephinische Klostersturm, der zahlreichen musikalischen Kulturzentren

ein Ende bereitete. 1789 folgte die Franzdsische Revolution mit den anschlie- Benden Kriegen, die in Frankreich, in den Niederlanden und in Westdeutschland zu einer weitgehenden Vernichtung des musikalischen tUberlieferungsgutes fiihr- ten. Den Schlulstrich setzte der Reichsdeputationshauptschluf von 1803 mit der

Saikularisierung der geistlichen Fiirstentiimer und der Mediatisierung der kleineren Reichsstainde. Die Folge war eine Aufl6sung zahlreicher kirchlicher und adeliger Kapellen und damit die Dezimierung unschittzbarer Notenbestlinde. Aus dieser Situation erwuchs der Historismus. Man ,entdeckte" die Vergangenheit und suchte ihre organische Entwicklung zu erforschen65. Musikalische Denkmtiler, vor allem Handschriften grol3er Meister, wurden zur Reliquie- und zur Handelsware. Die Kloster- aufhebungen haben nicht nur den Antiquittitenmarkt, sondern auch den Antiquariats- handel mit Biichern und Noten ins Leben gerufen, der das ganze 19. Jahrhundert hin- durch gro8e Bedeutung fiir die musikalische Quelleniiberlieferung hatte. Um 1800 waren alte Noten zu Spottpreisen zu haben. Poelchau hat sich auf Reisen aus ehema- ligen Klosterbestainden (z. B. St. Emmeran in Regensburg) gro8e Teile seiner Samm- lung zusammengesucht. Kiesewetter beniitzte Kandler als Agenten fiir Notenkaiufe in Italien.

Palestrina-Renaissance, Caecilianismus und musikalische Restaurationsbewegun- gen im Protestantismus haben allgemein das Interesse auf die Kirchenmusik des 16. und 17. Jahrhunderts gelenkt35a. So entstanden aus den geschlossenen Gebrauchs- repertoires musikalischer Institutionen des 18. Jahrhunderts die eklektischen, histo- risch orientierten Privatsammlungen der Biedermeierzeit. Lassen wir die Gruppe der nur Autographen-Sammler auBer acht, so finden wir zahlreiche Pers6nlichkeiten, die Musikalien unter ganz bestimmten Gesichtspunkten sammelten, in wissenschaft- lichen Arbeiten auswerteten und somit Bahnbrecher der modernen Musikwissenschaft geworden sind. Durch Korrespondenz und Tauschgeschtifte sind sie vielfach unter- einander verbunden, wenn auch heftige Fehden mitunter nicht ausgeblieben sind. Zu

35 Vgl. TIBOR KNEIF, Die Erforschung mittelalterlicher Musik in der Romantik und ihr geistes- geschichtlicher Hintergrund, in: Acta Musicologica XXXVI, 1964, S. 123 ff. 35a Vgl. WILLI KAHL, Offentliche und private Musiksarmmlungen in ihrer Bedeutung far die musi- kalische Renaissancebewegung des 19. Jahrhunderts in Deutschland, in: Kongrefl-Bericht Bamberg 1953, Kassel - Basel 1954, S. 289ff.

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nennen sind in erster Linie der Franzose Bottle de Toulmon, der Belgier Fetis, die Italiener Baini, Santini und Masseangelo-Masseangeli, der Schweizer Naigeli, die Deutschen Thibaut, Becker, Naue, Schindler, GaBner, Proske, Hauber, Zelter, Com- mer, Poelchau und Dehn sowie ein englischer35a und schlie1lich ein 6sterreichischer Kreis, der noch naiher zu behandeln ist.

Die Sammlung des Kurliinders Poelchau, ohne Zweifel eine der wertvollsten und vielseitig- sten, war bereits nach modernen musikbibliothekarischen Gesichtspunkten gegliedert. Poelchau hatte dazu einen vierbiindigen Katalog"3 angefertigt. Die erste Abteilung umfaBte Bficher (Drucke und Manuskripte) iiber Musiktheorie und Musikgeschichte, Gesang-, Choral- und Liederbiicher, Liturgica und Libretti. Die zweite Abteilung enthielt ,gedruckte practische Werke aus dem 16. und 17. Jahrhundert" von iiber 600 Autoren, darunter eine vollstindige Ausgabe des Magnum Opus Musicum von Lasso. Gedruckte praktische Werke des 18. Jahr- hunderts waren in der dritten Abteilung vereinigt, in der vierten dagegen ,handschriftliche praktische Wercke", darunter iiber fiinfzig Bach-Autographe nebst Manuskripten von Bach-

S6hnen, von Hiindel, Graun, Hasse, Benda, Haydn, Mozart, bis hin zur eigenhindigen Parti- tur des Kyrie von Beethovens Missa Solemnis. Ferner besal Poelchau eine Sammlung von

Komponistenportrits und von Kupferstichen mit Musikdarstellungen aus dem 16. und 17. Jahrhundert. Er hatte nicht nur die Nachlaisse von Telemann, Philipp Emanuel Bach und Forkel erworben, sondern auch auf Reisen durch Deutschland, Osterreich, England, Diinemark und Frankreich so viel Material zusammengetragen, daB er damals als Besitzer der gr-63ten Privatsammlung Europas galt.

Das Gegenstiick bildete die Sammlung seines Wiener Freundes Aloys Fuchs. Dieser geh6rte zu einem Kreis von musikhistorisch interessierten Miinnern, die stimtlich beim k. k. Hof- kriegsrat titig waren. Es sind Raphael Georg Kiesewetter, Franz Sales Kandler, Johann Baptist Jenger und der genannte Fuchs. Kiesewetter zaihlte zu den fiihrenden Musikgelehrten seiner Zeit, seine Arbeiten Uiber die arabische, griechische und mittelalterliche Musik, Uiber die Epochen der Musikgeschichte, fiber Notations- und Temperaturprobleme, sind von grund- legender Bedeutung, seine Studie Uiber die Verdienste der Niederldnder in der Tonkunst hat der Forschung ganz neue Wege gewiesen. Kiesewetter kann als einer der ersten grolen Systematiker der Musikwissenschaft angesehen werden. Auch seine Musiksammlung, von der ein gedruckter Katalog existiert, ist demzufolge stark spezialisiert und beschrinkt sich auf eine Gallerie der Contrapunctisten. Auch Kandlers Neigungen gingen in dihnlicher Richtung, was schon seine fbersetzung von Bainis Palestrina-Monographie zeigt.

Demgegeniiber ist die Sammlung von Aloys Fuchs37 dihnlich universal angelegt wie die Poelchauische, wenngleich die Zeit vor 1600 spairlich vertreten ist. Fuchs hatte zahlreiche Sammelgebiete: 1. Autographe (Noten und andere Schriftstiicke) filterer und zeitgen6ssischer Komponisten, 2. eine m6glichst vollstindige Erfassung der Werke von W. A. Mozart, 3. Musikerportrdits, 4. Musikerbiographien, musiktheoretische und musikgeschichtliche Werke, 5. alte Musikdrucke, vor allem Partituren von Opern, Oratorien und Kirchenwerken sowie

iltere Musik fiur Tasteninstrumente, 6. Zeitungsartikel fiber Musik, 7. Libretti, s. Theater- zettel, 9. Briefe und andere musikgeschichtliche Dokumente und Notizen. Somit waren die meisten der heute von den wissenschaftlichen Musikbibliotheken gesammelten Gebiete vertreten. Fuchs nimmt in der Geschichte der Musikwissenschaft eine besondere Stellung ein. Er ist trotz seiner regen schriftstellerischen Titigkeit kein eigentlicher Musikgelehrter gewe-

35a Vgl. die eingehende Darstellung von A. HYATT KING, Some British Collectors of Music ca. 1600

bis 1960, Cambridge 1963. 36 Berlin, Deutsche Staatsbibliothek, Mus. ms. theor. Kat. 61, 56, 51, 41.

37 Vgl. FRIEDRICH WILHELM RIEDEL, Aloys Fuchs als Sammler Baclscher Werke, in: Bach-Jahrbuch 1960, S. 83 ff.; derselbe, Die Bibliothek des Aloys Fuchs. Verzeichnis der Schriften aus dem Nachlafl von Aloys Fuchs im Stift Gbttweig, in: Hans Albrecht in Memoriam, Kassel etc. 1962, S. 207 ff.; derselbe, Qber die Aufteilung der Musiksammlung von Aloys Fuchs, in: Die Musikforschung XV, 1962, S. 374 ff.

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sen, hat aber als einer der ersten eine planmi3ige musikhistorische Dokumentation betrieben und auBerdem durch seine Kennerschaft auf dem Gebiet der Handschriften- bzw. Autographen- kunde der wissenschaftlichen Quellenkunde wichtige Dienste geleistet. Grolen Wert besitzt seine international ausgerichtete Korrespondenz, die ein sehr lebendiges Bild von dem Aus- tausch und den Methoden der Sammler wie auch von den damit verbundenen quellen- kritischen Problemen vermittelt. Die zahlreichen Kataloge einzelner Teile seiner Sammlung, auch die Titel- und Vorsatzblitter der Objekte selbst hat Fuchs mit Notizen ilber die Autoren und iiber die Provenienzen versehen. Wichtiger noch sind seine zahlreichen thematischen Kataloge einzelner Komponisten, ffir die ihm nicht nur seine eigene Sammlung, sondern die reichen Schaitze der vielen privaten und 6ffentlichen Musiksammlungen Wiens zur Verfilgung standen. Fuchs hat hier wichtige Vorarbeiten ffir die spaiteren thematischen Werkverzeich- nisse und Monographien der Gro3meister geleistet. Noch heute werden seine Kataloge zu Rate gezogen. Die Bevorzugung der Grof3meister tritt bei Fuchs deutlicher hervor als bei anderen Sammlern der Zeit. Neben seinem Streben nach einer vollstaindigen Erfassung von Mozarts Schaffen bemiihte er sich, auch die wichtigsten Werke von Bach, Hiindel, Gluck, Haydn und Beethoven zu besitzen, vor allem die Kompositionen fiir Tasteninstrumente wie auch die Partituren von Opern, Oratorien und Sinfonien. Um so bedauerlicher, daB seine Sammlung wie auch andere Privatkollektionen der Biedermeierzeit nicht geschlossen erhalten ist.

Bei den Besitzern der gr683eren Sammlungen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts tritt die wissenschaftliche Betiitigung mehr und mehr zurfick, sofern es sich nicht um Gelehrtensammlungen handelt wie bei Kade, Schafhkiutl, Ritter oder Chrysander, bei denen aber die Sparte haiufig an die Stelle der Originalquelle tritt. Da diltere Musikdrucke und -handschriften immer mehr Seltenheitswert bekamen und demzu-

folge im Preis stiegen, sind die Besitzer der bedeutendsten Sammlungen in der zwei- ten Hailfte des 19. Jahrhunderts und im friihen 20. Jahrhundert vorwiegend ver-

mbgende Persbinlichkeiten gewesen. Miinnern wie Thalberg, Grasnick, Wolffheim, Koch, Scheurleer, Heyer, Hirsch, Prieger, Cortot, Canal und Chilesotti verdanken wir die Erhaltung und UIberlieferung wertvollen Quellengutes. An gegenwairtig noch existierenden Privatsammlungen in Europa sind vornehmlich die von Genevieve Thibault und von Andre Meyer (beide Paris) sowie die von Antony van Hoboken (Ascona) erwdihnenswert. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts sind auch amerika- nische Sammler auf den Plan getreten. Zu den ersten geh6rte Lowell Mason, dessen Sammlung sich heute in der Yale University (New Haven, Connecticut) befindet.

Wegen der Gefahr einer Verstreuung der Quellen nach dem Tode ihrer Besitzer waren die Privatsammlungen keine dauerhaften Aufbewahrungsstiitten. So wurde sogar in der Tagespresse hin und wieder (etwa nach Poelchaus Tod) der Wunsch gediuBert, die Gelehrtennachliisse und Privatsammlungen m6chten in bffentlichen Besitz fiberfiihrt werden. Die Verpflichtung zur musikalischen Denkmalspflege als einer nationalen Aufgabe war allmdihlich erwacht. Kirchliche Institutionen haben -

wie schon erw~ihnt - mancherorts fir die Erhaltung und Erschlie3ung ihrer Archiv- bestlinde gesorgt, in einzelnen Fillen auch Privatsammlungen in Verwahrung genom- men. So gelangte ein Teil der Fuchs-Sammlung an das Stift G6ttweig, die Sammlun- gen von Santini und Proske an die bisch6flichen Ordinariate in Miinster und Regens- burg, die Nachlisse von August Gottfried Ritter und Emrnst von Werra an die Erz- abtei Beuron.

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Die Initiative zur Errichtung neuer bffentlicher Sammlungen ging von biirgerlichen Kreisen aus. Als seit dem Ende des 18. Jahrhunderts, vor allem in der Zeit von 1770 bis 1830o, allenthalben in Europa biirgerliche Musikvereine die Gestaltung des iffent- lichen Musiklebens in die Hand nahmen und Akademien, Konservatorien oder Musik- schulen griindeten, wurden deren Bibliotheken vielfach Sammelstaitten alter Musi- kalien. Zuweilen tibernahm man Bestainde aufgelister Institutionen oder Nachlaisse von Musikern oder Gelehrten, oder man erhielt Schenkungen aus kirchlichen und

adeligen Kreisen. Manche dieser Bibliotheken und Archive zaihlen heute zu den bedeutendsten Musiksammlungen der Welt, so die Akademien und Konservatorien in Rom (seit dem Ende des 16. Jahrhunderts), Stockholm (gegriindet 1771), Paris

(1795), Neapel (1797), Bologna (1789; Nachla3 des P. Giambattista Martini), Milano (1808), Prag (1811), Wien und Graz (beide 1815), Parma (1818), Zagreb (1827;

NachlaB des Don Nicola Algarotti aus Salzburg), Genova (1829) und Brtissel (1832). ZumUnterschiedvon den alten Kapellrepertoires haben diese Konservatoriumssamm-

lungen meist eine vielseitigere und geographisch weitergespannte Zusammensetzung, wenn ihnen auch die innere Geschlossenheit der ailteren Sammlungen mangelt. Inter- essant ist oft die Geschichte ihres allmaihlichen Aufbaues. So erlie3 beispielsweise die Gesellschaft der Musikfreunde in Wien 1815, also ein Jahr nach ihrer Griindung, einen Aufruf An die Freunde der Musik in der Absicht, eine Sammlung fUir die Ton-

kunst zu schaffen, wie sie filr die Wissenschaften und bildenden Kiinste seit langem existierte38. Die Gesellschaft lud ,,saimtliche Besitzer von Musikwerken, besonders

von alteren, seltneren und vorzUiglichen ein, ihr davon Nachricht zu geben, um dann mit ihnen iiber

die Art, selbe fair die musikalische Bibliothek zu erhalten, in Unter-

handlung treten zu kajnnen". Das Echo war nachhaltig. So stiftete der Magistrat von

Liibeck durch seinen beim Wiener Kongre3 vertretenen Gesandten die alte Musik- bibliothek der Marienkirche. Die reiche Sammlung Ernst Ludwig Gerbers kam 1819 durch Kauf, die des Erzherzogs Rudolf 1832 als dessen Vermichtnis an die Gesell-

schaft, ebenso spiter die Nachlisse von Sonnleithner, Witteczek und K6chel sowie

zahlreiche Teilnachliisse und Stiftungen39, auch aus dem Archiv der kaiserlichen

Hofkapelle. Auf diese Weise hat die Gesellschaft der Musikfreunde eine der gr6f8ten und wertvollsten Musiksammlungen der Welt bekommen.

Nachdem der Idealismus einzelner Privatmainner und der biirgerlichen Musikvereine die Offentlichkeit auf die Notwendigkeit einer musikalischen Denkmalspflege hin-

gewiesen hatte, nahm sich allmdihlich auch der Staat dieser Aufgabe an. Drei bis vier Jahrzehnte lang hatten die Regierungen mit angesehen, wie auf ihre Verord-

nungen hin unerme1liche Notenbestinde der Verstreuung und Vernichtung preis- gegeben wurden. Nunmehr griindete man an den 6ffentlichen Hof- (spdter Staats-

oder National-) Bibliotheken spezielle Musikabteilungen, die nicht nur alte Musi-

S3 Schon P6lchau selbst hebt in dem Angebot der Oberlassung seiner Sammlung an die kanigliche Bibliothek hervor, es bleibe ,eine heilige Pflicht aller der Kultur, Kunste und Wissenschaften bestimm- ten Institute, sie [d. h. die musikalischen Quellen] zu sammeln und fUr die Nachwelt aufzubewahren, da sie ein unschdtzbares nationales Erbgut sind . ." 39 Vgl. Zusatz-Band zur Geschichte der K. K. Gesellsciaft der Musikfreunde in Wien, Wien 1912, S. V.; das Verzeichnis der Spender ib., S. XI ff.

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kalien, sondern kiinftighin nach Mbglichkeit auch die Pflichtexemplare der musika- lischen Druckproduktion des jeweiligen Landes sammelten. Die vatikanischen Samm- lungen diirften als dilteste dieser Art angesehen werden, da sie bis ins 15. Jahrhundert zuriickreichen. Paris und Miinchen k6nnen ihre Anfainge bis ins 16. Jahrhundert ver- folgen, wenn sie auch erst um 1800 ihre heutige Gestalt erhielten. Bei vielen bildete das ,,gewachsene" Gebrauchsrepertoire einer fiirstlichen Kapelle den Grundstock der Sammlung, so auf3er den genannten in Dresden, Gotha, Darmstadt, Schwerin, Stutt- gart und Kassel, ebenso in Madrid, Lissabon und St. Petersburg. Die Musiksammlung der Wiener Hofbibliothek vereinigte die dilteren Bestande des Hofkapellarchivs, die

Privatsammlungen der friiheren Kaiser mit zahlreichen Widmungsexemplaren, alle musikalischen Drucke und Manuskripte der allgemeinen Hofbibliothek einschliel3ich der Bibliothek des Prinzen Eugen, auch Objekte aus aufgehobenen Klastern. Der weitere Ausbau erfolgte durch Pflichtexemplare, Stiftungen und Kauf.

Demgegeniiber muBte die 1824 gegriindete Musikabteilung der kdniglichen Biblio- thek in Berlin mit so gut wie nichts anfangen. Sie stellt den Typ einer aus ,betont historisierender Geisteshaltung" hervorgegangenen Sammlung in h6chster Form dar. Es ist die Geisteshaltung der Restaurationszeit und der romantisierenden preu- Bischen K6nige Friedrich Wilhelm III. und IV., deren Begeisterung fiir die deutsche Vergangenheit nicht nur in den mehr oder weniger gegliickten Restaurierungen mittel- alterlicher Kirchen und Burgen, sondern auch in der Sorge um die Erhaltung musika- lischer

Denkmiiler zum Ausdruck kam. So hat sich die Musikabteilung der Berliner

Staatsbibliothek in einer wechselvollen und hochinteressanten Geschichte zu einer der gr6l3ten und kostbarsten Sammlungen in der Welt entwickelt40. Das Bestreben ging von vornherein vor allem dahin, die Nachlisse bedeutender Sammler und Gelehr- ter der Nachwelt zu erhalten und der Allgemeinheit zuginglich zu machen. Die Samm- lungen von Naue und Poelchau geharten zu den ersten Anschaffungen. Wiihrend man sich in Wien bedauerlicherweise die Nachlisse von Fischhof und Fuchs entgehen lie3, gelangten Hauptteile derselben auf Umwegen in die Berliner Bibliothek, ferner gro8e Sammlungen wie die von Voss-Buch, Landsberg (Chigi-Sammlung) und Prieger oder die Nachlisse bedeutender Komponisten wie Weber, Nikolai, Mendelssohn, Cherubini, Meyerbeer oder namhafter Gelehrter wie Winterfeld, Tappert oder Spitta. Eine Musiksammlung von dihnlichem Ausma3 besitzt die Library of Congress in Washington (gegriindet 1897). Erwiihnt aus der Zahl der National- und Staatsbiblio- theken mit gr683eren Musikabteilungen seien noch die Bibliotheque Royale in Briis- sel (1838, mit Nachla3 Fetis) und die Nationalbibliothek Szechenyi in Budapest (mit Esterh~zy-Sammlung).

In verschiedenen Liindern werden die zentralen Sammlungen alter Musikalien nicht in den Bibliotheken, sondern in den National- oder Landesmuseen verwahrt. Diese entstanden zumeist im Zusammenhang mit der aufkommenden landeskund-

40 VgI. WILHELM ALTMANN, Die Musikabteilung der Preuflischen Staatsbibliothek in Berlin. Geschicht- liches und Organisatorisches dieser Sammlung, in: Zeitschrift fiir Musikwissenschaft III, 1920/21, S. 426 ff.; KARL-HEINZ K5HLER, Die Musikabteilung, in: Deutsche Staatsbibliothek 1661-1961, Band 1: Gescdichte und Gegenwart, Leipzig 1961, S. 241 ff.

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lichen Geschichtsforschung im 19. Jahrhundert, vor allem im Bereich der ehemaligen Donaumonarchie41. Musikabteilungen wurden ihnen jedoch zumeist erst seit dem Ersten Weltkrieg angegliedert, die sich - mancherorts durch Zentralisierung von Kirchen- und Adelsarchiven - zu groBen Komplexen entwickelt haben. Solche

Museumsabteilungen existieren heute beispielsweise in Salzburg, Innsbruck, Briinn, Martin (Slowakei), Sibiu (Hermannstadt in Ruminien), Prag, Niirnberg und Den

Haag. Die gr6dte Sammlung dieser Art und zugleich eine der gr6Bten Musiksamm-

lungen der Welt befindet sich im British Museum zu London, deren Griindungszeit bis in die Zeit Haindels zuriickreicht. Der wirtschaftliche und politische Aufschwung Grolbritanniens im 19. Jahrhundert spiegelt sich in der Entwicklung dieser Samm-

lung, die in ihrem Zuwachs an kostbaren Drucken und Manuskripten, auch an ganzen Nachlassen, die Berliner Staatsbibliothek vielfach iiberboten hat 40a. In den letzten zwei

Jahrzehnten hat sich allerdings die Musiksammlung des Prager Nationalmuseums zu ihnlichem Umfang entwickelt.

Zur Gruppe der 6ffentlichen wissenschaftlichen Musikbibliotheken geharen schlie6-

lich auch die Stadtbibliotheken, die zuweilen wertvolle Stiicke besitzen, wie Leipzig (mit dem Becker-NachlaB), Augsburg, New York und Boston (Massachusetts), schlieB-

lich die Universitaitsbibliotheken, von denen als eine der diltesten gro8en Sammlun-

gen Uppsala (1620) zu nennen ist, ferner Basel, Gdttingen, K6ln, K-nigsberg, Frank-

furt, Prag, Hamburg (mit dem Chrysander-NachlaB), Laibach sowie die zahlreichen

University und College Libraries in England und den USA, in die zahlreiche Stif-

tungen und Nachlisse gelangt sind4la.

III. DIE ENTWICKLUNG DER MUSIKBIBLIOGRAPHIE IM 19. JARHUNDERT

Die Errichtung der diffentlichen Musiksammlungen rief neue Probleme der Kata-

logisierung und Dokumentation hervor. Die Inventare und Kataloge der Kapellreper- toires waren nur fiir den internen Gebrauch bestimmt. Die Privatsammler fertigten ihre Kataloge fUir sich und allenfalls fUir ihre nihere Umgebung an. Aloys Fuchs ver-

sandte allerdings bereits Kopien seiner Kataloge an seine Sammlerfreunde, Santini

und Kiesewetter liefen Kataloge ihrer Sammlungen im Druck erscheinen. Die Archi-

vare und Bibliothekare der 6ffentlichen Sammlungen standen a priori vor der Auf-

gabe, die Bestdinde sachgemai8 zu ordnen und fiir die Benutzer katalogma8iig zu

erschlieten. Die Persoinlichkeiten der Biedermeierzeit haben auch auf diesem Gebiet

gro3e Leistungen vollbracht: Anton Schmid verfaBte den Katalog der Musikdrucke

bis 1700 in der Wiener Hofbibliothek (ungedruckt), Johann Baptist Geissler in

jahrelanger, miihevoller Arbeit, unterstiitzt von Aloys Fuchs, den mehrbindigen handschriftlichen Katalog des Archivs der Gesellschaft der Musikfreunde. Der erste

Katalog der Musikhandschriften des British Museum in London erschien 1842 im

Druck. Siegfried Wilhelm Dehn bereiste Deutschland, IOsterreich und Italien, um Bibliotheken kennenzulernen, Methoden der Katalogisierung zu studieren, Konkor-

40a Vgl. A. HYATT KING, wie FuBnote 35a, S. 103 ff. 41 Vgl. ALPHONS LHOTSKY, Osterreichische Historiographie, Wien 1962, S. 219 f. 41a Manche Universittitsbibliotheken sind heute zugleich Stadt- oder Landesbibliotheken (z. B. Frank- furt/Main oder Halle/Saale).

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danzen zu den Berliner Exemplaren zu vermitteln und neue Objekte zu erwerben. In Berlin begann er mit der Anlage eines Zettelkatalogs, der sich fiir den prak- tischen Gebrauch niitzlicher erwies als die unhandlichen Bandkataloge. Noch heute bilden die Katalogzettel von seiner Hand - Muster bibliographischer Exaktheit - den Grundstock des Zettelkatalogs der Musikalien in der Berliner Staatsbibliothek.

Die musikbibliographischen Hilfsmittel, welche diesen Mdinnern zur Verfiigung standen, waren iuBerst bescheiden. Verzeichnisse musikalischer Quellen, vorwiegend von Drucken, waren friiher nur von Druckern, Verlegern und Haindlern ver6ffentlicht worden42. Erst die Lexika von Brossard und Walther brachten Werkverzeichnisse zu den biographischen Artikeln, Gerber und Fetis setzten diese Praxis fort. Fundort-

angaben fehlten hier jedoch ebenso wie in den Bibliographien von Forkel und Becker. Der AnstoB zur kritischen Quellenforschung und damit zur systematischen Quellen- erfassung ging eigentlich von der Beschiaftigung mit den Gro3meistern aus, das heil3t von den seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstehenden Monographien, thema- tischen Verzeichnissen und Gesamtausgaben. Bemerkenswert ist, daB mehrere der Verfasser und Editoren von der Philologie oder der Naturwissenschaft her kamen und deren exakte Methoden auf die Musikwissenschaft iibertrugen. Je mehr man die

Umgebung der Grotmeister mit einbeziehen mutte und der Interessenkreis sich weitete, desto dringender wurde die planmi8ige Erschlietung des musikalischen LUber- lieferungsgutes. So kam es im Jahre 1869 zur Griindung der ersten Gesellschaft fiir Musikforschung.Das erste Heft dervonihr herausgegebenen Monatshefte fi r Musik- Geschichte wird mit dem nachstehenden Programm er6ffnet43.

,Unterzeichnete haben sich zu dem Unternehmen verbunden, gemeinschaftlich eine Monats- schrift herauszugeben, deren ausschliesslicher Zweck die Fbrderung der Musikgeschichte sein soll. Sie hoffen durch diese Gemeinsamkeit nicht nur manche Licke in der Musikgeschidcte auszufillen und der Mittelpunkt verwandter Bestrebungen zu werden, sondern auch im Publi- hum far diese noch sehr vernachdissigte Wissenschaft ein regeres Interesse zu erwecken.

Es werden besonders folgende Punkte ins Auge gefasst werden:

1) Biographien alter Tonkianstler, mit besonderer Bericksichtigung der so sehr vernachlits- sigten Deutschen'.

2) Allgemein musikgeschichtlidie wissenschaftliche Aufsiitze, Abdrticke von Manuscripten etc. 3) Beschreibung seltener Druckwerke. 4) Bibliographische Arbeiten:

a. Cataloge von bffentlichen und privaten Bibliotheken. b. Verzeichnisse von neueren und neuen Werken aber Musik im Anschlusse an Forkel und

Becker. c. Kritiken itber alle neuen musikliterarischen Erzeugnisse sowie aiber alle Erscheinungen,

welche die Musikgeschichtsforschung betreffen."

42 Z. B. Gardano 1591 (Neudruck in Revue de Musicologie 1929/30), Giunta 1604 (Neudruck in Analecta Musicologica, Band II, 1965), Vincenti 1619 und 1649 (Neudruck in Monatskefte far Musik-Geschichte 1882/83), Lotter 1753 (Neudruck in der Reihe Catalogus Musicus, Band II, Kassel

1964); Breitkopf gab zahlreiche Verlagsverzeichnisse heraus, darunter auch thematische Kataloge verkduflicher Manuskripte (z. B. Catalogo delle sinfonie, che si trovano in manuscritto, 1762); Artaria, Mollo, Andre u. a. Verleger seit dem Ende des 18. Jahrhunderts ver6ffentlichten zahlreiche Kataloge. 4* Monatshefte fiir Musik-Geschichte I, 1869, S. 1f.

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Page 17: Zur Geschichte der musikalischen Quellenüberlieferung und Quellenkunde

18 F. W. Riedel: Zur Geschichte der musikalischen QuellenuMberlieferung und Quellenkunde

Bellermann, Chrysander, Commer, Eitner, Erk, Espagne, Fiirstenau, Kade, Ritter und Witt zihlten zu den ersten Mitgliedern. Was die Monatshefte unter der Redak- tion des unermiidlichen Robert Eitner fiir die musikalische Quellenkunde bedeutet

haben, braucht nicht eigens er6rtert zu werden. Freilich lie3en sich nicht alle Pro-

jekte verwirklichen. Eine Fragebogenaktion zur Herstellung eines Verzeichnisses der

Musikbibliotheken44 fihrte damals wie heute nur zu einem mif3igen Erfolg. Dagegen hat die Ver6ffentlichung von Katalogen einzelner Sammlungen, separat oder inner- halb der Monatshefte, ein Ausma3 erreicht, wie es seither zumindest in Deutschland nicht wieder erreicht wurde. Man denke nur an die mustergiiltigen Kataloge der Bibliotheken in Berlin-Joachimsthal (Eitner), Breslau (Bohn), Brfissel (Wotquenne), Cambridge (Fuller-Maitland), Frankfurt (Israel), Goittingen (Quantz), Grimma (Peter- sen), Kassel (Israel), Kanigsberg (Mfiller), Leipzig-Peters (Vogel), Lfibeck (Stiehl), Miinchen (Maier), Paris-Conservatoire (Weckerlin), Stuttgart (Halm), Wien (Man- tuani), Wolfenbiittel (Vogel) und Zwickau (Vollhardt). Auf dieser Basis konnten nun die ersten Spezialbibliographien mit Fundortangaben erscheinen: 1877 Eitners Biblio-

graphie der Musik-Sammelwerke des 16. und 17. Jahrhunderts, 1892 Vogels Biblio- graphie der gedruckten weltlichen Vocalmusik Italiens aus den Jahren 1500-1700. Mittlerweile hatte eine neue Hilfswissenschaft, die Geschichte des Musikdruck- und

-verlagwesens, ihre ersten Triebe hervorgebracht. Anton Schmid hatte 1845 mit seiner

Monographie fiber Petrucci den Anfang gemacht, Chrysander schrieb 1879 die erste Ubersicht der Geschichte des Musikpublikationswesens 45, 1904/05 ver6ffentlichte Eitner das fflr alle spaiteren Arbeiten grundlegende Verzeichnis der Buch- und Musi-

kalienhiindler, Budi- und Musikaliendrucker nebst Notenstecher, nachdem im Jahre 1900 sein Biographisch-Bibliographisches Quellen-Lexikon der Musiker und Musik- gelehrten der christlichen Zeitrechnung bis zur Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als Krdnung der musikbibliographischenArbeiten des 19. Jahrhunderts erschienen war.

Obwohl nicht wissenschaftlich ausgebildet, ist Eitner die zentrale Forschergestalt auf dem Gebiet der musikalischen Quellendokumentation geworden. Unermiidlicher FleiB, Organi- sationstalent, Kombinationsverm6gen und Gedichtnisstairke vereinigten sich in ihm in einzig- artiger Weise. Seine Arbeitsleistung ist heutzutage kaum vorstellbar, wenn man neben seinen bibliographischen und redaktionellen Arbeiten noch die zahlreichen Aufsitze, biographischen Artikel und Rezensionen in Betracht zieht. Offenbar hat gerade dieser FleiB und diese Zaihig- keit wie auch seine Selbstlos~igkeit ihm so viele freiwillige Mitarbeiter zugefifhrt. Eitner war Realist. Er gab sich keinen Illusionen hin, hatte einen klaren Blick fiir das Erreichbare und Notwendige, fiir die Unterscheidung des Wichtigen und Nebenstichlichen. Hierin diirfte das Geheimnis seines Erfolges gelegen haben, so daB es ihm als einzelnem gelang, das immense Werk seines Quellenlexikons zu vollbringen. Dieses ist allerdings hinsichtlich der Material- sammlung eine Gemeinschaftsarbeit gewesen. Die Zahl von Eitners Mitarbeitern scheint kaum geringer gewesen zu sein als die des RISM in unseren Tagen. Aus einer eingehenden Beschdif- tigung mit dem Lexikon ergibt sich, da8 auter den siebzehn im Vorwort genannten noch eine ganze Reihe anderer Pers6nlichkeiten beteiligt waren, nicht eingerechnet die Bearbeiter der zahlreichen gedruckten Kataloge, die ausgewertet wurden. DaB es sich um h6chst qualifizierte

44 Ib., S. 19sf.

15 FRIEDRICH CHRYSANDER, Abrifl einer Geschichte des Musikdruckes vom funfzehnten bis zum neun- zehnten Jahrhundert, in: Allgemeine musikalische Zeitung 1879.

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F. W. Riedel: Zur Geschichte der musikalischen Quelleniiberlieferung und Quellenkunde 19

Fachleute handelte, beweisen Namen wie Brenet, Mandyczewsky, Koller, Bohn, Haberl und Stiehl. Die bibliographischen Mitteilungen miissen im einzelnen sehr gut gewesen sein, wie sich aus der meist recht genauen Konkordanzenzuweisung ergibt. Eitner hat aber nicht nur die Koordinierung und Redaktion durchgefiihrt, sondern auch in der Materialsammlung selbst die Hauptlast der Arbeit getragen. Das gilt einmal fiir den biographischen Teil, der fiir viele Komponisten immer noch eine wesentliche Informationsquelle ist und vorerst bleiben wird46. Zudem schuf Eitner in Autopsie das bibliographische Fundament seines Lexikons durch die

Katalogisierung der Musikalien in der k6niglichen Bibliothek zu Berlin. Auch viele andere

Sammlungen nahm er pers6nlich auf, von den auslindischen vor allem London, wo ihm aller-

dings nach eigenen Mitteilungen die Zeit fiir eine vollstaindige Aufnahme der Bestlinde fehlte und er sich auf die Verzeichnung der wichtigsten und allgemein interessierenden Werke

beschrinken mu3te47. Nicht iiberall 6ffneten sich ihm die Tore, zuweilen multe er sich auch mit summarischen Aufzihlungen begniigen. Trotz allem ist Eitners Quellenlexikon eine in sich geschlossene Meisterleistung, deren Niveau auch heute noch h6chster Bewunderung wert ist und von den Bearbeitern des neuen Quellenlexikons gr6Bte Akribie verlangt, wenn sie Ahnliches oder Besseres hervorbringen wollen.

Die Mingel des ,,Eitner" bestehen nicht so sehr in einzelnen Fehlern, Ungenauigkeiten oder Unvollstindigkeiten. Sie allein wiirden keine v6llige Neubearbeitung notwendig machen. Dem Werk haftet vielmehr eine gewisse Beschrinktheit an, die aus den damaligen Zeit-

umstinden und der allgemeinen Geisteshaltung resultiert. Die preuBisch-kleindeutsche Ge-

schichtsauffassung der Bismarckzeit hat ungewollt ihren EinfluB ausgeiibt. Die Nachwirkungen des deutsch-6sterreichischen Konfliktes von 1866 und des deutsch-franz6sischen Krieges 1870/ 1871 wie auch des Kulturkampfes in Deutschland waren auf diesem Gebiet nicht gerade giinstig. Eitner hat offenbar niemals eine gr68ere Reise in die Donaumonarchie unternommen, mit deren Reichtum an musikalischen Quellen sich Deutschland nicht messen konnte. Von den Bestlinden der Wiener Hofbibliothek verzeichnete er nur die Manuskripte nach dem

Katalog von Mantuani und die Drucke bis 1700 nach dem handschriftlichen Katalog von Anton Schmid. Die zahlreichen Drucke des 18. Jahrhunderts fehlen fast ausnahmslos. Die Quellen in der Gesellschaft der Musikfreunde sind vielfach nur summarisch erwlihnt. Aus

Prag kannte er nur einen einzigen kleinen Fonds 4. Ganz allgemeine Hinweise gibt er fiir die Klosterbibliotheken, von denen er nur in Einzelfillen (Kremsmiinster, Klosterneuburg, G6ttweig) genaue Nachweise bringt. Die Musikalien aus BAhmen, Ungarn, der Slowakei, Slovenien und Kroatien fehlen nahezu ganz, iiberhaupt fast der gesamte Osten und Siidosten Europas, ebenso - von wenigen Ausnahmen abgesehen - Spanien. Die Bestinde des Pariser Conservatoire sind nur sehr diirftig mitgeteilt. Auch Siiddeutschland ist gegeniiber Nord- und Mitteldeutschland vernachlissigt.

Hinzu kommt, daB Eitner auch in seinen musikgeschichtlichen Anschauungen ein Kind seiner Zeit war, was nicht ohne EinfluB auf sein Arbeitsprogramm geblieben ist. Sein Haupt- interesse gait der Musik des 16. und 17. Jahrhunderts, namentlich der deutschen, die (vor allem die gedruckte) recht sorgfiltig verzeichnet ist. Gegeniiber der Musik des 18. Jahrhun- derts fehlt ihm der n6tige zeitliche Abstand, weshalb sie ihm weniger wichtig erschien. Das

gait vor allem in bezug auf die katholische siiddeutsche und italienische Kirchenmusik, iiber die ohnehin der Caecilianismus ein Verdammungsurteil gefdillt hatte. Ahnlich verhtilt es sich mit der Instrumentalmusik des 18. Jahrhunderts, insbesondere des spliteren, dessen Behand-

46 Das in Vorbereitung befindliche neue Internationale Quellenlexikon der Musik wird au3er den Lebensgrenzdaten keine biographischen Angaben enthalten (s. u.). 47 So schreibt er am SchluB des Artikels Kozeluch, Leopold: ,,Das br. Mus. besitzt von ihm die

umfangreichste Samlg. seiner Kompositionen im Druck, doch fehlte mir damals die Zeit jede einzelne zu notieren". Derartige Bemerkungen finden sich auch bei den Artikeln iiber Wanhal, Joseph WeigI etc. 48 Altere italienische Musikdrucke in der Universitatitbibliothek Prag, ver6ffentlicht in: Monatshefte fiir Musik-Geschichte IX, 1877.

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20 F. W. Riedel: Zur Geschichte der musikalischen Quelleniiberlieferung und Quellenkunde

lung insgesamt an Vollstindigkeit und Genauigkeit viel zu wiinschen iibrig 1ii3t. SchlieBlich hat die gedruckte Uberlieferung bei Eitner den Vorrang vor der handschriftlichen, wie sich das Interesse der Musikbibliographen bis in die Gegenwart vorwiegend auf gedruckte Quellen konzentriert hat. Auch hier sind die Manuskripte des 18. Jahrhunderts gegeniiber den friiheren weitgehend vernachlissigt worden.

IV. DIE BIBLIOGRAPHISCHEN UND QUELLENKUNDLICHEN ARBEITEN

IN DER ERSTEN HALFTE DES 20. JAHRHUNDERTS

Offenbar hat die im Laufe der Arbeiten immer mehr zutage tretende Material-

fiUlle den fast siebzigjahrigen Eitner veranlalt, sein Werk in torsohaftem, aber fiir die Practica des 16. und 17. Jahrhunderts wie auch fiir die Theoretica verhiltnismi3ig geschlossenem Zustand zu beenden, um es vor seinem Lebensende noch in Druck zu

bringen. Es ware auch sonst vielleicht nicht zu einer Ver6ffentlichung gekommen, weil ein anderer sich ohne das Gedlichtnis Eitners nur schwer in das gewaltige Mate- rial hitte einarbeiten k6nnen. Zudem stand in Deutschland wAhrend der ersten

Hilfte des 20. Jahrhunderts die Quellenkunde nicht mehr so hoch im Kurs wie friiher. Die

groBen Musikgelehrten am Anfang dieses Jahrhunderts wie Riemann und Kretzschmar und ihr Schiilerkreis bekundeten weitgehend andere Interessen. Die zwei Weltkriege und die unruhevolle Zwischenzeit haben trotz mancher Bemiihungen, vor allem von

seiten des unermiidlichen Max Seiffert und des Staatlichen Instituts fiir Musikfor-

schung in Berlin, keine gr6Beren Plane ausreifen lassen.

Umso mehr Aktivitat wurde in anderen Landern entwickelt. Fiir Gro3britannien sind zunichst die Kataloge der Musiksammlungen des British Museum von W. Barc-

lay-Squire und A. Hughes-Hughes zu nennen, daneben die von Oxford und Tenbury. Eine systematische Erfassung aller praktischen Musikdrucke bis 1800 fiihrte 1957

zur Publikation des British Union Catalogue, einer - trotz Verzicht auf Material-

beschreibung (Stimmbiicher etc.) und Plattennummern - enormen bibliographischen

Leistung, die den ersten bis jetzt gedruckt vorliegenden nationalen Zentralkatalog darstellt. Frankreich lieferte mit den Katalogen wichtiger Pariser Sammlungen (Biblio-

theque Nationale durch Ecorcheville, Opera durch Lajarte, Arsenal durch Laurencie

und Gastoue, Teile des Conservatoire durch Laurencie) wertvolle Beitrige zur Musik-

bibliographie. In Schweden veraffentlichte man Kataloge der Musiksammlungen der

Musikakademie in Stockholm, der Universitaitsbibliothek in Uppsala (Mitjana,

Davidsson) sowie Zentralkataloge der praktischen und theoretischen Druckwerke

bis 1700o aus den iibrigen Bibliotheken (Davidsson). In den USA hat Sonneck nicht

nur Teilkataloge der Music Division in der Library of Congress, sondern auch eine

Bibliography of early secular American music vorgelegt. Aus neuerer Zeit sind vor

allem der Union Catalogue der Pittsburgh Libraries (Finney) und der Thematic

Catalogue of a Manuscript Collection of Eighteenth-Century Italian Instrumental Music in the University of California Berkeley (Duckles-Elmer) zu erwihnen. In

Spanien haben Pedrell, Angles und Subird Kataloge der Sammlungen in Barcelona und Madrid ver6ffentlicht. In Portugal erschien 1958s der Katalog der Musikhand- schriften in der Bibliotheca da Ajuda zu Lissabon. Um die Musikalienkatalogisie-

rung in der Schweiz haben sich vor allem Edgar Refardt (Instrumentalmusik der

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F. W. Riedel: Zur Geschichte der musikalischen Quelleniuberlieferung und Quellenkunde 21

Universittitsbibliothek Basel), Hans Peter Schanzlin (Verzeichnis der Musiksammel- drucke und Kataloge kleinerer Bestiinde) und Georg Walter (Allgemeine Musik- gesellschaft ZUirich) verdient gemacht.

GroBen Idealismus erforderten von jeher musikwissenschaftliche und vor allem quellenkundliche Arbeiten in Italien, da es vielfach an der Unterstiitzung offizieller Stellen mangelte. Nachdem Gaspari bereits gegen das Ende des vorigen Jahrhunderts mit dem noch von Eitner ausgewerteten Katalog des Liceo musicale in Bologna die Initiative zu gr6lBeren Arbeiten ergriffen hatte, rief die Associazione dei Musicologi Italiani eine groBe bibliographische Reihe unter dem Titel Catalogo delle Opere Musicali teoriche e pratiche di Autori vissuti sino al primi decenni del Secolo XIX, esistenti nelle biblioteche e negli archivi publici e privati d'Italia ins Leben. Sie

gelangte bis zum 14. Band, dann setzte ihr der Zweite Weltkrieg ein Ende, vor einigen Jahren hat das Istituto Editoriale Italiano in Milano diese Unternehmungen wieder

aufgenommen. Der Initiator, Claudio Sartori, hat mit seiner Bibliografia della Musica Strumentale Italiana fino al 1700 (1952) ein Gegenstiick zu Vogels Bibliographie der weltlichen Vokalmusik vorgelegt. Mit der Publikation der Kataloge zu den Vatika- nischen Musiksammlungen hat Jose Llorrens 1960 begonnen.

In Osterreich folgten dem erwaihnten Handschriftenkatalog von Mantuani die Ver- zeichnisse der Neuerwerbungen der Osterreichischen Nationalbibliothek49 und der thematische Katalog der Estensischen Musikalien (1927) von Robert Haas. Neuer-

dings setzen die Tabulae musicae Austriacae 50 diese Bemiihungen fort. In der Tschecho- slowakei hat Antonin Breitenbacher 1928 den Katalog des wertvollen Musikarchivs im Schlo3 zu Kremsier (Kromffii), Antonin Podlaha 1926 den Katalog des Musik- archivs im St. Veitsdom zu Prag, Ji0i Sehnal 1960 den Katalog der Musikbiicher in der Schlolbibliothek zu Kremsier verbffentlicht49a. Die Erschlie3ung der 5ilteren

Quellentiberlieferung in Polen ist durch Adolf Chybinsky eingeleitet worden. Neue Impulse erfuhr in den letzten Jahrzehnten die Erforschung des Musikpubli-

kationswesens. Lexika von Druckern und Verlegern sowie Gesamt- und Teildarstel-

lungen der Musikpublikation in einzelnen Liindern brachten Kidson, Steele und

Humphries ffir England, Goovaerts ffiir die Niederlande, Lesure und Johansson fuir Frankreich, Sartori fuir Italien, Weinmann und Gericke fiir Osterreich, wdihrend in Deutschland eine Gesamtdarstellung beziehungsweise eine Neubearbeitung von Eit- ners Druckerverzeichnis noch aussteht. Jedoch hat Albert G6hler in seinen Arbeiten uiber die Melkataloge die Forschung auf die Bedeutung der Handelskataloge und

-anzeigen fiir die Ermittlung und Datierung von Musikdrucken hingewiesen5t. Einen

49 Zeitschrift far Musikwissenschaft VI, 1923/24, S. 661 ff.; VIII, 1925/26, S. 571 ff.; IX, 1926/27, S. 414 ff.; XI, 1928/29, S. 568 ff. 49a Jifi Sehnal, Hudenl Literatura Zimeck* Knihovny v Kromhtfi, Gottwaldor 1960. 50 Herausgegeben von der Kommission fiir Musikforschung der Osterreichischen Akademie der Wis- senschaften unter der Leitung von Erich Schenk; vgl. Fulnote 8. 51 ALBERT G6HLER, Die Meflkataloge im Dienste der musikalischen Geschichtsforschung, in: Sammel-

biinde der Internationalen Musikgesellschaft III, 1902, S. 294 ff.; derselbe, Verzeichnis der in den Frankfurter und Leipziger Meflkatalogen der Jahre 1564 bis 1759 angezeigten Musikalien, Leip- zig 1902.

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wesentlichen Fortschritt bedeutete die ,Entdeckung" der Editions- oder Plattennum- mern als Hilfsmittel fiir die Datierung der Drucke seit 1700. Otto Erich Deutsch hat mit seiner Schrift Musikverlagsnummern die ersten Anregungen gegeben. Erst in der Kombination von Plattennummern, Verlagskatalogen, Zeitungen und archivalischen

Belegen ergeben sich gesicherte Datierungen, wie die in fortlaufender Folge erschei- nenden Beitriige zur Geschichte des Alt-Wiener Musikverlages von Alexander Wein- mann zeigen. Weitere Verlagsmonographien haben Sartori, Lesure, Hoffmann- Erbrecht und Heussner vorgelegt, andere sind in der nichsten Zeit zu erwarten, dar- unter eine Arbeit tiber Hummel von Cari Johansson52.

V. DIE UNTERNEHMUNGEN UND AUFGABEN IN DER ZWEITEN HALFTE

DES 20. JAHRHUNDERTS

Oberschaut man alles, was bisher im Laufe dieses Jahrhunderts an neuen Ergeb- nissen auf dem Gebiet der musikgeschichtlichen Quellenkunde vorgelegt wurde, so erscheint Eitners Lexikon in wesentlichen Teilen revisionsbediirftig. Eitner selbst hat noch eine ganze Reihe eigener Berichtigungen sowie Ergainzungen von anderer Seite ver6ffentlichen k6nnen. Nach seinem Tode haben Hermann Springer, Max Schneider und Werner Wolffheim nach einem Plan der Internationalen Musikgesell- schaft in den Miscellanea Musicae Bio-bibliographica Nachtraige und Verbesserungen geliefert. Der erste Weltkrieg hat dieses Unternehmen nur bis zum dritten Band gedeihen lassen, an eine Fortsetzung war in der Folgezeit kaum zu denken. Mehr und mehr setzte sich die Erkenntnis durch, dal eine Revision und Erginzung zu keinem befriedigenden Ergebnis fiihren wiirde, sondern nur eine von Grund aus durch-

gefiihrte planmiiige Erfassung des gesamten Materials. Der AnstoB zu solchen Ideen kam gerade aus jenem Gebiet, das Eitner am wenigsten beriicksichtigt hatte: aus dem

6sterreichischen Kaiserstaat, der als iibernationales Gebilde und bis 1918 reichste Fundgrube musikalischer Quellen in sich alle M6glichkeiten fuir die L6sung solcher Aufgaben bot. Hinzu kamen die Erfahrungen der Osterreicher auf bibliographischem und archivalischem Gebiet iiberhaupt, man braucht nur auf Namen wie Peter Lam- beck, Michael Denis, Ignaz von Mosel und Anton Mayer hinzuweisen. Bereits 1889 trat Guido Adler mit seinen Plhnen zu einer umfassenden Denkmailerpublikation hervor53, ffir deren wissenschaftliche Fundierung eine systematische Aufnahme der Bestainde simtlicher Musiksammlungen der Donaumonarchie und dariiber hinaus

notwendig wurde. Diese Arbeiten sind unter Adlers Leitung von der Kommission zur Herausgabe der Denkmaler der Tonkunst sehr ziigig in Angriff genommen wor- den, wofiir die heute im Musikwissenschaftlichen Institut der Universitit Wien auf- gestellten Zettelkataloge der beste Beweis sind. Zwar handelt es sich oft nur um

52 Ein Verzeichnis von Plattennummern englischer Verleger mit Datierungen ist kiirzlich vorgelegt worden: O. W. NEIGHBOUR/ALAN TYSON, English Music Publishers' Plate Numbers in the first half of the Nineteenth Century, London 1965. Vgl. ferner FRIEDRICH W. RIEDEL, Die Arbeitsgemeinschaft fijr Geschichte der Musikpublikation, in: Die Musikforschung XVIII, 1965, S. 416 ff. 53 Vgl. GuIDo ADLER, Zur Vorgeschichte der ,Denkmdiler der Tonkunst in Osterreich", in: Studien zur Musikwissenschaft V, 1918, S. 9ff.

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summarische Notizen, die aber seinerzeit als vorlaiufige Informationen ausreichten und fiir eine sinnvolle Organisation spiterer Unternehmungen die Unterlagen lie- ferten. Der Zusammenbruch der Monarchie hat die Ausfiihrung dieser Plane ver- eitelt. Sie wurden jedoch von Vladimir Helfert in Briinn aufgegriffen, der sie in

M~ihren mit Erfolg verwirklicht hat. Der auf seine Initiative hin entstandene Zentral-

katalog 5l1terer Musikalien aus ganz Mdihren im Mihrischen Museum zu Briinn kann als einer der besten derzeit existierenden thematischen Zettelkataloge bezeichnet werden. Adlers Ideen wurden jedoch trotz der schwierigen Umstinde in O*sterreich nicht fallen- gelassen. 1927 ver6ffentlichte Constantin Schneider ein ausgezeichnetes Arbeitspro- gramm Zur Organisation der musikalischen Quellen- und Denkmillerkunde54, das als der geistige Ausgangspunkt der groBen musikbibliographischen Unternehmungen angesehen werden kann, die fiinfundzwanzig Jahre spaiter - nachdem der Zweite

Weltkrieg neue Verwirrungen in der Quellenlage verursacht hatte - sich anschickten, diese Vorschlige in die Tat umzusetzen. Als in Europa die wirtschaftlichen N6te der

Nachkriegszeit iiberwunden waren, als die Musikwissenschaft wieder an groBe Auf-

gaben denken konnte, als Schmieder, Kinsky-Halm und Hoboken ihre thematischen Verzeichnisse der GroBmeister vorlegten, als die Gesamtausgaben und Denkmiiler- reihen wieder in Erscheinung traten 5, war -der geeignete Zeitpunkt gekommen. Die Initiative ging gleichzeitig von der Internationalen Gesellschaft fiir Musikwissenschaft und von der Internationalen Vereinigung der Musikbibliotheken aus, die seither

gemeinsam unter dem Prisidium von Friedrich Blume das Unternehmen Repertoire International des Sources Musicales (RISM) betreuen56. Bereits 1953 konnte ein Zentralsekretariat unter der Leitung von Frangois Lesure in Paris die Arbeit auf- nehmen. Es hat bisher die Titelverzeichnisse der Sammelwerke des 16. bis 18. Jahr- hunderts vorgelegt 57, der Katalog der gedruckten Schriften fiber Musik ist in Vor-

bereitung. 1960 wurde ein zweites, unter der Leitung von Friedrich W. Riedel stehen- des Zentralsekretariat in Kassel gegriindet57a. Seine Aufgabe besteht in der Zentrali-

sierung und Koordinierung des Materials fiir die gesamte praktische Musik, abgesehen von den Sammelwerken. Die Katalogisierungsarbeiten werden heute in achtund- zwanzig Liindern Europas, Amerikas und Asiens (nebst Neuseeland) durchgefiihrt 58* Erfreulicherweise hat kein ,Eiserner Vorhang" die kollegiale Zusammenarbeit der nationalen Arbeitsgruppen st6ren k6nnen. Hervorragende und meist durch bedeu-

54 Zeitschrift fAr Musikwissenschaft IX, 1926/27, S. 258 ff.

55 Vgl. den Forschungsbericht von HARALD HECKMANN, Musikwissenschaftliche Unternehmungen in Deutschland seit 1945, in: Acta Musicologica XXIX, 1957, S. 75 ff. 56 Vgl. FRIEDRICH BLUME, Internationales Quellenlexikon der Musik, in: Fontes Artis Musicae I, 1954, S. 9 ff. 57 Recueils Imprimes XVIe-XVIIe siecles, ouvrage publid sous la direction de Francois Lesure, I, Liste chronologique, Miinchen-Duisburg 1960; Recueils Imprim s XVIIIe siecle, ouvrage publid sous la direction de Francois Lesure, Miinchen-Duisburg 1964. 57a Die internationalen Arbeiten am RISM (u. a. Unterhaltung der beiden Zentralen) werden z. Z. getragen durch groBziigige Subventionen u. a. der Ford Foundation, der Stiftung Volkswagenwerk, des Conseil International de la Philosophie et des Sciences Humaines (UNESCO) sowie der Stadt Kassel. 58 Vgl. F. BLUME, Repertoire International des Sources Musicales (RISM), in: Die Musikforschung XVII, 1964, S. 378 ff.

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tende Publikationen bekannte Bibliographen wie Cari Johansson, Jose Llorrens,

Claudio Sartori, Liesbeth Weinhold und Alexander Weinmann geh6ren zum Mitar-

beiterkreis, so daB wie zu Eitners Zeiten eine hohe Qualittit der Arbeiten weitgehend

gesichert ist. Derzeit liegen bereits nahezu 200000 Nachweise vor, drei Viertel davon

fiir gedruckte Quellen.

Das neue Quellenlexikon wird zwar in vieler Hinsicht seinem groBen Vorbild verpflichtet sein, aber doch auf Grund der wissenschaftlichen Erkenntnisse der letzten Jahrzehnte nach neuen Prinzipien erarbeitet59. Das betrifft zunichst die Organisation der Arbeit selbst. Diese wird von unten, von der Neukatalogisierung der einzelnen Sammlungen aus durchgefiihrt. Die meisten Sammlungen erhalten damit zum ersten Male einen fachgerechten Katalog, wes- halb auch die Besitzer in der Regel groBes Entgegenkommen zeigen. Auf diesem Wege kann das Material in seiner ganzen Breite erfaBt werden. Die grole Menge erfordert demgemd8 eine Aufteilung des ganzen Lexikons in Abteilungen fiir Theoretica und fiir Practica, die wiederum in Drucke und Manuskripte untergliedert werden. Hinzu kommen noch verschiedene

Spezialbibliographien oo. In allen vier Hauptteilen des Lexikons werden nur die Lebensgrenz- daten der Autoren mitgeteilt, ausfiihrliche biographische Angaben, wie sie Eitner bringt, ent- fallen. Man mag dies bedauern, aber sie wiirden das Lexikon iiberlasten, und nach dem

heutigen Stand der biographischen und archivalischen Forschung, der hinsichtlich der Musik-

geschichte weit hinter dem bibliographischen zuriickgeblieben ist, bietet sich keine andere

Losung an. Auf diesem Gebiet werden in Zukunft der landeskundlichen Musikforschung noch

dringende Aufgaben zufallen. International diirften sie kaum 16sbar sein. Die zeitliche Begrenzung ist das Jahr 1800, was so zu verstehen ist, daB alle Komponisten,

deren Hauptschaffen in das 18. Jahrhundert fUllt, in das Lexikon mit vollstAndigen Werk- verzeichnissen aufgenommen werden. Komponisten, deren Schaffen hauptsdchlich in das 19.

Jahrhundert fAllt (z. B. Beethoven), bleiben unberiicksichtigt, auch wenn sie einige Werke vor 1800 geschrieben haben.

Die Arbeit der Zentralsekretariate konzentriert sich vorerst auf die gedruckten Quellen.

Wihrend das Lexikon der gedruckten Theoretica der Fertigstellung nahe ist, wird die Arbeit

an der Materialsammlung fiir die gedruckten Practica noch etwa fiinf Jahre in Anspruch nehmen, ehe die Redaktionstatigkeit in vollem Umfang durchgefiihrt werden kann. Die Gestal-

tung der Werkverzeichnisse wird im allgemeinen den bewaihrten Grundsatzen von Eitner fol-

gen, die allerdings in manchen Faillen konsequenter durchgefiihrt werden miissen. Der wesent- lichste Fortschritt gegeniiber Eitner wird die Hinzufiigung der Plattennummern bei den Drucken

des is. Jahrhunderts sein, so daB hierdurch ein Ansatzpunkt fiir Datierungen geschaffen wird.

Ungeachtet aller finanziellen Schwierigkeiten der ersten Jahre und des immer noch zu geringen Personalstandes, trotz aller Problematik, die sich bei internationaler Zusammenarbeit wegen der verschiedenen Voraussetzungen ergibt, besteht nunmehr die Hoffnung auf eine Realisie-

rung der weitgefagten Projekte noch in unserem Jahrhundert. Der Initiative von RISM fol-

gend, hat man die Notwendigkeit einer planm8Bigen Ermittlung, Sicherung, Ordnung und

Katalogisierung musikalischer Denkmiler,

insbesondere der handschriftlich iiberlieferten, in

mehreren Lindern auch in der Offentlichkeit erkannt und auf lange Sicht Institute zur Her-

stellung nationaler Zentralkataloge gegriindet. In ihrer Arbeitsweise werden sie hinsichtlich

der Genauigkeit und wissenschaftlicher Quellenkritik noch weiter gehen als RISM. Dies ist

59 Vgl. F. BLUME, Problemes musicologiques d'un Repertoire des Sources Musicales, in: Fontes Artis Musicae III, 1956, S. 44 ff.; F. LESURE, Quelques cons quences bibliographiques et techniques d'un

Repertoire International des Sources Musicales, ib., S. 49 f. 60 Vgl. die fibersicht in: Die Musikforschung XVII, 1964, S. 380f. I1 Zentralkatalog simtlicher Musikalien bis zur Gegenwart, getragen von der Fundagao Calouste

Gulbenkian. 62 Zentralkatalog der Ailteren Musikalien, getragen von der Ungarischen Akademie der Wissenschaften.

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F. W. Riedel: Zur Gescich&te der musikalischen Quelleniiberlieferung und Quellenkunde 25

bereits der Fall in Portugal61, Ungarn 62, in der Tschechoslowakei 63 und in der Bundesrepublik Deutschland ~. Die Praxis hat gezeigt, da8 die Erfassung der Manuskripte angesichts ihrer uniibersehbaren Menge vorerst zweckmiB3iger auf nationaler Ebene erfolgen sollte, zumal nicht alles Material international interessant ist. Auch hier hat sich eine weitere Dezentrali- sierung und Verlagerung der Arbeiten auf die landeskundliche Musikforschung aus 6konomi- schen und wissenschaftlichen Griinden als niitzlich erwiesen 65. Erfreulicherweise wird dabei in den meisten Fillen ein internationaler Erfahrungsaustausch im Kontakt mit dem Kasseler Zentralsekretariat des RISM unterhalten, so daB eine weitgehende Anniherung der Katalogi- sierungsregeln m6glich zu sein scheint.

Die gegenwirtige Situation auf dem Gebiet der musikalischen Quellenkunde in allen ihren Zweigen sieht demnach erfreulich und hoffnungsvoll aus 66. Im Vergleich zu Eitners Zeiten haben sich jedoch die Schwerpunkte wesentlich verlagert, sowohl hinsichtlich der Quellensituation als auch in der Zielsetzung der quellenkundlichen Arbeiten. Schien nach dem zweiten Weltkrieg die Quellenlage in Europa zunichst trostlos zu sein, so hat sich doch im Laufe der Zeit herausgestellt, daB die Verluste und Verlagerungen das Gesamtbild nicht wesentlich haben verandern koinnen. Neue Funde boten in vielen Fallen Ersatz. Bedauerlich ist nur die Aufteilung der Musi- kalienbest?ande der Berliner Staatsbibliothek, die teilweise immer noch verschollen sind. Hier lag einst das Fundament fuir Eitners Werk. Die Zerstarung seiner Einheit

mag man symbolisch deuten: Nicht die groBen wissenschaftlichen Bibliotheken des 19. Jahrhunderts mit ihren eklektischen Repertoires ki*nnen als Grundlage fuir eine auf breiter Ebene durchgefiihrte Erfassung und katalogmaiBige Koordinierung musi- kalischer Quellen dienen, sondern die nattirlich gewachsenen Repertoires der alten Institutionen. Geht man doch heute bereits daran, aufgeldiste Altere Sammlungen wieder zu rekonstruieren67, weil oft nur auf diesem Wege Datierungs-, Wasserzei- chen- und Kopistenprobleme geldst und Anonyma identifiziert werden kdnnen. So sind heute jene Lander in den Mittelpunkt des Interesses geriickt, die nicht nur die gr6dte Dichte der Fundorte und Menge der Quellen aufweisen kinnen, sondern in denen auch die Musiksammlungen seit dem Beginn des 19. Jahrhunderts noch vieler- orts unberiihrt geblieben sind. Dies sind nebst Italien und Spanien, deren unerme3-

63 Zentralkatalog shimtlicher Musikalien bis um 1800, organisiert von der Staatsbibliothek der CSSR mit Katalogisierungszentren in Praha und Brno; fur die Slowakei in Bratislava, getragen von der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. 64 Die Katalogisierung simtlicher Manuskripte, auch der Musikhandschriften, wird von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. 65 So wurde beispielsweise in der Steiermark (Osterreich) von Professor Dr. Hellmut Federhofer vor einigen Jahren eine planmli8ige Erfassung und Katalogisierung snimtlicher Musikalien durchgefiihrt, das gleiche geschah in Kroatien (Jugoslawien) durch Professor Albe Vidakovi6. Auch die Arbeitsgemein- schaften und Institute fUr landeskundliche Musikforschung in Deutschland nehmen sich neuerdings dieser Aufgabe an. Vgl. dazu das grundsitzliche Referat von H. FEDERHOFER, Die Sicherung der alten Musikalienbestiinde als Aufgabe des Bibliothekars, in: Biblos-Schriften, Bd. 3, Wien 1953, S. 199ff. 66 Die folgende Ausfiihrung basiert auf den bisherigen quellengeographischen Ermittlungen des RISM- Zentralsekretariats in Kassel. 67 Z. B. die ehemaligen Sammlungen von Bokemeyer (vgl. Fu8note 25), Aloys Fuchs (vgl. Fulnote 37), Voss-Buch. Auch bei der Vereinigung von Notenbestanden aus dem Besitz von Kirchen- und Adels- schl6ssern in Zentralarchiven (z. B. Di6zesanarchiv in Graz, Schwibisches Landesmusikarchiv in Tilbingen, NArodni Museum in Praha) bemiiht man sich heute, die einzelnen Fonds ihrer urspriing- lichen Zusammengeharigkeit entsprechend getrennt aufzustellen.

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26 F. W. Riedel: Zur Geschichte der musikalischen Quelleniiberlieferung und Quellenkunde

liche Schatze noch weitgehend der Erschlielung harren, vor allem die Lander der

ehemaligen Donaumonarchie, Osterreich, die Tschechoslowakei, Ungarn, Jugoslawien, aber auch Polen und in Westeuropa GroBbritannien. Ein neues Bild ergibt sich aber auch ffir Deutschland, die Schweiz und die nordischen Lander, wdhrend die Nieder- lande, Belgien und Frankreich infolge der Franzdsischen Revolution nur noch einen Rest ihres urspriinglichen Reichtums an ilteren Quellen besitzen. Kaum erforscht sind bis jetzt die Linder Lateinamerikas, wahrend Nordamerika (Canada und die

USA) vor allem in den zahlreichen kleineren Fonds Rarititen und wertvolle Novi-

titen zu bieten hat68. Die Tatsache, daB sich die Menge der ermittelten dilteren Musikalien seit Eitners

Zeiten um ein Vielfaches vermehrt hat, zwingt heute zu einer Rationalisierung der

Katalogisierungs- und Dokumentationsarbeiten. An die Stelle der individuellen Lei-

stung des Forschers ist das Team-Work getreten, eine Aufteilung der Vorginge in die Titigkeit des Sammelns und Verzettelns einerseits und des Koordinierens und Auswertens andererseits. Technische Hilfsmittel wie Mikrofilm und Xerographie stel- len eine wesentliche Arbeitserleichterung dar. Die Technik der Quellenaufnahme be- findet sich in einem Umformungsproze3, der auf der einen Seite nach einer Entlastung vom rein bibliographischen Ballast (Formatangaben, Detailbeschreibungen) hin ten-

diert, auf der anderen Seite eine genauere Definition der Musikstiicke mit Hilfe des

Noteninzipit zwecks Konkordanzenermittlung erstrebt. Die zahllosen irrigen Au-

torenzuweisungen in Handschriften des 18. Jahrhunderts lassen die thematischen

Werkverzeichnisse einzelner Komponisten fragwiirdig erscheinen. Union Catalogues

fiir einzelne musikalische Gattungen werden zu den wichtigsten Aufgaben der Zukunft

geh6ren. Fiir den Komplex der vor 1600 gedruckten Instrumentalmusik hat Howard

Mayer Brown neuerdings eine musterhafte Bibliographie vorgelegt68a. Jan LaRue bereitet Union Catalogues fuir die Sinfonien und Konzerte des 18. Jahrhunderts vor69.

Auch die Gattungen der geringer besetzten Kammermusik (Quartette, Trio, Sonaten) und der solistischen Musik sollten in dieser Weise erschlossen werden, vor allem aber der umfangreichste Komplex der gesamten abendlindischen Musikiiberlieferung, die

Kirchenmusik, die allerdings wiederum gattungsweise aufzugliedern wire. Die musikalische Quellenkunde wird also in den nichsten Jahrzehnten nicht iiber

Mangel an Aufgaben zu klagen haben. Vielmehr sollten diesbeziigliche Arbeiten den

Vorrang vor anderen haben, weil sie die Grundlage aller musikhistorischen Forschung bilden. Nicht allein den oft iiberlasteten Bibliothekaren, sondern vor allem der landes- kundlichen Musikforschung, den verschiedenen musikwissenschaftlichen Instituten und Einrichtungen und den Universitditen erwichst hier ein reiches Betitigungsfeld.

68 Selbstverst5ndlich handelt es sich in den USA ,stets

um Sammlungen neueren und neuesten Ur-

sprungs, sofern nicht in einzelnen Fallen (wie in Berkeley) komplette iiltere Sammlungen erworben wurden. 68a Howard Mayer Brown, Instrumental Music Printed before 1600. A. Bibliography, Cambridge Mass. 1965. 69 Vgl. JAN LARUE, Union thematic catalogue of 18th century sinfonies, in: Fontes Artes Musicae VI, 1959, S. 18 ff.; derselbe, Union Thematic Catalogues for 18th Century Chamber Music and Concertos, in: Fontes Artes Musicae VII, 1960, S. 64 ff.

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F. W. Riedel: Zur Geschichte der musikalischen Quelleniiberlieferung und Quellenkunde 27

Dissertationen ohne quellenkundliche Basis werden heute immer seltener 70. An ameri- kanischen Universitaitsinstituten sind gr683ere bibliographische und quellenkundliche Unternehmungen in Vorbereitung71. Neuerdings macht man Versuche, derartige Auf- gaben auch mit Hilfe von Elektronengehirnen zu 1lsen72. Ob sie sich bewthren, wird die Zukunft zeigen. Bei allen Vorteilen, die uns die technischen Fortschritte bieten, sollten wir - wie Eitner - bescheiden und realistisch zugleich bleiben. Bescheiden, weil die quellenkundliche Arbeit bei allen Anforderungen wissenschaft- licher Exaktheit doch nur eine Vorstufe bleibt. Realistisch, indem wir die Grenzen unserer Krifte erkennen und die Ziele nicht zu weit spannen. Bibliographische ,,Spei- cherung" des Quellenmaterials und dessen wissenschaftliche Auswertung miissen Hand in Hand gehen, damit beide auf dem gleichen Stand bleiben. Denn ,,wir miis- sen bestrebt sein, in unserer Wissenschaft alle Unsicherheiten, die auf der Li*cken- haftigkeit des Quellen- und Denkmaler-Materials beruhen, auszuschalten, wenn auch gerade diese Laicken Tore sind, die romantischen Spekulationen aller Art Ein- lafl gewiahren. Sie miissen endlich geschlossen werden, wenn wir zu einer streng exakten Musik-Wissenschaft gelangen wollen, wie es jede historische Wissenschaft sein soll"73.

70 Auch in der von FRIEDRICH BLUME herausgegebenen Enzyklopidie Die Musik in Geschicdte und Gegenwart, Kassel --Basel - London - New York 1949 ff. herrscht gegeniiber friiheren Musiklexika das Bestreben, m6glichst exakte und vollstandige Werkverzeichnisse vorzulegen. 71 Z. B. die in Fu3note 69 genannten Vorhaben von LaRue sowie das von Barry S. Brook geplante Repertoire International de la Litt&rature Musicale (RILM). 72 Vgl. JAN LA RUE/MARY RASMUSSEN, Numerical Incipits for Thematic Catalogues, in: Fontes Artes Musicae IX, 1962, S. 72 ff.; BARRY S. BROOK/MURRAY GOULD, Notating Music with Ordinary Type- writer Characters, in: Fontes Artes Musicae XI, 1964, S. 142 ff. 73 CONSTANTIN SCHNEIDER, a. a. O. Vgl. FuBnote 54.

Zur Stilistik der Troubadour-Melodien * BRUNO STABLEIN (ERLANGEN)

Die wissenschaftliche Beschiiftigung mit den Troubadour-Melodien ist iiber die zu allererst vordringliche Bereitstellung des Materials hinaus nicht recht voran- gekommen und hat sich in formalen2 und rhythmisch-metrischen3 Untersuchungen erschipft. Die eigentliche, zentrale Aufgabe, die Betrachtung der Melodien selber, ist, abgesehen von gelegentlichen mehr oder weniger glitcklichen Beobachtungen, noch

* Prof. Dr. Heinrich Kuen zum 65. Geburtstag am 2. August 1964 (aus der ihm bei dieser Gelegenheit iiberreichten maschinenschriftlichen Festschrift, deren Drucklegung nicht beabsichtigt ist). 1 Die groBen Quellen sind insofern erschlossen, als die Handschriften G, X und W in Facsimile vor- liegen (s. dazu Anm. 7). Es fehlen nur noch die mit eingetragenen Melodien versehenen Teile der Handschrift R; die textlosen Pseudo-Facsimilierungen Gennrichs (hiezu gleich unten) sind kein voll- giiltiger Ersatz. Was die Melodien iib e r t r ag un g e n betrifft: wohl hat Sesini in seiner Facs.-Ausgabe von G auch eine Ubertragung gegeben, so daB eine Kontrolle m6glich ist. Aber sonst gibt es nur Melodienausgaben einzelner Meister, wie von Bernart von Ventadorn durch Appel (s. Anm. 19) und von Peire Vidal durch Sesini (s. Anm. 27). Leider enttiuscht die seit Jahrzehnten erwartete Gesamt- ausgabe der Troubadourmelodien von FR. GENNRICH, Der musikalische Nachlafl der Troubadours,

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