2012ISBN 978-3-200-02727-5
Gabriele Khan‐Svik, Paul Mecheril, Annette Sprung, Erol Yildiz (Hg.):
Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft. Ausgewählte Beiträge einer Tagung an der Universität Graz, 5. und 6. Mai 2011
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Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft
Ausgewählte Beiträge einer Tagung an der Universität Graz, 5. und 6. Mai 2011
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Gabriele Khan‐Svik, Paul Mecheril, Annette Sprung, Erol Yildiz (Hg.):
Bildungsforschung (in) der Migrationsgesellschaft Ausgewählte Beiträge einer Tagung an der Universität Graz, 5. und 6. Mai 2011
Impressum: Hg. von Univ.‐Doz. Mag. Dr. Gabriele Khan‐Svik (Pädagogische Hochschule Kärnten) Univ.‐Prof. Dr. Paul Mecheril (Universität Oldenburg) Univ.‐Prof. Mag. Dr. Annette Sprung (Universität Innsbruck) Univ.‐Prof. Dr. Erol Yildiz (Universität Klagenfurt) Erscheinungsort: Innsbruck 2012 ISBN 978‐3‐200‐02727‐5
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Inhalt
1. Einleitung 4
2. Nachlese 6
Unbegleitete Minderjährige und deren Bildungssituation in Österreich 7 Daniela Blecha
Heterogenität ist nun auch in Schulen „in“!? Inklusion im Widerspruch zu neoliberaler Gouvernementalität 21
Cornelia Dinsleder
Schulabbruch als soziales Problem: Ursachen, Auswirkungen, Prä‐ und Intervention 32
Erna Nairz‐Wirth und Elisabeth Wendebourg
„Brauche ich das für den Alltag?“ – DaZ in der Erwachsenen‐bildung am Beispiel berufsspezifischer DaZ‐Kurse 47
Boris Printschitz
„TORTILLA‐CURTAIN UND STEAK‐HOLDER“. Migration und Integration aus einer Perspektive der Sozialpädagogik 57
Reinhold Stipsits
Diversität und Interkulturalität in österreichischen Alten‐ und Pflegehäusern Bildungsperspektiven einer kultursensiblen Altenpflege 66
Daniela Wagner
3.1 Tagungsprogramm 77
3.2 Kurzberichte zur Tagung 78
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1. Einleitung
Die gesellschaftliche, institutionelle und soziale Realität Österreichs wird grundlegend (auch) von Migrationsphänomenen hervorgebracht. Österreich ist eine Migrationsgesellschaft, die diachron wie synchron von einer Vielzahl mit der Bewegung von Menschen und ihren Lebensweisen im transnationalen Raum verbundenen Phänomenen geprägt ist. Gleichwohl Österreich als „eigentümliche Migrationsgesellschaft“ bezeichnet werden kann, tut sich der vorherrschende öffentliche Diskurs doch nach wie vor schwer, der Migrationstatsache jenseits von ideologisch‐normativer Kommentierung sachbezogen und nachhaltig konzeptionell zu begegnen. Diese von alltäglicher Migrationsrealität absehende, sie zuweilen ignorierende politische und mediale Praxis findet in gewisser Wiese auch eine Entsprechung in der wissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Thema Migration. Dies gilt für die bildungs‐ und erziehungswissenschaftliche Forschung in besonderer Weise, da sich diese in Österreich eher zufällig und punktuell, nicht selten außerhalb universitärer Kontexte entwickelt hat. Erst in jüngerer Zeit ist eine Veränderung zu beobachten. Eine soziale und infrastrukturelle Ausdifferenzierung und Konsolidierung der Forschungslandschaft zu Migration und Bildung in Österreich hat eingesetzt.
Ein Blick auf die Geschichte der österreichischen Migrationsforschung zeigt, dass diese sich viel später etablierte als zum Beispiel in Deutschland oder in der Schweiz. Elisabeth Jaksche konstatierte noch 1998 einen eklatanten Mangel an Forschung, ebenso wie Bernhard Perchinig darauf verwies, dass „migration research stays at the margin of academia“ (Perchinig 2005, S. 12, vgl. auch Bauböck u. Perchinig 2004). Die von Perchinig 2005 diagnostizierte Konzentration der wissenschaftlichen Auseinandersetzung auf wenige Personen konnte im Rahmen der Studie Fassmanns, die sich zur Aufgabe gemacht hatte zu erheben, wer in Österreich Migrationsforschung betreibt, relativiert werden: Es wurden ca. 200 Wissenschafter/innen im Rahmen dieser Studie befragt; neben den Forscher/innen, die bereits seit den 1980er Jahren immer wieder Themen in diesem Bereich bearbeiten, hat sich eine Gruppe von jüngeren Personen etabliert (Fassmann 2009, S. 31).
Die österreichische Migrationsforschung agiert in einem Feld unterschiedlicher wissenschaftlicher Disziplinen und bleibt aufgrund dessen in jeder dieser Disziplinen nur eine Randerscheinung. Die dafür notwendigen Kooperations‐ und Kommunikationsstrukturen fehlen bis dato: So schätzten die befragten WissenschaftlerInnen, dass „[d]ie schwache Institutionalisierung (…) auch am Verhältnis von bereits länger in der Migrationsforschung tätigen ForscherInnen und JungforscherInnen ablesbar (sei). Es gebe zahlreiche junge ForscherInnen, allerdings schlechte Karrierechancen, insbesondere für mittlere Jahrgänge, und generell eine geringe Verweildauer der beschäftigten Personen innerhalb der Migrationsforschung.“ (Fassmann 2009, S. 27) Des Weiteren meinten die Befragten, dass es zwar personelle Netzwerke gebe, es aber durch die institutionelle Mehrgleisigkeit zu
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Parallelentwicklungen, mangelnde Transparenz und unklaren Informationsflüssen käme, worunter besonders die Newcomer in diesem Metier zu leiden hätten.
Ein erster Schritt der Vernetzung wurde von der Kommission für Migrations‐ und Integrationsforschung im Herbst 2010 mit der 1. Jahrestagung zur „Migrations‐ und Integrationsforschung in Österreich“ angeregt. Diese bewusst ohne inhaltliche Ausrichtung organisierte Tagung hatte zum Ziel, jede/n, die/der sich in diesem Feld bewegt, anzusprechen und zum Austausch einzuladen. Man wird abzuwarten haben, wie sich dieses Netzwerk entwickelt, welche Impulse das Netzwerk für die Weiterentwicklung der Migrationsforschung in Österreich setzen wird und welche normierenden Effekte mit ihm einhergehen werden.
Im Mai 2011 fand eine Tagung an der Universität Graz statt, die sich explizit auf historische und systematische Fragen der Entwicklung, Gegenwart und Zukunft der Bildungsforschung in der Österreichischen Migrationsgesellschaft bezog. Die Tagung konnte zeigen, dass die österreichische Bildungsforschung im Themenbereich ‚Migrationsgesellschaft’ lebt, zwar noch einen kleinen Bereich umfasst und diverse Themen bearbeitet, aber auf dem Weg ist sich zu konsolidieren.
Der hier vorgelegte schmale Band versteht sich als Nachlese einiger Beiträge aus dem Spektrum dieser Tagung. Im Anhang finden sich ein Programm sowie Kurzberichte über die Tagungsinhalte.
Literatur
Bauböck, Rainer u. Perchinig, Bernhard (Hg., 2004): Migrations‐ und Integrationsforschung in Österreich – Ansätze, Schnittstellen, Kooperationen. KMI Working Paper Series, Nr. 1. Wien: Kommission für Migrations‐ und Integrationsforschung.
Fassmann, Heinz (2009): Migrations‐ und Integrationsforschung in Österreich: Institutionelle Verankerungen, Fragestellungen und Finanzierungen. KMI Working Paper Series, Nr. 15. Wien: Kommission für Migrations‐ und Integrationsforschung.
Jaksche, Elisabeth (1998): Pädagogische Reflexe auf die multikulturelle Gesellschaft in Österreich. Innsbruck, Wien: Studienverlag.
Perchinig, Bernhard (2005): Migration Studies in Austria – Research at the Margins? KMI Working Paper Series, Nr. 4. Wien: Kommission für Migrations‐ und Integrationsforschung.
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2. Nachlese
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Unbegleitete Minderjährige und deren Bildungssituation in Österreich
DANIELA BLECHA
Abstract
Die zentrale Rolle, die Bildung für die Zukunft von Jugendlichen und jungen Erwachsenen spielt, ist unangefochten. Gleichzeitig steht außer Zweifel, dass ein Ausschluss von Bildung gravierende Folgen für junge Menschen haben kann. Im Rahmen vieler Untersuchungen, etwa der PISA‐Studien als eine der populärsten unter ihnen, wird die Effizienz verschiedener Schulsysteme regelmäßig evaluiert. Was aber oft unberücksichtigt bleibt, ist die Bildungssituation von Personengruppen, für welche das öffentliche Bildungssystem nur wenig passende Möglichkeiten bereithält – etwa jene von unbegleiteten Minderjährigen. Diese verbringen getrennt von ihrer Familie und fernab ihres Herkunftslandes eine entscheidende Zeitspanne in Österreich, welche für den weiteren Lebensweg im Sinne einer beruflichen Weichenstellung, aber auch im Sinne einer allgemeinen Selbsterhaltung und Selbstentfaltung richtungsweisend ist (vgl. z.B. Weiss/Enderlein/Rieker 2001, 107). Ihre Bildungssituation in Österreich ist ein von zahlreichen Herausforderungen geprägtes und gleichzeitig sehr wichtiges und aktuelles Thema, das einen Beitrag für Diskussionen zur Bildungsforschung in der Migrationsgesellschaft leisten kann. Zu diesem Zweck stellt dieser Beitrag relevante Ergebnisse eines neben neun weiteren Staaten auch in Österreich implementierten EU‐Projekts zur Lebenssituation
unbegleiteter Minderjähriger vor1.
CAUAM – Coordinated Approach to Best Assist Unaccompanied Asylum Seeking Minors
Das Projekt ‚Best Practices for a Coordinated Approach to Assist Unaccompanied Minor Asylum‐Seekers and Former Unaccompanied Minor Asylum‐Seekers in EU Member States’ wurde von Juli 2010 bis Dezember 2011 im Auftrag der Europäischen Kommission unter Leitung der Internationalen
1 Auf fortwährende Zitierung ebendieser Studie wird im Folgenden verzichtet. Alle Ergebnisse, die nicht anders ausgewiesen sind, entstammen dem Bericht „Best Practices for a Coordinated Approach to assist Unaccompanied Minors Asylum‐Seekers and Former Unaccompanied Minors Asylum‐Seekers in European Union Member States. National Report Austria“, verfasst von MMag.ª Daniela Blecha, Projektkoordinatorin und vormals wissenschaftliche Mitarbeiterin der IOM Wien. Er ist seit März 2012 auf der Homepage der IOM Wien (http://www.iomvienna.at/index.php?option=com_content&view= category&layout=blog&id=160&Itemid=204&lang=de) veröffentlicht.
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Organisation für Migration (IOM)2 in zehn EU Mitgliedsstaaten – Belgien, Frankreich, Großbritannien,
Italien, Niederlande, Österreich, Slowakei, Slowenien, Tschechien und Ungarn – implementiert.
Ziel des Projektes war es, die Situation von unbegleiteten asylsuchenden Minderjährigen und
ehemaligen unbegleiteten asylsuchenden Minderjährigen3 hinsichtlich einer Vielzahl von Aspekten
wie Asylverfahren, Obsorge, Unterbringung, (Zugang zu) Bildung, (Zugang zu) Arbeit, Freizeit etc. zu erheben. Im Vordergrund stand die Eruierung der Bedürfnisse dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen in Bezug auf ihre Integration im betreffenden EU‐Land sowie die Sammlung von sogenannten ‚good practices‘, die sich im jeweiligen Rahmen erprobt haben und für eine Replizierung in anderen Kontexten geeignet sind. Dies soll in letzter Konsequenz auch den Wissens‐ und Erfahrungsaustausch zwischen alten und neuen EU‐Mitgliedsstaaten hinsichtlich der Versorgung
von unbegleiteten Minderjährigen4 in Europa anregen.
Um die entsprechenden Informationen zu erheben, wurde in allen an der Studie teilnehmenden EU‐Staaten Primär‐ und Sekundärforschung durchgeführt. Die Ergebnisse dieses mehrmonatigen Forschungsprozesses sind in Länderberichten dargestellt. Ein Anfang Dezember 2011 im Rahmen einer internationalen Konferenz in Budapest unter Anwesenheit von Expert/innen aus verschiedenen EU‐Ländern präsentierter Synthesebericht stellt diese Resultate gegenüber und verweist auf Praktiken aus Bereichen wie Grundversorgung von Asylwerber/innen oder Integration und Unterbringung von unbegleiteten Minderjährigen, die besonders gut funktionieren und das Wohlbefinden dieser jungen Menschen bestmöglich fördern.
Bildung sowie Zugang zur selben sind Themen, die das Leben von unbegleiteten Minderjährigen in starkem Ausmaß prägen und in den erwähnten Berichten beleuchtet werden.
Begriffsklärung
Unbegleitete Minderjährige sind in der Regel Drittstaatsangehörige, welche sich nicht in der Obsorge
ihrer Eltern bzw. anderer Personen, die mit der Erziehung Ersterer beauftragt sind, befinden5.
Auf internationaler Ebene bietet der UNHCR (1997) sowie das UN Committee on the Rights of the Child (2005) eine Begriffsklärung, die sehr häufig zitiert wird. Sie definiert eine/n unbegleitete/n Minderjährige/n als „a person under the age of eighteen, unless, under the law applicable to the child, majority is, attained earlier and who is separated from both parents and is not being cared for by an adult who by law or custom has responsibility to do so”. (UNHCR, 1997:1)
2 Für weitere Informationen die Internationale Organisation für Migration betreffend sei auf die internationale Homepage www.iom.int sowie auf die Homepage des IOM Länderbüros in Österreich www.iomvienna.at verwiesen. 3 Eingeschlossen waren ehemalige unbegleitete asylsuchende Minderjährige, d.h. Personen, die minderjährig und unbegleitet nach Europa gekommen sind und um Asyl angesucht haben, mittlerweile aber die Volljährigkeit erreicht bzw. einen finalen Bescheid im Asylverfahren erhalten haben und deshalb nicht mehr unter die eigentliche Definition eines/einer unbegleiteten asylsuchenden Minderjährigen fallen. 4 Aus Gründen der Leserlichkeit des Textes werden unter den Begriff ‚unbegleitete Minderjährige’ nachstehend auch die Gruppen der ‚ehemaligen unbegleiteten Minderjährigen’ subsummiert. 5 Für weitere Informationen eine Begriffsklärung betreffend sei auf das Glossar des Europäischen Migrationsnetzwerkes, verfügbar unter http://www.emn.at/images/stories/EMN_GLOSSARY_January_2010.pdf, verwiesen.
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Im europäischen Kontext sind unbegleitete Minderjährige
Staatsangehörige von Drittländern oder Staatenlose unter 18 Jahren, die ohne Begleitung eines gesetzlich oder nach den Gepflogenheiten für sie verantwortlichen Erwachsenen in das Gebiet der Mitgliedstaaten einreisen, solange sie sich nicht tatsächlich in der Obhut einer solchen Person befinden, oder Minderjährige, die ohne Begleitung zurückgelassen werden, nachdem sie in das Hoheitsgebiet des Mitgliedstaates eingereist sind. (Richtlinie 2001/55/EG)
In Österreich definiert das Niederlassungs‐ und Aufenthaltsgesetz (§ 2 Abs. 1(17)) eine/n unbegleitete/n Minderjährige/n als „ein[en] minderjährige[n] Fremde[n], der sich nicht in Begleitung eines für ihn gesetzlich verantwortlichen Volljährigen befindet“. Die Studie, die hiernach vorgestellt wird, orientiert sich an ebendieser Definition und versteht unbegleitete Minderjährige als ausländische Minderjährige, die nicht von einer erwachsenen Person, die für deren rechtliche Vertretung zuständig ist, begleitet werden und welche um Asyl in Österreich angesucht haben.
Statistiken zu unbegleiteten Minderjährigen in Österreich
In den letzten sechs Jahren war ein regelmäßiger Anstieg der Zahl der Asylanträge unbegleiteter Minderjähriger in Österreich festzustellen. Waren es im Jahr 2006 488 Personen, die als unbegleitete Minderjährige in Österreich um Asyl ansuchten, reichten im Jahr 2011 1.346 unbegleitete Minderjährige – mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2005 – einen Asylantrag in Österreich ein.
Asylanträge von unbegleiteten Minderjährigen in Österreich 2005-2011
881
488582
874
1.185
934
1.346
0
200
400
600
800
1000
1200
1400
1600
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011
Jahr
Anz
ahl u
nbeg
leite
te
Min
derjä
hrig
e
Diagramm 1 Quelle: Asylstatistiken Österreichisches Bundesministerium für Inneres (BM.I)
Die Mehrheit dieser Personen – 79,1% – war zum Zeitpunkt der Asylantragsstellung zwischen 14 und 18 Jahre alt. 6,1% aller Asylanträge gingen von unbegleiteten Minderjährigen ein, die unter 14 Jahre
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alt waren. Im Zuge von Altersfeststellungen6, die von Behörden zur Klärung der Übereinstimmung
zwischen proklamiertem und tatsächlichem Alter angeordnet werden, wurden 14,8% aller Antragssteller/innen für volljährig erklärt und somit nicht länger als unbegleitete/r Minderjährige/r geführt.
Alter der unbegleiteten minderjährigen Asylantragsteller/innen 2005‐2011
81 53 50 64 43 34 57
709
361466
706
1.019
653
1.064
91
7466
104
123
247
225
0
200
400
600
800
1000
1200
1400
1600
2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011
Jahr
Anzahl unb
egleitete Minde
rjährige
Volljährigkeitfestgestellt<18
<14
Diagramm 2 Quelle: Asylstatistiken Österreichisches Bundesministerium für Inneres (BM.I)
Die wichtigsten Herkunftsländer von unbegleiteten Minderjährigen, die zwischen 2005 und 2011 um Asyl in Österreich ansuchten, waren Afghanistan, Nigeria, Moldau, die Russische Föderation, Gambia, Indien, Algerien, Somalia, Serbien und die Mongolei. Die numerische Bedeutung dieser Staaten schwankte innerhalb des genannten Zeitraums. So stieg etwa die Anzahl der in Österreich um Asyl ansuchenden unbegleiteten Minderjährigen aus Afghanistan zwischen 2007 (100 asylsuchende unbegleitete Minderjährige) und 2009 (431 asylsuchende unbegleitete Minderjährige) besonders stark an, während Indien seit 2005 (64 asylsuchende unbegleitete Minderjährige; 2010 im Vergleich: 15 asylsuchende unbegleitete Minderjährige in Österreich) als Herkunftsland von unbegleiteten Minderjährigen stetig an Bedeutung verlor. Somalia war besonders von 2007 bis 2009 ein wichtiges Herkunftsland von unbegleiteten Minderjährigen.
6 Für weitere Informationen zur Altersfeststellung sowie einer kritischen Betrachtung ebendieser sei auf Fronek (2010) verwiesen.
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Herkunftsländer unbegleiterer Minderjähriger in Österreich 2005‐2010
2103; 33%1964; 31%
160; 3%
160; 3%342; 5%
408; 6%
199; 3% 232; 4%
352; 6%
127; 2%122; 2%
121; 2%
Afghanistan
Nigeria
Moldau
Russische Föderation
Somalia
Algerien
Serbien
Indien
Mongolei
Gambia
Marokko
Sonstige
Diagramm 3 Quelle: Asylstatistiken Österreichisches Bundesministerium für Inneres (BM.I)
Methodologie des Projekts
Die hier vorgestellte Studie basiert einerseits auf den Ergebnissen einer Literaturrecherche. Aktuelle Publikationen zur Situation unbegleiteter Minderjähriger in Österreich und Europa wie „Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Österreich“ (Fronek 2010), „Separated asylum‐seeking children in European Union Member States“ (European Union Fundamental Rights Agency 2010) und „Policies on Reception, Return, Integration Arrangements for, and Numbers of, Unaccompanied Minors in Austria“ (Europäisches Migrationsnetzwerk 2009) wurden als Grundlage für die Erstellung des
Berichts7 herangezogen. Andererseits präsentiert sie Ergebnisse semistrukturierter Interviews.
Zwischen Jänner und März 2011 wurden 13 Expert/innen aus verschiedenen Bereichen, die die Lebenssituation von unbegleiteten Minderjährigen in Österreich maßgeblich beeinflussen, für ein ausführliches Gespräch gewonnen. Unter ihnen befanden sich Personen aus zivilgesellschaftlichen Organisationen wie auch Stakeholder aus staatlichen Institutionen. Die verwendeten Interviewleitfäden entstammten einer inhaltlich umfangreichen Vorlage, welche für die Durchführung der Forschung in allen am Projekt beteiligten Ländern entwickelt wurde.
Darüber hinaus wurden unbegleitete Minderjährige, die in Österreich um Asyl angesucht haben, in den Forschungsprozess eingebunden. Parallel zu den Interviews mit Expert/innen erklärten sich 23 unbegleitete Minderjährige zu einer Teilnahme an dem Forschungsprojekt bereit . Diese waren zwischen 14 und 17 bzw. 18 und 20 Jahre alt und kamen aus Afghanistan, Somalia, Eritrea, Gambia, 7 Der im März 2012 auf der Homepage von IOM Wien veröffentlichte österreichische Länderbericht ist nicht als akademische Studie zu verstehen. Vielmehr leistet er einen Überblick über aktuelle rechtliche, politische und soziale Gegebenheiten und präsentiert Expert/innenmeinungen sowie die Stimmen von unbegleiteten Minderjährigen und jungen Erwachsenen selbst.
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der Russischen Föderation und der Mongolei. Zwei Drittel der Interviewpartner/innen waren männlich.
Der Zugang zu den unbegleiteten Minderjährigen erfolgte über eine Kontaktaufnahme zu Betreuungseinrichtungen, in welchen die Jugendlichen und jungen Erwachsenen untergebracht sind. Darüber hinaus wurden Interviewpartner/innen über eine Wiener Bildungseinrichtung, die u.a. Hauptschulabschlusskurse für unbegleitete Minderjährige anbietet, erreicht. In allen Fällen stellten die zuständigen Betreuungspersonen bzw. Sozialarbeiter/innen und Lehrer/innen den Jugendlichen das Projekt vor und vermittelten anschließend interessierte Personen an IOM.
Alle Gespräche mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen wurden persönlich und meistens in Form eines Zweier‐Gesprächs durchgeführt. Die überwiegende Mehrheit aller Interviews fand auf Deutsch oder Englisch statt. Eine Übersetzung war aufgrund der guten Deutsch‐ bzw. Englischkenntnisse der betreffenden Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen nicht vonnöten. Nur bei vier Gesprächen wurde ein Dolmetscher hinzugezogen.
Auch die Interviewleitfäden für die unbegleiteten Minderjährigen deckten zentrale Themen wie etwa Asylverfahren, Obsorge, Unterbringung, (Zugang zu) Bildung und Arbeitsmarkt, Integration und Freizeit ab.
Um die Gespräche mit den Jugendlichen und jungen Erwachsenen aufzulockern, wurden spezielle methodologische Vorkehrungen getroffen. Diese beinhalteten etwa die Verwendung bunter Karten, welche die Begriffe, die im Zentrum der Forschung standen (z.B. Asylverfahren, Unterkunft, Bildung, Zukunftspläne, Freizeit oder Arbeit) bildlich veranschaulichten. Die Karten wurden herangezogen, um den Jugendlichen und jungen Erwachsenen zu erklären, welche Themen im Gespräch behandelt werden. Darüber hinaus gab es den Projektteilnehmer/innen die Möglichkeit, durch die Auswahl bzw. Nichtbeachtung einzelner Karten die Inhalte des Gesprächs aktiv zu bestimmen.
Eine der zentralen Herausforderungen in der qualitativen Forschung bzw. Interviewführung mit unbegleiteten Minderjährigen ist deren potentielle Ähnlichkeit zu der von den Betroffenen meist als sehr negativ erlebten Befragungssituation im Rahmen des Asylverfahrens. Zusätzlich zur Verwendung jugendfreundlicher Methoden und einer sanften Interviewführung war deshalb auch die Stellungnahme, dass eine Teilnahme am Projekt weder den Verlauf noch das Ergebnis des Ansuchens um Asyl beeinflussen wird, sehr wichtig.
Bildungssituation – Unbegleitete Minderjährige
Zugang zu Bildung für unbegleitete Minderjährige
Schulpflicht besteht in Österreich für alle Kinder zwischen dem 6. und dem 15. Lebensjahr – unbegleitete Minderjährige eingeschlossen (Schulpflichtgesetz, 1985). Die Mehrheit der unbegleiteten Minderjährigen ist bei ihrer Ankunft in Österreich aber bereits über 15 Jahre alt, wodurch diese Regelung gegenstandslos wird. Als Alternative besteht die Möglichkeit, eine höherbildende Schule zu besuchen oder einen zweiten Bildungsweg, welcher den Erwerb eines
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Schulabschlusses nach Ausstieg aus der Regelschule vorsieht, einzuschlagen. Die Interviews mit Expert/innen einerseits und unbegleiteten Minderjährigen andererseits zeigten jedoch auf, dass auch diese Alternativangebote unbegleiteten Minderjährigen in Österreich nur teilweise offenstehen. Ein
Experte, der seit Jahren als Sozialarbeiter mit unbegleiteten Minderjährigen8 arbeitet, sagte etwa:
Am zweiten Bildungsweg […] ist es ganz gut möglich. Wenn jemand nicht mehr schulpflichtig ist und eine Basisbildungsmaßnahme braucht, einen Hauptschulabschluss. Das geht. Auf diesen, sag ich jetzt mal, niedrigen Bildungslevel von Basisbildung, Alphabetisierung, Hauptschulabschluss, Deutschlehrgang da gibt es viele Möglichkeiten grad für Jugendliche. Wo es schwierig wird ist, wenn es weitergeht, also nach dem Hauptschulabschluss […].
Während also der Besuch von Weiterbildungsmaßnahmen im Zweiten Bildungsweg als leicht beschrieben wurde, scheint die Integration unbegleiteter Minderjähriger in eine höherbildende österreichische Schule deutlich schwieriger zu sein. Der Sozialarbeiter resümierte:
Leicht ist die Basisbildung und die Alphabetisierung bis zum Hauptschulabschluss, sofern es einen Platz im Lehrgang gibt. Alles darüber hinaus wird sehr schwierig und ist nicht zugeschnitten auf die Zielgruppe.
Die unbegleiteten Minderjährigen, die im Zuge dieser Studie interviewt wurden, bestätigen diese Aussage. Die Mehrheit von ihnen besuchte zum Zeitpunkt des Interviews einen im Rahmen des Zweiten Bildungsweges angebotenen Kurs, meistens den Hauptschulabschlusskurs. Nur zwei befragte Mädchen gaben an, in eine höherbildende Schule – in eine HBLA bzw. ein Gymnasium – zu gehen. Einige Jugendliche und junge Erwachsene berichteten, in gar keine Bildungsmaßnahme eingebunden zu sein.
Die Gründe für diese Einschränkungen sind vielfältig. Als Kernursache wurde von verschiedenen Expert/innen die Anforderungen des österreichischen Bildungswesens genannt. Diese, so die befragten Fachmänner und –frauen, stünden im Widerspruch zu den Bildungshintergründen und den Deutschkenntnissen sowie des Alters der meisten dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Eine systematische Erhebung von Daten hinsichtlich der Bildungshintergründe von unbegleiteten Minderjährigen fehlt bzw. wird von den Behörden im Rahmen der Interviews im Asylverfahren lediglich für die Beurteilung der Glaubwürdigkeit des/der befragten Jugendlichen herangezogen (vgl. Fronek 2010: 148). Die Interviewpartner/innen, die in täglichem Kontakt mit unbegleiteten Minderjährigen stehen, teilten aber die Einschätzung, dass die Ausbildung dieser Jugendlichen und jungen Erwachsenen – vielfach aus Krisenregionen mit beeinträchtigtem Schulsystem kommend – in den meisten Fällen weniger umfangreich war als jene ihrer gleichaltrigen österreichischen ‚Peers‘. Dies wurde auch bei jungen Flüchtlingen in Deutschland beobachtet (Weiss/Enderlein/Rieker 2001, 113). Der Anspruch, diesen ‚Rückstand‘ innerhalb von kürzester Zeit aufzuholen, um anschließend jene Leistungen erbringen zu können, die im österreichischen Regelschulsystem gefordert werden, wurde von einer Expertin als unrealistisch bezeichnet:
8 Aus Gründen der Anonymität werden Name (und Institution) der befragten Personen nicht offengelegt.
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Sie kommen aus unterschiedlichen Bildungshintergründen. Es gibt einige, die nie in der Schule waren und die Deutschkurse machen, dann Vorbereitungskurse machen und dann Hauptschulabschluss. Also vielleicht zwei Jahre beschult werden und dann auf einem Level eines österreichischen Jugendlichen sein sollen, der acht Jahre in der Schule war. Das geht nicht.
Obwohl es erlaubt ist, älteren Schüler/innen, deren Bildungsstand nicht mit den entsprechenden altersbezogenen Anforderungen übereinstimmt, Plätze in vergleichsweise niedrigen Schulklassen anzubieten, geschieht dies in der Praxis nur äußerst selten. Die National Coalition für die Umsetzung der UN Kinderrechtskonvention in Österreich (2004: 27) berichtet, dass die Integration von unbegleiteten Minderjährigen in reguläre höherbildende Schulen kompliziert sein und von der jeweiligen Institution als Belastung empfunden werden kann. Auch für die Schüler/innen selbst – sowohl für die unbegleiteten Minderjährigen, als auch für die österreichischen Klassenkamerad/innen – kann es äußerst frustrierend sein, mit Personen, deren Alter vom eigenen abweicht, in dieselbe Klasse zu gehen. Als Resultat ist es in der Praxis daher üblich, nur Schüler/innen, die maximal zwei Jahre über (bzw. unter) dem Altersdurchschnitt der Klasse liegen, zur jeweiligen Schulstufe zuzulassen, wie ein Sozialarbeiter berichtet:
Praktisch ist es so, dass die Schulen auch jemanden, der 25 ist in eine erste Klasse Gymnasium lassen könnten. In der Realität ist es so, dass sie maximal jemanden aufnehmen, der zwei Jahre über dem Klassenschnitt ist, d.h. wenn die erste Klasse Gymnasium mit 14 beginnt, dann nehmen sie maximal jemanden auf, der 16 ist. Wir haben schon mal ein paar Ausnahmen durchgekämpft [und] mit viel Bitten die Direktoren dazu überredet in [einer] höheren Lehranstalt für wirtschaftliche und Tourismusberufe. Da haben wir zwei oder drei Leute untergebracht, die aber gescheitert sind, weil sie es nicht ausgehalten haben mit 14‐jährigen in der Klasse.
Diese Erfahrung hat eine der interviewten Jugendlichen persönlich gemacht, die zwar die Aufnahmeprüfung eines Gymnasiums positiv absolviert hat, aber befürchtet, aufgrund ihres Alters nicht aufgenommen zu werden: „Ich habe die Prüfung geschafft und könnte ins Gymnasium gehen. Aber ich glaube sie werden mich nicht nehmen, weil ich zu alt bin.“
Finanzielle Mittel zur (Aus)bildung von unbegleiteten Minderjährigen
Ein Mangel an finanziellen Mitteln zur bildungsbezogenen Unterstützung unbegleiteter Minderjähriger wird in der Literatur (vgl. z.B. Fronek 2010: 150) sowie von Interviewpartner/innen als weiteres Hindernis zur erfolgreichen Integration in das österreichische Schulsystem genannt. In Übereinstimmung mit der Grundversorgungsvereinbarung (Art. 9 Abs. 11) werden pro Schuljahr unbegleiteten Minderjährigen EUR 200.‐ für den Ankauf von Schulmaterial zur Verfügung gestellt. Es gibt allerdings keine Gelder, die die Teilnahme unbegleiteter Minderjähriger an außerschulischen Veranstaltungen und Klassenausflügen sicherstellen oder Förderunterricht, der zur individuellen Unterstützung sehr wichtig wäre, ermöglichen. Auch der Besuch von privaten Schulen, wo spezifische Bedürfnisse einzelner Schüler/innen oft besser berücksichtigt werden können, ist im Normalfall zu teuer. Ein junger Erwachsener berichtete Folgendes:
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Ich habe den Hauptschulabschluss gemacht und warte, ob ich in die [private] Tourismusschule gehen kann. Sie haben mich aufgenommen, aber ich müsste das Geld zahlen. Wenn ich das bezahlen kann, dann hab ich den Platz sicher. Wenn nicht, dann nicht. […] Ich glaube nicht, dass ich in die Tourismusschule komme, weil ich nicht glaube, dass [jemand] dafür aufkommt.
Integration unbegleiteter Minderjähriger durch Bildung
Der teilweise Ausschluss von unbegleiteten Minderjährigen vom österreichischen Regelschulsystem ist auch insofern problematisch, weil deren Integration in Österreich erschwert wird. Wie etwa Spiel und Strohmeier (2011, 151) festhalten, bieten interkulturelle Freundschaften im schulischen Kontext eine wichtige Möglichkeit zur Reduktion von Vorurteilen und unterstützen darüber hinaus einen Prozess der Akkulturation. Die Bildungsstätte als einer der wenigen Orte, wo Raum für kulturellen Austausch zwischen jungen Asylwerber/innen und österreichischen Gleichaltrigen besteht, kann so ihrer wichtigen Funktion nur in wenigen Fällen nachkommen. Die meisten unbegleiteten Minderjährigen wünschen sich aber, Österreicher/innen kennenzulernen und so auch ihre Deutschkenntnisse zu verbessern. Ein afghanischer Jugendlicher, dem eine entsprechende Erfahrung zuteil wurde, zeigte sich vom gemeinsamen Schulbesuch mit österreichischen Jugendlichen begeistert:
Es war gut mit so vielen Österreichern in einer Klasse zu sein. Für mich ist das sehr wichtig gewesen wegen der Sprache und der Kultur. Der größte Vorteil ist, dass man die Sprache lernen kann. Wenn ich nur mit Afghanen in einer Klasse wäre müsste ich nur Dari sprechen.
Konzentrationsschwächen und Lernschwierigkeiten
Herausforderungen, denen unbegleitete Minderjährige beim Versuch, eine schulische (Aus)bildung in Österreich zu erhalten, begegnen, führen sich größtenteils auch fort, wenn der Zugang zu einer Bildungseinrichtung sichergestellt wurde. Fronek (2010: 147) verweist auf Konzentrationsschwächen auf Seiten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen, die oftmals durch traumatische Erfahrungen im Heimatland oder während der Flucht, beispielsweise die Trennung von Eltern und Freund/innen oder das Erleben von Krieg und Bedrohung, begründet werden können. Aber auch die unsichere Situation in Österreich belastet viele unbegleitete Minderjährige zusätzlich. Nicht zu wissen, ob dem Ansuchen nach Asyl stattgegeben werden wird, kann sich ebenfalls negativ auf die Leistungsfähigkeit auswirken, wie die befragten Jugendlichen und jungen Erwachsenen berichteten. Ein junger Asylwerber aus Somalia sagte etwa: „It’s killing me. […] I don’t know if I will be allowed to stay here.” Darüber hinaus kann effizientes Lernen – eine Fähigkeit, die weitläufig als selbstverständlich betrachtet und deren Bedeutung leicht übersehen wird –, zum Hindernis werden. Hierzu meint ein im Rahmen der Studie interviewter Sozialarbeiter:
Das klingt relativ banal, weil wir das [effizientes Lernen, Anmerkung der Autorin] alle in irgendeiner Form in unserer Schullaufbahn gelernt haben. Viele unserer Jugendlichen
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haben das nicht gelernt. Es ist ein wichtiger Schritt sich das mit ihnen anzuschauen wie sie lernen und wie sie effektiver oder besser lernen können.
Erreichen der Volljährigkeit
Eine besonders schwierige Zeit in der Schullaufbahn eines/einer unbegleiteten Minderjährigen tritt häufig ein, wenn der/die betreffende Jugendliche die Volljährigkeit erreicht. Auf den 18. Geburtstag folgt in der Regel der Umzug von einer Unterkunft für unbegleitete Minderjährige mit intensiver Betreuung in eine Unterkunft für erwachsene Asylsuchende oder eine Mietwohnung. Dort finden die jungen Erwachsenen oft nicht jene Rahmenbedingungen vor, die sie brauchen würden, um ihre Ausbildung zielstrebig weiterzuverfolgen. Im Konkreten heißt das etwa, dass es an Ruhe und Privatsphäre zur Erledigung der Hausübungen oder zur Vorbereitung auf Prüfungen mangelt. Es kann auch bedeuten, dass wichtige Lernhilfen wie Computer nur in sehr begrenzter Stückzahl vorhanden sind. Außerdem ist die Betreuungsintensität in Einrichtungen für unbegleitete Minderjährige höher als in Einrichtungen für erwachsene Asylwerber/innen, sodass etwaige Zusatzunterstützung beim Umzug in ein Quartier für Erwachsene wegfällt. Fronek (2010: 182‐184) weist weiters darauf hin, dass mit Erreichen der Volljährigkeit nicht nur die Unterkunft, sondern in einigen Fällen auch das Bundesland gewechselt wird. Dies bedeutet, dass es für manche junge Erwachsene aufgrund der nun vorhandenen Distanz zwischen Wohnort und Bildungsstätte unmöglich ist, die ursprüngliche Schule weiterhin zu besuchen.
Bedeutung von Bildung für unbegleitete Minderjährige
Die große Bedeutung einer soliden (Aus)bildung für unbegleitete Minderjährige unterstreichen die Stimmen vieler Interviewpartner/innen. Sowohl Expert/innen als auch befragte Jugendliche und junge Erwachsene selbst empfanden diese für die Vorbereitung auf eine eigenständige Zukunft als unabdinglich. Ein afrikanischer Jugendlicher bekräftigte dies mit den folgenden Worten: „I really want to have a future and study. […] I know that now I have a chance which I never had in my life. This is studying.“ Auch Fronek (2010: 147) berichtet von einer stark ausgeprägten Bildungsmotivation auf Seiten der unbegleiteten Minderjährigen. Während der Wunsch auf eine gute Ausbildung bei vielen jungen Interviewpartner/innen mit dem Wunsch auf Asyl in Österreich verbunden war, sagten Expert/innen, dass der Erwerb von Wissen trotz der unsicheren Situation in Österreich und auch angesichts einer eventuell bevorstehenden Rückkehr ins Heimatland essentiell sei. Die Leiterin einer Institution zur Unterstützung von unbegleiteten Minderjährigen in Bildung, Arbeit und Alltag argumentierte dies folgendermaßen:
Bildung kann man mitnehmen. Auch wenn sie nicht hierbleiben können. […] weil vielleicht [gibt es dann] die Chance in der Heimat oder wo auch immer sie hingehen, dass sie sich dort was aufbauen können. Es [der Ausschluss von unbegleiteten Minderjährigen aus dem österreichischen (Aus)bildungssystem, Anmerkung der Autorin] ist kurzfristig gedacht. Wenn jemand hierbleiben kann, geben wir ihm etwas. Wenn er länger hier ist
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und warten muss, erwirbt er sich meiner Meinung nach, wenn er selber will und dahinter ist, den Anspruch auf Bildung.
Bildung als psychologische Stütze für unbegleitete Minderjährige
(Aus)bildung wird darüber hinaus als sinnvolle Beschäftigung gesehen, aus der Kraft geschöpft werden kann, wie zahlreiche der an der hier vorgestellten Studie teilnehmenden unbegleiteten Minderjährigen in den Gesprächen betonten:
The special thing is when you get up early and go to school. We take the train together. You have a mission. You go to school. Every day you’ve got to do something. You see yourself – you are something, you take a good breath, you see a peace, kind of good people.
Insofern ist der Zugang für unbegleitete Minderjährige zu Bildung in Österreich nicht nur im Sinne der Förderung der Selbsterhaltungsfähigkeit äußerst relevant. Er bietet darüber hinaus eine wertvolle Stütze zur emotionalen Bewältigung einer ungewissen Zukunft. Dies berichten auch Weiss, Enderlein und Rieker (2001, 109), die ebenfalls auf die „Stabilisierungs‐ und Orientierungsfunktion, die die Schule für junge Flüchtlinge haben kann“ verweisen.
Ressourcen für Bildung von unbegleiteten Minderjährigen
Als eine der derzeit wichtigsten Ressourcen für die (Aus)bildung von unbegleiteten Minderjährigen wurden in einer Vielzahl von Interviews – sowohl von Seiten der Expert/innen als auch von Seiten der Jugendlichen und jungen Erwachsenen selbst – die Unterstützung von ehrenamtlich tätigen Personen, die Lernhilfe anbieten, genannt:
I have a very nice private tutor, I got to know her when I made a basic education course. If I have questions, she invites me to come to her place and explains me everything that I don’t understand.
Aktuell wird dies beispielsweise von lobby.169, einer zivilgesellschaftlichen Organisation zur
Förderung der Bildungssituation von jungen Flüchtlingen in Österreich, strukturell durchgeführt. Auch viele Unterbringungseinrichtungen für unbegleitete Minderjährige kooperieren mit Freiwilligen, die sich in Form von Zeit und Wissen für Nachhilfe zur Verfügung stellen.
Conclusio/Ausblick
Die Bildungssituation von unbegleiteten Minderjährigen in Österreich ist von einer Vielzahl von Herausforderungen geprägt. Große Hindernisse, die den Einstieg in das reguläre österreichische Schulsystem äußerst schwierig machen, sind größtenteils in der österreichischen Bildungslandschaft zu verorten. Besonders der Zugang zu höherbildenden Schulen wie Gymnasien, Höhere Technische Lehranstalten, Handelsakademien etc. ist aufgrund einer geringen Übereinstimmung zwischen den
9 Für weitere Informationen zu lobby.16 sei auf folgende Homepage verwiesen: http://www.lobby16.org/.
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lehrplanbezogenen Anforderungen einerseits und den Bildungshintergründen und Deutschkenntnissen sowie dem Alter vieler unbegleiteter Minderjähriger andererseits eingeschränkt. Weitere Faktoren, die die ausbildungsbezogene Laufbahn von unbegleiteten Minderjährigen in Österreich beeinträchtigen, sind ein Mangel an finanziellen Mitteln für bildungsbezogene Materialien und Aktivitäten sowie eine teilweise abrupte Unterbrechung der Ausbildung bei Erreichen der Volljährigkeit und Überstellung in eine Unterbringung für erwachsene Asylwerber/innen. Dass unbegleitete Minderjährige dadurch nicht mit jenen Qualifikationen ausstattet werden, die sie für eine selbstständige Bewältigung der Zukunft benötigen, ist offensichtlich. Darüber hinaus begrenzt es deren Möglichkeiten zur Interaktion mit jungen Österreicher/innen und zur Integration in ‚die österreichische Gesellschaft‘ stark.
Als mögliche Lösungsansätze zur Verbesserung der aktuellen Situation empfahlen zahlreiche der im Rahmen der vorgestellten Studie befragten Interviewpartner/innen strukturelle Veränderungen einerseits und die verstärkte Bereitstellung individueller Unterstützung andererseits. Auf struktureller Ebene wird von den Expert/innen ein Umdenken im Bildungsbereich, gefolgt von der Einrichtung von Schulen, die sowohl den Bildungshintergrund als auch das Alter unbegleiteter Minderjähriger in Österreich ausreichend berücksichtigen, als zielführend betrachtet. Auch die Bereitstellung höherer Gelder sowie die Schaffung eines Angebots von spezifischen (Berufs‐) Qualifizierungen und dem Zugang zu Arbeitsmarkt und Lehrstellen wurde als wertvolle Alternative zur Absolvierung einer ‚klassischen’ Schullaufbahn genannt. Im Sinne individueller Unterstützung verwiesen die befragten Personen auf die Bedeutung von persönlicher Lernbegleitung, etwa in Form von Patenschaften, Bildungspartnerschaften oder Mentor/innen. Auch die Förderung eines offenen und positiven Klassenklimas, wo Fragen und Zweifel der Jugendlichen und jungen Erwachsenen mit Verständnis und Wohlwollen begegnet wird und welches durch das Engagement von Einzelpersonen und ohne den Einsatz großer Ressourcen verwirklicht werden kann, wurde von einem interviewten Sozialarbeiter als wichtiger Lösungsansatz angeführt.
Die Umsetzung dieser Vorschläge und die konsequente Verfolgung des Ziels, unbegleiteten Minderjährigen eine möglichst umfassende Ausbildung anzubieten, stellt einen wichtigen Schritt zur Verwirklichung eines sehr zentralen Wunsches von dieser ohnehin auf vielen Ebenen benachteiligten und teilweise besonders vulnerablen Gruppe von jungen Menschen dar.
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(Recherchedatum 31.07.2012) Daniela Blecha hat an der Universität Wien, der Universität Lund und der Autonomen Universität Barcelona studiert und verfügt über einen Abschluss in Internationaler Entwicklung und Psychologie. Sie arbeitet seit 2008 im Länderbüro der Internationalen Organisation für Migration (IOM) in Wien, wo sie unter anderem für die Koordinierung des hier vorgestellten Projekts zuständig war.
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Heterogenität ist nun auch in Schulen „in“!? Inklusion im Widerspruch zu neoliberaler Gouvernementalität
CORNELIA DINSLEDER
Die Verschiedenheit von Schüler_innen „zu würdigen und als Ausgangspunkt der Gestaltung einer Schule für alle zu erkennen und anzuerkennen, ist eine Herausforderung für die gesellschaftliche Institution Schule“ (Schwohl/Sturm 2010: 17). Schon Johann Friedrich Herbart hat die Nichtbeachtung der „Verschiedenheit der Köpfe“ (in Rutt 1957: 176) als „Grundfehler aller Schulgesetze“ (ebd.) und als „das große Hindernis aller Schulbildung“ (ebd.) beschrieben. Im Zeitalter der Aufklärung kam es unter Maria Theresia 1774 zur Unterzeichnung der Allgemeinen Schulordnung. Eine sechsjährige Unterrichtspflicht in den Volksschulen wurde durchgesetzt. Mit einem gleichschrittig und einheitlich gestalteten Unterricht wurde und wird eine große Anzahl von Schüler_innen beschult. Der Unterricht lässt sich holzschnittartig folgendermaßen beschreiben: „Die gleichen Schüler lösen beim gleichen Lehrer im gleichen Raum zur gleichen Zeit im gleichen Tempo die gleichen Aufgaben mit dem gleichen Ergebnis" (Scholz 2008 zit. n. Schwohl/Sturm 2010: 16). Durch die Adressierung der Schüler_innen als Gleiche und durch homogenisierte Lerninhalte, Lernzeiten und Prüfungsformen sollen alle Heranwachsenden, die gleiche Chance haben, Bildungstitel und Abschlüsse zu erwerben.
Wir leben in Migrationsgesellschaften1. Phänomene der Alterität erfahren eine Umwertung: „Diese werden nicht länger perhorresziert, pathologisiert und normalisierend eingeebnet, sondern anerkannt, ästhetisch konsumiert und/oder als Ressource nutzbar gemacht“ (Bröckling 2007: 135). Bröckling konstatiert, dass Alterität bzw. das Andersartige anerkannt wird. Durch diese Anerkennung von Alterität wird jedoch nicht zwingendermaßen ihre Ausgrenzung im Sozialen vermindert. In der beschriebenen Umwertung von Alterität oder Andersheit erfährt das Andere eine „positive Positionierung“ im Raster einer ökonomischen Verwertbarkeit.
Die Heterogenität von Schüler_innen ‐ die einen Migrationshintergrund haben können, denen unterschiedliche Begabungen zugeschrieben werden, die Lernschwächen und/oder Behinderungen aufweisen können ‐ soll in Schulen in pädagogischer Form Berücksichtigung finden. Heterogenität ist (nun auch in der Schule) „in“? Individuelle Förderung von Schüler_innen mit unterschiedlichen Leistungsniveaus und Bedürfnissen werden durch bildungspolitische Reformen (z.B. durch Integrationslehrer_innen) in ersten Schritten umgesetzt. Die Zahl der Sonderschulen vermindert sich und Schüler_innen werden mit ihren heterogenen Leistungsvoraussetzungen in Regelschulen
1 Mit dem „Wir“ beziehe ich mich auf eine eurozentristische Perspektive, aus der ich überwiegend spreche. Jedoch kann sich beinahe jedes Land und Volk dieser Erde als Migrationsgesellschaft bezeichnen, wobei unterschiedliche Formen der Migration stattfinden. Wir leben weiters in „multiplen Modernen“/Realitäten und die Herausforderungen unserer Zeit lassen sich nicht auf ein „Epochen‐Label“ reduzieren (vgl. Bröckling 2007: 119). Wir leben in einer Migrationsgesellschaft und in einer Risiko‐, Wissens‐ und Multioptionsgesellschaft, um nur einige der „Binde‐Strichgesellschaften“ (ebd.) zu nennen.
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integriert. Schüler_innen sollen auch mehr Selbstständigkeit im Lernen und Problemlösen erreichen, denn sie müssen in Zukunft ihr individuelles Leistungsprofil eigenständig am Arbeitsmarkt positionieren.
In diesem Beitrag steht die Frage im Zentrum, wie strukturelle und inhaltliche Merkmale der Institution Schule zur Exklusion führen, obwohl gesetzliche Regelungen und bildungspolitische Bemühungen zur Förderung von Chancengerechtigkeit und Inklusion vorhanden sind. In diesem Beitrag wird dargestellt, wie Schulen zur Herstellung und Aufrechterhaltung von sozialer Ungleichheit beitragen können (vgl. Wernet 2003; Hadjar 2008; Kupfer 2011, Bourdieu/Passeron 1971), was jedoch im Widerspruch zu einer inklusiven Schule steht. In einem weiteren Schritt wird die Ökonomisierung der Schule und die Diffundierung von neoliberaler Gouvernementalität auf der Organisationsebene (Autonomisierung der Schulen) und darauffolgend auf der Ebene der pädagogischen Hauptakteur_innen, den Lehrer_innen und Schüler_innen thematisiert. Einerseits wird die Beförderung sozialer Ungleichheit und die Beschneidung der Möglichkeiten gesellschaftlicher Teilhabe aufgezeigt. Andererseits wird abschließend das Bild eines unweigerlichen Soges von neoliberalen Vermarktungsprinzipien, die auch die Institution Schule vereinnahmen und soziale Ungleichheit verstärken, relativiert, indem eine Fokusveränderung auf Alltagspraktiken der Akteur_innen vorgeschlagen wird und Handlungsmöglichkeiten und die Widerständigkeit der Subjekte betont werden.
Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit
Durch PISA‐Testungen wurde dem deutschen und österreichischen Schulwesen eine hohe Selektivität (vgl. Schwohl/Sturm 2010: 16) bzw. eine frühe Weichenstellung im Verlauf der Bildungskarriere von Schüler_innen im Übergang von der Primar‐ auf die Sekundarstufe attestiert. Bildungslaufbahnverlierer_innen sind hier überwiegend Schüler und Schülerinnen mit einem benachteiligenden sozioökonomischen Status, wobei hier in verschiedenen Statistiken die Gruppe der Menschen mit Migrationshintergrund einen besonderen Fokus erhält. Die Hürden der Anerkennung von kulturellem Kapital (Schul‐ oder Hochschulabschlüsse, Ausbildungen usw.) in Österreich oder Deutschland von ehemals vor Jahrzehnten oder kürzlich zugewanderten Migrant_innen und damit verbundene Einschränkungen der Erwerbsmöglichkeiten werden in diesem Zusammenhang weniger diskutiert.
Fragen der Chancengerechtigkeit und der Integration bzw. Inklusion von Menschen mit Migrationshintergrund sind vor allem bezogen auf die Leistungsfähigkeit der nationalen Schulsysteme im internationalen Vergleich (vgl. Diskussion der PISA‐Ergebnisse) in den Mittelpunkt gerückt. Der bildungspolitische Auftrag an Schulen und an das Bildungswesen lautet, dass sie zu Integrationsagenturen werden sollen, in denen Heterogenität Raum erhält und worauf mit individueller Förderung reagiert werden soll.
Im österreichischen Schulorganisationsgesetz ist eine „allgemeine Zugänglichkeit der Schulen“ festgelegt, die Zugang „ohne Unterschied der Geburt, des Geschlechtes, der Rasse, des Standes, der Klasse, der Sprache und des Bekenntnisses“ gewähren soll (Österreichisches
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Schulorganisationsgesetz 1962, § 4). Die allgemeine Zugänglichkeit ist jedoch aufgrund unterschiedlicher Kapitalausstattungen der Herkunftsfamilien von Schüler_innen verzerrt.
Fend (2011: 43 ff.) beschreibt vier zentrale Funktionen der Schule: Qualifikation, Selektion oder „eine legitimierbare Allokation von Personen mit bestimmten Aufgaben mit bestimmten Anforderungen“ (ebd., S. 44), kulturelle Reproduktion und Integration, wozu die „die Legitimation von Autorität als auch die Legitimation von Leistungsorientierung“ (ebd., S. 45) gehört. Die Schulen stellen unterschiedliche Qualifikationen bereit, die zum „System der Positionsverteilungen“ (Fend 2011: 43) innerhalb der Sozialstruktur einer Gesellschaft führen, in der nicht alle alles machen können. Bildungsverläufe und Qualifikationsbemühungen, die zu bestimmten Positionen innerhalb der arbeitsteiligen Gesellschaft führen, sind weniger vom Interesse der jeweiligen Schüler_innen abhängig als von ihrem sozioökonomischen Hintergrund.
Die Herstellung und Aufrechterhaltung sozialer Ungleichheit basiert zu einem wesentlichen Teil auf den sich hartnäckig haltenden Mythos einer gerechten Verteilung von Gütern, Ressourcen und „Erfolg“ aufgrund eines meritokratischen Prinzips (meritum = Verdienst, kratein = herrschen). „Das meritokratische Prinzip sozialer Ungleichheit legitimiert Unterschiede in der Ressourcenverteilung bzw. stellt diese als gerecht dar“ (Hadjar 2008: 45). Die gerechte Verteilung von Gütern und Zugängen nach individuellen Leistungen von Menschen erweist sich bei genauerem Betrachten gesellschaftlicher Verhältnisse als Chimäre.
Das Bestreben, dass Menschen ihrer Leistung entsprechend den gerechten Lohn bzw. Verdienst erhalten, kann nicht von einer menschenunabhängigen Machtinstanz geregelt werden. Die Bestimmung des Wertes von menschlichen Leistungen bildet die Krux des meritokratischen Prinzips im Hinblick auf die Erreichung einer gerechten Verteilung von sozialen Positionen und Verdienstmöglichkeiten. Es ist „unklar, wer eigentlich in einer Gesellschaft festlegen kann, was als Begabung und Leistung anerkannt werden soll, und es besteht die Gefahr, dass in einer Meritokratie die ‚Verdienten‘ selbst diese Art von Definitionen vornehmen, um ihre Privilegien zu sichern“ (Kupfer 2011: 161).
Zu den Aufgaben von Lehrer_innen gehören im Wesentlichen die Wissensvermittlung und Leistungsbeurteilung, wobei alle Schüler_innen möglichst gleich zu behandeln und ihre Leistungen objektiv zu bewerten sind. Die „Institutionalisierung eines universalistisch‐unpersönlichen Leistungsmusters“ (Wernet 2003: 97) stellt einen zentralen Aspekt der „Kulturbedeutsamkeit […] der Schule in der modernen Gesellschaft“ (ebd.) dar. Die Legitimation der schichtabhängig ungleichen Verteilung von Bildungsabschlüssen durch ein idealiter gegebenes universalistisch‐unpersönliches Leistungsmuster kann in Analogie zur Legitimation sozialer Ungleichheit durch das meritokratische Prinzip betrachtet werden. Die Leistung von Schüler_innen kann nur subjektiv beurteilt werden bzw. kann die Bewertung von intersubjektiv geteilten Konzepten oder –praktiken geprägt sein, die von bestimmten (machtvollen) Menschengruppen oder politischen Instanzen definiert wird. Schüler_innen werden von Lehrer_innen nicht als Gleiche adressiert, denn es kommt zu systematischen askriptiv‐partikularen Dimensionen in ihrer Bewertung (vgl. Wernet 2003: 98).
Schülerinnen und Schülern aus anderen sozialen Milieus (Anm. d. Verf.: abseits der Mittelschicht) würde der Zugang zur Schule dann nicht erst auf der Ebene des
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Bildungskanons oder offizieller Leistungskriterien und Bewertungsmaßstäbe erschwert, sondern bereits auf der stummen Ebene der Praktiken und des nicht‐expliziten Wissens. Umgekehrt würden jene Schülerinnen und Schüler implizit privilegiert, die sich in der Schule bereits aufgrund ihrer Herkunftshabitus heimisch fühlen und so sicher bewegen wie Fische im Wasser (Alkemeyer 2009, 135).
Die soziale Herkunft der Kinder bzw. der sozio‐ökonomische Status der Eltern ist ein wesentlicher Faktor zur Vorhersage ihres Bildungserfolgs. Beim „Wettrennen“ um institutionalisierte Bildungstitel starten die Kinder aus ganz unterschiedlichen Positionen. Durch die Arbeiten von Bourdieu und Passeron „Illusion der Chancengleichheit“ (1971) wird deutlich, dass schulische Bildung nur in Ausnahmefällen zum Eintritt in höhere soziale Schichten verhilft. Bourdieu hat anhand seiner Kapitaltheorie gezeigt, dass neben institutionalisierten Bildungsabschlüssen das Vorhandensein von kulturellem inkorporierten Kapital (z.B. in Form von milieuspezifischen Habitualisierungen in Bezug auf Lesegewohnheiten, Diskussionskultur usw.), sozialem sowie ökonomischem Kapital ausschlaggebend für sozialen Aufstieg ist (Bourdieu 1997).
Antonia Kupfer (2011) greift in diesem Zusammenhang in ihrer Darstellung von Theorien zur Bildungssoziologie die Debatte von Bildung und sozialer Ungleichheit auf.
Je höher das ökonomische, kulturelle und soziale Kapital einer Person, das entscheidend den Habitus prägt, desto erfolgreicher absolviert sie die Schule und Universität, da es sich um Bildungseinrichtungen handelt, die mit ihrer Beschaffenheit Menschen mit höherem Kapital und einem dazugehörigen Habitus fördern und Menschen mit geringerem Kapital und dazugehörigem Habitus benachteiligen (Kupfer 2011: 83).
Schüler_innen, deren Habitus sich der Mittelschicht zuordnen lässt, entsprechen viel mehr der Norm der homogenisierenden institutionalisierten Schule, als Heranwachsende aus sozial benachteiligten Schichten oder Kinder und Jugendliche, deren inkorporiertes kulturelles Kapital vom „natio‐ethno‐kulturellen Zugehörigkeitsraum“2 (vgl. Mecheril 2003: 18) abweicht. „Die Berufung auf den schulischen Leistungsuniversalismus sei deshalb so perfide, weil das Ererbte darin kontrafaktisch zum Erworbenen deklariert wird. Darin drückt sich der legitimatorische Betrug der Bildungsinstitutionen aus“ (Wernet 2003: 100).
In der „Disziplinarinstitution“ Schule (vgl. Foucault 1976: 269 ff.), wo die Körper und die Bewegungen der Heranwachsenden im Blick der Lehrer_innen sind, um das Produkt ihrer Kräfte zu vermehren (ebd., 216), erhalten Kinder aus sozial benachteiligten Schichten eher Sanktionen als Kinder mit einem Mittelschicht‐Habitus. Lehrer_innen kommen selbst überwiegend aus der Mittelschicht und betrachten ihren eigenen Habitus und Geschmack eher als Norm für die Heranwachsenden. Sie bevorzugen tendenziell jene Schüler_innen, die einen ähnlichen Habitus aufweisen (vgl. Kupfer 2011: 169). Die Mittelschichtorientierung der Schule führt zu einer ständisch‐askriptiven (Re‐)Produktion
2 „Die primären Modi nationalen Einbezugs und nationalen Ausschlusses sind somit nicht allein auf das Moment der formellen Mitgliedschaft und nicht einmal allein auf symbolische Mitgliedschaft überhaupt beschränkt, sondern verwirklichen sich über zugebilligte und kultivierte Handlungsfähigkeit, über kulturelle Vertrautheit sowie über die Ausbildung von biographischen Bezügen zu dem sozialen Zugehörigkeitskontext“ (Mecheril 2003: 18).
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sozialer Ungleichheit im Bildungswesen und demaskiert den als universalistisch geltenden Leistungsmythos (vgl. Wernet 2003: 100).
Gomolla und Radtke (2009) haben die Herstellung von sozialer Ungleichheit auf der Organisationsebene von Schule durch den Begriff der „institutionellen Diskriminierung“ untersucht und dargestellt, dass der Bildungserfolg von Schüler_innen mit Migrationshintergrund durch die Organisation der Schule behindert wird. Kinder werden beim Schuleintritt in möglichst homogene Schulklassen eingeteilt. Weiters findet eine frühe Selektion im Übergang von der Primar‐ zur Sekundarstufe statt, wobei für Schüler_innen mit Migrationshintergrund meist nachteilige Weichensetzungen in der Bildungslaufbahn eingeleitet werden. Die häufigere Zuweisung von Kindern mit Migrationshintergrund zu spezifischen Schularten wie Sonderschulen verringert die Chancen bzw. führt zur Unmöglichkeit, Ausbildungs‐ und Studienplätze zu erhalten (vgl. Kupfer 2011: 169).
Autonomisierung der Schulen und neoliberale Gouvernementalität
Im Zusammenhang mit der Entwicklung einer neoliberalen bildungspolitischen Steuerung steht die Autonomisierung von Schulen und Universitäten sowie der Einzug eines New‐Public‐Management‐Modells, das die früher zentralistisch‐politische Steuerung von Schulen und Universitäten ablöst. Schulen treten mit ihren Schwerpunktsetzungen und Profilierungen in Konkurrenz zueinander und die „Kund_innen“, sprich die Eltern der Schüler_innen, wählen aus dem Angebot aus.
Was derzeit unter den Stichworten “Selbstorganisation” bzw. „lernende Organisation“ zur Schulreform diskutiert wird, trägt auf den ersten Blick zwar das Gesicht der Humanisierung, läuft letztendlich jedoch darauf hinaus, die Zumutungen an die in der Institution lebenden und lehrenden Menschen zu verstärken (Pongratz 2004: 254).
Die Mitarbeiter_innen – Lehrer_innen – werden dazu aufgefordert, am Erfolg des gesamten Schul‐„Betriebes“ mitzuarbeiten, sich nicht mehr als „Einzelkämpfer_innen“ zu verstehen. Das bildungspolitisch geforderte Modell einer konkurrenzorientierten Angebotsstruktur von Schulen hat zur Folge, dass die Leistung der Lehrer_innen evaluiert wird und es zu einer Hierarchisierung im Lehrkörper kommen kann. In einem Interview aus den empirischen Erhebungen zu meiner Dissertation3 mit einer Schulleiterin spricht diese in diesem Zusammenhang von „tüchtigen“ Lehrer_innen und „Kollegen, die nicht so tüchtig sind, die nicht so, solche Zugpferde sind“ (Interview: Barbara 2009, Z 243 – 256). Lehrer_innen und auch Schulleiter_innen sind dazu aufgefordert, beständig an der Weiterentwicklung der Schule und ihrer eigenen professionellen Kompetenzen zu arbeiten.
Schule wird zum Bildungsbetrieb, der organisiert werden muss und dessen Output an internationalen Leistungsvergleichen gemessen wird. Es sind nicht nur wissenschaftliche Interessen, „die PISA aus der Taufe hoben“ (Pongratz 2004: 244). Die Großorganisation OECD (Organisation for Economic
3 Ich arbeite an meiner Dissertation zu Kontexten sozialer Praxis von Lehrern und Lehrerinnen in Schulen und habe in einem Zeitraum von jeweils einem Jahr eine Hauptschule außerhalb einer Landeshauptstadt und ein Gymnasium in einer Stadt mit einem ethnographischen Forschungszugang untersucht.
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Coorperation and Development) nimmt Einfluss auf Fragestellungen und Durchführung der PISA‐Studie.
Es verwundert daher wenig, dass sich hinsichtlich der Privatisierungspolitik und Sprachregelung bei globalen Institutionen (wie OECD, WTO, Weltbank oder IWF) allenthalben die gleichen Zielvorgaben wiederfinden lassen. Sie lauten: Durchsetzung privatwirtschaftlicher Steuerungsprinzipien im öffentlichen Sektor, betriebswirtschaftliche Umgestaltung von Bildungs‐ und Wissenschaftsinstitutionen, Einführung von Markt‐ und Management‐Elementen auf allen Prozessebenen“ (Pongratz 2004: 244).
Ingrid Lohmann stellt Erfahrungen mit der Privatisierung des Bildungswesens in Ländern wie Chile, Neuseeland, China und Kanada dar. Zusammengefasst zeigt die Privatisierung in den Ländern folgende Effekte: „(S)inkende Staatsausgaben für den Bildungssektor“ (Lohmann 2002: 103), Verschärfung der sozialen Ungleichheit im Zugang zu Wissen und ein Ansteigen der Homogenisierung von Schüler_innen nach Schichtzugehörigkeit, die aufgrund des sozio‐ökonomischen Hintergrunds in unterschiedliche Schulen gehen (vgl. ebd.). Durch die Autonomisierung von Schulen tritt das Moment der Konkurrenz um leistungsfähige und möglichst verhaltensunauffällige Schüler_innen stärker in den Vordergrund, sofern hier nicht bildungspolitische Regulationen stattfinden. Denn Schulen mit Schüler_innen, die hohe Leistungen bei genormten Bildungsrankings (z.B. Bildungsstandards oder PISA) erzielen, sind für finanzkräftige Kund_innen (Eltern, Sponsoren ‐ Firmen usw.) attraktiver.
Anerkennung von Differenzen versus Individualisierung im Sinne einer Selbstoptimierung
Bourdieu und Passeron haben in ihrem Buch zur „Illusion der Chancengleichheit“ (1971) einen Ansatz zur Überwindung der Reproduktion der sozialen Ungleichheit durch das Bildungswesen vorgelegt. Er setzt innerhalb der Bildungsinstitutionen an und soll die Bildungsergebnisse der ungleich ausgestatteten Bildungspartizipant_innen nicht absolut setzen, sondern ihr „Handikap“ bzw. die Differenzen in den Leistungsvoraussetzungen berücksichtigen. Eine wirkliche Chancengleichheit soll durch eine Wertung der schulischen Leistung „proportional zum überwundenen Handikap“ (Bourdieu/Passeron 1971: 83) umgesetzt werden.
Im Ansatz von Bourdieu und Passeron wird eine Verschiebung von Bewertungsmaßstäben durch die Berücksichtigung der ungleichen Leistungsvoraussetzungen vorgeschlagen, um dem Anspruch einer Chancengleichheit gerecht zu werden. Der Anspruch einer inklusiven Schule bzw. einer inklusiven Gesellschaft reicht weiter. Das Vorhaben, „eine Schule für alle zu schaffen“ (Schwohl/Sturm 2010: 13), stellt eine große Herausforderung dar. Vor allem in Anbetracht dessen, dass Schule als Schaltstelle gesellschaftlicher Normierung, Homogenisierung und Hierarchisierung betrachtet werden kann (vgl. Foucault 1976), deren Kapazitäten für das Eingehen auf die Heterogenität „der Köpfe“ in sehr engem Rahmen konzipiert wurden.
Viele internationale Vereinbarungen, die auch von Österreich mitgetragen werden, wie z. B. die Salamanca‐Erklärung der UNESCO (1994), die Deklaration von Madrid (2002)
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und die UN‐Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2007) stützen die Idee einer integrativen/inklusiven Gesellschaft und Schule und können als Grundlage einer veränderten nationalen Bildungspolitik bezeichnet werden (Feyerer 2009 online im Internet).
Derzeit wird „die veränderte nationale Bildungspolitik“ durch zusätzliche Lehrkräfte, die Schüler_innen mit nicht standardisiert attestiertem „sonderpädagogischem Förderbedarf“ (SPF) unterstützen, realisiert. Einerseits können auch Kinder aus sozial benachteiligten Schichten von dieser Unterstützung, die auch Kindern mit Behinderungen zukommt, profitieren, indem sie entsprechend ihrer Kenntnisse und Fähigkeiten gefördert werden. Andererseits ist unklar, inwiefern es beispielsweise zur Diskriminierung der betroffenen Jugendlichen bei der Arbeitsplatzsuche kommt. Laut Feyrer, der über die „Qualität der Sonderpädagogik“ im „Nationalen Bildungsbericht Österreich 2009“ schreibt, fehlen hierzu Langzeitstudien.
Ludwig Pongratz (2004) beschreibt in seinem Beitrag „Freiwillige Selbstkontrolle“ die Schule zwischen Disziplinar‐ und Kontrollgesellschaft im Rekurs auf Michel Foucault und unter Einbeziehung von neuen internationalen gouvernmentalen Strategien im Bildungswesen (z.B. PISA). Unter den Schlagworten Selbstbestimmung, Individualisierung und Selbststeuerung stellt Pongratz (2004: 249 ff.) die Rolle neuer Selbsttechnologien zur Selbstoptimierung für die Schüler_innen und die Schule heraus.
Schüler (werden) umdefiniert zu Selbstmanagern des Wissens, zu autopoietischen ‚lernenden Systemen‘, denen vor allem dann Erfolg in Aussicht gestellt wird, wenn sie moderne Managementqualitäten an sich selbst entwickeln, also: sich die Produktionsmittel zur Wissensproduktion aneignen (Lernen des Lernens), sich unter den Selbstzwang permanenter Qualitätskontrolle und –optimierung setzen (Motivationsmanagement), sich gleichermaßen als Kunde wie als Privatanbieter auf dem Bildungsmarkt begreifen lernen (Selbstmanagement), sich permanenten Kontrollen, Prüfverfahren und Zertifizierungen aussetzen (Selbstoptimierung) usw. (Pongratz 2004: 254).
Foucault beschrieb aus genealogischer Perspektive die Entwicklung von Regierungsformen im Modus des Überwachens und Strafens ausgehend von einem sichtbaren Souverän bis zur entpersonalisierten Disziplinierungsmacht, die sich in Gefängnissen, Spitälern und Schulen durchsetzte. „An die Stelle des Prinzips von Gewalt/Beraubung setzen die Disziplinen das Prinzip Milde/Produktion/Profit“ (Foucault 1976: 281). Während im 18. Jahrhundert die Körper von Straftäter_innen noch in der Öffentlichkeit der Folterung ausgesetzt wurden und als abschreckendes Beispiel dienen sollten, entwickelte sich im 19. Jahrhundert ein Strafsystem, das mit Milde und Disziplinierung ans Werk ging und eine Verhaltensänderung der Straftäter_innen zu erwirken suchte (vgl. Foucault 1976: 93 ff.). Durch freiwillige Selbstkontrolle und Selbstevaluation findet nun eine Unterwerfung „unter ein permanentes und umfassendes ökonomisches Tribunal“ (Pongratz 2004: 257) statt. „(G)lobales testing, ranking und controlling“ (Pongratz 2004: 244) rahmen die schulpolitischen Initiativen.
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Pongratz beschreibt „PISA als ein ‚trojanisches Pferd‘ der Disziplinargesellschaft“ (Pongratz 2004, S. 245), das im „Schutz einer Weltverbesserungs‐ und Freiheitsrhetorik“ (ebd.) ähnliche Disziplinarprozeduren erwirkt, wie zuvor der panoptische Wirkungsraum mit der Möglichkeit der permanenten Überwachung und Sanktion (da der/die Gefangene immer sichtbar war, jedoch nicht sehen kann, ob er/sie überwacht wird). Weiters führt er aus, dass nun die „philanthropischen Opponenten, die für mehr (Selbst‐)Verantwortung und mehr demokratische Teilhabe plädieren“ (ebd.) von den Unterstützern einer neoliberalen Gouvernmentalität nicht mehr unterschieden werden können.
Foucault legt in seiner Geschichte der Gouvernementalität das Zusammenspiel von einem modernen souveränen Staat und modernen autonomen Subjekten dar. Er versteht „Regierung als Führung, genauer gesagt als ‚Führung der Führungen‘, die ein Kontinuum umfaßt, das von der ‚Regierung des Selbst‘ bis zur ‚Regierung der anderen‘ reicht“ (Lemke 2000: 3). Bildungspolitische Aufforderungen an Einzelschulen, mehr Selbstbestimmung und eigenständiges Lernen bei Schüler_innen zu ermöglichen, verkörpern Forderungen des Humanismus und der Reformpädagogik. Die Forderung von selbstverantwortlichen rationalen Individuen gehört jedoch gleichsam zum neoliberalen Programm, was den Rückzug des Staates und den „Abbau wohlfahrtsstaatlicher Interventionsformen“ (Lemke 2000: 11) zur Folge hat.
Im Zuge einer neoliberalen Ökonomisierung verschiedener Gesellschaftsbereiche wird Verantwortung und auch Macht an die Individuen übergeben. Der/die Einzelne erhält erweiterte Verantwortung für die Gestaltung ihres Lebens und die Erweiterung der Freiheit, über das eigene Leben zu entscheiden, wird in Aussicht gestellt.
Da die Wahl der Handlungsoptionen innerhalb der neoliberalen Rationalität als Ausdruck eines freien Willens auf der Basis einer selbstbestimmten Entscheidung erscheint, sind die Folgen des Handelns dem Subjekt allein zuzurechnen und von ihm selbst zu verantworten (Lemke 2000: 9).
Lemke (2004) beschreibt ein „Unsicherheitsdispositiv“, da die Individuen zur Orientierung an einem „homo oeconomicus“ aufgefordert werden und die Kosten und den Nutzen ihrer Handlungen abwiegen und evaluieren sollen bzw. müssen. Die Subjekte sind den Zugzwängen einer feinmaschigen ökonomischen Rationalität ausgesetzt, in der sie sich in Konkurrenz um begehrte Arbeitsplätze und Kapital selbst optimieren, um als Gewinner hervorzugehen. In der Suggestion eines permanenten Wettbewerbs steigt die Angst vor dem Scheitern. Menschen mit geringem ökonomischen Kapital und kaum anerkanntem kulturellen Kapital (Bildungstitel, Sprache, Wissen, …) können dem jedoch nur wenig entgegensetzen, denn sie verfügen über ein geringes Maß an Ressourcen (Schulbildung, Universitätsbildung usw.), die ihnen oder ihren Kindern zu einer besseren Positionierung am (Arbeits‐) markt verhelfen könnten.
Abschließende Betrachtungen
Die Vermarktlichung von Bildung stellt ein Problem dar, da „Märkte systematisch Familien aus höheren sozialen Schichten durch ihr Wissen und ihre materiellen Ressourcen privilegieren“ (Kupfer
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2011: 177). Die Hierarchisierung der Gesellschaftsmitglieder nach ihrem Verfügen über ökonomisches Kapital wird nach einem wohlfahrtsstaatlichen Intermezzo wieder verschärft. Die unterschiedliche Ausstattung mit Ressourcen ist „ausschlaggebend für die weiteren Lebenschancen“ von Menschen, „die entsprechend ungleich verlaufen“ (ebd.: 179). Mit dem verstärkten Einlass neoliberal ökonomischer Rationalität in Bildungs‐, Gesundheits‐ und Sozialsysteme rückt das Ideal einer inklusiven Gesellschaft in die Ferne.
Abschließend soll die Perspektive auf Handlungsmöglichkeiten und die Widerständigkeit der Subjekte innerhalb von Organisationen/Institutionen, sozialen Milieus oder anderen gesellschaftlichen Kontexten gerichtet werden. Der Aufbruch zu einer neoliberalen Marktdynamik stellt für Akteur_innen von Schulen beides dar: ihre Unterwerfung unter die Anforderungen des Marktes aber auch Möglichkeiten der Machtaneignung in der Artikulation und Positionierung ihrer Interessen, die wiederum die „Struktur“ verändern können.
Foucault reagierte auf die Kritik seines Konzeptes der doppelten Subjektivierung mit späteren Arbeiten zur Gouvernementalität (2004). Sie bieten eine Erweiterung der doppelten Subjektivierung, die sich nicht auf eine zweifache Unterwerfung des Subjekts reduziert, sondern die Gestalt eines doppelten Prozesses der Unterwerfung und Machtaneignung hat. Die Machtaneignung des Subjekts stellt sich „durch die Gewährung von Freiheit und die Ausrichtung der Regierung an der Rationalität und den Interessen der Regierten“ dar und die Unterwerfung „als Instrumentalisierung der Subjekte durch ihre der Wahrheit des Marktes unterworfenen Selbstregierung“ (Schmidt 2009: 159).
Die Autonomisierung von Schulen muss nicht zu einer konsequenten Elitärisierung auf der einen bzw. zur Verwahrlosung von „unattraktiven“ Schulen auf der anderen Seite führen, wenn die einzelnen Schulen und die Menschen dahinter sich entschließen, dem entgegenzuwirken. Auch im Rahmen von selbstgesteuertem Lernen können durch Anregung von Lehrer_innen Unterstützungssysteme entstehen, die in eine solidarische Lerngemeinschaft der gesamten Klasse münden können. Für die Darstellung konkreter empirischer Beispiele fehlt jedoch hier der Raum, wobei im Zusammenhang dieses Perspektivenwechsels besonders auf den Zugang der Cultural Studies hingewiesen werden kann.
Bei den Cultural Studies rückt die Analyse von Alltagspraxen von Akteur_innen in unterschiedlichen sozialen Kontexten ins Zentrum (vgl. Mecheril/Witsch 2006: 13). Hiermit werden auch die Dimensionen der „Handlungsfähigkeit“ bzw. der „Widerstandsmöglichkeiten des Subjekts“ (Schmidt 2009: 158) deutlicher. Es wird argumentiert, „nicht nur den Blick dahingehend (zu) richten, was die Schule mit den Schülern“ (Sauter 2006: 126) oder mit anderen schulischen Akteur_innen macht, sondern welche „komplementären Reaktions‐, Bewältigungs‐ und Verarbeitungsweisen“ (ebd.) auf der Akteur_innenseite entstehen.
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Cornelia Dinsleder ist Dissertantin am Institut für Erziehungs‐ und Bildungswissenschaft an der Karl‐Franzens‐Universität Graz und beschäftigt sich mit kollegialen Kooperationen bei Lehrer_innen in Schulen. Sie arbeitet als Sozialpädagogin, ist bei Kunstprojekten in der offenen Jugendarbeit tätig und ihre weiteren wissenschaftlichen Arbeitsschwerpunktinteressen liegen in der Hochschulforschung zum Thema Herausbildung professioneller Selbstverständnisse von Hochschullehrenden sowie im interdisziplinären Bereich von Schule und Architektur.
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Schulabbruch als soziales Problem: Ursachen, Auswirkungen, Prä‐ und Intervention
ERNA NAIRZ‐WIRTH UND ELISABETH WENDEBOURG
Abstract
Ausgehend von einer Bestandsaufnahme der individuellen und gesellschaftlichen Ursachen und Folgen von Early School Leaving befasst sich der Beitrag mit Präventions‐ und Interventionsmaßnahmen, die wissenschaftlich als „erfolgreich“ evaluiert wurden. Argumentiert wird, dass Präventionsmaßnahmen im vorschulischen Bereich am wirksamsten sind, ihre Nachhaltigkeit jedoch nur durch eine kontinuierliche Bildungsreform mit dem Ziel gewährleistet wird, allen jungen Menschen die Motivation und Kompetenzen für ein nachhaltiges lebenslanges Lernen zu vermitteln. Empfohlen werden daher Schulentwicklungsmaßnahmen, die auf den Ebenen der Schulleitung, der Interaktion, der professionellen Kompetenz, des Lernklimas und des ambitionierten Lehrens (Bryk et al. 2010) gleichzeitig ansetzen, um die Nachhaltigkeit der positiven Effekte von vorschulischen und schulischen Präventions‐ bzw. Interventionsprogrammen sicher zu stellen.
Ausgangslage
Derzeit leben in der Europäischen Union mehr als sechs Millionen Early School Leavers1, das heißt, jeder sechste 18 – 24‐Jährige (European Commission 2011a: 2) geht vorzeitig von der Schule ab. Mit dieser hohen Zahl sind hohe ökonomische Folgekosten verbunden. Berechnungen aus Finnland, Deutschland und den Niederlanden beziffern die volkswirtschaftlichen Kosten je (!) Early School Leaver2 auf eine Million Euro und höher (vgl. European Commission 2011b: 11f.). Noch schwerer wiegen die individuellen und sozialen Folgen. Denn Early School Leavers sind mit schwerwiegenden Folgen ihrer – den Normen der heutigen Wissensgesellschaft nicht mehr entsprechenden – Bildungslaufbahn konfrontiert: Stigmatisierungen durch Dritte, geringeres Einkommen, Beschäftigungslosigkeit, höhere Krankheitsanfälligkeit und psychische Folgen von Arbeitslosigkeit und Armut.
Heute sind diskontinuierliche Erwerbsverläufe nichts Ungewöhnliches, treffen aber Jugendliche mit niedrigen Bildungsabschlüssen besonders hart. Diese These hat seit dem Beginn der weltweiten Wirtschafts‐ und Finanzkrise im Jahr 2008 nochmals ihre empirische Bestätigung gefunden. In Europa 1 Frühzeitige Schul‐ und Ausbildungsabgänger sind Personen im Alter von 18‐24 Jahren, die die folgenden Bedingungen erfüllen: der höchste erreichte Grad der allgemeinen oder beruflichen Bildung entspricht ISCED 0, 1, 2 oder 3c kurz, und die Befragten dürfen in den vier Wochen vor der Erhebung an keiner Maßnahme der allgemeinen oder beruflichen Bildung teilgenommen haben (Zähler). Der Nenner besteht aus der Gesamtbevölkerung der gleichen Altersgruppe; ausgenommen sind diejenigen, die die Fragen nach dem höchsten erreichten Grad ihrer allgemeinen oder beruflichen Bildung und nach ihrer Teilnahme bzw. Nicht‐Teilnnahme an einer Maßnahme der allgemeinen und beruflichen Bildung nicht beantwortet haben. Sowohl die Zähler als auch die Nenner stammen aus der EU‐Arbeitskräfteerhebung (EUROSTAT 2011). 2 Die angeführte Summe bezieht sich auf eine potentielle Erwerbslebenszeit von 40 Jahren.
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werden besonders die Jugendlichen von der Krise unverhältnismäßig hart getroffen (Abbildung 1). Zwischen 2008 und 2010 ist die Anzahl der arbeitslosen Jugendlichen innerhalb der EU‐273um mehr als eine Million auf 5,5 Millionen angestiegen. Die niedrigsten Quoten (< 10%) verzeichneten Österreich, Deutschland und die Niederlande, die höchsten (> 50%) Griechenland. Im Durchschnitt ist jeder fünfte Jugendliche (22%) laut Eurostat (2012) in Europa und jeder zweite Early School Leaver (53%) arbeitslos (vgl. Europäische Kommission 2011c: 5). Auch innerhalb der OECD haben 30 – 40% aller Early School Leavers anhaltende Schwierigkeiten beim Zugang zu einem dauerhaften Arbeitsplatz und sind somit armuts‐ und ausgrenzungsgefährdet (vgl. Scarpetta/Sonnet/Manfredi 2010: 20).
Abbildung 1: Entwicklung der Jugendarbeitslosigkeitsraten ab 2005 (15‐24‐Jährige). Quelle: European Commission 2011d: 2.
3 Zu den EU‐Mitgliedsstaaten gehören: Österreich, Belgien, Bulgarien, Zypern, Tschechische Republik, Dänemark, Estland, Finnland, Frankreich, Deutschland, Griechenland, Ungarn, Irland, Italien, Lettland, Litauen, Luxemburg, Malta, Niederlande, Polen, Portugal, Rumänien, Slowakei, Slowenien, Spanien, Schweden und Großbritannien.
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Abbildung 2: Early School Leavers nachMigrationshintergrund. Quelle:European Commission 2011b: 8.
Die bisherige bildungswissenschaftliche Diskussion der Problemlage konzentriert sich auf Kompetenzdefizite, Schulabbruch, RisikoschülerInnen, Arbeitslosigkeit und die damit verbundene Verringerung von Teilhabechancen. Der gesellschaftliche Kontext wird noch unzureichend beleuchtet (vgl. TÁRKI Social Research Institute/Applica 2010; Gornick/Jäntti 2009). Auch in den hochentwickelten Ländern wachsen viele Kinder in Armut oder ungünstigen Bedingungen auf, vor allem Familien mit Migrationshintergrund sind überproportional häufig armutsgefährdet (vgl. Bundesministerium für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz 2011: 55). Allmendinger/Leibfried (2003) haben daher den Begriff Bildungsarmut4 in die wissenschaftliche Diskussion eingeführt, wobei die intergenerationale Mobilität in die Analysen einbezogen wird. Die meisten Personen, die in soziökonomisch benachteiligten Milieus leben, haben über Generationen geringe Aufstiegschancen (vgl. Schürz 2012; Van de Werfhorst/Mijs 2010). Early School Leaving sollte daher verstärkt in theoretischen, gesellschafts‐ und bildungspolitischen Zusammenhängen und im Kontext der Einsatzmöglichkeiten qualitativ hochwertiger Prä‐ und Interventionsmodelle analysiert werden. Eine Basiserkenntnis besteht darin, dass gesellschaftliche Ungleichheit und ungleiche Bildungschancen durch familiäre und (vor)schulische Kontextbedingungen reproduziert werden (vgl. Bourdieu 2001).
Somit läuft auch in der heutigen modernen Wissensgesellschaft eine große Population an jungen Menschen Gefahr, ihre gesellschaftliche Zugehörigkeit und Teilhabe in zumindest drei Dimensionen zu verlieren (vgl. Kronauer 2006: 34f.): Erstens in die gesellschaftliche Einbindung durch Erwerbsarbeit (Ausgrenzung durch den Status des/der „Überflüssigen“); zweitens in soziale Netze (Ausgrenzung durch Isolation bzw. durch Einbindung in Gruppen, die in Konfrontation zur Mehrheitskultur und zu den herrschenden Institutionen der Politik und Bildung stehen) und drittens in einen kulturell angemessenen Lebensstandard (Ausgrenzung durch die Unfähigkeit, mit anderen mitzuhalten und durch Erfahrungen der Macht‐ und Chancenlosigkeit). Die größte Bedeutung unter allen ausgrenzenden Faktoren misst Kronauer dem Ausschluss von der Erwerbsarbeit zu, ohne dabei in eine andere, gesellschaftlich anerkannte Position (StudentIn, RentnerIn, Kindererziehung im eigenen Haushalt) wechseln zu können. „Ausgegrenzt sein heißt dann, in der Gesellschaft keinen Ort zu haben, überzählig zu sein.“ (Ebd.)
Inklusion und Exklusion sind andauernde Prozesse, die in modernen Gesellschaften mehrdimensional ablaufen, z.B. nach Bourdieu in Felder und Kapitalsorten gegliedert. Ihre theoretische und methodische Erfassung erfolgt inzwischen interdisziplinär, wobei hier nur ein Einblick in die wissenschaftliche Diskussion gegeben werden kann:
In Übereinstimmung mit der Dimensionierung der Teilhabechancen durch Kronauer (2006) unterscheidet Levitas (2005) drei Exklusionsdiskurse: Der erste Diskurs bezieht sich auf soziale Ungleichheit und Verteilungsprobleme, d.h. Armut bzw. der Mangel an ökonomischem, kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital (Bourdieu) ist die Hauptform der Exklusion. Der zweite Diskurs
4 Begrifflich ist hier eine Binnendifferenzierung vorzunehmen: Kompetenzarmut; Zertifikatsarmut.
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sieht die Ursache der Exklusion in kulturellen Diskrepanzen, d.h. benachteiligte Gruppen (mit und ohne Migrationshintergrund) werden ausgeschlossen. Der dritte Diskurs sieht die Ursache vor allem in der Struktur des Arbeitsmarktes, d.h. Arbeitslosigkeit und prekäre Beschäftigungsverhältnisse führen zu gesellschaftlicher Exklusion.
Andere Ansätze kennen einen vierten Diskurs, der auf Individualisierung fokussiert (vgl. Beck 1983; Giddens 1996). Das Individuum wird zunehmend als alleinverantwortlich für sein Lebensschicksal gesehen (Thompson 2011). Dieser Diskurs wird in der offiziellen Bildungsdiskussion oft reduziert aufgenommen, d.h. es wird versucht, dem Individuum unabhängig von Kapital‐ und Feldbedingungen Kompetenzen und sogenannte Skills zu vermitteln. Gelingt dies nicht, erfährt das Individuum oft Abwertung und Stigmatisierung, wobei auf die Fremdstigmatisierung oft Selbststigmatisierung, Beschädigung des Selbstwerts und Selbstexklusion folgen (vgl. Nairz‐Wirth 2011). Symptome eines solchen Prozesses sind beispielsweise Schule schwänzen, unpünktliches und unregelmäßiges Erscheinen am Arbeitsplatz. Die Überführung in sogenannte Übergangssysteme (vgl. Enggruber 2011) und andere Auffangfelder (therapeutische und sozialpädagogische Felder) verfestigen sukzessive den „double bind“ von Inklusion und Exklusion.
Ursachen von Schulabbruch
Bis in die jüngste Vergangenheit dominierte eine auf das Individuum und psychosoziale Defizite konzentrierte Perspektive rund um die Erforschung der Ursachen von Schulabbruch. Aus einer solchen Forschungsperspektive sind Studien entstanden, die SchulabbrecherInnen mit Schülern bzw. Schülerinnen, die an der Schule bleiben, vergleichen, und zwar üblicherweise anhand dreier typischer Faktorengruppen: (a) der soziale Hintergrund (z.B. „Rasse“/Ethnie, Geschlecht, sozioökonomischer Status, Familienhintergrund, städtischer Wohnbereich); (b) die schulische Leistung (z.B. schwache Prüfungsergebnisse, mangelnde Mitarbeit im Unterricht, Klassenwiederholungen); und (c) das Verhalten, das mit der Schulleistung verbunden ist (z.B. geringes Schulengagement, Schwänzen, Disziplinprobleme). Die am häufigsten genannten Risikofaktoren sind somit das soziale und das Leistungsrisiko, wobei zu ersterem demografische Faktoren gehören, also Ethnie, Alter, Sprache, Migrationshintergrund, Geschlecht, Familieneinkommen, Schulbildung der Eltern und Familienstruktur. Demnach brechen insbesondere Angehörige aus Familien mit niedrigem Einkommen – und dies betrifft häufiger Familien mit einem Migrationshintergrund außerhalb der EU‐15‐Länder – die Schule häufiger ab; ebenso Kinder von AlleinerzieherInnen und aus Familien, in denen ein Elternteil oder beide Eltern die Schule nicht abgeschlossen haben. Forschungen, die ihr Augenmerk auf das Individuum legen, sehen schulische Probleme und Distanzierungsprozesse als Folge o.g. Merkmale und gehen von der These aus, dass die Gefahr des Schulabbruchs mit der Zunahme bzw. der Häufung der Risikofaktoren, der eine einzelne Person ausgesetzt ist, steigt (vgl. Rumberger/Palardy 2005).
Eine zentrale sozialstrukturelle Ursache von Early School Leaving ist die soziale Ungleichheit, die ungünstige Lebenslage von Kindern in Familien, die über zu geringes bzw. unzureichend anerkanntes soziales und kulturelles Kapital sowie ökonomisches Kapital verfügen, das für eine Schulkarriere erforderlich ist. Alleinerziehende Mütter oder Väter, die in prekären Verhältnissen leben, evtl. selbst
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psychisch oder physisch krank sind und deren Kinder schon in der frühen Kindheit Auffälligkeiten und abweichendes Verhalten zeigen, bedürfen besonderer Stützung durch professionelle Maßnahmen, doch gerade diese erfolgt oft nicht ausreichend oder gar nicht. Wenn diese gefährdeten Kinder nicht bereits durch ausgezeichnete Vorschulprogramme gestärkt und aufgebaut werden, sind ihre Chancen auf eine erfolgreiche Bildungslaufbahn von Beginn an reduziert.
Schulabbruch ist u.a. von folgenden Kontextfaktoren abhängig (vgl. European Commission 2011b: 10): qualitativ unzureichende vorschulische Erziehung; große Schulen in Stadtgebieten, in denen vor allem sozial schwache Familien und Personen in prekären Lebensverhältnissen wohnen; curriculare Strukturen, die nicht an den Lebenswelten und Interessen der SchülerInnen ausgerichtet sind; ein ungünstiges Schulklima, das durch Konflikt, Misstrauen und Entfremdung gekennzeichnet ist; mangelhafte professionelle Kooperation und fehlende Spezialkompetenzen, die z.B. abweichendes Verhalten, Krankheit und familiäre Probleme betreffen; unzureichende Berücksichtigung anderer kultureller Traditionen und Ressourcen; geringe oder keine Unterstützung für Schülerinnen und Schüler, die in Schwierigkeiten geraten.
Dass die theoriebezogene Trennung zwischen schulischen und außerschulischen Ursachen schwierig ist, lässt sich am Beispiel abweichender Peergruppen belegen. Diese Peergruppen agieren zwar hauptsächlich im außerschulischen Bereich, doch städtische Haupt‐ bzw. Mittelschulen, Sonder‐ bzw. Förderschulen bieten bessere Gelegenheitsstrukturen für den Zugang zu solchen Gruppen. Die organisatorischen Formen der Selektion von Schülerinnen und Schülern haben folglich einen Einfluss auf die Wahrscheinlichkeit von Schulversagen und ‐abbruch.
Die in die Diskussion über Early School Leaving einbezogenen Faktoren haben sich in den vergangenen Jahrzehnten quantitativ erhöht. Doch entscheidend sind die Veränderungen in der theoretischen Sichtweise. Die demographischen Merkmale Schicht, Ethnie, Migrationshintergrund, Geschlecht etc. wurden früher relativ fixiert im Sinne einfacher nicht veränderbarer Ursachen gesehen. Inzwischen werden dynamische Modelle bevorzugt, Schulverweigerung und früher Schulabgang werden als komplexe Prozesse untersucht, in denen die Betroffenen in Interaktion mit Eltern, Peers, Lehrpersonen, BeraterInnen u.a., sowie Organisationen und sozialen Umweltbedingungen gesehen werden: „This understanding of dropout as a dynamic process has a great impact on the way solutions may be viewed.” (Lyche 2010: 6) Durch diese dynamische theoretische Sichtweise werden auch die innerschulischen Faktoren in ihrer Bedeutung hervorgehoben.
Die Beschäftigung mit Schul‐ und Lernversagen und ‐verweigerung hat insgesamt gesellschaftlich an Bedeutung gewonnen, da die Anforderungen am Arbeitsmarkt, die internationale Konkurrenz, auch im Bildungsbereich, die demographischen Entwicklungen und die Bedeutung der Migration politisch in den Vordergrund getreten sind. Außerdem wird in den politischen und professionellen Entscheidungen im Schulbereich stärker auf aktuelle Forschung Bezug genommen, als dies früher der Fall war.
Schul‐ und Lernversagen sowie Schulabbruch werden somit heute im Rahmen von Schulentwicklung, Professionalisierung, lebenslangem Lernen und Nachhaltigkeit diskutiert. Die Erkenntnis, dass eine
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Verringerung der Schulabbruchraten ein Kennzeichen von Schul‐ und Bildungsqualität ist, hat sich folglich durchgesetzt.
Präventions‐ und Interventionsprogramme
Im Gemeinsamen Bericht „über die Umsetzung des strategischen Rahmens für die europäische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der allgemeinen und beruflichen Bildung („ET 2020“)“ des EU‐Rates und der EU‐Kommission (2012: C 70/11) wird moniert, dass „sich die nationalen Strategien nur unzureichend auf aktuelle Daten und Analysen über Ursachen und Inzidenz von Schulabbrüchen“ (ebd.) stützen. Außerdem wird gefordert, dass die Bemühungen um die Verankerung von Prä‐ und Intervention in der frühkindlichen Erziehung, der Lehrkräfteausbildung und der Weiterbildung intensiviert werden.
Die Interessenträger der verschiedenen Bildungssektoren und Politikfelder, etwa der Jugendpolitik sowie der sozialen Dienste und Arbeitsämter, sollten enger kooperieren. Die Zusammenarbeit mit den Eltern und lokalen Gemeinschaften sollte verstärkt werden. (Ebd.)
Nach Hennemann, Hagen und Hillenbrand (2010) sind individuumbezogene Mehrbereichsprogramme (Individuum, Familie, Schule) wie z.B. alternative Schulkonzepte, peerorientierte Projekte, Gestaltung von Übergängen (Kindergarten zu Volksschule, Volksschule zu höherer Schule, Schule zu Berufsausbildung) erfolgreicher als Programme, die isoliert spezifische Schwerpunkte setzen
Alternative Schulkonzepte müssen nicht organisatorisch getrennt sein, sondern können als „Schule‐in‐der‐Schule“ eingerichtet werden. Accelerated Middle Schools (U.S. Department for Education 2008) ermöglichen Schülern bzw. Schülerinnen, die starken Nachholbedarf haben, in ein‐ oder zweijährigen Programmen parallel zu einem normalen Schulbesuch ohne Überforderung ihre Kompetenzen zu steigern. Zusätzlich zu kleinen Klassen, einem interdisziplinären, flexiblen Curriculum und spezieller Software werden Unterstützungsmaßnahmen eingesetzt: Beratung, TutorInnen und Einbindung der Eltern in die schulischen Arbeiten.
Twelve Together (U.S. Department for Education 2007) ist ein Beispiel für ein peerorientiertes Projekt, indem gefährdeten Jugendlichen einmal pro Woche in leistungs‐ und schichtspezifisch heterogenen Gruppen außerhalb der Schule Gesprächsrunden, zusätzlich Hausaufgabenbetreuung, Besuche von Colleges und gemeinsame Wochenendveranstaltungen angeboten werden.
Ein zentraler Risikofaktor für die Auslösung von Schuldistanz ist ein Schulwechsel (vgl. Michel 2005; Hillenbrand 2009: 176; Weiss/Baker‐Smith 2010). Eine besonders sensible Phase stellt der Übergang von der Grund‐ bzw. Volksschule in die Sekundarstufe I dar, aber generell stellt jeder Übergang innerhalb der Bildungslaufbahn die Kinder und Jugendlichen vor große kognitive und emotionale Herausforderungen (Wohnortwechsel; Wechsel vom Kindergarten in die Volksschule; Übertritt in die Sekundarstufe II; Schulwechsel während der Schulstufen) und kann Auslöser für Schuldistanzierung sein. Schulübergänge sollten daher möglichst umsichtig und positiv gestaltet werden, sodass Angst, Aversion, Stress und Unsicherheit vermieden bzw. minimiert werden. Beispielhaft seien folgende
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Risiko verringernde Maßnahmen genannt: Kooperationen mit Vorgänger‐ und Nachfolgeschulen; Besuchstermine für SchülerInnen und Lehrkräfte an der aufnehmenden Schule; intensive Betreuung und Förderung zu Schulbeginn (Orientierungswochen, persönliche Betreuung durch ältere SchülerInnen, TutorInnen und MentorInnen); Erstellung von Diagnosen für jeden Schüler bzw. jede Schülerin über das Wissen in den Hauptfächern, das soziale Verhalten und die bisherigen Schulschwierigkeiten als Basis für gezielte individualisierende und fördernde Maßnahmen; Vermeidung von Über‐ und Unterforderung vor allem in der Orientierungsphase; zusätzliche spezielle Förderungen für SchülerInnen mit Umstellungsschwierigkeiten; Förderung der Selbststeuerung der SchülerInnen (vgl. Nairz‐Wirth et al. 2012).
International hat in den beiden vergangenen Jahrzehnten die Anzahl der Projekte und Programme zur Prävention von Schulverweigerung sprunghaft zugenommen. Es liegen viele Berichte und Evaluationen vor, und eine Reihe von Reviews und Überblicksdarstellungen wurden erstellt (vgl. Maynard et al. 2011; Wilson/Tanner‐Smith/Lipsey 2011; Lyche 2010; Prevatt/ Kelly 2003). Allerdings sind die Entscheidungen für geeignete Maßnahmen dadurch keineswegs einfacher geworden. Denn aufgrund der gestiegenen theoretischen und methodischen Anforderungen, der hohen Komplexität des Geschehens und der Unsicherheit der Vorhersage der entscheidenden langfristigen individuellen, gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen erweisen sich – wie in den Reviews und Metaanalysen festgestellt wurde (vgl. Maynard et al. 2011) – Evaluationen und Maßnahmenvergleiche und die Übertragung auf schulische Kontexte als immer schwieriger. Die positive Botschaft lautet allerdings: In einer Reihe von Schulbezirken in den USA, in Kanada, Australien, Singapur und anderen Ländern ist es gelungen, mit Hilfe aktueller Forschungs‐ und Interventionsmodelle bedeutsame Erfolge bei der Verringerung der Schulabbruchraten und der Verbesserung des Schulklimas zu erringen.
Allgemeiner Konsens besteht darin, dass präventive Maßnahmen zur Verhinderung von Schulabbruch erste Priorität haben sollten, dass Interventionsprogramme umso wirksamer sind, je früher sie umgesetzt werden, und dass der Professionalisierung von Lehrpersonen und Schulleitungen eine Schlüsselrolle zukommt. Einem Schulabbruch geht gewöhnlich ein langjähriger Distanzierungsprozess voraus, weshalb neben einem breiten Wissen über die Ursachen und Bewältigungsstrategien von Schulabbruch vor allem Diagnosekompetenz, fachwissenschaftliche, fachdidaktische und soziale Kompetenzen der LehrerInnen und SchulleiterInnen notwendig sind.
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die Motivation der SchülerInnen, die durch das Engagement der LehrerInnen, durch Individualisierung, durch anregende Lernumgebungen, durch positives Klassen‐ und Schulklima und durch einen Unterricht, der sich an der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler orientiert, positiv gesteigert werden kann.
Notwendige Reformen sind allerdings nur in einer Schulkultur möglich, die durch folgende Merkmale gekennzeichnet ist (vgl. Bryk et al. 2010: 137f.): Offenheit, Vertrauen, Transparenz, Verantwortlichkeit, Inklusion, Anerkennung von Diversity, Öffnung zur community, Kooperation, Individualisierung. Eine übergreifende Verbindung dieser Merkmale ist eine gute Grundlage zur Vertrauensbildung bei allen Beteiligten (relational trust), sodass die weiter unten genauer beschriebenen Dimensionen Schulleitung, Interaktion zwischen schulischem Personal, Eltern und Schulgemeinde, professionelles Team, Lernklima und Lehrverhalten zu einer positiven
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Schulentwicklung führen und z.B. hohe Schulabbruchraten innerhalb der Schulgemeinschaft reduzieren können. Im schulischen Umfeld leistet relational trust zwischen Lehrpersonen, Eltern und Schulleitung einen wesentlichen Beitrag zur Routinearbeit an Schulen und stellt den Schlüssel zu Reformen dar. Für notwendige Umstrukturierungen von Schulen hat sich relational trust mit seinen zwischenmenschlichen Aspekten wichtiger für die Entwicklung eines neuen professionellen Umfeldes erwiesen als strukturelle Bedingungen (vgl. ebd.).
Die Schulleitung nimmt in diesem Modell eine Steuerungsfunktion für die verbleibenden vier Dimensionen (Interaktion zwischen schulischem Personal, Eltern und Schulgemeinde, professionelles Team, Lernklima und Lehrverhalten) ein, die in ihrer Zusammenwirkung das Engagement der SchülerInnen und ihre Lernergebnisse bestimmen.
Beeinflusst wird dieser Prozess von der Qualität der Beziehungen in der Schulgemeinschaft und den vorherrschenden lokalen schulpolitischen Rahmenbedingungen (vgl. Sebring et al. 2006: 10).
Eine Aufbereitung der Erkenntnisse, Berichte über Good Practices und handlungsbezogene Empfehlungen sollten kontinuierlich auf den neuesten Stand gebracht und den Schulleitungen, Lehrpersonen, Eltern und anderen Personen, die sich aktiv an der Schulgestaltung beteiligen, zur Verfügung gestellt werden.
Die auf diese Weise gewonnenen Handlungsempfehlungen sollten eindeutig und klar formuliert werden, um gute Ergebnisse bei der Implementierung von Programmen und Maßnahmen in Schulen erreichen zu können (Gottfredson /Gottfredson 2002)5.
Um freilich einen nachhaltigen Erfolg zu erzielen, sind zusätzlich zu diesen Vorgaben regelmäßige Beobachtungen und Evaluationen, Trainings der beteiligten Personen und Integration der Maßnahmen in die schulische „Normalität“ notwendig (Payne/Eckert 2010).
In einem Katalog der Maßnahmen sollte die Erfassung von Frühindikatoren an die Spitze gestellt werden, da es sich um ein Prozessgeschehen handelt, in dem spätere Eingriffe höhere Kosten und geringere Erfolge erbringen. Die zentralen Empfehlungen betreffen neben der systematischen Datenerfassung Mentoring‐Systeme (adult advocates), spezifische Programme zur Steigerung der schulischen Leistungen, Steuerung des sozialen Verhaltens, Personalisierung und Individualisierung sowie kontinuierliche professionelle Verbesserung des Unterrichts (Dynarski et al. 2008).
Bryk et al. (2010), auf die bereits in dem Abschnitt über Motivation der SchülerInnen und Schulkultur Bezug genommen wurde, gehören zu den führenden Schulforschungsgruppen in den Vereinigten Staaten, die durch relevante theoretische Konzepte und empirische Untersuchungen die zwei zentralen Fragen beantworten wollen: Wie können die Lernprozesse in Schulen substantiell verbessert werden? Welche Komponenten oder Dimensionen sind entscheidend, um die Entwicklung von Schulen zu fördern? Sie definieren fünf Kategorien der essential supports für die Verbesserung von Lernerfolgen: (1) Schulleitung (leadership); (2) die Interaktion zwischen schulischem Personal/Eltern/Schulgemeinde (parent‐community ties; (3) das Kollegium (professional capacity); (4) ein auf die SchülerInnen fokussiertes Lernklima (student‐centered learning climate); und (5) ambitioniertes Lehren (ambitious instruction) (vgl. Bryk et al. 2010: 45ff.):
5 Für ein Beispiel zu Handlungsempfehlungen, die diesen Standards zu entsprechen versuchen, vgl. Nairz‐Wirth et al. 2012.
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Abbildung 3:Rahmenmodell der Kategorien und Kontextressourcen für die Verbesserung der Schule. Quelle: Sebring et al. 2006: 10.
Eine strategisch ausgerichtete Leitung führt gezielt Personen, Programme und existierende Ressourcen in einem längerfristigen, stetigen und integrierenden Verbesserungsprozess zusammen, der permanent evaluiert wird (vgl. ebd.: 63f.).
Die Verbindung zwischen Eltern, Schulgemeinde und Schule wird gestärkt, wenn die SchülerInnen in ihrem Umfeld positive Einstellungen der Schule gegenüber wahrnehmen, was wiederum ihre eigene Haltung beeinflusst (vgl. ebd.: 57).
Angebote der Schule an die Eltern betreffen unter anderem das Vermitteln von Erziehungstechniken, die Kommunikation zur Verstärkung von positiven Lerngewohnheiten und ‐erwartungen, die Einladung zur Beteiligung in der Schule und das Fördern der Teilnahme der Eltern an Schulentscheidungen (vgl. ebd.: 12).
Die Schule und vor allem die Schulleitung arbeiten kontinuierlich daran, ein Netzwerk mit den Organisationen des Schulbezirks zu knüpfen, durch das Schülerinnen und Schülern die notwendige Unterstützung bei vielfältigen Problemen geboten werden kann (vgl. Sebring et al. 2006: 12).
Professionelle Kooperation erfolgt in Teams, nicht nur mit anderen Lehrerinnen und Lehrern, sondern auch mit zusätzlichem Personal, wie beispielsweise SozialarbeiterInnen, Eltern und VertreterInnen der community. Die LehrerInnenteams treffen sich regelmäßig zweimal in der Woche, primär um über Lernen und Lehren zu sprechen und kooperieren mit Teams anderer Schulen. Die Erwartungshaltungen der Lehrpersonen gegenüber allen Schülerinnen und Schülern sollten deren Kompetenzen anerkennen und auf Leistungssteigerung ausgerichtet sein, ohne zu überfordern, denn auf Kompetenzmängel gerichtete Einstellungen von Lehrerinnen üben einen negativen Einfluss auf die Lernmotivation der SchülerInnen aus (vgl. Bryk et al. 2010: 60f.).
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Häufig verwendete Methoden für die Motivation und Stützung von SchülerInnen sind Mentoring und Peer Tutoring, d.h. SchülerInnen, die ein Training erhalten haben, arbeiten mit Schülerinnen und Schülern in den kritischen Lernbereichen. Derartige gut organisierte Tutorenprogramme erbringen vor allem für unterprivilegierte und leistungsschwache SchülerInnen signifikante Lernfortschritte, verglichen mit dem Normalunterricht (vgl.Pigott et al. 1986; Olmscheid 1999; Brewer, Reid, & Rhine, 2003; Topping 2005; Horvath 2011). Außerdem dienen sie mittel‐ und langfristig der Entlastung von LehrerInnen, so dass diese sich professionell hochwertigen Aufgaben stärker widmen können und erbringen für die beteiligten SchülerInnen nachhaltig wirksame Selbstwertsteigerung und Lerntechnikkompetenz, Eigenschaften, die für die Vermeidung von Schuldistanzierung und Schulabbruch bedeutsam sind. Peer Tutoring Programme sind ein wichtiger Baustein zur nachhaltigen Prävention von Early School Leaving im Rahmen einer Reihe von erprobten Maßnahmen, die in eine langfristige Schulentwicklung eingebettet sind (vgl. Nairz‐Wirth et al. 2012).
Early School Leaving Prävention und Vorschulprogramme
Die UNESCO (2007, 2008) hat einer qualitativ hochwertigen Vorschulerziehung höchste Priorität zugeordnet. Leider muss die triviale Erkenntnis, dass die Entwicklung von Kindern in den ersten Lebensjahren entscheidend für alle Lebensdimensionen ist, ständig wiederholt werden, da sie nach wie vor unzureichend in politischen und sozialen Entscheidungsprozessen berücksichtigt wird.
Frühpädagogische Programme zur Unterstützung von Familien und Kindern sind wirksamer als spätere Versuche der pädagogischen, psychologischen oder medizinischen Einflussnahme bei Verhaltensproblemen. Dies trifft auch auf das Problem des Schulversagens und des Schulabbruchs zu, wobei freilich diese Erkenntnis nichts an der Notwendigkeit ändert, sich um eine Schulgestaltung zu bemühen, die optimale Lernverhältnisse für alle SchülerInnen ermöglicht.
Professionell gestaltete frühkindliche Bildungsprogramme, z.B. High/Scope Perry Preschool Program (Wiltshire 2012), Chicago Child‐Parent Centers (Temple/Reynolds/Miedel 2000) und das Abecedarian Project (Barnett/Masse 2007) reduzieren – auch nachhaltig – Chancenungleichheiten in Bildungslaufbahnen (vgl. Anderson et al. 2003; Reynolds et al. 2007; Barnett 2008; Burger 2010). Auf viel breiterer Basis als diese genannten Programme wurde Head Start (Deming 2009) durchgeführt, wobei ebenfalls langfristige positive Auswirkungen festgestellt werden konnten, jedoch in geringerem Maße als bei den ökonomisch und personell aufwendigeren und damit auch teureren Projekten. Somit sind vor allem qualitativ hochwertige vorschulische Programme geeignet, die Wahrscheinlichkeit von Schulversagen und Schulabbruch signifikant zu verringern. Insbesondere Kinder aus sozial schwachen Familien mit geringem ökonomischem und kulturellem Kapital bedürfen dieser Förderung aufgrund unzureichender ‚Passungsverhältnisse‘ (Kramer/Helsper 2010), die eine positiv verlaufende Schulkarriere insbesondere in Deutschland und in Österreich unwahrscheinlicher machen.
Vitaro (2005) untersuchte die Best Practice in Vorschulprogrammen, die sowohl die kognitive als auch die soziale und emotionale Entwicklung förderten, und fand, dass jene Projekte am erfolgreichsten waren, die früh starteten, langfristige und intensive Angebote zur Verfügung stellten, eine kontinuierliche Unterstützung und Begleitung der
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Eltern vorsahen, von klaren Curricula mit entwicklungsspezifischen und pädagogischen Zielen geleitet waren und einen positiven Betreuungsschlüssel mit hoch qualifiziertem Personal aufwiesen. (Stamm et al. 2009: 9)
Untersuchungen zum Head Start Programm zeigten, dass sich die vorschulischen Leistungserfolge im Laufe der Elementarschulzeit „verflüchtigten“ können. Head Start konnte somit als preiswertes Programm die hohen Standards des High/Scope Perry Preschool Program und des Chicago Child‐Parent Centers Program nicht erreichen, d.h. es ist in geringerem Maße gelungen, auf die im Vorschulbereich erworbenen positiven Motivations‐ und Verhaltenskompetenzen in der Schule nachhaltig aufzubauen (vgl. Zigler/Styfco 1994). Umso mehr gilt es, exzellente vorschulische und schulische Entwicklungsmodelle zu implementieren, die die Chancen von benachteiligten Kindern und Jugendlichen, d.h. insbesondere Kindern mit Migrationshintergrund, nachhaltig und nicht nur vorübergehend verbessern. Auf einen wichtigen Aspekt sei zuletzt noch hingewiesen: In den neueren Modellen zur Professionalisierung von LehrerInnen wird folgende oft als trivial angesehene Erkenntnis vernachlässigt. Vor allem die Zusammenarbeit mit den Eltern und deren Bildungsaktivitäten erweist sich bei erfolgreichen Programmen als bedeutsamer Faktor für eine erfolgreiche Bildungskarriere.
Resümee
In den vergangenen Jahrzehnten sind Schul‐ und Berufsbildung für eine gesellschaftliche Teilhabe und die Ermöglichung eines individuell und sozial erstrebenswerten Lebenslaufs immer wichtiger geworden. Es ist zu erwarten, dass sich dieser Trend fortsetzt. Folglich ist Early School Leaving bzw. Schulabbruch ein Schwerpunkt politischer und schulischer Bemühungen. Nach den internationalen Forschungsergebnissen liegen zwar die Hauptursachen von Early School Leaving in außerschulischen
Faktoren6, doch eine mehrperspektivische Verbesserung der Schule und anderer
Bildungseinrichtungen würde die innerschulischen Wirkungschancen erhöhen. International anerkannte theoretische Modelle, z.B. die von Bryk et al. (2010), und Prä‐ und Interventionsprogramme sollten auch in Österreich und Deutschland in innovativen frühpädagogischen und schulischen Vorhaben stärker berücksichtigt werden, wobei dies nicht nur einer Verringerung des Schulabbruchs und der Unterstützung der SchülerInnen mit Migrationshintergrund dienen würde, sondern generell dem Ziel, möglichst viele junge Menschen für ein nachhaltiges lebenslanges Lernen zu begeistern, zugutekäme.
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6 Die Schätzungen der innerschulischen Wirkungen auf Schuldistanzierung und Schulabbruch sind von den gewählten Modellen, den Daten und von statistischen Verfahren abhängig. Mickelson/ Nkomo (2012) referieren Reanalysen, die zeigen, dass die Bedeutung schulischer Faktoren in früheren Untersuchungen unterschätzt wurde.
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Ao. Univ.‐Prof. Dr. Erna Nairz‐Wirth ist Leiterin der Abteilung für Bildungswissenschaft an der Wirtschaftsuniversität Wien. Dr. Elisabeth Wendebourg ist Diplom‐Pädagogin und arbeitet zur Zeit an der Hochschule Hannover im Niedersächsischen Institut für frühkindliche Bildung und Entwicklung (NIFBE) sowie als Lehrbeauftragte an der DIPLOMA Hochschule im BA‐Studiengang „Frühpädagogik ‐ Leitung und Management“.
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„Brauche ich das für den Alltag?“ – DaZ in der Erwachsenen‐bildung am Beispiel berufsspezifischer DaZ‐Kurse
BORIS PRINTSCHITZ
Einleitung
Wie lernen Erwachsene? Wie lernen sie vor allem Zweitsprachen – DaZ? Und welche makro‐ und mikrodidaktischen Konsequenzen ergeben sich daraus?
Diese Fragen beschäftigen die Erwachsenenbildung, die Zweitsprachenerwerbsforschung und die Sprachlehrforschung gleichermaßen. Daher soll im Folgenden der Versuch unternommen werden, aktuelle Erkenntnisse dieser drei Disziplinen zu kombinieren und ein Muster für möglichst maßgeschneiderte Kurse – berufsspezifische Deutschkurse mittels Sprachbedarfserhebung – zu entwerfen und anzubieten.
Wobei hier betont werden soll, dass die Bedeutung von Deutschkursen für den Zweitsprachenerwerb nicht genau eingeschätzt werden kann. Studien darüber liegen bisher kaum vor. Zweitsprachenerwerb findet bekanntlich nicht nur in Kursen statt, sondern eben auch durch Sprachkontakte, über Medien aller Art, usw. (vgl. Plutzar 2009: 104).
Ziel muss es daher sein, den empfohlenen Maßnahmen zur Umsetzung der Mindeststandards für nachhaltige Sprachförderung gerecht zu werden und hier vor allem die Empfehlungen für Institutionen und die Didaktik als grundlegend zu erachten. Dazu ein Auszug:
• Differenzierung der Angebote nach Voraussetzungen und Perspektiven der Lernenden.
• Anerkennung und Weiterführung mitgebrachter Ressourcen und Qualifikationen.
• Überwindung der derzeitigen Einheitsangebote in der Erwachsenenbildung durch Entwicklung zielgruppenspezifischer Angebote (Kurse und Prüfungen) …
• Bewusste Wahrnehmung der sprachlichen Aspekte des Sach‐ und Fachunterrichts
• Angebote zur beruflichen, sozialen und kulturellen Weiterbildung über reine Sprachförderung hinaus als Integrationsmaßnahme, die Mehrsprachigkeit zulässt. (Plutzar/Kerschhofer‐Puhalo 2009: 22).
Aktueller Stand in Österreich
Zahlreichen Arbeiten und Aufsätzen zum Themenkomplex Migration, Integration und Bildung ist die Kritik am sog. „defizitären Blick“ auf MigrantInnen gemein. Nicht das bisher formell und informell
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Gelernte und Erworbene steht im Mittelpunkt, sondern fehlende Kompetenzen, vor allem Deutschkenntnisse, die zuerst einmal von Grund auf gelernt werden müssen.
So zeigen die Daten der Statistik Austria, dass es für Personen mit ausländischen Abschlüssen sehr schwierig ist, ihrer Qualifizierung entsprechend adäquate Anstellungen zu bekommen (vgl. Gächter 2010: 162). Gächter kritisiert hier, dass „Ausbildungsmaßnahmen für EinwandererInnen mit im Ausland abgeschlossener Ausbildung fast durchwegs auf eine formelle Dequalifizierung“ zielen. Parallel dazu „zielen auch die Vermittlungsstrategien des AMS bislang (…) auf möglichst rasche Unterbringung in gering qualifizierten Tätigkeiten“ (ebd.).
Im 2. Österreichischen Migrations‐ und Integrationsbericht wird in diesem Zusammenhang von der Schwierigkeit gesprochen, im Ausland erworbenes Wissen in den heimischen Arbeitsmarkt zu übertragen:
Weiters ist insbesondere im Zusammenhang mit berufsspezifischem Wissen eine Umsetzung des im Ausland Gelernten oft nur eingeschränkt möglich, da Ausbildungsinhalte einen Bezug zur sozialen, wirtschaftlichen und rechtlichen Organisationsstruktur eines Landes aufweisen, was einen Einsatz in einem anderen Land ohne ‚Übersetzungshilfen‘ zum Teil unmöglich macht. (Biffl 2007: 280).
Wie könnten alternative Kursmodelle und –inhalte auch im kleinen Umfang im Sinne eines nachhaltigen Lernerfolgs aussehen? Wie können Lernende ob der scheinbar starren Rahmenbedingungen motiviert werden, solche Kursmodelle anzunehmen?
Dazu sei ein kurzer Exkurs erlaubt.
Exkurs: Wissenskonstruktion, Lernmotivation und DaZ
Neurobiologische Erkenntnisse (Roth 1998, 2003) im Sinne eines informationstheoretischen, gemäßigten Konstruktivismus zeigen, dass neu aufgenommene Informationen nicht isoliert abgespeichert werden. Vielmehr wird das Wissen in einem Teilbereich neu konstruiert, indem vorhandenes Wissen und Vorerfahrung mit der neuen Information verbunden werden.
Mithilfe des Modells von Roth lassen sich konstruktivistische Erkenntnisse der Lernpsychologie auf physiologischer Ebene erklären und veranschaulichen (vgl. Abb. 1):
Die Aufmerksamkeit auf neue Informationen wird vom Gedächtnis, also dem vorhandenen Wissen gesteuert. Größere Aufmerksamkeit bekommen also jene Informationen, die in irgendeiner Weise mit bereits bestehenden Gedächtnisinhalten verknüpft sind. Einfach ausgedrückt: Die Aufmerksamkeit steuert, welche Informationen überhaupt wahrgenommen werden (vgl. Holstein/Wildenauer‐Jozsa 2010: 84).
Werden jetzt sprachliche Informationen aufgenommen, findet ein steter Vergleich statt:
Jedes als Wort, Wortgruppe und Satz identifizierte Ereignis wird unbewusst mit Inhalten des Sprachgedächtnisses verglichen. So werden die vorhandenen Bedeutungen aktiviert oder neu zusammengestellt, je nachdem, was für den/die jeweilige(n) SprecherIn am Sinnvollsten erscheint.
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Wird diese neu zusammengestellte Bedeutung sprachlich realisiert, wird diese Struktur allerdings noch nicht automatisch im Gedächtnis verankert. Davor trennt das sogenannte Limbische System für den/die jeweilige(n) SprecherIn wichtige und interessante Informationen von unwichtigen und uninteressanten: Nur die wichtigen und interessanten werden abgespeichert. Diese Bewertungen neuer Informationen werden auch maßgeblich von der individuellen Motivation bestimmt (vgl. ebd.84f).
Roth zufolge kommt „dem limbischen System im Lernprozess“ daher eine „besondere Funktion“ zu. Er bezeichnet es als den „eigentlichen Kontrolleur des Lernerfolgs, da dieses System Affekte, Gefühle und Motivation vermittelt“ (Roth 2003: 22).
Der Zweitsprachenerwerb ist bekanntlich ein psycholinguistischer Prozess, der von
• sprachbezogenen Faktoren (Kenntnisse der L1, L2,… und der typologische Verwandtschaftsgrad zueinander),
• nichtsprachlichen internen Faktoren (Motivation und Einstellung) und
• nichtsprachlichen externen Faktoren (Handlungsabsichten, Optionen in der Gesellschaft der Zielsprache, Bildungserfahrung in der Familie, Kontaktmöglichkeiten mit Muttersprachlern)
beeinflusst wird (vgl. Ahrenholz 2010: 65).
Für Roth sind die nichtsprachlichen internen Faktoren Motivation und Einstellung Basisfaktoren, die über Erfolg oder Misserfolg im Sprachlernprozess entscheiden (vgl. Roth 2003: 22).
Aus konstruktivistischer Sicht werden Lernerfolge umso wahrscheinlicher, je anschlussfähiger neue Informationen an bereits vorhandenes Wissen sind. Folgende makro‐ und mikrodidaktischen Überlegungen und Forderungen ergeben sich daraus:
• Oberstes Ziel didaktischen Handelns ist es, Erwachsene zu motivieren und zu unterstützen, sich lernend mit sich, den Mitmenschen und der Welt auseinander zu setzen. (Siebert 2006: 19).
• Wesentliche Kriterien bei der Gestaltung von Bildungsmaßnahmen für Erwachsene sind daher die zielgruppenadäquate Gestaltung des Angebots (angepasst an Lebenssituation, Ziele und Vorkenntnisse der Lernenden), Niederschwelligkeit, eine entsprechende Preisgestaltung und eine den Zielen und Voraussetzungen von Lernenden angepasste Methodik und Didaktik. (Kerschhofer‐Puhalo 2009: 176).
• … the best language provision is one targeting the concrete personal and professional communication area of migrants, based on a careful diagnosis and consultation progress… (Krumm 2008: 6).
Provokant vereinfacht formuliert, wären die entscheidenden Fragen (erwachsener) Lernender also stets: Lohnt es sich, das zu lernen? Kann ich das verwenden, und wenn ja, wo und wofür?
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Bildungs‐ und Berufssprache Deutsch
Sprechen wir von berufsspezifischen DaZ‐Kursen, sprechen wir weder von der reinen Vermittlung alltagssprachlicher Fertigkeiten allgemeiner DaZ‐Kurse, noch vom Auswendiglernen einiger ausgewählter Fachtermini. Wir sprechen von Vermittlung und Beherrschung der sog. Bildungssprache (vgl. Bethscheider u.a. 2010: 8).
Für Gogolin ist Bildungssprache ein formelles Sprachregister und findet vor allem in Lernaufgaben, Lehrwerken, zusätzlichen Unterrichtsmaterialien und Prüfungen Verwendung. Je weiter die individuelle Bildungsbiographie fortschreitet, desto größer wird die Rolle bildungssprachlicher Fertigkeiten. Zur Ausdifferenzierung zwischen Fächern dienen bestimmte Wortbestände, Redeweisen und Textsorten (vgl. Gogolin 2009:61).
Bildungssprachliche Fähigkeiten sind besonders dann erforderlich, wenn das Handelen nicht auf Basis einer Face‐to‐Face‐Kommunikation erfolgen kann, sondern – wie in Qualifikationsmaßnahmen – über Texte vermittelt werden muss, die sich nicht auf kontextuelle oder interpersonelle Hinweise stützen können und deshalb u.a. explizit, präzise, strukturiert und objektiv sein müssen. (Bethscheider u.a. 2010: 8).
„Tailoring“ – maßgeschneiderte Kurse für Berufssprache Deutsch
„Wer braucht welche Deutschkenntnisse wofür?“ fragt sich in diesem Zusammenhang Barbara Haider in ihren Arbeiten zur Berufssprache Deutsch (vgl. Haider 2008a). Sie verweist somit sowohl auf zentrale Aspekte der Erwachsenenbildung ‐ der relevanten, verwertbaren und anschlussfähigen Informationen – als auch auf die Notwendigkeit bildungssprachlicher Fertigkeiten. Am Beispiel des Nostrifikationslehrgangs für Pflegekräfte zeigt sie, dass diese in ihrer Auslegung nicht als Deutschkurse gedacht und entsprechende Deutschkompetenzen vorab in Eigenverantwortung zu erwerben waren und immer noch sind (vgl. Haider 2008b: 70).
Allgemeinen Deutschkursen mangelt es aber wieder an berufsbezogenen Inhalten und Termini, sodass der „Entwurf eines eigenen Curriculums, eine spezielle Schulung der Lehrkräfte, Entwicklung von eigenem Unterrichtsmaterial, etc.“ nötig wäre, um die Lernenden ggf. auf vorhandene Ausbildungslehrgänge vorzubereiten. Ein „Erwerb von fachspezifischen Deutschkenntnissen“ kann hier „nur als erhofftes Nebenprodukt des Unterrichts gesehen werden“ (Haider 2008b: 70f).
So fordert Bethscheider, dass Weiterbildungslehrgänge „grundlegende Kompetenzen für die Arbeit mit Fachtexten“ vermitteln bzw. weiterentwickeln. Dazu soll neben des „Wissens über sprachliche Strukturen und die Funktion sprachlicher Mittel und Textsorten“ auch „Verstehens‐ und Lesestrategien sowie Lernstrategien (Nutzung von Wörterbüchern und Nachschlagewerken, systematische Wortschatzarbeit, ect.)“ ins Curriculum einfließen (Bethscheider u.a. 2010: 10).
Für Barbara Haider steht am Beginn eines berufsspezifischen Curriculums die kritische Sprachbedarfserhebung: „Mittels einer kritischen Sprachbedarfserhebung wird versucht, ein bestimmtes Sprachhandlungsfeld in seiner Ganzheit zu beschreiben, Machtmechanismen
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aufzudecken und kritisch zu hinterfragen“ (Haider 2008b: 60). Dazu sind mehrere Perspektiven nötig (vgl. ebd. 60f):
objektiver Sprachbedarf: kommunikative Anforderungen im beruflichen Alltag Erwartungen des leitenden Personals Theoretisches Berufsbild
subjektive Sprachbedürfnisse: Wünsche und Erwartungen der Lernenden (Sprachlern‐)Erfahrungen Selbsteinschätzung im Bezug auf Sprachkenntnisse
Szablewsky‐Cavus unterscheidet hier auch zwischen Sprachbedarf und Sprachbedürfnis als elementare Grundlage eines jeden DaZ‐Kurses. Sie lobt, dass das Thema Arbeitsbereiche bereits Eingang in allgemeine DaZ‐Kurse und Lehrwerke gefunden hat, diese aber lediglich am Rande erwähnt werden (vgl. Szablewsky‐Cavus 2008: 40).
Die drei Teilbereiche im Arbeitsleben, in denen es laut Szablewsky‐Cavus Probleme mit der deutschen Sprache geben könnte, sind (vgl. ebd. 40f):
• Arbeitsbezogene Kommunikation z.B. betriebliche Kommunikationsanforderungen, fest definierte Beziehungsstrukturen
• Berufsbezogene Kommunikation z.B. fachliche Kommunikation, Fachtermini, Fachdiskurse
• Qualifizierungsorientiertes Deutsch Lernen in der Zweitsprache – Bildungssprache Deutsch
Bei allen notwendigen Bildungsmaßnahmen ist zu betonen, dass das „Ziel des berufsbezogenen Deutschunterrichts – die Verbesserung der deutschsprachigen Kommunikation im Berufs‐ und Qualifizierungsalltag – nicht allein durch die Vorgabe der besonderen Inhalte und der dazu gehörigen sprachlichen Muster zu erreichen“ ist. Zusätzlich benötigt es eine „gezielte Kooperation und Abstimmung von (Fach)Ausbildungen und dem berufsbezogenen Deutschunterricht“ (ebd.: 42).
Nicht zu vergessen ist hier außerdem der ständige Austausch mit den Betrieben, um die tatsächlich benötigten sprachlichen Mittel arbeitsbezogener und berufsbezogener Kommunikation stets zu hinterfragen.
Geplanter Housekeeping‐Kurs
Im „Haus der beruflichen Bildung und Integration“ (Habibi) des Österreichischen Integrationsfonds finden gegenwärtig Daz‐Kurse auf den Niveaus A1 bis B1 für Asylberechtigte, subsidär Schutzberechtige und MigrantInnen, die die Integrationsvereinbarung nicht erfüllen müssen, statt. Neben den Alphabetisierungs‐ und Computerkursen finden auch verstärkt berufsspezifische DaZ‐Kurse Eingang in den Lehrbetrieb. Im hauseigenen Jobcenter und in Kooperation mit dem AMS bzw. der WKÖ wird immer wieder Bedarf für berufsspezifische DaZ‐Kurse erkannt.
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Am Beispiel des in Planung befindlichen Kurses „Deutsch für Housekeeping“ möchte ich den Wert einer kritischen Sprachbedarfserhebung vor, während, aber auch nach der Kurskonzeption kurz darstellen.
Das makro‐ und mikrodidaktische Vorgehen zur Kurskonzipierung orientiert sich dabei an der kritischen Sprachbedarfserhebung (Haider 2008a/2008b):
Jobcenter im Habibi sieht einen Bedarf an berufsspezifischen Deutschkursen
• Beratungsgespräche mit potenziellen KundInnen finden statt: Teilweise stellt dies bereits eine Bedarfserhebung I in Form von Ausformulierung subjektiver Sprachbedürfnisse dar, die für das Team Sprache dokumentiert werden. Hierzu wird auch bereits verstärkt mit dem Sprachen‐ und Qualifikationsportfolio gearbeitet.
• Es kommen Anfragen bezüglich Deutschkursen von Firmen, aber auch z.B. vom AMS.
Team Sprache – Kontakte mit Firmen und Terminvereinbarungen
• Zu Vorrecherchezwecken und zur weiteren Zusammenarbeit wird eine bekannte Hotelkette kontaktiert und ein erster Gesprächstermin vereinbart.
Bedarfserhebung II – Objektiver Sprachbedarf
• Vor Ort wird ein erstes theoretisches Berufsbild erarbeitet. Folgende Fragen stehen am Anfang: Gibt es ein (internes) Weiterbildungsprogramm? Gibt es dazu Material? Ein Ausbildungsprogramm gibt es für den konkreten Fall z.Z. keines. Am Markt finden sich ein „Houskeeping“‐Lehrwerk für Deutsch als Erstsprache bzw. diverse Schulungsprogramme zur Sensibilisierung des Managements für ein effizientes, hausinternes Houskeeping‐Programm.
• Erwartungen der Hotel‐ bzw. Personalleitung werden aufgenommen und möglichst konkretisiert: Welche Deutschkenntnisse, möglichst mit Beispielen, werden für dieses Berufsfeld gefordert? (mögliche Handlungsfelder, Gesprächssituationen, usw.) Bei den meist recht allgemeinen Formulierungen durch die Hotelleitung z.B. „Arbeitsanweisungen verstehen“ wird nachgefragt z.B. „Welche Arbeitsanweisungen meinen Sie genau? Wie werden diese Anweisungen weitergeleitet? Persönlich, telefonisch, via E‐Mail?“ Danach wird ein Überblick über sprachliche Handlungsfelder, sprachliche Fertigkeiten, Textsorten, usw. erstellt.
• Erfassung der kommunikativen Anforderungen im beruflichen Alltag: Hierzu werden Interviews mit MitarbeiterInnen und VorarbeiterInnen aus dem beruflichen Kontext durchgeführt. Zusätzlich findet eine Begleitung im beruflichen Alltag statt
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(„Shadowing“), eine Praxis, die viel Überzeugungsarbeit bei der Hotelleitung bedurfte. Folgende Fragen sind hierzu hilfreich: Was sind Ihre täglichen Aufgaben? Wo brauchen Sie Deutsch? Mit welchen Leuten haben Sie Kontakt? Wo sehen Sie sprachlichen Bedarf? Für den konkreten Fall waren z.B. das Telefonieren bzw. konkreter Wortschatz gefordert. Auch mit diesem sprachlichen Input wird ein Überblick über sprachliche Handlungsfelder, sprachliche Fertigkeiten, Textsorten, usw. erstellt.
Intensive Material‐ Kurs‐ Projektrecherche
• Was gibt es bereits an Unterrichtsmaterialien? Eine intensive Recherche verschafft einen Eindruck über die Materie. Die KursentwicklerInnen betreten hier nämlich auch teilweise absolutes fachliches Neuland. Konkret zu diesem Berufsbild gibt es wenig ergiebiges Material, das speziell für den DaF/DaZ‐Bereich ausgelegt ist: Cornelsen: Erfolgreich in Gastronomie und Hotellerie Langenscheidt: Zimmer frei. Pfleger/Steinmetz: Housekeeping. Management im Hotel.
• Gibt es ggf. sogar laufende und/oder abgeschlossene Projekte und/oder Evaluationen? Am Kompetenzzentrum NOBI1 und deren Koordinierungsstelle für berufsbezogenens Deutsch findet sich ein Leitfaden zur Umsetzung von berufsbezogenem Unterricht Deutsch als Zweitsprache. Die Unternehmungsberatung 3S in Wien hat im Auftrag der MA 27 eine Studie zu folgendem Thema durchgeführt: Wissensempowerment – Förderung der beruflichen Weiterbildungskompetenz und Weiterbildungsmotivation von bildungsfernen Gruppen in Wien und dazu europaweit sog. Best‐Practice‐Beispiele gesammelt und ausgewertet. Das Deutsche Institut für Erwachsenenbildung (DIE) legte eine Expertise zum sprachlichen Bedarf von Personen mit Deutsch als Zweitsprache in Betrieben vor, um nur die wichtigsten Ergebnisse der Recherche kurz zu erwähnen.
Bedarfserhebung III – Objektiver Sprachbedarf
• Präsentation der Rechercheergebnisse und der Befragungen und eine erneute Besprechung zwecks Abklärung und Konkretisierung der konkreten Inhalte mit der Hotel‐ bzw. Personalleitung werden durchgeführt. Darin werden auch die Pflichten der Hotel‐ bzw. Personalleitung (z.B. Schnupperpraktikum während des Kursbesuchs) fixiert.
1 Kompetenzzentrum NOBI (norddeutsches Netzwerk zur beruflichen Integration von Migrantinnen und Migranten)
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Erstellung eines Curriculums inkl. Praktika während der zweiten Kurshälfte
• Ein Rahmencurriculum mit Themenfeldern (z.B. Hotelaufbau und –organisation, Berufe im Hotel, Berufsbild „Housekeeping“, Arbeitsalltag „Housekeeping“, Kommunikation mit Rezeption, Gästen, …) wird erstellt.
• Globale und detaillierte Kann‐Beschreibungen werden ausformuliert. z.B. Arbeitsalltag „Housekeeping“ Global Produktion mündlich: Die TN/innen kennen die Anforderungen an dieses Berufsfeld und können das Aufgabenspektrum sowie sämtliche Tätigkeiten, die damit verbunden sind, beschreiben. Detail Produktion mündlich: Die TN/innen können den Ablauf einer Zimmerreinigung Schritt für Schritt beschreiben und dabei das benötigte Fachvokabular anwenden.
Erstellen von Unterrichtsmaterialien
• Möglichst authentisches, praxis‐ und alltagsrelevantes Material wird im Team erstellt.
• Die Verwendung des SQuP2 (vgl. Verein Integrationshaus) soll dabei einen wesentlichen Beitrag leisten.
Einschulung der TrainerInnen
• Künftige TrainerInnen werden zu Projektstand, Curriculum, neue Materialien, SQuP, etc. eingeschult, bzw. teilweise waren TrainerInnen an der Projektentwicklung beteiligt, die auch Kurse leiten werden.
Bedarfserhebung IV – Vorbesprechung der TrainerInnen mit interessierten TN
Künftige KursleiterInnen führen erste Infogespräche über Inhalte und Methoden mit interessierten TeilnehmerInnen durch.
Start des berufsspezifischen Deutschkurses (Pilotkurs zwecks paralleler Nachbesserung)
Geplante Finanzierung durch ÖIF, AMS bzw. Firmen ist derzeit unklar. Derzeit wird von Wirtschaftsseite kein aktueller Bedarf gesehen.
2 SQuP = Sprachen‐ und Qualifikationsportfolio
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Derzeitiger Projektstand, Ausblick und Wünschenswertes
Der Anspruch an die kritisches Sprachbedarfserhebung im Gegensatz zur deskriptiven Sprachbedarfserhebung liegt darin, über die bloße Beschreibung des Ist‐Zustandes hinaus zu gehen um bestehende Strukturen zu hinterfragen und ggf. nach Reformmöglichkeiten zu suchen (vgl. Haider 2008b: 61). Wünschenswert wäre dazu allerdings eine grundsätzliche Diskussion, ob Kurse dieser Art für sogenannte „unqualifizierte“ Personen wirklich hilfreich und nachhaltig sind, oder ob sie lediglich der Einzementierung des Status Quo dienen. Außerdem wäre eine sprachwissenschaftliche Begleitung in Form von Evaluierungen z.B. der Kann‐Beschreibungen, wie sie Vogt (2011) für kaufmännische Berufssprachen durchgeführt hat, unerlässlich. Eine Gesamtevaluierung im Sinne einer beruflichen Nachhaltigkeit nach erfolgreicher Absolvierung der Kurse wäre darüber hinaus wünschenswert. Aus diesen Gründen sind unabhängige Kooperationen mit den Universitäten, den Trägern der Erwachsenenbildung und den NGO´s zu begrüßen. Der aktuelle Projektstand „Deutsch für Housekeeping“ gibt z.Z. leider wenig Anlass zur Hoffnung: Zwar liegt das Kurskonzept inklusive Unterrichtsmaterialien komplett ausformuliert vor, weder der Pilotkurs noch ein Regelbetrieb sind allerdings derzeit vorgesehen.
Literaturverzeichnis
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Abbildungen:
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„TORTILLA‐CURTAIN UND STEAK‐HOLDER“. Migration und Integration aus einer Perspektive der Sozialpädagogik
REINHOLD STIPSITS
Der Begriff Migration erfreut sich einer gewissen Konjunktur und wirbelt gleichzeitig viel akademischen Staub auf. Viel Unklares kommt in den Blick, und manches bleibt im Verborgenen, auch wenn Suchscheinwerfer disziplinären Fragens Aufklärung über die Grenzen herbeiführen wollen.
Im Monat März 2011 konnte ich als Visiting Scholar an der University Austin, Texas, einige Aufschlüsse über sogenannte illegale Migration aus Mexico in die USA gewinnen, die ich reflektieren möchte. Und ich beginne mit einer Erklärung des ambivalenten Titels, der ja möglicherweise zu Irritationen geführt hat.
Was heißt Tortilla Curtain, was heißt Steak‐holder?
Sie haben es vielleicht erkannt: Tortilla Curtain ist der literarisch verspielte Ausdruck den der amerikanische Autor T.C. Boyle in seinem Roman Tortilla Curtain (1995) auf Deutsch „América“ (1995) für die Grenze zwischen Mexiko und den USA gefunden hat. Der Ausdruck Tortilla Curtain bezeichnet eine nahezu romantisierende Formel, die Beschreibung der Grenze zwischen den USA und Mexiko. Im Roman prallen die westlich‐bürgerlichen Werte der situierten amerikanischen Mittelschicht und die Wertvorstellungen illegaler Einwanderer aus Mexiko aufeinander. Die Handlung ist, kurz gesagt, die verwobene Geschichte zweier Familien, die zunächst nichts miteinander zu tun haben, und dann durch das Schicksal der Romanfiguren ständig in das Leben der anderen verstrickt werden. Die einen, die illegalen Einwanderer, stürzen praktisch von einer Kalamität in die nächste ziehen die anderen, die Repräsentanten der weißen Mittelschicht, mit hinein in ihren Überlebenskampf. Der nach eigenen Worten „liberale Humanist“ wandelt sich zum rassistischen Ausländerhasser.
1Das einfache Maisbrot und die saftigen Steaks sind schier unverträglich. Beunruhigend und aufwühlend, wie es dem Autor T.C. Boyle gelingt, den clash of cultures darzustellen. Und den Leser überkommt das Gefühl, ob man sich seiner Werte so sicher ist, kann in Ausnahmesituationen getrost bezweifelt werden. Und das Leben an der Grenze bietet offenbar ständig Ausnahmesituationen.
Die von mir gewählte Bezeichnung nimmt also jene Personen in den Blick, die mit Tortillas als Grundnahrungsmittel aufgewachsen sind, MigrantInnen in die Vereinigten Staaten aus dem Raum Mittel‐ und Südamerika. Zugegeben, stereotypisch formuliert, gelten diese Menschen als große Kinder, mit einem Hang zu ausgelassener Fröhlichkeit und einem Talent für „conviviality“, also Lebensfreude, sofern man sie nur leben lässt. Ivan Illich, der in Wien geborene Kroate und große
1 Tortilla bezeichnet das mexikanische Fladenbrot. Steak ist charakteristisch für Gegenden wie Texas.
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Kritiker westlicher Technokratie, der viele Jahre in Mexico gearbeitet hat, hat Menschen mit dem Hang zur conviviality einmal jene genannt, die das Gegenteil von industrieller Produktivität hochschätzen (Illich, Selbstbegrenzung – tools for conviviality 1973, 32).
Die Bezeichnung steak‐holder ist (zumindest phonetisch) nicht weniger mehrdeutig. Gringos, das ist die etwas abschätzige Bezeichnung der Mexikaner für ihre weißen amerikanischen Nachbarn. Deren heimliches Ideal ist der lonesome hero, der auf sich allein gestellte Kämpfer, der seinen Besitz verteidigt. Gringos sind Steak‐Esser. Die Steak‐Holder haben es sich gerichtet, und sie haben es bemerkt, pun intended, meint also ein von mir beabsichtigtes Wortspiel: Denn, „Stakeholder“ sind üblicherweise „Anspruchsberechtigte“ oder „Anspruchsträger“ aufgrund von Besitz. Ihre Interessen sind weitgehend auch mit den rechtlichen Fassungen von Eigentümerrechten abgesichert und werden darin formuliert. Im hier gemeinten, doppelbödigen Sinn, sind „steak‐holder“ auch jene Personen, die es sich leisten können, Steaks zu braten, jede teure Anschaffung von der Grundversorgung bis zu den Interessen an der Wahrung ihres Einflusses im Staat abzusichern. Steak‐holder / Stakeholder können ihren Wohlstand wahren, weil sie ihre Interessen zu verteidigen in der Lage sind. Individueller Wohlstand wird nahezu buchstäblich fundiert durch Anteile an Grund und Boden, materieller Wohlstand wird aus Einkünften erreicht, Gewinne erzielt, die nicht durch körperliche Arbeit, sondern durch ökonomisches Geschick entstehen. Stakeholder sichern durch ihren Einfluss auf die Rechtwerdung und Rechtssprechung ihre Vorteile und ihren Status ab.
So weit vorerst zum Titel.
Meine zentrale These ist: Die Situation an der Europäischen Außengrenze und der Grenze zwischen den USA und Mexiko hat erstaunlich viele Parallelen und doch finden sich recht kontroverse Vorstellungen von sozialpädagogischen Maßnahmen zum Thema Integration. An beiden Grenzen ist Migration vorwiegend in der einen Richtung unterwegs: Von den sozial und wirtschaftlich benachteiligten Regionen mit einer ökonomisch gesehen armen Bevölkerung, die in die prosperierende Wohlstandgesellschaft drängt. Die MigrantInnen stammen meist aus Ländern mit überdurchschnittlichem Bevölkerungswachstum, und sie werden förmlich von Verheißungen dieser Wohlstandsgesellschaft angezogen. Sie sind mit dem Versprechen ausgestattet, dass the pursuit of happiness nach westlicher Wertvorstellung üblich sei, ja sogar, dass das Streben nach dem Glück verfassungsmäßig garantiert sei.
Was an politisch Verfolgten einer keineswegs „einheitlichen Ethnie“ aus Asien nach Europa will, ähnelt in gewisser Weise den unzähligen von Bürgerkriegen und Armut geschlagenen Menschen aus dem Raum Mittelamerika. So werden die „Tore Europas“ zwischen den beiden NATO Ländern Griechenland und Türkei zu einer schmalen Öffnung wie eine Schleuse schmal, und an dem Fluss Evros kommen pro Tag bis zu 200 Flüchtlinge oder illegale Einwanderer in die europäische Union. Die Mehrzahl der illegalen Einwanderer kommt aus den Staaten: Afghanistan, Irak, und Nordafrikanische Staaten. Da wie dort: niedriger sozialer Status kennzeichnet vor allem die illegalen Einwanderer. (Quelle: http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,737341,00.html vom 1.1. 2011)
Die stakeholder wahren ihre Ansprüche und Interessen durch die Gesetzgebung, die den europäischen Raum sichert oder verteidigt. Insofern lässt sich eine andere Parallele auch bezüglich der Überwachung an den Grenzen aufzeigen: Was an der EU Außengrenze in das Aufgabengebiet der
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FRONTEX2 fällt, übernimmt zwischen Mexico und den USA die Border Patrol3. Und nach dem Vorbild der Regierung der USA hat doch Griechenland im letzten Jahr mit einem Wunsch nach einem Zaun als Grenzwall aufhorchen lassen.
Wer sich mit Migration befasst, nimmt einen Begriff mit in den Blick, der sich als nahezu selbstverständlich aufdrängt: den Begriff der Grenze. Der Name Grenze kommt als eines der markanten Worte aus dem Slawischen, was ursprünglich „Hranica“, also Grenze geheißen hat.
Und so wie gar nicht weit von Graz, als dem Austragungsort dieses Symposiums, eine Grenze zwischen dem slawischen und dem deutschsprachigen Sprachraum besteht, mit allen Konsequenzen für die wechselhaften Beziehungen zwischen den Angehörigen beider Gruppen, finden sich sprachliche und kulturelle Grenzen in einer analogen Weise in den USA mit Mexico. Diese Grenze gilt als jene mit dem meisten Grenzverkehr bzw. den häufigsten Grenzübertritten weltweit.
Nirgendwo sonst auf der Welt ‐ wie zwischen den USA und Mexico ‐ treffen so unmittelbar die so genannte Erste und Dritte Welt aufeinander. Der reiche Norden und der arme Süden. Obendrein in den Zeiten der Kolonialisierung der Neuen Welt waren beide Seiten der heutigen Grenze Bestand eines gemeinsamen Reiches. Gerade heuer feiert man in Texas die 175 Jahre der Erinnerung an Alamo, als der Staat Mexico noch Landesteile vom heutigen Kalifornien, Arizona, New Mexico und Texas umfasste. Damals 1835/36 hat man immerhin gegen die Mexikaner eine Belagerung verloren, aber daraus den „Spirit of Texas“, zumindest dem selbst erzählten Mythos nach, gewonnen. Damals wie heute prallen in der Region zwei Gesellschaftssysteme aufeinander. Die Mehrzahl der Migranten und Migrantinnen in den USA sind „Latinos“. Mit dieser Sammelbezeichnung sind Menschen aus den Ländern Mexiko und Guatemala, auch anderer Mittel‐ und Südamerikanischer Staaten, inklusive Brasilien gemeint. Sie hoffen zwar auf legale Einreise in die reichen USA, aber sie riskieren ihr Leben auch als illegale Einwanderer über den Tortilla Curtain.
Wir finden auch ganz andere Namen dafür: Todesstreifen, Eiserner Vorhang, The Wall, The Fence. Die „reaper´s line“ (vgl. Morgan, Lee, II, The reaper's line: life and death on the Mexican border, 2006), meint eine Schneise, die der Sensenmann, also der Tod, schlägt. Und hier an der Grenze zwischen der ersten und der dritten Welt schlägt der Tod erbarmungslos zu.
Zuerst will ich einige Bemerkungen über die „Berechtigung“ machen, dass an der Grenze eine so deutliche Schneise gezogen wird. Das einschlägige Gesetzespapier ist der Sicherung der Grenzen gewidmet und hat weit reichende Aufgaben: Das Homeland Security Department beruft sich bezüglich des Grenzschutzes auf den Secure Fence Act 102.
Secure Fence Act
Section 102 of the Secure Fence Act requires the Department of Homeland Security to construct – in the most expeditious manner possible – the infrastructure necessary to
2 Frontex: European Agency for the Management of Operational Cooperation at the External Borders of the Member States of the European Union), gegründet 2007 mit den Aufgaben der Überwachung der EU Außengrenze hat den Sitz des Hauptquartiers in Warschau. 3 United States Border Patrol ist ein bewaffneter Polizeiverband, der dem Department of Homeland Security unterstellt ist und bereits 1924 gegründet wurde. Die USBP hat die Überwachung der US Außengrenze zu sichern und vor allem die illegale Einreise in die USA zu verhindern.
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deter and prevent illegal entry on our Southwest Border, including pedestrian and vehicle fencing, roads, and technology.
Gaining effective control of our nation’s borders is a critical element of national security. Among other benefits, this will help make our nation’s borders more secure by:
Establishing a substantial probability of apprehending terrorists seeking entry into the United States
Disrupting and restricting the smuggling of narcotics and humans
Preventing violence against border residents and illegal immigrants
Promoting better environmental health along the Southwest Border
Restricting potentially harmful diseases (both human and agricultural) from crossing the border.
Quelle: http://www.dhs.gov/files/programs/editorial_0128.shtm
Nationale Sicherheit zu garantieren ist das Hauptanliegen der Grenzpatrouille. Mit dieser umfassenden Aufgabe ist eben die Border Patrol beauftragt und steht damit in den Diensten der inneren Sicherheit des Landes. Die CBP (The Customs and Border Protection) ist im Zuge der SBI (Secure Border Initiative) autorisiert, Maßnahmen zu ergreifen, die sowohl den Fracht und Güterverkehr betreffen, als auch darüber hinaus biometrische Daten zu erheben von jenen Personen, die nicht US Staatsbürger sind, wenn sie an einer Einreisestelle ankommen, oder von jenen, die Nicht‐US Staatsbürger sind, und versuchen auf illegale Weise in das Land einzureisen. Trotz dieser vermehrten Anstrengung gelingt es immer wieder illegalen Einwanderern in die USA überzusetzen.
Einige Zahlen seien genannt, die Auskunft geben können, ohne dass das Problem der Grenzgänger damit wirklich erfasst werden kann. Statistik ist nun einmal keine emotionale Angelegenheit, außer man sagt, es sei aufregend, zu erfahren, dass schon wieder eine Anzahl von „illegalen Einwanderern“ an der Grenze unter dramatischen Umständen ums Leben gekommen oder bloß aufgegriffen worden sei, und wieder zurückgeschickt wurde.
Hier sind einige Daten aus dem Bereich der USA an den Grenzen zu Mexico. Betroffen sind die Staaten California, Arizona, New Mexico und Texas.
Die Länge der Grenze beträgt 1952 Meilen, also etwa 3.150 Kilometer.
Ein Gesetz aus 2006 erlaubt den Bau von neuen befestigten Grenzeinrichtungen auf mehr als 700 Meilen, also ca. 1.150 Kilometer Länge, auf vielen Meilen lang davon ist die Fertigstellung ungewiss.
Seit 1904 patrouilliert die US Grenzwache, damals vor allem um asiatische Einwanderer zu verhindern. Ca. 900 000 Mexikaner flohen im Zusammenhang mit der Revolution von 1910 in die USA, aber in den dünn besiedelten Gebieten und dem Bedarf an Arbeitskräften war Migration kein Thema. Die Einwanderungszahlen explodierten förmlich seit 1990, nach dem NAFTA Abkommen zwischen Mexiko und den USA, einem Freihandelsabkommen, das eigentlich dazu erdacht war, die Einwanderung zu stoppen. Es ist eine Tatsache, dass die Bewohner an der Grenze in den USA von
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ihren südlichen Nachbarn leben. Zäune treiben die Preise nach oben. Und, bei all den Millionen Einwanderern, die ihr Glück im Gelobten Land versuchen ‐ wäre dort keine Arbeit, würden viele es auch nicht riskieren, einzureisen.
Gemäß den Zahlen des Migration Policy Institute leben mehr als Eine Million Einwanderer ohne Papiere in Texas. (Siehe http://www.texastribune.org/immigration‐in‐texas/immigration/)4. Die Gesamtbevölkerung von Texas beträgt derzeit ca. 25 Millionen.
Aufgrund seiner geografischen Nähe zu Mexico lebt in Texas die zweithöchste Anzahl nach Kalifornien, von diesen illegalen Einwanderern in den USA (Quelle: The Texas Tribune, March 13th, 2011).
In einem offiziellen Bericht der Civil Rights Commission aus dem Jahr 2003 wird festgehalten, dass nach Schätzungen der Regierung seit Mitte der Neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts an der Grenze zu Mexiko ungefähr zweitausend Menschen beim Versuch, die unbefestigte Grenze zu überqueren, zu Tode gekommen sind. Todesursachen waren Dehydration (weil eben Menschenschmuggler die Flüssigkeitsaufnahme der eingeschmuggelten MigrantInnen auf ein Minimum reduzieren) oder Tod durch Ertrinken, wenn ungeübte Schwimmer im Rio Grande die Überquerung der Grenze versuchen, oder Tod durch Erschöpfung, aufgrund der unzulänglichen Grundversorgung während der „Einreise“.
Immer wieder faszinieren Berichte von Überlebenden, bei denen hörbar wird, wie knapp das Überleben geschafft wurde.
Einige der nachfolgenden Daten verdanke ich Luis Sandoval, einem in den USA lebenden, aus Mexico gebürtigen Psychologen. Sandoval verweist auf die Praktiken von Coyotes, den Schleppern, die ihren Tribut von den MigrantInnen erpressen. Die Zahl der (illegalen) Einwanderer von Mexiko in die USA hat sich von 2000 bis 2009 dramatisch erhöht. Mit mehr als 6,5 Millionen Einwanderer (2000 waren es „nur“ 4,5 Millionen) steht Mexiko mit Abstand an der Spitze der Herkunftsländer von allen Einwanderern in die USA. Die nächstfolgenden Herkunftsländer erreichen bei weitem keine Million, und aus anderen Ländern zusammen, die nicht Lateinamerika umfassen, sind es insgesamt auch nur 1,5 Millionen Einwanderer. Entsprechend dieser „Beliebtheit“ bei mexikanischen MigrantInnen haben sich die „Tarife“ der Schlepper für den gefährlichen Transport erhöht.
Einfache oder Deluxe Packages machen die Einwanderung zu einem profitablen Business, ohne Skrupel und ohne Moral. Menschen, wie Sardinen in Lastwagen geschlichtet, zahlen an die Coyotes (das ist der Name der Person, die beim illegalen Übertritt über die Grenze „hilft“). Das einfache Package, also einfache Überfahrt, mit einer Chance die Grenze zu passieren, kostet eine Menge und wird mit Konditionen angeboten. Für den willigen Migranten liest sich das dann so: Minimum an erforderlichem Bargeld: fünf Dollar pro Tag. Dann eine Summe xx an den Coyoten. Mitzunehmen ist nur eine Ersatzkleidung in einem kleinen Rucksack, KEINE extra Verpflegung, KEIN extra Wasser. Zusätzliches Geld ist erforderlich für die Abwehr von Raub, Vergewaltigung.
4 Eine sehr informative und “objektive” Berichterstattung bietet „The Texas Tribune“, die eine „Literary review“ zu einschlägigen Themen eines Zeitungsverbunds liefert.
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Mit dem Anwachsen des Zauns an der Grenze wurden die Tarife für die Coyotes stetig teurer. Im Jahre 2007 zahlte man 1.500 Dollar bei einfachem Übertritt mit einer Chance. Inzwischen sind bis zu 5.000 Dollar für den einfachen Übertritt zu zahlen.
Das Deluxe package sieht vor, einige Liter Wasser inklusive. Warum ist das bereits deluxe? Wasser ist teuer in der Wüste. Aber ‐ wer Wasser trinkt, muss öfter seine Notdurft verrichten. Also steigert er das Risiko, aufgegriffen zu werden, wenn der Lastwagen anhält. Und das erhöhte Risiko ist zu bezahlen.
Befürworter der Einwanderungspolitik in den USA sprechen sich dafür aus, Einwanderung großzügig zuzulassen. Sie meinen, dass ohne die Anzahl der Einwanderer (auch der illegalen) der Arbeitsmarkt daniederläge, dass am Baugewerbe, der Landwirtschaft und in zahlreichen Dienstleistungsbetrieben ohne diese Schattenarmee an Beschäftigten das Lebensniveau in den US Haushalten nicht aufrecht zu halten wäre. Je näher an der Grenze Menschen leben, umso eher argumentieren sie sachlich, weil sie auch viele verwandtschaftliche Beziehungen zu „drüben“ haben (vgl. Bowden 2007).
Eine Allianz von Befürwortern aus Industrie und Handel stößt auf eine Front von Ablehnung durch jene, die meinen, der Staat würde bereits viel zu viel für die Einwanderer ausgeben. Sozialstaatliche Argumente spielen dabei nur eine geringe Rolle. Vorurteile werden schnell konstruiert und nachhaltig verbreitet.5 Soziale Verträglichkeit wird an Rechte für Teilhabe geknüpft. Feindbilder werden durch Neid und Missgunst geschürt. Eine nicht zu unterschätzende Kraft machen Vorurteile bezüglich prestigearmen und prestigeträchtigen Herkunftsländern aus. Latinos genießen keinen hohen Status an Sozialprestige. Schnell kann man daher meinen, es gäbe einfach „zu viele“.
Hier einige Zahlen aus der Tabelle 1 der Einwanderungsstatistik in den USA
Einige rechtliche Unterschiede bestehen in den „Zielländern“. Harte oder weniger harte gesetzliche Regelungen in Europa bestehen zwischen Staaten und bezüglich der Einreise und Weiterreise von Migranten, Asylanten und Flüchtlingen. In den USA gibt es den Terminus sanctuary cities mit einem durchaus umstrittenen Status. Sanctuary Cities ‐ man muss dabei an Refugien denken und ist weit weg von romantisierenden Vorstellungen der heilen Welt.
Was sind Sanctuary Cities? Sanctuary Cities ist kein gesetzlicher Ausdruck, aber ist inzwischen ein Schlagwort für jene Städte in Texas geworden, die sich bezüglich der verstärkten gesetzlichen Kontrolle von illegalen Einwanderern zurückhaltend geben. Grundsätzlich gilt, nach dem Gesetz darf die Polizei jemanden nicht anhalten, oder auf Verdacht hin festnehmen und befragen, wenn nicht ausdrücklich ein Vergehen gegen den Beschuldigten nachzuprüfen ist. Dementsprechend sind Vergehen von Einwanderern in der Mehrzahl nach dem Zivilrecht zu ahnden. In Sanctuary Cities wird die Aktion „Law enforcement“, also Festhalten auf Verdacht, nicht ausgeführt (siehe Aguilar 2011).
5 Das muss uns doch bekannt vorkommen! Zumindest der Boulevard schreibt in Österreich in einem ähnlichen Tonfall der Ablehnung von MigrantInnen. Im Zuge der Aufhebung der Arbeitsplatzbeschränkungen für Angehörige aus den angrenzenden EU Staaten mit 1. Mai 2011 sind auch in Österreich derartige Aussagen vernehmbar. Schätzungen über Einwanderungsabsichten decken sich nur selten mit den nachträglich ermittelten Zahlen. Interessensgebundene Aussagen sind bestens geeignet, Vorurteile zu konstruieren und wach zu halten.
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Die Einstellungen und Reaktionen der Bevölkerung sind dazu ausgewogen verteilt:
Nur 14 % befürworten das Existieren von Sanctuary Cities, 17 % sind strikt dagegen, 69 % der Bevölkerung haben keine Meinung dazu. Einige glauben, dass Houston eine Sanctuary City sei, andere ‐ und darunter sind die obersten Behörden der Einwanderung ‐ verneinen diese Auffassung.
Das Gesetz HB 12 sieht vor, dass in Texas, so wie seit dem Jahr 2010 in Arizona, jedermann jederzeit von der Polizei festgehalten werden kann, um auf die Daten und seinen Verbleib hin befragt zu werden. Dass sich diese Maßnahme in der Praxis natürlich in erster Linie gegen jene Population wendet, die allein schon dem Augenschein nach, also vom Phänotyp her, Latinos sind, ist evident. Wer wie ein Ausländer aussieht, ist potentiell verdächtig. Klar gedeiht eine politische Praxis der Verdächtigung prächtig, besonders wenn sie geschürt vom Misstrauen gegenüber dem Fremden etabliert wird. Sie ist im Grunde nur abzulehnen.
Sanctuary Cities meint also jene Städte, in denen derartigen Verdächtigungen nicht so sehr nachgegangen wird. Und dabei ist vor allem zu bemerken, dass die meist über die grüne Grenze Eingewanderten in diesen Städten einer regulären Beschäftigung nachgehen. Das heißt: Wenn es den Einwanderern (und in der Mehrzahl sind es Mexikaner) gelingt, Arbeit zu finden, erhalten sie in diesen Regionen der Sanctuaries eine Sonderaufenthaltsgenehmigung.
Sanctuary Cities sind einer humanen Geste entsprungen, heben aber keineswegs die erfahrene Ungerechtigkeit auf. Die Pädagogische Provinz feiert hier keine fröhlichen Urstände, sondern hat sich mit den Möglichkeiten des Arbeitsmarktes arrangiert. Wer am Arbeitsmarkt gebraucht wird, hat eher Chancen auf einen humanen Umgang. Refugien sind alles andere als kostenlos zu haben.
Grenzregime
Ein sozialpädagogischer Blick kann nur umfassend auf diese Situation hinschauen und beide Seiten der Grenze in den Blick nehmen. In generalstabsmäßiger Manier sind hier verflochtene Zusammenhänge organisiert, die auf den ersten Blick nicht leicht zu erkennen sind.
Menschenhandel, Menschenschmuggel, trafficking, so die international verbreitete Bezeichnung, ist ein ungeheures Geschäft. Menschenhandel ist inzwischen ein Industriezweig, der nur gut organisiert funktioniert. Profiteure sitzen auf beiden Seiten der Grenze. Als nicht unbedeutende Nebenzweige dieses Geschäftes sind Drogenschmuggel, Drogenhandel und Waffenhandel zu nennen. Die Drogenkartelle sind wie internationale Firmen aufgebaut, mit klarer Befehlsstruktur und sind Kartelle, die den Markt beherrschen. Als Nebenzweige des Geschäfts gehören Prostitution und Beschaffungskriminalität dazu. Ein massives Problem ist die allerorts eingestandene Korruption. Auch dazu einige Zahlen: Wenn ein Transport mit Menschen pro Nacht ca. 20 Personen umfasst, so sind bei 5.000 Dollar pro Nacht an transportiertem „Wert“ 100.000 Dollar „Gebühren“ fällig. Für die Summe von beispielsweise 50.000 fällt es dann den Behörden schon ein, die Grenze genau zu kontrollieren, aber in die andere Richtung zu schauen. Korruption ist für gewöhnlich der Machtmissbrauch anvertrauter Macht in einer Funktion zu privatem Vorteil. Allerdings, die Macht der Grenzbehörden steht auf dünnen Beinen. Schon mit einer Zusatzbemerkung, der Grenzer habe doch Familie, und seine Kinder wollten eventuell in den USA studieren ‐ was bekanntlich sehr teuer
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ist ‐ macht es auch loyalen Gesetzeshütern schon sehr schwer, nicht beide Augen zuzudrücken. Man könnte in der Nacht so viel verdienen, wie die ganze Familie für mehr als das Jahr zum Leben benötigt. … Noch mehr Geld ist nur mit Waffenhandel und dem Drogenschmuggel zu machen. Das ist obendrein noch gefährlicher. Die derzeit kolportierten Tarife sind: Für einen Auftragsmord an einem Konkurrenten: 200 Dollar. Wenn die Leiche unauffindbar bleiben soll, dann steigt der Tarif auf 500 Dollar. Mit der Korruptionsbekämpfung ist die Border Patrol gerade in den eigenen Reihen sehr beschäftigt.
Als Nebenschauplatz verblasst dagegen die Einwanderung, sei es die legale oder illegale Einwanderung. Und die (bei uns) so hochgespielte Frage der Integration ist, man muss es leider so nennen, auch nur von sekundärer Bedeutung. Der Markt beherrscht die Szene. Also die Nachfrage bestimmt das Angebot, und die Wege zur Versorgung werden sichergestellt. Wenn Peripherie dazu benutzt wird, das Zentrum zu bedienen, so stellt die Grenze nur einen Zwischen‐Fall dar: Das Leben an der Grenze läuft dann reibungslos, wenn die Verkehrswege nicht aufgehalten werden, wenn das Geschäft nicht ins Stocken kommt. Sozialpädagogen mit Bemühungen um Integration sind allemal Zweite, oder gar erst nur Dritte nach den Überwachungsorganen und den Abnehmern der Ware. Hinter den politischen und den rechtlichen Rahmenbedingungen für einen Markt ist das triviale menschliche Elend, ob die Anpassung an neue Lebensumstände gelingt, oder das Überleben überhaupt eine Chance bekommt, wird dem Einzelnen umgehängt. Ein Unterschied besteht zwischen staatlichen und privaten Helfern in Europa oder den USA. Das Land, in dem pursuit of happiness in der Verfassung steht, überlässt die soziale Integration weitgehend dem Einzelnen. Der Staat hat von sich aus keine großen Ambitionen, soziale Netze zu spannen (siehe Sandoval 2011). Eine beachtliche Rolle spielen die Vertreter kirchlicher Gemeinschaften. Auf ihren Einfluss wird gehört. Community based work ist durchaus erwünscht, wenngleich wiederum von privaten Stiftungen und Fonds getragen und auf diese angewiesen.6
Die tex/mexanische Grenze zeigt das Primat der Politik vor der (Sozial‐) Pädagogik. So wird Regierung zu einem bestimmenden Faktor. Rahmen, Ordnungen werden hergestellt im Wege der Verordnung, der Gesetze. Und das Regulativ heißt einmal mehr: Wer zahlt, schafft an. Betrüblicherweise, muss man konstatieren. Der Blick auf den Grenzbereich zwischen Mexico und den USA macht das nur allzu deutlich. Menschenfleisch wird gehandelt nach gängigen Marktpreisen. Pädagogik ist ein Geschäft auf Zeit. Es dauert Generationen, bis jemand der mit Tortillas aufgewachsen ist, zum Steak‐holder/stakeholder wird.
Literatur
Aguilar, Julian (2011). Texas Lawmakers prepare for Sanctuary City Battle, in: The Texas Tribune, 30. 3. 2011.
6 Ein Beispiel für eine mehr oder weniger geglückte Intervention in einem Konfliktfeld ist die Arbeit von Rico Ainslie. Der in Mexiko gebürtige Amerikaner bringt wiederholt seine Kompetenz bei einer ethnographisch psychoanalytisch angelegten Studie in einer texanischen Kleinstadt ein. (Siehe: No dancin´ in Anson, 1995). Und in einer zweiten Studie über eine Dorfgemeinschaft, in der ein Mord aus rassistischen Gründen geschah (Ainslie: The Road to Redemption, 1998), zeigt Ainslie die „Heilung“ einer Kommune.
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Ainslie, Ricardo (1995). No dancin´in Anson. An American Story of Race and Social Change, New Jersey, London.
Ainslie, Rico (1998). The Road to Redemption. Jasper, Texas: The healing of a community in crisis, Austin.
Bowden, Charles (2007). Our Walls, Ourselves, in: National Geographic. May 2007, 116‐139. Guzman, Mark (2002). Coyote crossings: the role of smugglers in illegal immigration and border
enforcement, in: Mark G. Guzman, Joseph H. Haslag, Pia M. Orrenius (Hg.): Publication Information, Dallas.
Illich, Ivan (1973). Selbstbegrenzung ‐ Tools for conviviality, New York. Morgan, Lee, II. (2006). The reaper's line: life and death on the Mexican border,
Tucson. Sandoval, Luis (2011). Latino or Hispanic? Mental Health & Access to Care. Unpublished paper,
Austin.
Internet Quellen:
Homeland Security Department. Internet: http://www.dhs.gov/files/programs/editorial_0128.shtm (Recherchedatum: 11.11.2011).
Migration Policy Institute. Internet: http://www.migrationinformation.org/Feature/display.cfm?ID=19 (Recherchedatum: 11.11.2011).
The Texas Tribune. Internet: http://www.texastribune.org/contact/
U.S. perspective of “Latino” America Count percentage
Total 35,238,481 12.5
Mexicano 20,900,102 7.4
Puertorriqueño 3,403,510 1.2
Cubano 1,249,820 0.4
Centroamericano1 1,811,676 0.6
Sudamericano2 1,419,979 0.5
Dominicano 799,768 0.3
Español 112,999 ‐
Otro hispano3 5,540,627 2.0
Tabelle 1: (Quelle: Luis Sandoval, Latino or Hispanic? Mental Health & Access to Care, 2011)
Ao. Univ. Prof. Dr. Reinhold Stipsits arbeitet am Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien und forscht zum Thema Sozialpädagogik, Minderheiten in Mitteleuropa und Biographieforschung.
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Diversität und Interkulturalität in österreichischen Alten‐ und Pflegehäusern Bildungsperspektiven einer kultursensiblen Altenpflege
DANIELA WAGNER
Mein Dissertationsprojekt und damit auch dieser Artikel basieren auf zwei grundlegenden gesellschaftlichen Entwicklungen: einerseits das, alle Menschen betreffende Alter(n), andererseits die historisch‐demografisch verankerten und weiter im Zunehmen begriffenen Migrationsprozesse. Ausgehend von diesen Prozessen fokussiere ich meine Arbeit auf Diversität und Interkulturalität in österreichischen Alten‐ und Pflegehäusern, wobei unter Alten‐ und Pflegehäusern alle sozialen Einrichtungen der stationären Langzeitpflege und ‐betreuung alternder Menschen verstanden werden, also etwa 1000 Einrichtungen österreichweit. Dabei leitet mich die Frage: Wie gestaltet sich das kulturelle Zusammenleben und –arbeiten in stationären Einrichtungen der Pflege und Betreuung alternder Menschen?
Im Folgenden werden zuerst die grundlegenden Fragestellungen und Ansätze meines Forschungsprojektes vorgestellt. Danach erfolgt anhand einiger ausgewählter Beispiele und erster vorläufiger Ergebnisse eine Einführung in den speziellen Aspekt der Bildungsperspektiven einer kultursensiblen Altenpflege.
Demografische Entwicklungsprozesse zwischen Alter(n) und Migration
Zu den Alterungsprozessen
In Österreich leben knapp 8,4 Millionen Menschen, über 4 Millionen Männer und mehr als 4,3 Millionen Frauen. Im Jahr 2000 waren über 1,2 Millionen Menschen mindestens 65 Jahre alt, 570.000 waren sogar mindestens 75 Jahre alt. 2010 zeigt die Statistik bereits 1,5 Millionen Menschen über 64 Jahre und 670.000 über 74 Jahre. Dabei wächst die Gruppe der Hochaltrigen (85+) am schnellsten, auch die Gruppe der 70 bis 84 jährigen folgt dem Wachstumstrend. Diese alternden Menschen werden etwa 2030 ein Drittel der Gesamtbevölkerung ausmachen (vgl. Statistik Austria 2011).
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Abbildung 1: Bevölkerung Österreichs von 1869 bis 2071 nach Alterskategorien von Amann (2004) Quelle: Statistik Austria 2007, Volkszählungen 1869 bis 2001 & Statistik Austria 2008, Bevölkerungsprognose 2008, Hauptvariante
Aufgrund der rückläufigen Geburtenzahlen, dem Nachrücken geburtenstarker Jahrgänge (Baby‐Boom) und der Zuwanderung wird eine Zunahme an alternden und hochaltrigen Menschen in Österreich zu erwarten sein. Eine weiterhin steigende Lebenserwartung (Medizin, Hygiene, Technik, Lebensbedingungen) wird für die Zukunft prognostiziert. Es kommt somit zu einer Veränderung der Alter(n)sstruktur der österreichischen Bevölkerung.
Immer mehr Menschen erreichen das 100ste Lebensjahr und dabei weisen 80% dieser Langlebigen eine gute bis befriedigende Lebensqualität auf. Bereits Hochbetagte zwischen 90 und 100 Jahren sind in ihrer Anzahl rapide ansteigend, ebenfalls bei gesundheitlich zufriedenstellender Verfassung. Eine zunehmende Lebenserwartung kann durchaus einen „Gewinn“ behinderungsfreier, gesunder, mobiler und aktiver Jahre bedeuten, woraus sich beispielsweise auch der Terminus der „Neuen Alten“ entwickelt hat. Zudem ist das Altern ein Prozess der zwar jeden Menschen prägt, aber durch ein enormes Ausmaß an Heterogenität charakterisiert ist. Leitend für diese Befunde sind die Darstellungen der Statistik Austria (2010) sowie die Werke von Amann (1989, 2004), Wick (2008), Prahl und Schroeter (1996), Tews (1979) und ebenso Herschkowitz und Chapman Herschkowitz (2006).
Und obgleich die „Neuen Alten“ durchaus einen Zugewinn an Lebensqualität noch im hohen Lebensalter genießen können, darf nicht vergessen werden, dass mit dem ansteigenden Lebensalter das Risiko für psychische und physische Beeinträchtigungen zunimmt, bei Hochaltrigen Multimorbidität immer wahrscheinlicher wird und damit die Hilfs‐ sowie Pflegebedürftigkeit steigt. Der Alterungsprozess fordert Tribut: Etwa 8.000 Personen zwischen 60 und 74 Jahren befinden sich heute schon in Heil‐/Pflegeanstalten bzw. Pensionisten‐/Altersheimen, was 0,7% dieser Altersgruppe entspricht. Bereits 7% der Menschen ab 75 Jahren, also mehr als 46.000 Personen leben in
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stationären Einrichtungen. Dabei zeigt sich ein deutlicher Unterschied zwischen den Geschlechtern. Während bei den „Jungen Alten“ ab 60 Jahren sowohl 0,7% der Männer als auch der Frauen in stationären Einrichtungen leben, sind es 3,6% der Männer ab 75 Jahren, das heißt gut 8.000 Menschen, und 8,8% der Frauen, die in Alten‐ und Pflegeheimen leben, also etwas mehr als 38.000 weibliche Personen sind bereits 75 Jahre und älter. Insgesamt verteilen sich etwa 59.000 Personen, das entspricht 0,7% der Bevölkerung auf etwa 70.000 Plätze für Pflege und Betreuung, die österreichweit angeboten werden. Von allen alternden betreuungs‐ und pflegebedürftigen Personen befinden sich 16% in stationären Einrichtungen, die anderen werden zu Hause von Angehörigen sowie mobilen Diensten betreut (vgl. bmsk 2008 / Statistik Austria 2011).
Die zunehmende Inanspruchnahme sozialer Unterstützungsleistung, zusätzlich forciert durch netzwerkbezogene Veränderungen (Familienstruktur und –beziehung), bringt auch sozialpolitische Probleme mit sich. Dies insbesondere dann, wenn „Defizite“ der Alten öffentlich in den Mittelpunkt gestellt werden, wodurch zunehmend die Gefahr entsteht, dass alternde Menschen als Sondergruppe behandelt und in stationären Einrichtungen separiert werden, oder allgemein einer Altersdiskriminierung unterliegen, wie Hoppe und Wulf (1997), Prahl und Schroeter (1996), Dibelius und Uzarewicz (2006), Herschkowitz und Chapman Herschkowitz (2006), Kneissl (1999), Amann (1989, 2004) und Noack (et al. 2007) befürchten. So stehen die Alterungsprozesse in einem Spannungsfeld zwischen erfülltem Alter(n), Hilfs‐ und Pflegebedürftigkeit sowie Diskriminierung, was mitunter in der Arbeits‐ und Lebenswelt von Alten‐ und Pflegeheimen besonders spürbar wird.
Zu den Migrationsprozessen
Migrationsbewegungen charakterisieren die gesamte Menschheitsgeschichte und so ist es wenig verwunderlich, dass knapp 1,3 Millionen Menschen nicht in Österreich geboren wurden und etwa 895.000 Menschen nicht die österreichische Staatsbürgerschaft haben. Die Gesellschaft Österreichs ist von einer insgesamt zunehmenden Multi‐ und Interkulturalität geprägt (vgl. Statistik Austria 2011). Dies ergibt sich für Reinprecht (2009: 243) vorwiegend aus prägenden historischen Einschnitten, die das vergangene Jahrhundert zu einem Zeitalter der Migration werden ließen: der Zerfall der Monarchie, der Erste Weltkrieg, die Weltwirtschaftskrise, die NS‐Herrschaft und der Zweite Weltkrieg, die politische Neuordnung Europas und der Wirtschaftsaufschwung sowie die grenzüberschreitenden „Arbeiterwanderungen“ in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Durch die bis heute vorhandenen Migrationsprozesse wurde die Bevölkerungsstruktur Österreichs nachhaltig verändert. Neben den insgesamt zunehmenden langfristigen Zuwanderungen wären hier auch die von Rolshoven und Winkler (2009) explizierten Formen von Transnationalität und Translokalität zu inkludieren.
Diese Entwicklungen zu einer kulturell vielfältigen Gesellschaft in Österreich führen dazu, dass immer mehr Menschen aus anderen Ländern und Kulturen in sozialen Dienstleistungseinrichtungen der stationären Betreuung und Pflege arbeiten. Von über 4 Millionen Erwerbstätigen haben etwa 450.000 Personen nicht die österreichische Staatsbürgerschaft, etwa 700.000 Menschen sind nicht in Österreich geboren. Im Dienstleistungssektor arbeiten fast 2,9 Millionen Personen, das entspricht 69,4% der Erwerbstätigen (vgl. Statistik Austria 2011a).
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Dabei sind vorwiegend Frauen in Dienstleistungseinrichtungen tätig und auch Arbeitsmigrantinnen konzentrieren sich in diesem Bereich.
„Die Arbeitsmigration von Frauen ist auf einige wenige weiblich dominierte Beschäftigungsbereiche in Verbindung mit traditionellen geschlechtsspezifischen Rollen konzentriert. Segmentierung und Stereotype am Arbeitsmarkt definieren die Nachfrage nach Arbeitsmigrantinnen: die Nachfrage ist vor allem steigend bei den Pflegedienstleistungen in gering qualifizierten und abgewerteten Jobs, […], sowie in qualifizierten und geschätzten Arbeitsstellen, wie Krankenpflege und auch Gesundheitspflege in privaten Einrichtungen für SeniorInnen und Behinderte“ (Moreno‐Fontes Chammartin 2008: 1f).
Erhebungen des Bundesministeriums für Arbeit, Soziales und Konsumentenschutz (2007, 2008) zeigen zwar, dass in österreichischen Alten‐ und Pflegeheimen etwa 33.000 Personen, davon 85% Frauen, in unterschiedlichen Berufssparten arbeiten: diplomiertes Gesundheits‐ und Pflegepersonal, Pflegehilfspersonal, Hilfspersonal, verschiedene Fachkräfte, ärztliches Personal – wobei die Anzahl der diplomierten Pflege‐ und Betreuungspersonen im Steigen begriffen ist. Auf die Vielfalt der Kulturen unter den Beschäftigten in österreichischen Senioren‐ und Pflegehäusern lassen sich aus der aktuellen Datenlage noch keine genauen Rückschlüsse ziehen, doch die Diversität und Interkulturalität zeigte sich mir in meinen Besuchen verschiedener Häuser der stationären Pflege und Betreuung. In einem Haus beispielsweise besitzen von 240 Beschäftigten 103 Personen nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und 184 MitarbeiterInnen sind nicht in Österreich geboren. Diese MitarbeiterInnen kommen aus Ägypten, Äthopien, Australien, Bolivien, Bosnien, Bulgarien, China, Indien, Kroatien, Mazedonien, Nigeria, Österreich, Philippinen, Polen, Rumänien, Russland, Serbien, Slowakei, Slowenien, Südafrika, Tschechien, Türkei, Ukraine, Ungarn und Valegrande. Auch wenn viele MitarbeiterInnen in Österreich leben, gibt es in einigen Häusern MitarbeiterInnen, die täglich oder wöchentlich zwischen Beruf und Familie und damit zwischen zwei Ländern hin‐ und herpendeln.
Der Arbeit in den Häusern und dem Austausch im Team erwachsen Chancen und Herausforderungen für die integrierten AkteurInnen. Hohe physische und psychische Belastungen, bereichernde Momente des gegenseitigen Kennenlernens sowie des intensiven Für‐ und Miteinanders mit vielen verschiedenen BewohnerInnen, Angehörigen und KollegInnen unterschiedlicher Vergangenheiten (Kultur, Geschlecht, Geschichte) weisen auf besonders interessante Konstellationen des gemeinsamen Lebens und Arbeitens hin.
Dabei wird bereits ein weiterer Aspekt deutlich, denn auch Personen mit Migrationshintergrund sind von zunehmendem Altern betroffen, weshalb eine kulturelle Vielfalt bei den BewohnerInnen und Angehörigen zu erwarten ist. Interkulturalität macht vor stationären Einrichtungen der Betreuung und Pflege nicht halt, wodurch die Diversität (Gesundheit, Befindlichkeit, Geschlecht, Alter) der BewohnerInnen und Angehörigen eine weitere Dimension erhält. Die Versorgung der MigrantInnen in stationären Betreuungs‐ und Pflegeeinrichtungen führt bisher jedoch noch ein Schattendasein ‐ nicht nur in den Statistiken, sondern ebenso in den Einrichtungen. Häufig erfolgten erst auf meine Anfrage genaue Recherchen in den Datenblättern und das Erstaunen über die vorherrschende Herkunftsvielfalt. Beispielsweise wurde in einem Wiener Trägerverband der stationären Betreuung und Pflege alternder Menschen auf meine erste Anfrage geantwortet: „ich würde Ihnen gerne
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weiterhelfen, allerdings sind in unseren Einrichtungen kaum bzw. nur sehr vereinzelt BewohnerInnen mit Migrationshintergrund“. Nachdem schließlich der Kontakt zu einem Haus dieses Trägers hergestellt war und eine detaillierte Nachfrage stattfand, wurde festgestellt, dass 26 BewohnerInnen, von insgesamt knapp 270 betreuungs‐ und pflegebedürftigen Personen in diesem Haus, in neun Staaten außerhalb Österreichs geboren wurden. Vier Personen haben nicht Deutsch als Erstsprache gelernt. Diese bislang wenig beachtete Heterogenität (hinsichtlich Nationalität, Religion, Sprache) offenbart sich tendenziell auch in anderen Häusern, wodurch die Relevanz des Themas Diversität und Interkulturalität in Pflegehäusern deutlich wird.
Zusammenfassend kann man festhalten, dass Migrations‐ und Alterungsprozesse aktuell und zukünftig zu BewohnerInnen, Angehörigen sowie Betreuungs‐ und Pflegepersonal aus unterschiedlichen Herkunftsländern, mit unterschiedlichen Religionen, Muttersprachen, Perspektiven, Einstellungen und Werten führen werden. Diese Diversität bereichert und fordert das Füreinander sowie Miteinander in österreichischen Alten‐ und Pflegeheimen. Ausgehend von diesen Prozessen und Entwicklungen stellt der Bereich der Langzeitpflege in der gemeinsamen „Heimwelt“ einen besonders interessanten Aspekt dar, charakterisiert durch die Interaktion
• von BewohnerInnen mit unterschiedlichen Biographien, Gewohnheiten und Vorlieben,
• von, in individuelle Lebenswelten eingebundenen Angehörigen mit differenzierten Erwartungen und
• von mehr oder weniger häufig wechselndem Betreuungs‐ und Pflegepersonal aus unterschiedlichen Herkunftsländern.
Überblick über das empirische Design
Um diese Diversität und Interkulturalität in österreichischen Alten‐ und Pflegeheimen möglichst perspektivenreich zu erfassen, orientiere ich mich bei meinem Vorgehen an der Interpretativen Sozialforschung. Im Speziellen lehne ich mein methodisches Design an die Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) an. Qualitative Interviews mit BewohnerInnen, Angehörigen, MitarbeiterInnen und leitendem Personal in unterschiedlichen Häusern eröffnen viele Perspektiven, wobei eine strukturierende Inhaltsanalyse von Mayring (2001, 2002, 2008) interessierende Passagen aufdeckt die in einer line‐by‐line‐Analyse im Sinne der Grounded Theory (Strauss/Corbin 1996) spezifiziert werden. Aufgrund der mangelnden Datenlage strebe ich weiters eine österreichweite quantitative Erhebung an, die einen Überblick über Nationalitäten, Religionen und Sprachen von allen AkteurInnen in Heimen geben wird. Multiple Bezugspunkte (durch Kombination und Inklusion qualitativer und quantitativer Methoden im Sinne einer Triangulation) werden dabei helfen, spezifische Aspekte der unglaublich komplexen Realität in Alten‐ und Pflegeheimen möglichst genau erfassen zu können.
Im folgenden Teil werden Erkenntnisse aus der qualitativen Erhebung herangezogen, weshalb ich eine einführende Explikation meines Vorhabens voranstelle. Entsprechend dem Grundsatz des theoretical sampling werden InterviewpartnerInnen in einem zirkulären Prozess (Erstellung des Leitfadens, Wahl der zu Befragenden, Durchführung, Analyse, Überarbeitung des
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Erhebungsinstruments, die Auswahl weiterer Befragter und so weiter) eingeladen, persönliche Erfahrungen, Gedanken, Meinungen, Perspektiven zu offenbaren, wobei subjektive Relevanzsetzungen erfasst werden. In mittlerweile 28 Interviews in fünf Alten‐ und Pflegeheimen, wobei städtische (Wien, Graz) wie ländliche Häuser (Steiermark) unterschiedlicher Träger der kontrastierenden Auswahl entsprechen, wurden zwei Pflegedienstleiterinnen, dreizehn MitarbeiterInnen, drei Angehörigenfamilien sowie elf BewohnerInnen befragt. In den Häusern arbeiten MitarbeiterInnen und leben teilweise auch BewohnerInnen mit Migrationserfahrungen, wobei dieser, aufgrund der von den Alten‐ und Pflegehäusern erfassten Datengrundlage anhand des Geburtslandes festgestellt wird. Während die unterschiedlichen kulturellen Hintergründe der MitarbeiterInnen eine hohe Präsenz in den Häusern hat, scheint das Bewusstsein für die Heterogenität der BewohnerInnen noch nicht entsprechend ausgeprägt zu sein, wie das vorangestellte Beispiel meiner Anfrage zu BewohnerInnen mit Migrationshintergrund im Haus zeigt. Die hohe Zahl an nicht in Österreich geborenen BewohnerInnen überraschte selbst die Pflegedienstleitung.
Die qualitativen Erhebungen mit Pflegedienstleiterinnen, MitarbeiterInnen, Angehörigen und BewohnerInnen werden in Form von situationsflexiblen leitfadenorientierten und problemzentrierten (ExpertInnen)Interviews durchgeführt. Diese Leitfadeninterviews sind sehr offen gestaltet. Ich gehe von einem weiten Kulturverständnis „Kultur ist das, was dich und mich zum Menschen macht“ (Greverus 1994: 9) aus und inkludiere zudem Aspekte der Diversität, weshalb am Beginn meiner Befragungen allgemeine Fragen nach der Lebensgeschichte (Herkunft, Bildung, Berufserfahrung) die in diesen Beruf sowie dieses Haus geführt hat und den individuellen Erfahrungen mit BewohnerInnen, Angehörigen, KollegInnen (Herausforderungen, freudige Erinnerungen) stehen. Wird von den Befragten kein Bezug zur kulturellen Heterogenität in den Häusern hergestellt, dann frage ich nach Erfahrungen mit unterschiedlichen Gewohnheiten, Vorlieben und Kulturen in ihrer Arbeits‐ und Lebenswelt. Schließlich interessieren mich noch die Rahmenbedingungen, sowie Wünsche und Visionen für die Zukunft. Aufgrund meines zweiten Studiums der Weiterbildung, der lebensbegleitenden Bildung fokussiere ich schließlich auch auf Bildungsperspektiven der AkteurInnen in Alten‐ und Pflegeheimen.
Die daraus entstehenden Bildungsdimensionen für MitarbeiterInnen aber auch BewohnerInnen und Angehörige, die implizit in den Berichten der interviewten Personen enthalten sind und explizit erfragt werden, bilden die Basis für die folgenden Eindrücke zu Bildungsperspektiven für eine kultursensible Altenpflege.
Bildungsperspektiven einer kultursensiblen Altenpflege
Dieser Bereich stellt lediglich einen exemplarischen Ausschnitt meines Forschungsprojektes dar. Mein Interesse wurde in den Interviews geweckt, die immer wieder Bildungsprozesse zum Inhalt haben, einerseits durch Aus‐ und Weiterbildungen und andererseits durch informelle Austauschprozesse.
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Formale und non‐formale Bildungsangebote
In den Gesprächen mit MitarbeiterInnen wird betont, dass das Thema der kultursensiblen Pflege, wenngleich vorwiegend bezogen auf die BewohnerInnen, in formalen und non‐formalen Bildungsangeboten durchaus behandelt wird. Im Folgenden werden zwei „typische“ Beispiele von Weiterbildungsmöglichkeiten österreichischer Bildungseinrichtungen aufgezeigt.
Die Volkshilfe Oberösterreich bietet ein breites Bildungsprogramm, welches auf einer standardisierten Bildungsbedarfserhebung basiert. Von insgesamt acht übergeordneten Themenfeldern gibt es einen Schwerpunkt „Interkulturelles“ mit drei Seminaren zur Interkulturellen Öffnung. Das Seminar „Kultur der Geschlechter versus Geschlechter in den Kulturen. Konzepte und praktische Anwendung“ thematisiert den Zusammenhang von Geschlechterbeziehung und interkultureller Arbeit, wobei in der Seminarbeschreibung exemplarisch aufgezeigte Stereotypen im Aufeinandertreffen von „Menschen mit Migrationshintergrund und sogenannte[n] Einheimische[n]“ ins Blickfeld gerückt werden, mit dem Ziel der Entwicklung von Handlungsstrategien und Argumentationskompetenz als Beitrag „zu einer Gleichberechtigung der Geschlechter“ (Volkshilfe Bildungsakademie 2011: 66). Das, von der gleichen Person geleitete, Bildungsangebot mit dem Titel „Umgang mit (kultureller) Vielfalt für Fortgeschrittene“ fokussiert auf interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Es handelt sich dabei um ein Vertiefungsseminar das einerseits ermöglicht „die eigene Praxis im Zusammenhang mit kultureller Vielfalt“ zu reflektieren und andererseits werden „weitere Konzepte des Umgangs mit kultureller Vielfalt bearbeitet (Diversitätsmanagement, Interkulturelles Management)“ (Volkshilfe Bildungsakademie 2011: 67). Schließlich wird das Thema „Begegnung mit anderen Kulturen und Religionen“ ins Zentrum gestellt, wobei der Wissenserwerb und damit einhergehende Sensibilisierung grundlegend für die kompetente Begegnung von Menschen aus anderen, nicht vertrauten Kulturkreisen gesehen wird. Neben Basiswissen zu Religionen und Ritualen werden Besonderheiten der Pflege, Betreuung und Begleitung spezifiziert (Volkshilfe Bildungsakademie 2011: 68).
Bei näherer Betrachtung dieser Angebote der Volkshilfe fällt auf, dass Schlagworte wie Einheimische, interkulturelle Kompetenz und Vielfalt oder Toleranz verwendet werden. Vielfach lässt die Formulierung darauf schließen, dass sich die Angebote eher an Angehörige der „Mehrheitsgesellschaft“ richten. Auffallend ist, dass der allgemeine Umgang mit kultureller Vielfalt im Mittelpunkt steht und weniger zwischen der Zusammenarbeit im Team oder der Betreuung, Begleitung und Pflege mit den KundInnen differenziert wird. Lediglich im dritten Seminarbeispiel bildet dieser Aspekt den Schwerpunkt.
Die Evangelische Akademie Wien bietet „Deutsch für Gesundheits‐ und Pflegeberufe“ an. Neben allgemeinen Deutschkursen für Personen mit nicht deutscher Muttersprache, die von unterschiedlichen Einrichtungen angeboten werden, gibt es zahlreiche Angebote für spezielle Berufsgruppen, wie in diesem Beispiel. Als AdressatInnen werden jene Personen genannt, die nicht Deutsch als Muttersprache haben und „die in einem Gesundheits‐ oder Pflegeberuf arbeiten, oder eine Pflegeausbildung machen möchten. Im Kurs wird der berufsspezifische Wortschatz trainiert und auf spezielle Situationen im Pflegeberuf vorbereitet“ (Evangelische Akademie Wien 2011).
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Unterschiedliche Organisationsformen (tagsüber, Abend‐ oder Intensivkurse) ermöglichen die Verknüpfung von Beruf und Weiterbildung.
Dieses Beispiel zeigt nicht nur ein typisches Weiterbildungsangebot für MitarbeiterInnen mit Migrationshintergrund, sondern auch die Konzeption von berufsspezifischen Bildungsmaßnahmen, die sich überwiegend an das gesamte Gesundheits‐ und Pflegepersonal richtet. Hier können die Teilnehmenden aus dem Bereich der Altenpflege von den bereits weiter vorangeschrittenen Erfahrungen und Erkenntnissen im medizinischen Sektor (Krankenhäuser) profitieren.
Zusammenfassend fokussieren Weiterbildungsangebote, die sich vorwiegend an Angehörige der Mehrheitsgesellschaft richten, auf den Wissenserwerb über Kulturen und die Sensibilisierung im Umgang mit kultureller Vielfalt, benannt als (inter)kulturelle Kompetenz und Kommunikation. Bildungsmöglichkeiten für Personen mit Migrationshintergrund stellen vorwiegend die Sprachkompetenz ins Zentrum, indem Deutschkurse für bestimmte Berufsgruppen den fachspezifischen Wortschatz vermitteln.
Der informelle Austausch in den Häusern
Neben Aus‐ und Weiterbildungsangeboten wird die Heterogenität der AkteurInnen in den Häusern genutzt, um Informationen und Wissen auszutauschen sowie Einblick in unterschiedliche Lebenswelten zu gewinnen. Unter den MitarbeiterInnen erfolgt dieser Austausch vorwiegend informell, wie das Zitat einer Mitarbeiterin verdeutlicht: „also für mich als Europäerin und römisch katholisch erzogen worden, is oft spannend zu hörn wos ma da Kollege ahm erzählt von, Koran ja es is nicht die gleiche Religion“. Teamsitzungen sowie gemeinsame Pausen bieten Möglichkeiten im Team andere Menschen bzw. KollegInnen näher kennen zu lernen, auch mit deren kulturellen Lebenswelten. Hier betont eine Angehörige die Bedeutung der Beziehungsarbeit: „i bin hoit ane die die Leut dann holt a anred und frogt ‚Woher kumman Sie‘ oder so net und das damit krieg i a Menge an Information“. Das Grundwissen um die kulturellen Gewohnheiten wie die biografischen Geschichten der Menschen, der MitarbeiterInnen und auch der BewohnerInnen wird in den Interviews als sehr wichtig betont.
Besonders hervorheben möchte ich die Metapher einer Mitarbeiterin: „jeder trägt a Geschichte am Rücken in einem Rucksack“, sie beschreibt weiter mögliche biografische Erfahrungen der BewohnerInnen: „des is eine Generation wos nicht leicht im Leben gehabt hat zwa Weltkriege mitgemacht hat Wiederaufbau und und sehr viel an Verlusten ghobt hot, und das der Mensch vielleicht jetzt so ist und nicht anders, is so, das hat uns das Leben unser Leben geprägt“. Diese Hintergründe werden in der Arbeit besonders hervorgehoben, so herrschen in den meisten besuchten Häusern biografische Ansätze in der Pflegearbeit vor, die die individuelle Auseinandersetzung mit den Biografien der BewohnerInnen und der daran orientierte Pflege und Betreuung zu Grunde liegen.
Ein weiteres Beispiel wird in einem Haus genannt, in dem ein interdisziplinärer Austausch angestrebt wird, wobei vorwiegend den BewohnerInnen und Angehörigen Einblick in die kulturelle
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Heterogenität der MitarbeiterInnen gewährt wird. Interkulturalität wird wie folgt versucht zu thematisieren
„wir mochn manchmal a so Feste das international gekocht und sehr hübsch wenn die Nationen rauskommen […] zum internationalen Teil mit einem Bambustanz und einem sehr schönen Lied hob i leider vergessn und zwei Bauchtänzen […] und amol hob ma Essn gmocht do hot i glaub wir hobn do fünfundzwanzig Nationen oder so net is natürlich a Hit des worn Spezialitäten von chinesischer Küche bis ebn Kuskus mm des wor gut“.
Wie die Mitarbeiterin selbst bestätigt dienen solche Feste, bei denen sich die MitarbeiterInnen freiwillig in selbst gewählten Formen engagieren, der Bewusstwerdung der unterschiedlichen Kulturen. Alle in diesem Haus befragten Personen erwähnten diese gemeinsamen Feste, erlebten diese sehr positiv. Auch in einem anderen Haus wird ein ähnlicher Ansatz gewählt. Diesbezüglich wird von einem Projekt zum Thema Diversität erzählt:
„Also wir habn a Jahresprojekt […] Thema Diversität wobei wenn wir Diversität in allen Belangen sehn das sind Jung und Alt das sind Mitarbeiter die vielleicht auch schon über fünfzig fünfundfünfzig sind […] da gehts genauso um Einbau von Migrationshintergrund von Menschen mit Behinderungen und all diese Faktoren werden angeschaut und werden auch versucht im Haus zu leben“.
In einem Haus in der Steiermark sprach ich mit einer Bewohnerin, die lange Jahre in Amerika lebte und seither die englische Sprache vermisst, gar zu verlernen fürchtet. Mit wehmütiger Stimme fügte sie hinzu: „ich glaub die meisten können nicht englisch hier“. Wenig später führe ich im selben Heim ein Interview mit einer Mitarbeiterin in Deutsch und Englisch, weil sie sich in ihrer Erstsprache Englisch besser ausdrücken konnte.
Zusammenfassend sind in den vorangegangenen Interviewpassagen und Explikationen Bildungsperspektiven aufgezeigt worden, die derzeit das Für‐ und Miteinander in der Lebens‐ und Arbeitswelt Alten‐ und Pflegeheim zu fördern versuchen. Diese zeigen zwar bereits Bemühungen um eine kultursensible Altenpflege in den Alten‐ und Pflegehäusern, jedoch beruhen sie meist auf Initiativen einiger weniger Personen. Meist liegt es an den einzelnen Personen sich füreinander zu interessieren, auch wenn das Wissen und der Respekt für andere Gewohnheiten, Erfahrungen und Werte durchaus als bedeutsames Element hervorgehoben werden. Sensibilisierung für diese Thematik und den Umgang mit kultureller Vielfalt wird zukünftig einen wesentlichen Aspekt darstellen um (professionelle) Bildungsprozesse anzustoßen.
Fazit
Es bleibt resümierend festzuhalten, dass in der Altenpflege kulturelle Vielfalt Einzug gehalten hat. In städtischen wie ländlichen Regionen sind vor allem MitarbeiterInnen mit Migrationserfahrung tätig, aber auch BewohnerInnen sind immer öfter nicht in Österreich geboren. Das birgt Chancen und Herausforderungen. Es bleibt die Frage inwiefern Bildungsangebote dieses von Diversität und Interkulturalität geprägte Für‐ und Miteinander fördern können. Eine verbesserte Sprachkompetenz der MigrantInnen, der Wissenserwerb und eine initiierte Sensibilisierung der
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„Mehrheitsangehörigen“ für den Umgang mit der vorherrschenden Heterogenität sind Beispiele der non‐formalen Bildung. Zudem kommt der informelle Austausch in den Alten‐ und Pflegehäusern, geprägt vom individuellen Interesse und den organisierten Angeboten beispielsweise bei Festen und Feiern. Dabei bewegen sich die Veranstaltenden zwischen einer Vertiefung der vorherrschenden Stereotypen und einem Einblick für ein besseres Verständnis für „fremde“ Gewohnheiten sowie einer kompetenten Bewältigung der unterschiedlichen Bedürfnisse.
Mit meiner Dissertation stehe ich im Spannungsfeld zwischen wissenschaftlich‐theoretischen „Idealen“ sowie den Erfahrungen der Praxis und vor der Herausforderung beide Seiten respektvoll zu verknüpfen. Ein Teilbereich wird weiter den hier gestellten Fragen nachgehen: Wie kann das von Diversität und Interkulturalität geprägte Füreinander und Miteinander in österreichischen Alten‐ und Pflegeheimen durch Bildungsangebote gefördert werden? Wie kann Bildungsbedürfnissen von BewohnerInnen, Angehörigen und MitarbeiterInnen mit unterschiedlichen (Migrations‐) Biografien in einer gemeinsamen Lebens‐ und Arbeitswelt entsprochen werden?
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Daniela Wagner beschäftigt sich einerseits im Rahmen einer Dissertation am Institut für Soziologie mit (kultureller) Diversität in österreichischen Alten‐ und Pflegeheimen, andererseits forscht die Autorin zum Arbeitsschwerpunkt innovative Lehr‐ und Lernkulturen an Hochschulen als Dissertantin am Institut für Erziehungs‐ und Bildungswissenschaft der Karl‐Franzens‐Universität Graz. Das Engagement für Hochschulforschung kommt weiters in den Tätigkeiten als Projektunterstützung am Institut für Erziehungs‐ und Bildungswissenschaft sowie am Zentrum für Lehrkompetenz zum Ausdruck. Kontakt: [email protected]‐graz.at
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3. Anhang
3.1 Tagungsprogramm
Programm 5. Mai 2011 (9.00‐ 18.30)
9.00 ‐ 9.45 Begrüßung und Einführung Alfred Gutschelhofer (Rektor der Universität Graz) Begrüßungsworte der VeranstalterInnen 9.45 ‐ 11.00 Das nomadisierende Prinzip – Forschungsentwicklung zu Migration und Bildung in Österreich Dietmar Larcher (Universität Klagenfurt) Moderation: Paul Mecheril 11.30 ‐ 13.00 Thematische Foren, Teil I ‐ Institutionen, Rahmenbedingungen (F1) Chair: Erol Yıldız Beiträge von: Gülay Ates/Christoph Reinprecht, Norbert Bichl/Sonja Zazi, Doris Kapeller/Silvana Weiss
‐ Rassismus, Diskriminierung (F2) Chair: Rudolf Leiprecht (Universität Oldenburg) Beiträge von: Niku Dorostkar/Rudolf de Cillia/ Alexander Preisinger, Christiane Hintermann, Martin Vieregg/Michael Wrentschur
‐ Zugehörigkeit, Identität, Religion, Biographie (F4) Chair: Astrid Messerschmidt (Pädagogische Hochschule Karlsruhe) Beiträge von: Nadja Thoma, Margret Steixner/ Susi Zoller‐Mathies, Reinhold Stipsits
14.30 ‐ 16.30 Thematische Foren, Teil II ‐ Institutionen, Rahmenbedingungen (F1) Chair: Erol Yıldız Beiträge von: Johann Bacher/Norbert Lachmayr/Heinz Leitgöb, Barbara Herzog Punzenberger/ Philipp Schnell, Marlene Lentner, Erna Nairz‐Wirth
‐ Sprache, Mehrsprachigkeit (F3) Chair: İnci Dirim (Universität Wien) Beiträge von: Antonela Cvitanovic/Barbara Pöchhacker/Gottfried Wetzel, Ines Garnitschnig/Ewelina Sobczak/Regina Studener‐Kuras, Angela Pilch‐Ortega, Boris Printschitz
‐ Zugehörigkeit, Identität, Religion, Biographie (F4) Chair: Astrid Messerschmidt
Beiträge von: Marika Gruber, Mikael Luciak, Helga Moser
17.00 ‐ 18.30 Plenumsdiskussion Ergebnisse aus den thematischen Foren Moderation: Marc Hill (Universität Klagenfurt)
6. Mai 2011 (9.00 ‐ 14:00)
9:00 ‐ 10:15 Aktuelle Perspektiven und zukünftige Herausforderungen interkultureller Bildungsforschung Yasemin Karakaşoğlu (Universität Bremen) Moderation: Erol Yıldız 10:30 ‐ 12:00 Forschungskolloquien Chairs: Paul Mecheril, Annette Sprung, Gabriele Khan Beiträge von: Cornelia Dinsleder, Ines Garnitschnig/Nora Sternfeld, Judith Kröll, Katja Naschenweng, Katharina Resch, Martina Stadlmayr, Marion Thuswald, Nadine Ulseß‐Schurda, Daniela Wagner 12:30 ‐ 14:00 Visionen einer „gerechten“ Migrations‐ gesellschaft – Perspektiven im Gespräch Podiumsdiskussion Rüdiger Teutsch (BMUKK) Yasemin Karakaşoğlu (Universität Bremen) Barbara Herzog‐Punzenberger (BIFIE) Rubia Salgado (MAIZ) Colette M. Schmidt (Der Standard) Moderation: Hakan Gürses (ÖGPB, UniversitätWien)
3.2 Kurzberichte zur Tagung
Plenarvortrag: Dietmar Larcher „Das nomadisierende Prinzip – Forschungsentwicklung zu Migration und Bildung in Österreich“
(Bericht: Paul Mecheril)
Inhaltlich wurde die Tagung durch einen Plenarvortrag von em. Universitätsprofessor Dietmar Larcher (Klagenfurt/Wien) eröffnet, der seine Ausführungen zur Forschungsentwicklung zu Migration und Bildung in Österreich unter dem Titel „Das nomadisierende Prinzip“ vorstellte. Larcher wies in seinem Beitrag darauf hin, dass in den 1970er und 80er Jahren – als Folge intensiver Befassung der kritischen Bildungsforschung mit der Situation diskriminierter österreichischer Minderheiten – Migration nur ein Nebenthema war. Später verschob sich das wissenschaftliche Interesse von lokalen Minderheiten zu Migrationsminderheiten. Die in Bezug auf lokale Minoritäten entwickelte Perspektive der Wichtigkeit der Bewahrung sprachlich‐kultureller Identität bei gleichberechtigter Teilnahme am öffentlichen Leben hingegen wurde auch für die neuen Aufgaben erkenntnisleitend, um, so Larcher, unter die Oberfläche der homogenen Wirklichkeitskonstruktion „deutsches Österreich“ zu schauen und die darunter liegende Vielfalt wahrzunehmen sowie die historischen, politischen, ökonomischen, sozialen und psychosozialen Gründe für die Verdrängung der Vielfalt. Forschung zu Bildung und Migration in dieser Phase bezeichnete Dietmar Larcher als territorialisierte Forschung, das Ziel war Öffnung der Heimat für die Vielfalt von Sprachen und Kulturen.
Ein radikaler Paradigmenwechsel erfolgte durch wichtige Impulse, die Larcher mit der wachsenden Zahl Studierender, aber auch ForscherInnen und Lehrender mit Migrationshintergrund in Zusammenhang brachte. „Ihre unmittelbare Kenntnis der psychischen und sozialen Situation von Zugewanderten machte sie skeptisch gegenüber dem paradigmatischen Konzept der Territorialisierung.“ Dass die Wirklichkeit der Migrationsgesellschaft mehr denn je einem nomadisierenden Prinzip folgt, Diskursgemeinschaften und Zugehörigkeiten wechseln, Heimat keinen Ort mehr, sondern Inklusion bedeutet, machte Larcher als weitgehenden Konsens in der gegenwärtigen österreichischen Forschung zu Migration und Bildung aus. Hierbei halte man weiterhin am aufklärerischen Anliegen, das auch die erste Phase der Forschung prägte, fest, doch statt um die Anerkennung von Heimat im territorialen Sinn gehe es heute um grundlegende Menschenrechte.
In der Diskussion wurden Fragen in den Vordergrund gerückt, die zu einem die methodologische Anlage der historischen Skizze betraf als auch den impliziten normativen Standpunkt der Analyse. So wurde darauf hingewiesen, dass die Forschung zu Migration und Bildung diachron wie synchron eher von Vielfalt und durchaus konkurrierenden Ansätzen geprägt sei. Auch wurde auf die Gefahr der Romantisierung der Heimatlosigkeit hingewiesen.
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Berichte zu den thematischen Foren
Institutionen, Rahmenbedingungen (Forum 1)
(Bericht: Erol Yıldız)
Im Rahmen dieses Forums gab es insgesamt 7 Vorträge.
Im ersten Beitrag von Christoph Reinprecht und Gülay Ates vom Department of Sociology der Universität Wien standen informelle Bildungsprozesse im Kontext von Migration und deren Bedeutung für die Erwachsenenbildungseinrichtungen in Österreich im Mittelpunkt. Es ging vor allem darum, inwiefern Bildungsangebote in diesem Bereich mit den Bedürfnissen und Lebenswirklichkeiten der betroffenen Gruppen korrespondieren, welche strukturellen Hürden existieren und wie die institutionellen Rahmenbedingungen verbessert werden können. Die Ausführungen basierten auf den Ergebnissen einer vergleichenden europäischen Studie. Norbert Bichl und Sonja Zazi vom Beratungszentrum für Migrantinnen und Migranten arbeiteten in ihrem Beitrag heraus, wie die Potentiale von Zugewanderten auf dem Arbeitsmarkt besser genutzt, wie ihre Kompetenzen und Qualifikationen sichtbar gemacht werden können und welche strukturellen Maßnahmen dafür erforderlich sind. Doris Kapeller vom Institut für praxisorientierte Genderforschung in Graz stellte anschließend die Ergebnisse eines Forschungsprojektes „Migrantinnen – Qualifizierung – Arbeitsmarkt (MIQUAM) vor. Ausgehend davon, dass Migrantinnen von Dequalifizierungsprozessen überproportional betroffen sind, wurde in erster Linie untersucht, wie man das Wissen über arbeitsmarktrelevante Qualifikationen von höher qualifizierten Migrantinnen aus Drittstaaten verbessern kann. Norbert Lachmayr (Österreichisches Institut für Berufsbildungsforschung Wien), Johann Bacher und Heinz Leitgöb (Institut für Soziologie, Universität Linz) präsentierten eine quantitative Untersuchung der Zusammenhänge zwischen Bildungswahl und Migrationshintergrund in der 8. Schulstufe: Inwiefern beeinflussen beispielsweise Aspekte wie „Migrantenanteil in der Klasse“, „Haushaltsnetto‐Einkommen“, „Geschlecht“, „Sprache“ oder „elterliche Unterstützung“ die Bildungswahl? In einer ebenfalls quantitativ ausgerichteten Studie gingen Barbara Herzog‐Punzenberger (Bundesinstitut für Bildungsforschung Salzburg) und Philipp Schnell (Österreichische Akademie der Wissenschaften Wien) der Frage nach, inwiefern das Ausmaß der Bildungsbeteiligung bestimmter Herkunftsgruppen zwischen verschiedenen europäischen Ländern variiert. Der Fokus richtete sich vor allem auf Nachkommen von Migrantinnen und Migranten aus der Türkei und Gleichaltrigen aus einheimischen Familien. Der Hauptbefund der Studie ist, dass die Bildungsungleichheit in allen untersuchten Ländern von der sozialen Herkunft abhängig ist und nicht von regionaler oder ethnischer. Marlene Lentner (Institut für Berufs‐ und Erwachsenenbildungsforschung, Universität Linz) stellte die Befunde einer quantitativen Studie über Berufsorientierung von Jugendlichen mit Migrationshintergrund vor. Ziel der Studie war es, Prozesse der Berufsorientierung der Jugendlichen zu erfassen und Handlungsfelder zu identifizieren. Im letzten Beitrag wurden von Erna Nairz‐Wirth (Institut für Allgemeine Pädagogik und Philosophie, Universität Wien) die Ergebnisse einer qualitativen Studie zum „Habitus von
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frühen SchulabbrecherInnen“ vorgetragen. In diesem Kontext stellte sie den „ambitionierten Typus“ vor. Dabei wurde diskutiert, welche Rolle das soziale Kapital bei Bildungslaufbahnen spielt und was einen „ambitionierten Typus“ ausmacht.
In der gemeinsamen Diskussion wurde vor allem die Frage aufgeworfen, ob und wie die Bildungsinstitutionen auf migrationsbedingten Wandel in Österreich reagiert haben und ob die institutionelle Normalität mit den Lebenswirklichkeiten der betroffenen Gruppen korrespondiert. Es wurde festgestellt, dass es in Österreich fast in allen Bereichen der Gesellschaft weiterhin strukturelle Barrieren gibt, die den Zugang zu Bildung, Beruf und Arbeitsmarkt verhindern bzw. limitieren. Potentiale und Fähigkeiten, die die Migrantinnen und Migranten und deren Nachkommen mitbringen, werden kaum wahrgenommen, oft sogar gezielt abgewertet. Gesellschaftliche Negativbilder über Migration dienen oftmals zur Legitimation von Ausgrenzung. Die Ergebnisse der hier vorgestellten Studien zeigen, dass ein Hauptgrund für die Diskriminierung dieser Bevölkerungsgruppen im Bildungsbereich oder auf dem Arbeitsmarkt, dass sie in niederen Bereichen über‐ und auf höheren Ebenen unterrepräsentiert sind, nicht aus angeblich ethnischen Eigenschaften und Herkunft resultiert. Vielmehr handelt es sich um strukturelle Bedingungen, die das Weiterkommen von bestimmten Migrantengruppen in der Gesellschaft verhindern. Daher brauchen wir Institutionen und Strukturen, die für migrationsbedingte Veränderungen offen und sensibel sind, somit auch eine neue Anerkennungskultur.
Rassismus, Diskriminierung (Forum 2)
(Chair: Rudolf Leiprecht, Bericht: Gabriele Khan‐Svik)
In den Beiträgen des Forums war die Auseinandersetzung mit Sprache und mit der Darstellung in Zusammenhang mit Rassismus und Diskriminierung zentral. Dabei ging es vor allem um das Sichtbar‐Machen einer unreflektierten „schiefen Optik“.
Das von Wiener Sprachwissenschaftern durchgeführte Projekt „migration.macht.schule“, angesiedelt zwischen Universität und Schule (sparkling science‐Projekt), setzt sich mit Rassismen in der österreichischen Online‐Zeitschrift derStandard.at auseinander. Zum einen geht es um die Aufarbeitung (versteckter) Rassismen in den Foren und Postings, zum anderen um die Vermittlung der Methode der Kritischen Diskursanalyse, die die mitarbeitenden SchülerInnen eines Wiener Gymnasiums zu sprachlicher Reflexion und Sprachbewusstsein anleiten soll.
Auch das Projekt „Migration im Schulbuch“ widmet sich der Analyse von Texten und fragt nach der Repräsentation von MigrantInnen in den Schulbüchern und ob sich diese im Laufe der Zeit verändert hat. Während bis in die 1980er Jahre hinein in vielen Büchern Migration ignoriert wurde, werden die Themen nun angesprochen – allerdings zum Teil in simplifizierender oder oberflächlicher Art. Dieses Forschungsprojekt findet eine Fortsetzung in Form von sparkling
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science – SchülerInnen analysieren gemeinsam mit den WissenschafterInnen die Schulbücher, die sie selbst in Verwendung haben.
Sprache, Mehrsprachigkeit (Forum 3)
(Chair und Bericht: İnci Dirim)
In dem Forum wurden vier Vorträge gehalten und diskutiert, über die im Folgenden kurz berichtet wird:
- Gottfried Wetzel, Barbara Pöchhacker, Antonela Cvitanovic, Universität Salzburg: „Sprachförderungsmaßnahmen für Kinder mit Migrationshintergrund in Salzburg“
- Es wurden die Ergebnisse von Studien über die Projekte „Rucksack“ und Lernförderung beim Verein „Viele“, beides in Salzburg angesiedelt, vorgestellt. Das Projekt „Rucksack“ richtet sich an Mütter von Kindern im Kindergartenalter; es handelt sich um ein Elternbegleitungsprojekt, das Eltern – vor allem im Hinblick auf sprachliche Erziehung – in ihrer Erziehungsrolle zu unterstützen anzielt und ihre Sprache(n) und Lebensbedingungen berücksichtigt.
- Ines Garnitschnig, Katrin Großauer, Ewelina Sobczak, Regina Studener‐Kuras, Universität Wien: Spracherwerb und lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Kindergarten. Konzeption und erste Ergebnisse eines laufenden Forschungsprojekts an Wiener Kindergärten
- Ein interdisziplinäres Team im Rahmen des Projekts „Spracherwerb und lebensweltliche Mehrsprachigkeit im Kindergarten“ untersucht unter der Leitung von Rudolf de Cillia und Wilfried Datler im 15. Wiener Gemeindebezirk über Bedingungen und Möglichkeiten sprachlicher Bildung von Kindern vor dem Hintergrund lebensweltlicher Sprachenvielfalt im Kindergarten. Im Zentrum stehen die Faktoren, die sich für die Entfaltung von sprachlichen Kompetenzen in den Bereichen der Erst‐ und Zweitsprache als förderlich bzw. hemmend erweisen, sowie die Erforschung von Möglichkeiten der Unterstützung von Prozessen der Sprachaneignung.
- Angela Pilch Ortega, Universität Graz: Mehrsprachigkeit in der Forschungspraxis ‐ Herausforderungen und methodische Implikationen des Übersetzens von Bedeutungen
- Der Vortrag thematisiert den Umgang mit Mehrsprachigkeit in der Forschungspraxis. Es wird auf die Frage der Zielsetzungen und Bedingungen von Übersetzungsprozessen in Interviews eingegangen und damit einhergehende methodische Implikationen. Dabei stehen mit Rekurs auf kritische Positionen der Translation Studies soll vor allem die Verstricktheit von Übersetzung in globale Machtverhältnisse und damit einhergehende Asymmetrien zwischen Sprachen und Sprechenden Im Zentrum.
- Boris Prinschitz: „Brauche ich das für den Alltag?“ – DaZ in der Erwachsenenbildung
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- An Hand der Fragen „Wie lernen Erwachsene?“, „Wie lernen sie vor allem Zweitsprachen – DaZ? „ und „Welche Makro‐ und Mikrodidaktischen Konsequenzen ergeben sich v.a. für berufsspezifische DaZ‐Kurse daraus?“ wird das Sprachkonzept des Österreichischen Integrationsfonds vorgestellt.
Zugehörigkeit, Identität, Religion, Biografie (Forum 4)
(Chair und Bericht: Astrid Messerschmidt)
Die sieben Beiträge des Forums reflektierten sozialpädagogische Praktiken und erziehungswissenschaftliche Ansätze im Kontext der Migrationsgesellschaft und stellten Forschungsergebnisse vor, durch die subjektive Strategien von MigrantInnen im Bemühen um Zugehörigkeit und im Umgang mit Integrationserwartungen sichtbar wurden. Die subjektiven Strategien, bspw. bei der Gestaltung von Betreuungsbeziehungen von Jugendlichen in Verhältnissen der Fremdunterbringung oder bei der Suche nach Bildungsperspektiven von minderjährigen Flüchtlingen, sind jeweils bedingt von den strukturellen Faktoren, die Zugehörigkeiten begrenzen und die Möglichkeiten, Differenzen zu leben, einschränken. Die Versuche von Migrantinnen, die eigenen beruflichen Qualifikationen als kulturelles Kapital nutzen zu können, stoßen auf die Grenzen der Arbeitsmarktverhältnisse und der rechtlichen Bedingungen von Einwanderung. Alle Beiträge boten Impulse, die im Zuge der Interkulturellen Pädagogik stark fokussierte Kulturkategorie zu relativieren und im Zusammenhang von sozial‐strukturellen und politischen Bedingungen zu betrachten. Dabei rückten die Grenzregime in den Blick, durch die Migration zu einem Faktor machtpolitischer Interessen wird. Die Illegalisierung von Migration begünstigt ausbeuterische Beziehungen, in denen menschliche Ressourcen Gewinn steigernd verwertet werden können. Für alle Problemstellungen ergeben sich forschungsmethodologische Fragen: Welche Sichtweisen leiten die Forschenden bei der Wahrnehmung ihrer Zielgruppen und wie wirken sich diese Sichtweisen auf Forschungsergebnisse aus?
Die Kategorie der Religion wurde nur in einem der Beiträge thematisiert, was auf eine Leerstelle in der migrationsbezogenen erziehungswissenschaftlichen Bildungsforschung aufmerksam macht, die vielleicht auf das Selbstbild eigener Nichtreligiosität der Forschenden zurück zu führen ist. Diskutiert wurden religiöse Selbstdarstellungen in den digitalen Medien, die ein Forum für islamistische wie antimuslimische Identifikationen bieten. Wie können beide Formen der Instrumentalisierung von Religion erforscht und reflektiert werden?
Das Forum entwickelte selbstkritische Perspektiven auf die eigenen Forschungskonzeptionen und auf sozialpädagogische Konzepte. So zeigt sich immer wieder eine Dominanz assimilatorischer Praktiken, wenn Integration als Leitlinie vorgegeben ist. Die nach wie vor bestehende Kulturalisierungstendenz begünstigt die Vernachlässigung von sozialen Ungleichheitsverhältnissen und klassenbezogener Diskriminierung. Für die theoretische Weiterentwicklung kann die erinnernde Rekonstruktion der Anlässe für eine interkulturelle Pädagogik dazu beitragen, sich mit den sozialen Bewegungen auseinander zu setzen, die für Anerkennung und Gleichberechtigung gekämpft haben. Sie erinnern an die historischen
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Kämpfe, die zur Vorgeschichte einer kritischen Migrationspädagogik gehören und deren aktuelle Ausprägungen neue Perspektiven heraus fordern.
Plenarvortrag Yasemin Karakaşoğlu: Aktuelle Perspektiven und zukünftige Herausforderungen interkultureller Bildungsforschung
(Bericht: Erol Yıldız)
Zum Schluss ging Yasemin Karakaşoğlu (Universität Bremen) auf aktuelle Perspektiven und zukünftige Herausforderungen interkultureller Bildungsforschung ein. Nachdem sie die Verortung Interkultureller Bildungsforschung als eigenständige Disziplin aus historischem Blickwinkel skizziert hatte, wurde die politische Instrumentalisierung interkultureller Bildungsaspekte erörtert, die fachliche Identität der Interkulturellen Bildungsforschung aus unterschiedlichen Blickwinkeln diskutiert und anschließend offene Fragen sowie zentrale Herausforderungen Interkultureller Bildungsforschung in der globalisierten Welt benannt. In ihren Ausführungen befasste sich Yasemin Karakaşoğlu mit unterschiedlichen, teils kontroversen Ansätzen (Auernheimer, Scherr, Bommes, Terkessidis etc.) und stellte anschließend einige problematische Aspekte heraus, die einer Weiterentwicklung Interkultureller Bildungsforschung im Wege stehen. In diesem Kontext wurde vor allem die immer noch vorhandene kulturalisierende und ethnisierende Dichotomie kritisiert und neue Perspektiven gefordert, die solche polarisierenden Denkweisen auflösen. Kritisch wurden auch die Mechanismen institutioneller Diskriminierung angesprochen, die im deutschsprachigen Raum bisher wenig Aufmerksamkeit erfuhren. Erforderlich sei eine „zeit‐ und ressourcenintensive Grundlagenforschung“ im interkulturellen Bildungskontext. Darüber hinaus sollte das Verhältnis der Interkulturellen Bildungsforschung zu anderen Konzepten von „Heterogenität“ intensiviert und neu durchdacht werden (Diversity‐Education, Transkulturelle Erziehung, Globales Lernen, Inklusive Pädagogik). In diesem Kontext seien neue Begrifflichkeiten notwendig, die mit der gesellschaftlichen Realität korrespondieren, wie beispielsweise „Hybridität“, „Mehrfachzugehörigkeit“, „Postmigranten“.
Forschungskolloquien
(Bericht: Annette Sprung)
Im Rahmen der Forschungskolloquien wurden am zweiten Konferenztag noch nicht abgeschlossene Forschungsarbeiten (wie z.B. Dissertationen) präsentiert und diksutiert. Die Beiträge umfassten Projekte aus dem Feld Erwachsenenbildung/Arbeitsmarktpartizipation
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(Dequalifizierung, didaktische Aspekte, Altenpflege) ebenso wie aus dem schulischen und elementarpädagogischen Kontext. Darüber hinaus standen informelle Lernprozesse (Beispiel: Betteln) wie auch Fragen der Geschichtsvermittlung zur Diskussion. Die Forschungskolloquien veranschaulichten ein breites inhaltliches Spektrum an „Nachwuchsforschung“ und stellten spannende Erkenntnisse in Aussicht bzw. konnten Teilergebnisse bereits in den Kolloquien diskutiert werden.
Podiumsdiskussion
(TeilnehmerInnen: Barbara Herzog‐Punzenberger, BIFIE; Yasemin Karakaşoğlu, Universität Bremen; Rubia Salgado (MAIZ) und Rüdiger Teutsch, BMUKK; Bericht: Gabriele Khan‐Svik)
Den Abschluss bildete eine Podiumsdiskussion, die sich „Visionen einer ‚gerechten’ Migrationsgesellschaft – Perspektiven im Gespräch“ widmete.
Die Hindernisse für die Umsetzung einer gerechteren Gesellschaft wurden in den unvereinbaren Partikularinteressen und in der Verhaftung in einem ethnischen Nationalitätsbegriff gesehen. Die österreichische (wie auch die deutsche) Schule ist eine Institution, die aufgrund der Struktur zu einer Reproduktion der sozialen Verhältnisse führt – statt zu einer Milderung oder gar Überwindung derselben beizutragen. An Lösungsansätzen wurden einige geboten, doch müsste es zuallererst zu einer rechtlichen Gleichstellung der MigrantInnen mit den ÖsterreicherInnen kommen, woraus sich gleiche Privilegien und Gleichberechtigung entwickeln könnten. Des Weiteren müsste der Nationalitätsbegriff vom Begriff der Ethnizität entkoppelt werden.
Was könnte die Schule tun? Die Institutionen müssten die tradierten Selektionsmechanismen fallen lassen und notwendige Selektionen so spät als möglich ansetzen. Es müsste flächendeckend die ganztägige Schule angeboten werden, um alle Kinder, besonders aber jene, die seitens der Eltern nicht unterstützt werden können, zu ihren Höchstleistungen führen zu können.