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Zur Prognose der Tabes dorsalis. Von Otto Maas. (Aus dem Hospital Buch in Bedim) (Eingegangen am 7. Mai 1923.) Karl K. 1), geboren 1865, hatte im Alter yon 27 Jahren einen Schanker, 5 Jahre sparer trat Schwellung des rechten Fufles ein, kurz danach auch ein Geschwiir an der Plantarseite der rechten gro]3en Zehe, das keine ~eigung zur Heilung zcigte. Im Alter yon 40 Jahren merkte der Kranke Schw•che der rechten oberen Extre- miter, die bis zum Alter yon 42 Jahren zunahm und dann wieder geringer wurde. Im Alter yon 42 Jahren begannen lanzinierende Schmerzen in Armen und Bcinen, Erschwerung des Wasserlassens und unfreiwilliger Urinabgang, Abnahme der Potenz, Par~thesien in H~nden und FiiI3en, Doppeltsehen, Giirtelgcfiihl, Nach- lassen des Ged/~chtnisses, Unsicherheit auf den Beinen, namentlich im Dunkeln. Zu gleicher Zeit trat Eiterung an der ]nnen- und Auflenseite des rechten Fufles ein. Im September 1909, im 44. Lebensjahr des Kranken, erhob ich folgenden Befund: Stampfender Gang, Fehlen des Knie- und Achillesreflexes, Verdickung des rechten FuBes in der Gegend der Malleolen, Geschwiir an der Sohle des rechten FuBes, StSrung der Schmerzempfindlichkeit an beiden FiiBen, grobe StSrung des Lagegefiihls beiderseits, Unsicherheit beim Kniehackenversuch, Fehlen des Cre- masterreflexes, Hyp~sthesie und Hypalgesie am Rumpf. Scbw~che des rechts- seitigen H~ndcdruckes, Abschwitchung der Streckung der Hand und des Grund- gelenks aller Finger der rcchten Hand, ebenso der Opposition des Daumens; Hyp/~sthesie am 4. und 5. Finger, Unsicherheit beim Finger-Nasenversuch rechts, reflektorische Pupillenstarre beiderseits, beim Sprechen Beben der Lippen, An- deutung yon Silbenstolpern beim Nachsprechen yon schwierigen Paradigmaten. Intelligenzpriifung ergab keinen sicheren Defekt. Der Kranke entzog sich dann zunkchst meiner weiteren Beobachtung. Im Februar 1921 gab der nunmehr 56 Jahre alte Kranke an: 1913wurde das linke Bein in der Mitre des Oberschenkels wegen Kniegelenksentziindung amputiert. 1914 hfrte die Eiterung am rechten Ful~gelenk auf. 1919 verschwanden die Par~sthesien im rechten Bein und wurden in der rechten Hand wesentlicb geringer. Lanzinierende Schmerzen sollen noch vorkommen, aber in geringerem Grade als vorher. Seit etwa 2 Jahren bestehe keine UrinstSrung. Potenz, die von 1908--1917 erloschen gewesen sei, sei jetzt gut. Doppeltsehen und Giirtelgefiihl sollen seit mehreren Jahren ge- schwunden sein, seit etwa 6 Jahren sei das Geschwtir an der rechten FuBsohle ausgeheilt, Geftihl von Unsicherheit im Dunkeln sei geschwunden. Die Untersuchung ergab jetzt folgende Abweichungen yon dem Befund im Jahre 1909: Der Kranke geht mit kiinstlichem ]inken Bein v511ig sicher, am rechten Bein ist das Geftihl fiir Beriihrung, Schmerzreize und Lagever~nderungen normal, 1) Vorgestellt in der Ber]. Ges. f. Psych. u. Nerv., Sitzung yore 12. Febr. 1923.

Zur Prognose der Tabes dorsalis

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Zur Prognose der Tabes dorsalis.

Von

Otto Maas.

(Aus dem Hospital Buch in Bedim)

(Eingegangen am 7. Mai 1923.)

Karl K. 1), geboren 1865, hatte im Alter yon 27 Jahren einen Schanker, 5 Jahre sparer trat Schwellung des rechten Fufles ein, kurz danach auch ein Geschwiir an der Plantarseite der rechten gro]3en Zehe, das keine ~eigung zur Heilung zcigte. Im Alter yon 40 Jahren merkte der Kranke Schw•che der rechten oberen Extre- miter, die bis zum Alter yon 42 Jahren zunahm und dann wieder geringer wurde. Im Alter yon 42 Jahren begannen lanzinierende Schmerzen in Armen und Bcinen, Erschwerung des Wasserlassens und unfreiwilliger Urinabgang, Abnahme der Potenz, Par~thesien in H~nden und FiiI3en, Doppeltsehen, Giirtelgcfiihl, Nach- lassen des Ged/~chtnisses, Unsicherheit auf den Beinen, namentlich im Dunkeln. Zu gleicher Zeit trat Eiterung an der ]nnen- und Auflenseite des rechten Fufles ein.

Im September 1909, im 44. Lebensjahr des Kranken, erhob ich folgenden Befund: Stampfender Gang, Fehlen des Knie- und Achillesreflexes, Verdickung des rechten FuBes in der Gegend der Malleolen, Geschwiir an der Sohle des rechten FuBes, StSrung der Schmerzempfindlichkeit an beiden FiiBen, grobe StSrung des Lagegefiihls beiderseits, Unsicherheit beim Kniehackenversuch, Fehlen des Cre- masterreflexes, Hyp~sthesie und Hypalgesie am Rumpf. Scbw~che des rechts- seitigen H~ndcdruckes, Abschwitchung der Streckung der Hand und des Grund- gelenks aller Finger der rcchten Hand, ebenso der Opposition des Daumens; Hyp/~sthesie am 4. und 5. Finger, Unsicherheit beim Finger-Nasenversuch rechts, reflektorische Pupillenstarre beiderseits, beim Sprechen Beben der Lippen, An- deutung yon Silbenstolpern beim Nachsprechen yon schwierigen Paradigmaten. Intelligenzpriifung ergab keinen sicheren Defekt.

Der Kranke entzog sich dann zunkchst meiner weiteren Beobachtung. Im Februar 1921 gab der nunmehr 56 Jahre alte Kranke an: 1913 wurde das linke

Bein in der Mitre des Oberschenkels wegen Kniegelenksentziindung amputiert. 1914 hfrte die Eiterung am rechten Ful~gelenk auf. 1919 verschwanden die Par~sthesien im rechten Bein und wurden in der rechten Hand wesentlicb geringer. Lanzinierende Schmerzen sollen noch vorkommen, aber in geringerem Grade als vorher. Seit etwa 2 Jahren bestehe keine UrinstSrung. Potenz, die von 1908--1917 erloschen gewesen sei, sei jetzt gut. Doppeltsehen und Giirtelgefiihl sollen seit mehreren Jahren ge- schwunden sein, seit etwa 6 Jahren sei das Geschwtir an der rechten FuBsohle ausgeheilt, Geftihl von Unsicherheit im Dunkeln sei geschwunden.

Die Untersuchung ergab jetzt folgende Abweichungen yon dem Befund im Jahre 1909:

Der Kranke geht mit kiinstlichem ]inken Bein v511ig sicher, am rechten Bein ist das Geftihl fiir Beriihrung, Schmerzreize und Lagever~nderungen normal,

1) Vorgestellt in der Ber]. Ges. f. Psych. u. Nerv., Sitzung yore 12. Febr. 1923.

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Zielbewegungen-des rechten Fu[~es gelingen prompt, die Hypalgesie am Rumpf ist geschwunden, Fingemasenversuch gelingt sicher, schwierige Paradigmata werden einwanddrei nachgesprochen, Beben der Lippen ist nicht zu bemerken, die Wunde an der FuBsoble ist zugeheilt. - - Im M~rz 1923 war insofern wieder Verschlechterung nachweisbar, als die Schmerzleitung im rechten Ful~ verlangsamt und das Lagegefiihl bier etwas gest6rt war, der Fingernasenversuch auch etwas unsicher gelang.

An der Diagnose ,,Tabes dorsalis" (mit Verdacht auf beginncndc Taboparalyse), die 1909 gestellt wurde, ist nicht zu zweifcln. Bemerkens- weft war die im Jahre 1921 gefundene crhebliche Bcsserung in folgenden Punkten:

Verschwinden der Par&sthesien in oberen und unteren Extremi- t~ten (Marz 1923 : wieder seltcn auftretende Parasthesien in den FfiBcn).

Nachlassen der lanzinierenden Schmerzen. Verschwinden der Blasenbeschwerden. Wiederkehr der Potenz. Verschwinden des Doppeltsehens. Verschwinden des Gtirtelgeffihls. Verschwinden der Unsicherheit auf den Beinen, namcntlich im

Dunkeln. Das Geschwfir an der rechten FuSsohle ist geheilt. Zielbewegungen des rechten Beines gelingcn prompt. Das Gefiihl fiir Schmerzen ist normal (im M~rz 1923 ist wiedcr

verlangsamte Schmerzleitung nachweisbar). St6rung des Lagegefiihls in den Zehen besteht nicht mehr (1923

wieder nachweisbar). Schmcrzempfindlichkeit in dcr Rumpfzonc ist wicdergekehrt. Unsicherheit beim Fingcrnasenversuch ist geschwunden (im Mhrz

1923 in geringem Grade wiedcr vorhanden). Beim Sprechen ist Bcbcn der Lippen und Andcutung von Silben-

stolpern geschwunden (besti~tigt im Mhrz 1923). Der Gang ist nicht mehr stampfend.

Die Besserung, die wir bei unserem Kranken feststellen k6nnen, ist also in subjektiver wie in objektiver Beziehung einc erhebliche. Eine Behandlung mit Quecksilber, Jodkali und Salvarsan ist aber nach der bestimmten Angabe des Kranken niemals vorgenommen worden. - -

Der auf dem Material der Oppenheimschen Poliklinik beruhenden, den Verlauf zalllreicher Tabesfi~,lle berticksichtigenden Arbeit von Malaisd*) verdanken wir wesentliche Vertiefung der Kenntnis vom Verlauf dcr Tabes dorsalis. Malais~ konnte unter 80 Kranken nur bei 2 regressiven Verlauf nachweisen. Pierre Marie [zitiert nach Malais~ (Separatabdr.

1) Die Prognose der Tabes dorsalis. Monatsschr. f. Psychiatric u. Neurol. 18. 1906.

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S. 20)] hat die Ansicht ausgesprochen, dab der Reichtum der Symptome bei Tabes dorsalis ein die Prognose ungiinstig beeinflussender Moment sei. In unserem Fall hatten ~ eine groBe Zahl yon krankhaften Er- scheinungen und doch finden wir erhebliche Besserung in viel/acher Hin- sicht. Malais~ (l. c. S. 32) sieht es ivn allgemeinen als prognostisch ungiinstig an, wenn die Tabes dorsalis innerhalb der ersten 6 Jahre nach der Infektion eintritt. Bei unserem Kranken sind, wenn seine Angaben richtig sind, Schwellung den FuBes und Mal perforant schon 5 Jahre nach der Ansteckung eingetrcten, so da~ ein/ris Beginn des Lei- dens anzunehmen ist, und doch linden wir Besserung vieler Erscheinun- gen. Besserung einzelner Symptome hat Malais~ mehrfach beobachtet. Nachlassen der lanzierenden Schmerzen, das auch wir hier feststellten, in 37 ~o der FMle; ebenso hat er Besserung der Blasenbeschwerden ge- gesehen. Ob die yon unserem Kranken gemachte Angabe, dab seine Potenz gebessert sei, den Tatsachen entspricht, li~I3t sich nattirlich nicht beurteilen. Malais~ erw5hnt eine diesbezfigliche Angabe Oppenheims, hat sie aber yon seinen eigenen Kranken niemals erhalten.

Drey/us hat (Ther. Halbmon.-Schrift 1921) unter der Bezeichnung ,,Heilbarkeit der Tal)es" fiber einen Fall berichtet, bei dem nach Schmier- kur keine Besserung eintrat, wohl aber nach wiederholten Salvarsan- kuren. Das Ergebnis ist sicher bemerkenswert. Unsere Beobachtung zeigt, dan auch ohne Behandlung sehr erhel)liche Besserung der Tabes cintrcten kann. El)enso wie anderc Beobachter hatte ich wiederholt den Eindruck, da[l einzelnc Symptome, 1)esonders subjektive Beschwer- den der Tal)es, durch Salvarsan giinstig becinfluI3t werden. Aber cin Fall, wie der hier gezeigte, beweist, wie vicle (l(,r durch die Tabes her- vorgerufenen St6rungen ohne ~edc B(~handlung gebessert werden k6nnen und zeigt bcsonders deutlich die Schwierigkeit, die Wirkung thera- peutischer Ma[]nahmen bei der Tabes zu beurteilen. Aueh dic yon Henneberg und P. Schuster im AnschluB an dic Vorstcllung meines Kran- ken gemachten Bemerkungcn sprechen im gleichen Sinne. Nur gr61$ere Beobachtungsreihen yon intensiv behandelten FMlen k6nncn uns Auf- schlull geben, ob mit den bis jetzt bekannten Behandlungsmethoden (tas Leiden wirklich therapeutisch beeinflui31)ar ist~).

1) Zusatz bei der Korrektttr: Vgl. dazu die yon Nonne (Oppenheims Lehr- buch VII. Auflage, S. 223 u. ft.) gemachten Ausfiihrungen, in denen im wesent- lichen der gleicho Standpunkt vertreten wird.