Der Mensch in der Moderne –aufgeklärt, aber zukunftsblind !
Univ. Prof. Dr. Herwig ScholzUniversität Graz
Alpe Adria Universität Klagenfurt
Die wesentlichsten Etappen des
Fragenkomplexes Zeitgeist und Perspektiven des 19.
Jahrhunderts, Sicht des Menschenbildes Die (Neu) Entdeckung der menschlichen
Psyche Dennoch aktuell gegebene Defizite Beispiele für die erhebliche Zukunftsblindheit Verantwortliche Hintergründe Möglichkeiten zur Veränderung
Durch die Aufklärung geprägter Zeitgeist des 19. Jahrhunderts
Vernunft als universelle Instanz Ausdehnung der persönlichen
Handlungsfreiheit Toleranz gegenüber den Religionen Unbändiger Fortschrittsglaube Aufbruchsstimmung
Aufbruchstimmung im 19. Jahrhundert
Entdeckung immer neuer Ressourcen Scheinbar unbegrenzte Reserven „Unbegrenzte Möglichkeiten“ Unkritischer Optimismus Enorme Zukunftsblindheit z.B.:
Nationalismus, Kolonialismus…. Fokussierung des Menschenbildes
auf körperliche Befunde
Das medizinische Menschenbild im 19.
Jahrhundert Materialismus, Naturglaube Starke Ausrichtung auf organmedizinische
Forschung Beginnende Spezialisierung der Medizin Aber wenig Verständnis für leib/seelische
Zusammenhänge Psyche wird als etwas Irrationales
aufgefasst Konkretes Interesseerst Ende des 19.JHDT. Zugang meist über physikalische Methoden
Annäherungen an die Psyche mit naturwissenschaftlichen
Methoden Phrenologie: (F.J. Gall 1796 ): Stark
anatomisch orientiert - Zuordnung psychischer Funktionen zu bestimmten Hirnteilen
Kraniometrie: Versuch der Einschätzung geistiger Fähigkeiten nach der Schädelform – missbraucht für „Rassenkunde“
Mesmerismus: (1770) Magnetische Heilkraft Versuch der psychischen Beeinflussung durch berühren mit Eisen, „Handauflegen“
Dennoch erster Zugang zu den Hypnosetechniken des 19. Jahrhunderts
Hypnosetechniken des 19. Jahrhunderts
R. Wallace kombinierte Mesmerismus mit Gall`scher Schädelkarte
J.M. Charcot demonstriert an der Salpetriere die Auslösung hysterischer Anfälle durch Apparate
Hypnoseschule in Nancy – Bernheim: Hypnose funktioniert auch ohne Apparate durch „Psychotherapie“ durch den Arzt
Freud befasst sich nach Besuch in Paris und Nancy ab 1885 mit Studien über Hysterie
Entwicklung der Psychoanalyse
Breuer interessiert Freud 1883 für seine Therapie einer Hysterie durch „talking cure“
1895 Studie über Hysterie von Freud: Damit erstmals Wechselbeziehungen zwischen
Psyche und körperlichen Symptomen angesprochen
Sowie die Wirksamkeit der freien Assoziation 1900 publiziert Freud die Traumdeutung Damit erste Zugänge zur Entdeckung des
Unbewussten und zur Psychoanalyse
Entdeckung des Unbewussten und andere psychische
Phänomene Verdrängung unbewältigter Inhalte in das
Unbewusste – Abwehrmechanismen Aufdeckung der Auswirkungen verdrängter
Sexualität Neue Sicht zwischenmenschlicher Beziehungen
„Übertragung“ Beschreibung der frühkindlichen
Entwicklungsphasen Die integrativen Funktionen von ICH, ES, ÜBER ICH
und SELBST Verständnis für leib/seelische Zusammenhänge bei
psychosomatischen Erkrankungen u.v.a.m..
Erkenntnisse anderer Forschungsbereiche
Neurobiologie des Nervensystems Psychiatrische Krankheitsforschung Neue psychotherapeutische Schulen Begründung der Psychologie Entwicklung neuer therapeutischer
Möglichkeiten für psychisch Kranke
Erkenntnisse der Neurobiologie des Nervensystems
Erkenntnisse über die Struktur des Gehirns und konkrete Veränderungen bei seiner Reifung
Verstehen lernbedingter, erlebnisbedingter Veränderungen im Zentralnervensystem
Für psychische Erkrankungen verantwortliche Mechanismen z.B. bei Depression, Angst, Burnout
Konsequenzen chronischer Stressbelastungen Rolle der Fehlfunktionen von Neurotransmittern
Fortschritte moderner psychiatrischer
Krankheitsforschung „Entmystifizierung“ - Verständnis für die
Hintergründe psychischer Erkrankungen Schaffung einheitlicher Diagnosekriterien Offenerer Zugang zu psychisch
Erkrankten - allerdings noch stark verbesserbar
Neue therapeutische Möglichkeiten
Neue therapeutische Möglichkeiten
Psychopharmakologie - medikamentöse Therapie speziell Depressionen, Angststörungen etc.
Neue psychotherapeutische Methoden: z.B.: Psychoanalyse, kognitive Verhaltenstherapie, systemische Therapie
Komplexere Therapien: Integration von Therapiemethoden - Gruppentherapien, körperorientierte Psychotherapie …….
Entwicklung der Psychologie als eigenständige Wissenschaft im
19.JHDT
Beforscht die krankhaften und normalen psychischen Reaktionen
W.v. Humboldt begründet „Völkerpsychologie“ Daraus entstanden Massenpsychologie,
Sozialpsychologie Psychologische Testverfahren z.B.: Methoden
zur Intelligenzmessung Konzeption eigenständiger Therapiestrategien
z.B.: Verhaltenstherapie, systemische Therapie etc
Der aktuelle (moderne )Ist-Zustand des Wissens um die
Psyche Gegenüber dem 19. Jahrhundert enorm erweiterte
Kenntnisse über Funktionen des Gehirns Differenziertes Wissen um die Psyche des Einzelnen
aber auch von Kollektiven Innovative Methoden zur Therapie und Prävention
psychischer Störungen Wesentlich verbessertes Verständnis eigener
seelischer Reaktionen im Alltagsleben
Dennoch erleben wir einen dramatischen Anstieg psychischer
Defizite
Zunahme psychischer Erkrankungen gerade in reichen und sicheren Ländern
Speziell Depressionen, Angststörungen Ausbreitung von Suchtkrankheiten –
Alkoholismus, Drogen, Spielsucht…… Neue Erkrankungsvarianten z.B.:
Burnout Dilemma zunehmender Zukunftsängste Bei unverändert bestehender
Zukunftsblindheit
Konkrete Beispiele für nach wie vor gegebener Zukunftsblindheit
Umwelt Politik Finanzwelt Gesundheitsvorsorge Einstellung zur eigenen
Lebenszukunft
Zukunftsblindheit in der Umweltpolitik - Beispiele
Klimawandel ohne wesentliche Reaktion
Abholzung klimarelevanter Waldgebiete z.B.: Amazonas
Verschmutzung der Meere Nachhaltige Ausrottung des
Fischbestands Zersiedelung, Betonierung …..
Zukunftsblinde Politik
Kurzfristige Planungen ohne Analyse der Auswirkungen auf die Zukunft
Keine Rücksicht auf die Interessen der kommenden Generationen
Kurzsichtige Konfliktpolitik - Kriegspolitik Keine Rücksicht auf Veränderungen der
Bevölkerungsstruktur z.B.: Überalterung Zukunftsblinde Gesundheitspolitik,
Wirtschftspolitik
Wirtschaft, Finanzpolitik
Unerschütterlicher Wachstumsglaube Schuldenpolitik Managementphilosophien „rascher
Profit“ Verschleuderung von Ressourcen Unterdrückung der erneuerbaren
Energieformen
Zukunftsblindheit eigene Gesundheitsinteressen
Vorsorgeuntersuchungen, Impfungen Lebensgewohnheiten, Ernährung, Bewegung… Riskante Gewohnheiten - Rauchen, Trinken ohne
Rücksicht auf Konsequenzen Rücksichtslose Stressbelastung, Dauerbelastung Unfallvermeidung „Unfälle passieren nur den
Anderen“ Mangelnde Vorbereitung auf kommende
Lebensabschnitte
Mangelnde Vorbereitung auf zukünftige Lebensphasen
Junges Erwachsenenalter: „Ewige Jugend“, Ablehnung Älterer „Schaut alt aus“
Mittleres Lebensalter: Keine Vorbereitung auf Klimakterium, Involution
Klimakterium, aktives Alter: Keine Voraussicht auf mögliche Krankheit, Behinderung, Pflegebedürftigkeit
Deshalb auch erheblicher Mangel notwendiger Einrichtungen zur Pflege Älterer
Wie erklärt sich diese seit dem 19. Jahrhundert
unverändert gebliebene Schwäche
des modernen Menschen ?
Trotz Wissensexplosion nach wie vor gegebene Defizite
Tendenz zur Übernahme kollektiver Sichtweisen anstelle individueller Meinungsbildung
Fehlbewertung der tatsächlichen Denkebenen – Überschätzung der emotionalen Komponente
Rückwärtsgewandte Analyse von Prozessen Unterentwickelte Fähigkeit zu komplexem
prozessorientiertem Denken Damit nach wie vor kein Zugang zu
realistischen Zukunftsperspektiven - Zukunftsblindheit
Varianten der Zukunftsblindheit
Passive Zukunftsblindheit:Fehlende Fähigkeit zukünftige Entwicklungen und damit verbundene Gefahren vorauszusehen
Aktive Zukunftsblindheit: Fehlende Bereitschaft die
Möglichkeit zukünftiger Fehlentwicklungen zu akzeptieren und darauf sinnvoll zu reagieren
Gründe für diese aktive Zukunftsblindheit
Selbstüberschätzung, Naivität Wunschdenken, Bequemlichkeit Verdrängung, Verleugnung der Realität und
andere Abwehrmechanismen Verlust der Eigenständigkeit durch den
Kollektivismus Starke Einengung auf die Gegenwart „so wie es
heute ist, wird es bleiben“ Vertauschung der Denkebenen - emotionale
Dominanz statt kognitiv getroffene Entscheidungen
Unzureichendes Prozessdenken
Realitätsvermeidende Abwehrmechanismen
Verleugnung: „Wird nicht so schlimm werden“ Verdrängung: „Problem existiert gar nicht“ Verschiebung: „Schuld sind die Anderen“ Regression: „Wir können da nichts machen“ Sublimieren: „Geschieht zu einem höheren
Zweck“ „Magisches Denken“: Uns kann nichts
passieren“
Wie erklären sich fehlerhafte Denkprozesse
Keine Unterscheidung zwischen rationalen (kognitiven) und emotionalen Denkresultaten
Überbewertung kognitiv/rationaler Denkprozesse
Tatsächliche Dominanz emotionaler Entscheidungen
Somit werden irrationale, emotionale Entscheidungen scheinbar rational begründet
Z.B.: Die starke Fixierung auf die Gegenwart „wie es heute ist, wird es auch in Zukunft sein“
Gründe für die starke Einengung auf die
Gegenwart In den frühen Epochen nur geringfügige
kurzfristige Veränderungen Beurteilung der Zukunft bleib Domäne
von Führungsschichten Priester, Magier (siehe Mayakulturen, Osterinseln..)
Der Bevölkerung wurde eher rückwärts gewandtes Denken vermittelt.
Damit kaum Anreize für prozessorientierte Analyse zukünftiger Veränderungen
Die Problematik prozessorientierten
Denkens
Über lange Zeit beschränkt auf militärische und ökonomische Bereiche
Vielfach eingeengt auf Datenanalysen unterschiedlicher Qualität
Nur sehr sporadische Einbeziehung psychologischer oder soziologischer Aspekte
Wird Jugendlichen kaum vermittelt
Was kann man verändern
Für eine eigenständige Zukunftssicht ?
Möglichkeiten zur Vermeidung der eigenen Zukunftsblindheit
Suche nach bereits vorliegenden Erfahrungen
Damit verstärktes Interesse an historisch gewonnenen Befunden als Grundlage für
Rückschlüsse auf Zukunftsentwicklungen Vermeidung der kollektiven Vereinnahmung
zugunsten individueller Meinungsbildung Überprüfung der eigenen Perspektiven Intensiviertes prozessorientiertes Denken
Grundelemente prozessorientierten Denkens
Erkennen von vorhersehbaren Konsequenzen einer Entscheidung bzw. Aktivität
Durchschauen der dahinter liegenden Prinzipien Überlegungen von Alternativen Konsequenzen für die nächsten Generationen ? Möglichkeiten eigener Einflussname auf den
Prozess ? Ausstieg aus unkritischem Kollektivismus
Vermeidung kollektiver Vereinnahmung
Erkennen kollektiver Fehlbeurteilungen und Verdrängungen
Woher kommen die konkreten Ansichten ?
Verfolgen sie einen bestimmten Zweck ? Für wen?
Was meine ich selbst dazu ? Wie kann ich meine eigene Meinung
absichern?
Wie überprüfe ich meine eigene individuellen
Einschätzung
Einsicht in eigene Abwehr z.B.: Verleugnung, Verdrängung
Kontrolle eigener Urteilsfindung und Entscheidungen - rational? emotional?
Besteht ausreichendes Selbstvertrauen?
Einschätzung der Bereitschaft zur aktiven Stellungnahme, Zivilcourage
Bewährte Strategien erfolgreicher Einflussnahme
(Zwentendorf, Hainburg)
Eigene Meinungsbildung Kommunikation mit Anderen Planung gemeinsamer Aktivitäten Einsatz von Verstärkern,
Unterstützern Nachhaltige Öffentlichkeitsarbeit
Forcierte Zukunftsforschung Bevorzugung von Instanzen mit
klaren Zukunftsperspektiven Vermeidung blinder Flecken
bezüglich der eigenen Zukunftserwartung
Statt Zukunftsangst Bereitschaft zum Handeln!
Grundlegend erforderlich sind somit
Da die Zukunftsblindheit des 19. Jahrhunderts in Katastrophen geendet hat, wäre es schön
Wenn es uns gelingen könnte, Im 21. Jahrhundert ein
klareresZukunftsbild zu entwickeln
Vielen Dank und eine schöne Zukunft !