Ludwig-Maximilians-Universität MünchenGeschwister-Scholl-Institut für Politische WissenschaftÜbung: Anarchismus reloaded (PT)Sommersemester 2010Dr. Peter Seyferth
Anarchistische Politische Theorie in der PostmoderneWozu wissenschaftlicher Anarchismus?
15. September 2010
Florian Geisler HF: Politikwissenschaft, 4. FSPrinzregentenstraße 156 NF: Soziologie, 4. FS81677 München Ausführliche Korrektur
Ich versichere, dass ich die vorgelegte Seminararbeit eigenständig und ohne fremde Hilfe verfasst, keine anderen als die angegebenen Quellen verwendet und die den benutzten Quellen entnommenen Passagen als solche kenntlich gemacht habe. Die Seminararbeit ist in dieser oder einer ähnlichen Form in keinem anderen Kurs vorgelegt worden.
Datum Unterschrift
i
Abstract
What can anarchism contribute to political theory and the social sciences in
general? A lot, argues the author, and points out that an academic discourse
of the social without an anarchist paradigm will more and more lack
explanatory power in the future. In order to open up a new perspective for
political theory, the author examines crucial points of classical scientific
anarchism and combines them with key arguments of postmodern
philosophy to conlude that anarchy and the academy both need each other.
ii
Inhaltsverzeichnis:i. Eigenständigkeitserklärungii. Abstractiii. Inhaltsverzeichnis
I. Einleitung: Wiederkehr einer totgelaubten Disziplin? ............................ ........ 1
II. Wissenschaftlicher Anarchismus - Wer kann das eigentlich wollen? ........... 3
1. Die Vereinbarkeit von Wissenschaft und Anarchismus ......................... 3 a) nationalstaatliche Organisation der Wissenschaft ............................... 4 b) Hierarchie in der Wissenschaft ............................................................... 4 c) Wissenschaft zwischen Reproduktion und Revolution ...................... 5
2. Der Anarchismus braucht die Wissenschaft ............................................ 6 a) Eine Ideologie für Verrückte? ................................................................. 6 b) Anarchismus als Diskurs ........................................................................ 7 c) Entrismus ................................................................................................... 8
3. Die Wissenschaft braucht den Anarchismus ........................................... 8 a) Kinder der Aufklärung ........................................................................... 9 b) Der blinde Fleck der Sozialwissenschaft ............................................. 10
III. Pjotr Kropotkins wissenschaftlicher Anarchismus ....................................... 11
1. Anarchistische Anthropologie: Darwin ................................................... 11 a) Der schlechte Mensch als Quelle das Staates und vice versa ............ 12 b) Kropotkins Gegenkonstruktion: "Naturwüchsige Ordnung"............ 13
2. Dialektik von Herrschaft und Freiheit: Hegel ........................................ 14 a) Die scholastische Tradition der Dialektik ............................................ 14 b) Kropotkins Dialektik aus Herrschaft und Freiheit ............................. 15
IV. Postmoderne Anschlüsse für wissenschaftlichen Anarchismus .................. 16
1. Letztbegründungen und Universalismus ............................................... 16 a) Letztbegründungszusammenhänge in der Moderne ........................ 16 b) Postmoderne: Skepsis gegen die Metaerzählungen ........................... 17
2. Wissen als Entwicklungsfaktor ................................................................. 17 a) Fortschritt als Übersetzungsproblem .................................................... 17 b) Anarchismus im Wechsel der Metadiskurse........................................ 18
V. Schluss: Delegitimierung und Ent-episierung .................................................. 19
iv. Literaturverzeichnis iii
I. Einleitung: Anarchismus - Wiederkehr einer totgelaubten Disziplin?
Der Anarchismus gehört nicht gerade zu den prägenden politischen Theorien
der heutigen Welt. Es sind vor allem die Gedanken des Liberalismus und des
Marxismus, die - in verschiedenen Kombinationen und Spielarten - den
gesellschaftlichen Strukturen nicht nur der westlichen Welt zu Grunde liegen.
Beide schreiben sich auf denkbar unterschiedliche Weise Freiheit und
Gerechtigkeit auf die Fahnen. Doch wie gehen die beiden tatsächlich mit der
Freiheit um? Bei genauerem Hinsehen zeigt sich, dass beide Ansätze für ihre
theoretisch antizipierte Freiheit die zunächst praktische Unfreiheit in Kauf
nehmen: Der Liberalismus ignoriert bewusst die faktische Unfreiheit der
materiell Benachteiligten und sagt vorraus, dass mit dieser Methode die
größtmögliche Freiheit für alle herrschen wird. Ähnlich der Marxismus: Er will
in Kauf nehmen, den Menschen zunächst im Zuge der Abschaffung der
materiellen Ungleichheit Gewalt anzutragen, und auch er prophezeit mit dieser
Methode eine in Zukunft freiheitlichere Gesellschaft.
Mit diesen beiden Denkfiguren kommt man bei der Erklärung der heutigen
Gesellschaften sehr weit. Doch wenn es an Perspektiven für die Zukunft der Welt
geht, stößt man mit ihnen bald an Grenzen. Zwar hat die Kombination beider
Ansätze unleugbar zu einem gewissen Grad von Freiheit geführt - genauso
eindeutig bleibt die heutige Gesellschaft aber auch in vielerlei Hinsicht sehr
unfrei.
Doch nicht nur als konkrete politische Theorien oder Gesellschaftsmodelle,
sondern auch als abstrakte sozialwissenschaftliche Paradigmata haben beide
Ansätze viel von ihrer einstigen Anschlussfähigkeit verloren. Besonders der
Marxismus hat einiges von seinem einst sehr kritischen, revolutionären
1
Potential eingebüßt. Es stellt sich daher die Frage, wo nach neuen Ansätzen
gesucht werden kann. Gerade im Kontext jener Problematik um den
Freiheitsbegriff, der in den beiden herkömmlichen Ansätzen kein vollständiger
Freiheitsbegriff zu sein scheint, lohnt es sich, einen Blick auf den Anarchismus
als politische Theorie zu werfen. Mit seinem Paradigma der praktisch-
antizipatorischen Politik gibt er eine sozialphilosophische Alternative zu den
eher theoretisch-antizipatorischen Programmen von Liberalismus und
Marxismus. Nicht die Frage, wie man die Welt in Zukunft frei machen kann (ob
eher durch Selbstregulierung materiellen Zwänge oder Fremdregulierung der
materiellen Zwänge durch politischen Zwang), sondern die Frage, wie die Welt
jetzt und hier frei sein kann (nämlich durch Beseitigung aller Zwänge), steht im
Mittelpunkt. Damit ist eine ganz andere Perspektive für die
sozialwissenschaftliche Selbstbeschreibung der Gesellschaft aufgetan.
Angewendet wird diese jedoch nur wenig. Die klassisch liberale Vertragstheorie
und die marxistische Theorie bilden den Normalzustand der
Sozialwissenschaften. Auf die Frage, warum es kaum einen anarchistischen
sozialwissenschaftlichen Diskurs gibt, wird man intuitiv schnell auf die
prinzipielle Unvereinbarkeit von Anarchie und Wissenschaft verwiesen. Eine
Philosophie, die in erster Linie die Abschaffung jeglicher Hierarchien
propagiert, passe nicht mit einem notwendigerweise hierarchischen System wie
dem der Wissenschaft zusammen. Aber ist dem wirklich so? In der
vorliegenden Arbeit soll diesen Fragen nachgegangen werden: Ist ein
wissenschaftlicher Anarchismus nötig und möglich?
Dazu soll in drei Schritten vorgegangen werden: Zuerst werden die
vermeintlichen Inkompatibilitäten zwischen Anarchismus und der Akademie1
1 "Akademie" wird hier in Anlehnung an das englische "academy" verwendet; gemeint ist immer das wissenschaftliche System im weiteren Sinn, also Forschung, Lehre, Studium, Universitäten und Fakultäten als System, nicht konkrete Institute
2
dargestellt und in Bezug auf anarchistische Autoren gezeigt, warum diese
Argumente bei genauerem Hinsehen nicht gegen, sondern gerade für eine
solche Verbindung sprechen. In einem zweiten Schritt wird wird ein notwendig
kurzer Blick darauf geworfen, auf welche Art und Weise der namhafte
klassisch-anarchistische Autor Pjotr Alexejewitsch Kropotkin, der wie kein
anderer für einen wissenschaftlichen Anarchismus steht, mit dieser Verbindung
umgegangen ist. Dazu werden einige Kernpunkte der wissenschaftlich-
anarchistischen Themen Kropotkins herausgegriffen und aufgezeigt, warum ein
solcher wissenschaftlicher Anarchismus einerseits besonders fruchtbare
Alternativen anbieten kann, andererseits an manchen Knackpunkten gerade aus
anarchistischer Perspektive ganz besonders problematisch erscheint. In einem
dritten Schritt soll skizzenhaft angedeutet werden, inwiefern im Umfeld der
Postmodernen Philosophie manche dieser alten Probleme des klassischen
wissenschaftlichen Anarchismus verschwinden können bzw. welche neuen
Anschlussmöglichkeiten für autonomes und antiautoritäres Denken
entstandenden sind. Konkret sollen in Bezug auf die Diskursphilosophie Jean-
François Lyotards, einem wesentlichen Wegbereiter der Postmoderne, an den
Problemstellen eines wissenschaftlichen Anarchismus weitergedacht werden.
II. Wissenschaftlicher Anarchismus - Wer kann das eigentlich wollen?
1. Die Vereinbarkeit von Wissenschaft und AnarchismusDie akademisch betriebene Auseinandersetzung mit dem Anarchismus ist
umstritten. Es gibt Stimmen, die auf eine vermeintliche prinzipielle
Unvereinbarkeit von anarchischer und akademischer Praxis hinweisen und
damit automatisch auch eine Unvereinbarkeit von anarchistischer Theorie und
akademischer Arbeitsweise implizieren. Vor dem Hintergrund der besonderen
3
Auffassung der Anarchisten vom Verhältnis von Theorie und Praxis, in der
letzterer ein eindeutiger Vorrang eingeräumt wird, stellt dies Akademiker, die
sich mit dem Anarchismus als wissenschaftlichem Objekt betrachten und sich
gleichzeitig einer anarchistischen Bewegung mehr oder weniger zurechnen
wollen, vor ein gewisses Erklärungsproblem. Denn wenn eine ideologische
Haltung zum Gegenstand (und auch zur Forschungspraxis) werden soll, die
gerade Freiheit von Hierarchie und Ausbeutung artikulieren will ist die
Wissenschaft ein schwieriger Ort dafür. Denn tatsächlich gehört das
Wissenschaftssystem auf den ersten Blick zu den ausbeuterischsten und
hierarchischsten, einfach un-anarchistischsten Gesellschaftsbereichen
überhaupt:
Erstens sind Wissenschaft und Bildung in großen Teilen noch immer primär
nationalstaatlich organisiert. Die Wissenschaften, der akademische Diskurs,
werden von Staaten zum Zwecke des nationalen oder supranationalen
Standortvorteils gefördert. Es wird ein Konkurrenzverhältnis zwischen
künstlichen Nationen hergestellt, dass eben nicht einer anarchistischen Idee
vom Teilen entspricht, sondern gerade auf der Nicht-Verfügbarmachung bzw.
Verknappung von Wissen zum eigenen Vorteil basiert.
Zweitens ist der akademische Diskurs sehr stark hierarchisiert. Professoren
bestimmen über Dozenten, Dozenten über Studenten, und über alle drei
bestimmt das Rektorat. Die Vorstellung, dass ein Dozent als Experte (und als
Vertreter der Lehrmeinung des Ober-Experten, des Professors nämlich) seinen
Studenten beibringt, was denn genau Anarchismus ist, erscheint einem
Anarchisten wohl untragbar. Damit einher geht die Generierung von
Abhängigkeits- und Kontrollverhältnissen - der Student muss dem Dozenten
bis zu einem gewissen Punkt Folge leisten, besonders aber findet Indoktrination
4
statt: Indoktrination nämlich auf die jeweils geltenden Prinzipien der
Wissenschaft - die, wie wir heute wissen, eben auch keine logisch
einwandfreien, wertfreien Axiome sind, sondern eine, provokant gesagt
"beliebige", soziologisch gesagt "sich-in-der-Praxis(!)-bewährende"
Diskursform.
Diese Punkte lassen die Wissenschaft - nicht ganz zu unrecht - als Teil der
Reproduktion des Gesamtsystems erscheinen. Es scheint fragwürdig, ob ein
Denker, der sich in diesem Feld bewegt, überhaupt einen wirklich kritischen
Beitrag leisten kann, oder nur am das Bestehen des Systems mitwirkt. Das
meinen auch Shukatitis und Graeber - beides Akademiker mit Reputation in der
anarchistischen Szene, wenn sie in ihrem Aufsatz No Gods, No Masters Degrees
unter der Überschrift Escaping the College-Industrial Complex schreiben:
"Education as we know it exists primarly to indoctrinate habits."2 Aber sie
erkennen gleichzeitig an, dass Wissenschaft und Bildung auch mehr sind als
nur Reproduktion des Bestehenden. Während in dem genannten Aufsatz das
Bildungssystem zumindest schon als Absprungspunkt, als Teil des "resource-
seizing" für anarcho-revolutionäre Bewegungen gesehen wird, spricht Shukaitis
in einem anderen Aufsatz namens Infrapolitics and the nomadic educational
machine schon von einem "ambivalent relationship"3 zwischen Anarchismus und
der Akademie. Neben all den Inkompatibilitäten sind damit vor allem auch die
Anschlussmöglichkeiten gemeint, die eine solche Verbindung bieten kann.
Vorausgesetzt, dass anarchist studies nicht nur bei "the study of anarchism and
anarchists by anarchists"4 -also bei einer Institutionalisierung des anarchistischen
2 CrimethInc. (2007). No Gods, No Masters Degrees. Constituent Imagination. Militant Investigations. Collective Theorization. S.Shukaitis and D. Graeber. Oakland/Edinburgh, AK Press: 301-313, S.302
3 Shukaitis, Stevphen (2009): Infrapolitics and the Nomadic Educational Machine. In.: Adams, M. R.; Garton, A.; Amster, Randall: Contemporary Anarchist Studies. An introductory anthology of anarchy in the academy. London: Routledge S.164
4 ebd., S. 166
5
Geists - stehen bleiben, können sie einen Beitrag leisten zur "articulation,
preservation, and reinterpretation of cultural and social forms"5. Ich möchte
mich in dieser Arbeit diesem Grundgedanken eines möglichen fruchtbaren
Verhältnisses von Anarchismus und akademischer Reflexion anschließen.
Darüber hinausgehend soll argumentiert werden, dass akademische
Gesellschaftswissenschaft und der Anarchismus auf einander angewiesen sind.
Die These zerfällt in zwei Hälften: Erstens wirft sie die Frage auf, wozu eine
anarchistische Bewegung eine - am Ende sogar institutionell fixierte -
wissenschaftliche Selbstreflexion braucht. Zweitens muss begründet werden,
warum die Sozialwissenschaft sich ein neues, anarchistisches Paradigma
eröffnen sollte.
2. Der Anarchismus braucht die WissenschaftDie "Anarchie" hat zuallererst einmal das Problem, dass ihr Name ein verpönter
Begriff ist. Im Allgemeinen werden dadurch Assoziationen von Chaos,
Zerstörung, Unordnung, Asozialen usw. hervorgerufen. Anders als
beispielsweise "den Sozialdemokraten" oder "den Liberalen" wird mit "den
Anarchisten" keine politische Einstellung verbunden. Gleichzeitig ist es gängige
gesellschaftliche Praxis, sich zur Begründung politischer Entscheidungen auf
wissenschaftliche Argumente zu beziehen. Wissenschaftlichkeit ist eine
wesentliche Legitimationsquelle für Politik. Am deutlichsten sieht man dies in
der heutigen Energiepolitik und all ihren Derivaten, aber auch Bildungs-,
Wirtschafts-, Finanzpolitik und viele mehr richten sich nach wissenschaftlichen
Diskursen; eine "Autorität des Spezialisten" entsteht. Es scheint nur intuitiv, das
eine auch eine solche Autorität von Anarchisten hinterfragt wird. Allerdings
sollte thematisiert werden dürfen, wie rigide man sich als Anarchist von
5 ebd., S.167
6
Wissenschaft als Autoritätsquelle abgrenzen sollte. Denn eine Gleichung
Autorität = Zwang scheint mir hier zu einfach gestrickt. Zumindest gegen einen
wissenschaftlichen anarchistischen Diskurs, der den Ideen des Anarchismus
insoweit "Autorität" verleiht, als dass sie wieder als ernstzunehmende Vision
statt weltfremdes Hirngespinst erscheinen, kann ich keine haltbaren Einwände
ausmachen. Solche Einwände würden dann wohl tatsächlich etwas weltfremd
anmuten.
Des Weiteren stellt sich auch einem anarchistischen Diskurs ein ganz
pragmatisches Problem: Nämlich dass er ein Diskurs ist, und somit nur als
gesprochene oder geschriebene Sprache funktioniert. Eine Sprache bedient sich
aber immer Begriffen, denen ihre gegenseitige Abgrenzung und Verbindung
wesentlich ist. Und gerade bei den besonders umstrittenen Begriffen kommt es
eben meistens auch aufs Detail an. Jede politische Perspektive, die über ein
"Gegen die Gesamtsituation" heraus kommen möchte, ist auf daher auf genaue
Begriffe angewiesen. Solche Begriffssysteme entstehen aber nicht von selbst, sie
müssen hergestellt werden. Das Ausarbeiten von Begriffen stellt im wahrsten
Sinne des Wortes Arbeit dar. Diese Arbeit beginnt selbstverständlich im
alltäglichen Gespräch. Aber der Ort, an dem die Begriffe bis ins Detail ausgefeilt
werden, die - wenn man so will - Begriffs-Fabrik trägt das Firmenlogo
"Wissenschaft". Ganz arbeitsteilig wird hier die Begriffsarbeit einem
bestimmten Teil der Gesellschaft übertragen. Dass diese Übertragung nicht
ohne Transformationsarbeit und -Verlust passieren kann, ist ebenso klar wie der
Umstand, dass die Fabrik ihrem Begriffsprodukt in mancherlei Hinsicht ihre
ganz eigene "Prägung" aufdrücken wird. Das kann problematisch sein. Etwa
dann, wenn - um bei der Metapher zu bleiben - die Arbeiter der Begriffsfabrik
7
sich nur einseitig aus bestimmten Kreisen der Gesellschaft rekrutieren. Dann
wird sie möglicherweise blind für die abnehmende Qualität ihrer Produkte.
Und wenn dies dann auch noch zu einer Verstärkung der einseitigen
Rekrutierung führt, entsteht daraus ein ungesunder Teufelskreis. Das ist aber
kein strukturelles Problem der Wissenschaft an sich, sondern nur eine Frage der
Betonung. Und gerade zu den Zeiten, in denen in der Wissenschaft andere
Probleme, z.B. das der wirtschaftlichen Rentabilität, stärker betont werden (ein
Trend, der heute gemeint ist, wenn das Wort "Neoliberalismus" fällt), sollte der
wissenschaftliche Diskurs von den Kritikern dieses Betonungs-
Ungleichgewichts nicht aufgegeben, sondern in neues Gleichgewicht gebracht
werden. "Reclaim the academy" wäre hier wohl die passende catchphrase.
Der klassische Vorwurf des Entrismus kann dann so gesehen auch gar kein
Vorwurf mehr sein, sondern immer nur eine Feststellung sein. Denn ein jeder
ist so schon immer im (hier: Wissenschafts-) System drin, schon dadurch, dass
er potentiell darin sein könnte. Vielleicht kann man es weniger provokant
andersherum formulieren: Das System ist immer schon überall, gerade dort, wo
man sich von ihm abgrenzen will. Aufs Wissenschaftssystem gemünzt: Dann,
wenn man sich radikal (im Sinne von prinzipiell statt konkret-inhaltlich) davon
abgrenzt, trägt man zur Verfestigung eines "falschen" Systems bei. Das kann
aber gerade nicht Perspektive für eine anarchistische Bewegung sein. Der
Anarchismus braucht den wissenschaftlichen Diskurs, sowohl zur
Überwindung seiner zweifelthaften Reputation in der Gesellschaft, als auch zur
Erzeugung einer soliden Position im wissenschaftlichen (politischen?)
Begriffssystem.
3. Die Wissenschaft braucht den Anarchismus
Im obigen Abschnitt hat sich bereits ein Teil dieser nun umgekehrten
8
Argumentaton eingeschlichen. Liberalismus und Marxismus sind aus
revolutionären Bewegungen hervorgegangen. Heute erfüllen sie heute eine
staatstragende Funktion: Sie stellen zwei tragende Säulen der modernen Art der
Vergesellschaftung von Menschen dar. Der Liberale Gedanke erzeugt die
individuelle Person, die als ein freier Sprecher unter vielen gleichen und gleich-
berechtigten Sprechern eine freie Gemeinschaft mitbegründet. Das Individuum
erkennt die Autorität dieser Gesellschaft über sich dabei als seine eigene
Autorität über sich an. Das drückt sich im Gedanken der Volkssouveränität mit
all seinen Implikationen aus. Der Marxistische Gedanke erzeugt dagegen das
Bewusstsein dafür, dass die Freiheit der Person eben nicht a priori gegeben ist,
sondern dass das Individuum immer schon in seinem Dasein auf vielfältige
Weise, und ganz besonders auf materielle Weise vorbestimmt ist. Damit das
Individuum die Autorität einer Gemeinschaft anerkennen kann, muss daher
das Individuum von seiner Determiniertheit durch die materiellen
Gegebenheiten befreit werden, zumindest die Ungleichheit der materiellen
Umstände muss demnach überwunden werden. Der Knackpunkt liegt in den
Gemeinsamkeiten der beiden Ansätze: Beide thematisieren nicht direkt oder
zumindest nicht hauptsächlich das Phänomen der Herrschaft von Menschen
über Menschen, sondern viel eher das Problem der Legitimation von Herrschaft.
Das ist einerseits ganz natürlich, denn Beide sind Kinder der Aufklärung:
Durch die sich im Zuge der Industrialisierung verändernden
Lebenserfahrungen der Menschen im 18. und 19. Jahrhundert, sprich der
fortschreitenden Zersetzung universalinklusiver Lebensformen (Familie, Stand,
Tradition) wurde absolute Herrschaft zunehmend erklärungsbedürftig. Aber eben
nur absolute Herrschaft nicht Herrschaft an sich. Auf dieses Problem reagierte die
(zuerst: bürgerliche) Gesellschaft mit dem Diskurs über Legitimität. So wurde
9
sichergestellt, dass das Prinzip Herrschaft einerseits erhalten bleibt,
andererseits den modernen Umständen angepasst wird. Gleichzeitig wurde
somit die Herrschaft in die "richtigen", d.h. bürgerlichen Hände gelegt, sowie
durch eine Verbindung von Herrschaftslegitimität an das Sachliche Argument
eine Rückversicherung eingebaut, dass die Herrschaft auch in bürgerlichen
Händen bleibt, weil das Bürgertum - die Subjekte der Gesellschaft weil
tatsächlich Subjekte im Wirtschaftskreislauf - das sachliche Argument verkörpert.
Das ist der Hintergrund liberaler politischer Theorie. Die Veränderung der
gesellschaftlichen Differenzierungschemata machte aber nicht an einem
bestimmten Punkt halt, so dass erneut eine ähnlich revolutionäre Bewegung
entstand: Diesmal war es das Proletariat, dem die bürgerliche Herrschaft
unplausibel wurde. Denn mittlerweile waren die Inklusionserfahrungen, die
die Gesellschaft für die Menschen bereithielt, so kleinteilig, dass sich letztlich
Alle als prinzipiell gleich darstellen lassen konnten, also auch als prinzipiell
gleiche Subjekte im Wirtschaftskreislauf. Unterschiede, die diesem
Gleichheitsgedanken zuwiderliefen, wurden daher nur noch als künstlich,
durch ein falsches System hervorgerufen, aufgefasst. Daher die marxistische
Lösung: System verändern und Ungleichheiten abschaffen. Deswegen heißt es im
kommunistischen Manifest: "1. Expropriation des Grundeigentums [...]", "2.
Starke Progressivsteuer", "3. Abschaffung des Erbrechts" und eben nicht zuletzt
auch "8. Gleicher Arbeitszwang für alle."6 Das ist der Hintergrund marxistischer
Gesellschaftstheorie. Und zusammen mit dem liberalen Ansatz spannt er den
ordnungsphilosophischen Raum auf, der uns heute als Sozialwissenschaft
vorliegt: Das Problem, dass prinzipiell jeder Mensch ein Subjekt ist, das tun und
lassen kann was es will und deshalb eine Ordnung nötig ist, um diese Freiheit
einzuschränken. Und das macht den blinden Fleck des mainstreams der
6 Marx, Karl/Engels, Friedrich (1985) [1848]: Manifest der kommunistischen Partei. Berlin: Dietz
10
Sozialwissenschaften heute aus: Sie fragen nach den richtigen Bedingungen für
eine gesellschaftliche Ordnung durch richtige Herrschaft uns suchen in den
Erfahrungen nach den Richtlinien dafür. Das Prinzip Herrschaft selbst wird
nicht hinterfragt. Und genau das wird heute aber wieder erklärungsbedürftig.
Die vorliegende Arbeit ist das beste Beispiel dafür: In einer aus Überfluß
geprägten Welt, in der sowieso für Alles gesorgt zu sein scheint wird die
Vorstellung einer Notwendigkeit der Einschränkung von Beliebigkeit und
Freiheit zunehmend unplausibel; Ordnung wird gar als lästig empfunden,
persönliche Freiheit und Entfaltung wird zu einer Maxime. Aber -zumindest:
hoffentlich- nicht mehr nur in der exklusiven Variante, sondern in der Gestalt
persönlicher Freiheit als allgemeiner Größe. Die Sozialwissenschaft wird sich
damit auseinandersetzen müssen und hat möglicherweise jetzt schon einiges
auf diesem Weg nachzuholen. Ein anarchistisches Paradigma wird hier hilfreich
sein.
III. Kropotkins wissenschaftlicher Anarchismus
Macht man sich Gedanken über die Vereinbarkeit von Anarchismus und
Wissenschaft, muss man nicht bei Null beginnen. Bei Pjotr Kropotkin findet
man ein breites philosophisches und sozialwissenschaftliches Denkgebäude
unter anarchistischem Paradigma. Sein wissenschaftlicher Anarchismus stellt
das libertäre Gegenstück zu Marx´ wissenschaftlichem Sozialismus dar. Viele
seiner Ansätze sind daher zwar wertvolle Variationen der Sozialphilosophie
seiner Zeit - doch darin liegt ein nicht geringes Problem: In vielerlei Hinsicht
bleibt Kropotkin damit nämlich den grundlegenden Denkfiguren seiner
Zeitgenossen verhaftet. Und diese Figuren führen in manchen Punkten zu ganz
und gar unfreiheitlichen Schlußfolgerungen, was einen wissenschaftlichen
11
Anarchismus als contradictio in adiecto erscheinen lassen könnte. Um das
genauer nachzuvollziehen, wird exemplarisch ein Blick auf Kropotkins
Anthropologie und auf seine Geschichtsphilosophie geworfen.
1. Anarchistische Anthropologie: DarwinWesentlicher Bestandteil von Kropotkins Sozialphilosophie ist seine
Anthropologie. Die wichtigste anthropologische Strömung seiner Zeit war der
Darwinismus. Dessen Kern, nämlich die Theorie vom "survival of the fittest",
also des Überlebens des Angepasstesten (der Begriff geht eigentlich auf Herbert
Spencer zurück), wurde schnell zu einem "struggle for existence", also im
Endeffekt einem Überleben des Stärksten umgedeutet. Im Zuge dessen wurde der
Mensch als ein von Natur aus schlechtes und feindseliges Wesen dargestellt.
Zusammen mit der Hobbes´schen Theorie vom Gesellschaftsvertrag ergab sich
damit ein bis heute wichtiges Paradigma für jede Sozialphilosophie: Die Frage
nämlich, wie die prinzipielle Bosheit des Menschen durch die Gründung eines
Staats unterdrückt werden kann. Kropotkin knüpft an Darwins
Evolutionstheorie an7, jedoch wendet er sich gegen die Annahmen Huxleys der
Schlechtigkeit des Menschen und dreht die Argumentation um: Nicht
Wettbewerb innerhalb einer Spezies sorgt für die genetische Auslese, sondern
Kooperation innerhalb einer Spezies verhindert deren Auslöschung durch
widrige Umstände. Nicht die komplexen Gesellschaften sind es, die es dem
Menschen ermöglichen, seinen natürlichen Wettbewerb auszusetzen, sondern
es ist die natürliche Soziabilität der Menschen, die ihnen das zum Überleben
notwendige Zusammenleben in Gesellschaft überhaupt ermöglicht. Die
Formation von Staaten ist also nicht die höchste, weil bislang komplexeste Form
von Gesellschaft, sondern durch ihren exklusiven Charakter (Grenzen,
7 vgl. Glassman, Michael: Mutual Aid Theory and Human Development. Sociability as Primary. In: Journal for the Theory of Social Behaviour, 30, 4, (2001). S. 396
12
Nationalismus, etc.; heute möglicherweise der viel zitierte "Standortfaktor")
behindern die Staaten gerade die natürliche Soziabilität und stellen somit einen
evolutionären Rückschritt dar.8 Konsequent: Nicht die Schlechtigkeit der
Menschen mache einen Staat notwendig, sondern die Unterdrückung und
Ausbeutung der Menschen, die unter dem Deckmantel v.a. des Staates vor sich
geht, lassen die Schlechtigkeit des Menschen überhaupt erst entstehen.
Statt der Notwendigkeit eines Staates betont Kropotkin dagegen sozusagen
"naturwüchsige" Organisationsformen von Gesellschaft und Produktion, vor
allem die mittelalterlichen Städte. Diese seien mit ihrer eigenen Gerichtsbarkeit
(verstanden als politische Freiheit), ihrer Selbstverwaltung (verstanden als
Unabhängigkeit der Produktion) und ihrem Gildenwesen (Gilden als
Verkörperung des Prinzips gegenseitiger Hilfe) als Prototypen einer richtigen,
auf dem System der gegenseitigen Hilfe basierenden Lebensweise zu
betrachten.9 Aus heutiger Sicht hat dies einen komischen Beigeschmack, denn
die mittelalterlichen Städte stehen eigentlich nicht mehr für Prototypen einer
freien Gesellschaft, im Gegenteil. Hier findet sich wieder das Thema des
Ordnungsproblems: Ordnung ohne Herrschaft kann (und will - um jeden
Preis-) sich Kropotkin zwar vorstellen, aber ohne Ordnung geht es für ihn noch
nicht. Deswegen sein Suchen nach der richtigen Ordnung, die er in den
mittelalterlichen Städten finden will. Insofern liefern Kropotkins Ausführungen
hier eine wichtige Alternative zu seinen Zeitgenossen und bleiben gleichzeitig
mit gänzlich unanarchistischen, ordnungsphilosophischen Grundannahmen
verhaftet. Und gerade in der Überwindung dieser Annahmen wird der
Absprungspunkt für die politische Theorie zu suchen sein.
8 vgl. Glassman, ibid, S. 3959 Hug, a.a.O, S.26
13
2. Dialektik von Herrschaft und Freiheit: Hegel
Ein Blick auf Kropotkins geschichtsphilosophischen Ansatz zeigt ähnliches.
Kropotkin orientiert sich an Hegels Ansätzen und übernimmt Freiheit als einen
zentralen Begriff für die Geschichtsphilosophie. Hegels Denkgebäude besteht
aus der Dialektik von Allgemeinem und Besonderem. Freiheit wird darin
historisch immer weiter verbreitet. Während die Freiheit in frühen
Gesellschaften nur sehr wenigen zugänglich war, ist die Freiheit in
gegenwärtigen Gesellschaften durch den modernen Nationalstaat jedem
Einzelnen gegeben. Freiheit ist der harmonische Endpunkt der Dialektik von
Allgemeinem und Besonderem. Das besondere Wesen dieser Freiheit ist die
Anerkennung der Autorität eines Staates und vor allem einer Rechtsordnung.
Nicht ein Vertragsschluss, sondern die Erkenntnis, dass zur Freiheit die
Unterordnung gehört, ja dass Freiheit aus dieser Unterordnung besteht. Somit
kommt es auch nicht auf das konkrete Wesen der Bürger und des Staates an.
Implizit: Noch der schlimmste Staat ist besser als keiner. Oder, etwas kryptisch
mit Hegels eigenen Worten: "Was wahr ist, ist vernünftig"10. Hegels ganze
Sozialphilosophie steht wohl in der alten scholastischen Tradition.11 Er
unternimmt dann auch den vorerst letzten Versuch eines philosophischen
Gesamtsystems, denn für ihn ist klar: "Das Wahre ist das Ganze."12
Demenstprechend muss eine wahre Lösung des Vergesellschaftungs-Problems
für Hegel ebenfalls die Züge einer allumfassenden Ganzheitlichkeit tragen. Dies
sieht er im modernen Staat als -zumindest potentiell- vollkommen inklusives
soziales Gebilde tatsächlich verwirklicht.
Kropotkin scheint der gleichen Tradition verhaftet zu sein. Denn obwohl
10 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1967): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg: Meiner. S. 1411 vgl. Nassehi, Armin (2009): Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt a. M.: Suhrkamp. S.
16112 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt a. M.. Suhrkamp. S. 24
14
Kropotkin als Anarchist Hegels Ausführungen gegenüber inhaltlich zunächst
die genaue Gegenposition einzunehmen scheint, bedient er sich bei genauerem
Hinsehen dann doch wiederum ein und desselben Argumentationsmusters,
nämlich dem einer evolutionären Dialektik und variiert dabei nur die
Verortung des Freiheitsbegriffs: Anders als Hegel will Kropotkin den Zustand
Freiheit nicht einfach als bereits erreichten Endpunkt der Geschichte setzen. Er
sieht schließlich vor sich, dass sich die modernen Staaten ganz und gar nicht aus
freien Bürgern zusammensetzen, einen Umstand, den Hegel noch mehr oder
weniger ignoriert hat. Kropotkin holt die Freiheit aus diesem Himmelsreich
herunter und bringt sie zurück ins Spiel als Teil und nicht Zielpunkt der
Dialektik. Daraus entsteht sein eigenes Geschichtsmodell in Gestalt einer
Dialektik von Herrschaft und Freiheit.13 Fast schon ausversehen -nämlich
empirisch- kommt Kropotkin somit auf einen so wichtigen Anschlusspunkt (sh.
I., 3.). Die Einsicht, dass Freiheit als Begriff dann aber auch nicht unbedingt in
einen abgeschlossenen, dialektischen Diskurs passt, stand ihm aber noch nicht
zur Verfügung. Denn was steht notwendigerweiße am Ende einer Dialektik aus
Herrschaft und Freiheit, genauso wie am Ende einer Dialektik aus Allgemeinem
und Besonderem? Ein Ergebnis oder eine Wahrheit, vor allem aber: Ordnung,
also Einschränkung von Freiheit. Insofern liefert Kropotkin hier wieder beides:
Eine wichtige alternative Perspektive -die Freiheit als empirischen Begriff- und
dazu den richtigen Problemhorizont -das Denken der Gesellschaft ohne
Ordnung und Letztbegründung-, an dem sich die politische Theorie abarbeiten
kann.
13 vgl. Hug, a.a.O. S.102
15
IV. Postmoderne Anschlüsse für wissenschaftlichen Anarchismus
In der Postmodernen Politischen Philosophie finden sich Anknüpfungspunkte,
an denen man über den wissenschaftlichen Betrieb von Anarchismus
weiterdenken kann. Im Folgenden werden kursorisch zwei Gedanken aus
Lyotards Bericht über das Postmoderne Wissen durchgegangen und aus
anarchistischer Perspektive kommentiert, um diese Anschlüsse aufzuzeigen.
Lyotards Bericht über das Wissen in den höchstentwickelten Gesellschaften ist
eines der bedeutendsten Werke für die Diskussion um die Postmoderne.
1. Letztbegründungen und Universalismus
Lyotard eröffnet seinen Bericht mit der Unterscheidung von narrativem und
wissenschaftlichem Wissen. 14 Das für uns wichtigste an dieser Unterscheidung
ist die Frage der Legitimität.15 Charakteristisch für die moderne, nämlich
wissenschaftliche Form des Wissens ist die Legitimierung durch einen
Metadiskurs. Das moderne Wissen des 18., 19. und 20. Jahrhunderts basiert auf
der Annahme allgemein gültiger Letztbegründungen. Zuerst und sehr deutlich
ausbuchstabiert hat das der Zweifler René Descartes: Cogito ergo sum, ein erster,
für ihn unverrückbarer, fester Standpunkt, von dem aus man der Wirklichkeit
auf den Grund gehen könnte.16 Die Vernunft selbst begründet einen
Wahrheitsanspruch für wissenschaftliche Aussagen. Immanuel Kant führt das
Spiel in der Folge noch weiter: Weil der Mensch in seiner physischen
Beschränktheit die eigentliche Welt sowieso nicht erkennen kann, sind im
Rahmen dieses Nicht-Erkennen-Könnens gerade sehr wohl Letztbegründungen
möglich, sie müssen nur "richtig" vollzogen werden. Dafür muss nur eine
14 Lyotard, Jean-François (1982): Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Böhlau. S. 1915 ebd., S.1416 vgl. Descartes, René (1978): Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der
wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Meiner. S. 26 ff.
16
Bedingung erfüllt sein: Die Begründung muss in sich selbst wieder vorkommen
können. Auf die Moralität gewendet wird dies bei zu Kants berühmten
kategorischen Imperativ: "[...] ich soll niemals anders verfahren als so, dass ich
auch wollen könne, meine Maxime solle das allgemeine Gesetz werden.17 Hegel
treibt dieses Spiel ad absurdum: Er meint in der Vernunft das Weltprinzip
gefunden zu haben und bildet den Höhepunkt des seit Aristoteles bestehenden
Vertrauens auf die Vernunft als dem (einzigen) Subjekt der Welt: Das Wahre ist
das Ganze, und es kommt "alles darauf an, das Wahre nicht als Substanz,
sondern ebensosehr als Subjekt aufzufassen und auszudrücken."18
Die Postmoderne würde solche Begründungszusammenhänge als
Metaerzählungen bezeichnen und ihre Gültigkeit bezweifeln. So schreibt
Lyotard: "Bei extremer Vereinfachung hält man die Skepsis gegenüber den
Metaerzählungen für 'postmodern'."19 Letztbegründungen und universalistische
Ansprüche aller Art werden bezweifelt. Aus dieser neuen Sichtweise aber
erwächst eine gewisse Sensibilität für den Totalitarismus, der in den
aufklärerischen Theorien mitschwingt.
2. Wissen als Entwicklungsfaktor
Lyotard entwickelt einen ganz eigene Version der Vorgänge, die heute als
Neoliberalisierung der Universität fast schon ein Gemeinplatz geworden sind.
Die Grundthese seiner Untersuchung besagt, "daß das Wissen in derselben Zeit,
in der die Gesellschaften in das postmoderne Zeitalter [...] eintreten, sein Statut
wechselt."20 Die Akkumulation moderner Technologien, die sich gegenseitig zu
17 Kant, Immanuel: Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen. In: Ders.: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werksausgabe Band VII, Frankfurt a. M.: Suhrkamp. 1977 [1785], S. 18-33 hier: S. 28
18 Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp19 Lyotard (1982): a.a.O. S. 1420 Lyotard (1982): a.a.O. S. 19
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immer schnellerem Fortschritt antreiben, erzeugt die Nachfrage nach Experten,
die die sich ausdifferenzierenden und verkomplizierenden Sprachen (z.B. alte
Binärcodes und moderne HTML-Sprachen, alte Fahrräder und moderne
Hybridmotoren, medizinische Geräte usw.) wechselseitig übersetzbar machen.
Je besser diese Übersetzungen funktionieren, desto reibungsloser geht die
Akkumulation der Technologien vonstatten. Aber: Für diese Aufgabe benötigt
man nicht mehr "Bildung des Geistes" im klassischen Sinn, einfaches Fachwissen
genügt bereits, und Effizienz wird zum neuen Maßstab. Für gewöhnlich wird
dieser Abfall vom Humboldt´schen Ideal mit Skepsis betrachtet. Wehmütig
blicken manche Studenten und Dozenten auf die Zeiten zurück, in denen noch
"echte Bildung" vermittelt wurde. Mit Lyotard kann man aber sehen, dass der
Gedanke an ein solches Zurückgehen ebenfalls problematisch ist. Denn dieses
Humboldtsche Ideal (das übrigens als Kompromisslösung auf Fichte
zurückgeht - einem Idealisten par excellence, zwischen Kant und Hegel21)
entspricht genau jener Einheitsphilosophie, die für so viele Probleme gesorgt
hat. Das Wissen ist und wird für seinen Verkauf geschaffen werden"22 - das
kann und sollte kritisiert werden. Doch erwächst daraus für eine anarchistische
Perspektive eine nicht unwesentliche Anschlussmöglichkeit. Denn gleichzeitig
mit dem Bildungsideal fällt damit auch die Rolle der Staaten und Nationen als
Dreh- und Angelpunkt der Wissens- und Gesellschaftsreproduktion! So schreibt
Lyotard: "Der Staat wird für die Ideologie der kommunikativen 'Transparenz',
die mit der Kommerzialisierung des Wissens einhergeht, als ein Faktor der
Undurchsichtigkeit und des 'Rauschens' erscheinen."23
Doch was bedeutet das nun für wissenschaftlichen Anarchismus? Was wir vor
uns haben, ist nicht weniger als die Berührungspunkte von Liberalismus und
21 vgl. Lyotard (1982): a.a.O. S. 9922 Lyotard (1982): a.a.O. S. 2423 Lyotard (1982): a.a.O. S. 27
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Anarchismus, wie sie sich sowohl beim blinden Fleck der Sozialwissenschaft als
auch am Ende von Kropotkins Anthropologie und Geschichtsphilosophie
gezeigt haben: Die neoliberale Denkfigur ist dim Begriff, die Metaerzählung
von Staat und Nation abzuarbeiten. Aber eben nur, um eine andere Erzählung,
d.h. eine andere Ordnung an ihre Stelle zu setzen. nämlich die Erzählung vom
Markt, der durch freie Entfaltung die beste Entwicklung für Alle verspricht.
Gerade hier kann und muss die anarchistische Diskussion einhaken. Sie kann
den Gedanken ausarbeiten, dass auch die Marktideologie nur eine Erzählung
ist, die in bestimmten Situationen praktisch zwar sehr gut funktioniert, aber
niemals eine letzte Wahrheit sein kann: Einfach weil es keine letzten Wahrheiten
gibt. Um den Bogen zurück auf die Wissenschaft und konkret auf die
Universitäten zu schlagen: Gerade dann, wenn - dem allgemeinen
gesellschaftlichen Trend gemäß - an den Universitäten neoliberale Zustände
überhand nehmen, muss ein libertärer Diskurs diese Überhandnahme
eindämmen. Denn wenn der Angelpunkt der Wissens- und
Gesellschaftsreproduktion nur von einem Metadiskurs in den anderen verlagert
wird, also von Staat und Nation hin zum Markt, werden sich dieselben Brüche,
die die Welt auf Grund dieses Missverständnisses durchlebt hat,
möglicherweise wiederholen.
V. Schluß: Delegitimierung und Ent-episierungEs sollte hier nicht die These vertreten werden, dass die Postmoderne
Philosophie Antworten oder Lösungen für die Brüche der Politischen Theorie,
für die Organisation der Gesellschaft, oder für die Ausgestaltung
Bildungssysteme bereit stellt. Was dagegen gemeint war, ist, dass sie ein Gefühl
aufarbeitet, eine Sensibilität bereitstellt: Eine Sensibilität nämlich gegenüber
dem Universalismus der Aufklärung, ohne jedoch die Aufklärung an sich
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aufgeben zu müssen. Ein Gefühl für Distanziertheit, Zurückgenommenheit und
Mäßigung einem Weltgeschehen gegenüber, dessen Subjekt man zwar ist, dem
man aber dennoch keine letzte Sicherheit abtrotzen kann, auch nicht durch die
beste Ordnung. Eine Perspektive dafür, statt durch eine Ordnung Freiheit nur
zu Versuchen, sie tatsächlich zu tun. Das postmoderne Bewusstsein dafür, dass
es keine letzten Wahrheiten geben kann, sondern immer nur praktisch
funktionierende Diskurse, ist auf diesem Weg schon ein Meilenstein: Denn
darin enthalten ist der Gedanke, dass auch mit der besten Begründung, dem
ausgefeiltesten System oder der noch so großen Mehrheit letztlich keine
Herrschaft wirklich legitimiert werden kann. Denn auch die großen Epen von
Nation und Markt, aber auch die von Republik oder Sozialismus, noch
abstrakter Geld und Waren, sind tatsächlich Sprachspiele oder Diskursformen,
und zwar kontingente. Es ist der Gedanke, dasses letztlich keine Wahrheit gibt:
Hier nicht Orientierunglosigkeit zu diagnostizieren, sondern die freie
Gestaltbarkeit, wenn man sie nur in die Hand nimmt (und anderen die
Möglichkeit dazu eröffnet), anzunehmen, das ist dann eine wirklich
antiautoritäre Perspektive. Und dieses Gestalten kann auch und gerade in den
Diskursen in Wissenschaft und der Akademie beginnen. Und für das Gelingen
dieser Diskurse gibt es nur eine Bedingung: Man muss sie führen.
20
Literatur:
CrimethInc. (2007): No Gods, No Masters Degrees. Constituent Imagination. Militant Investigations. Collective Theorization. S.Shukaitis and D. Graeber. Oakland/Edinburgh, AK Press: 301-313
Descartes, René (1978): Von der Methode des richtigen Vernunftgebrauchs und der wissenschaftlichen Forschung. Hamburg: Meiner
Glassman, Michael: Mutual Aid Theory and Human Development. Sociability as Primary. In: Journal for the Theory of Social Behaviour, 30, 4, (2001). S. 392-412.
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1986): Phänomenologie des Geistes. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Hegel, Georg Friedrich Wilhelm (1967): Grundlinien der Philosophie des Rechts. Hamburg: Meiner
Hug, Heinz (1989): Kropotkin zur Einführung. 1. Auflage. Hamburg: Junius
Kant, Immanuel: Übergang von der gemeinen sittlichen Vernunfterkenntnis zur philosophischen. In: Ders.: Kritik der praktischen Vernunft. Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. Werksausgabe Band VII, Frankfurt am Main: Suhrkamp. 1977 [1785], S. 18-33
Lyotard, Jean-François (1982): Das Postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Böhlau
Marx, Karl/Engels, Friedrich (1985) [1848]: Manifest der kommunistischen Partei. Berlin: Dietz
Nassehi, Armin (2009): Der soziologische Diskurs der Moderne. Frankfurt am Main: Suhrkamp
Shukaitis, Stevphen (2009): Infrapolitics and the Nomadic Educational Machine. In.: Adams, M. R.; Garton, A.; Amster, Randall: Contemporary Anarchist Studies. An introductory anthology of anarchy in the academy. London: Routledge
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