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Die Geschichte des Weihnachtsstollens
BERND L AHL
C HEMNITZER VERL AG
Vorwort ......................................................................................................................................................................................................................................6Die Weihnachtszeit – Sachsens süßeste Zeit.........................................................................................................................................7 Gedicht: Stollnappetit ................................................................................................................................................................................................ 10Am Anfang: Christstollen und Niklaszopf ............................................................................................................................................ 10Der Niklaszopf ................................................................................................................................................................................................................. 13Der Annaberger Niklaszopf................................................................................................................................................................................1418. Jahrhundert: Stollenkuchen und Kartoffelkuchen ............................................................................................................. 19Sprachverwirrung: Christstollen, Christstrietzel oder Christweck?.........................................................................20Die Legende von den Klöstern .........................................................................................................................................................................221329: Stollenkunde aus Naumburg ..............................................................................................................................................................22 1327: Das Rätsel um den Lunzenauer Stollen ....................................................................................................................................241370: Exporte aus Siebenlehn nach Meißen und Dresden ...................................................................................................241455: Eine Weihnachtssemmel aus dem Vogtland so groß wie das Weihnachtsbrot .................................27 1474: Striezelmarkt und Stollenmarkt .......................................................................................................................................................281510: Die erzgebirgischen Bergstädte als bürgerliche Schlemmerparadiese ...................................................291530: Stollenhochburg Annaberg .................................................................................................................................................................. 31 1592: Vom Christbrot zum Christstollen .................................................................................................................................................331700: Die Zeiten ändern sich, die Tischsitten ebenfalls ............................................................................................................351738: Die schneeweiße Zuckerkruste des Stollens ........................................................................................................................ 371727: Die berühmten Dresdner Bäcker-Aufzüge und das „Stollentragen“ ............................................................38 1730: Unübertroffen – der Riesenstollen August des Starken ........................................................................................... 411729: Leipzig, wo die Stolle zu Hause ist ..................................................................................................................................................42 Dresden 1805: Christstollen gutbürgerlich ..........................................................................................................................................441800: „Mer hobn ah sachzn Butterstolln, su lang wie de Ufenbank“ ..........................................................................4619. Jahrhundert: Kinderverse ...........................................................................................................................................................................481820: Die wirthschaftliche Frau .......................................................................................................................................................................49Um 1810: Lausitzer Weihnachtserinnerungen .................................................................................................................................521819: Backen wird preiswerter .........................................................................................................................................................................53Chemnitz: Christbrote für den Siechhof ................................................................................................................................................581830: Dresden wird zum Zentrum der deutschen Back- und Süßwarenindustrie .........................................601875: „Christstollen ein Ziel, um deßen Genuß sich das Leben lohnt!“ .....................................................................62 1883: Stollenbäcker-Stress .....................................................................................................................................................................................63
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Inhalt
1883: Aufschwung der „Süßen Lust“ ............................................................................................................................................................641910: Wenn wir backen – ein Schulaufsatz ...........................................................................................................................................691915: Kriegsweihnachten ohne Christstollen?...................................................................................................................................691920: Wechselhafte Stollenzeiten ...................................................................................................................................................................72 1931: Ein Weihnachtsstollen aus Aue erzählt von damals ..................................................................................................... 741934: Weit gereist – per Schiff nach Amerika ...................................................................................................................................751936: Weihnachtsbäckerei in der Lausitz ..............................................................................................................................................77Gedicht: Wenn gebacken ward ........................................................................................................................................................................781940: Wieder Krieg und wieder Kummer ..............................................................................................................................................781945: Stollensplitter aus dem Vogtland ....................................................................................................................................................801960: Grüne Tomaten und Westpäckchen ............................................................................................................................................ 811960: Margarine, Butter und die Wismut ...............................................................................................................................................821971: Stollen in der DDR .........................................................................................................................................................................................83Gedicht: Langt när zu ...............................................................................................................................................................................................861990: Nach der Wende ..............................................................................................................................................................................................871994: Gute Marketingidee – Das Dresdner Stollenfest .............................................................................................................922004: Der Stollen aus dem (Bergwerks-)Stollen ...............................................................................................................................93Rückblick: Mauersberg und Kantor Mauersberger ..................................................................................................................942011: Besuch beim Marktführer im Erzgebirge ..............................................................................................................................95Uralte Geselligkeit: Stollenbacken beim Hausbäcker ............................................................................................................101Stollenanschnitt in Sachsen: Traditionell oder am 1. Advent? ...................................................................................... 1042011: Die Backsaison beginnt immer früher.................................................................................................................................... 107 Die weiße Pracht: Das eigenhändige Buttern und das Zuckern des Stollens ................................................ 107Die Lagerung der Stollen ....................................................................................................................................................................................110Die Zutaten: Mehl, Butter, Mandeln, Rosinen, Zitronat & Co ..........................................................................................111Stollenrezepte ................................................................................................................................................................................................................ 120
Literatur .............................................................................................................................................................................................................................. 124
Anmerkungen und Quellen.............................................................................................................................................................................. 125
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Vorwort
Oh, es riecht gut, oh, es riecht fein – die süßen
Düfte der Weihnachtszeit, sie kommen auch vom
Weihnachststollen.
Der Christ- oder Weihnachtsstollen – das ist
ein weihnachtliches Markenzeichen Sachsens,
und er ist es wert, einmal näher betrachtet zu
werden – sächsisch-global sozusagen.
Schon Heinrich Heine hatte in seiner „Harz-
reise“ darauf verwiesen, dass eine Speise am
besten schmeckt, wenn man ihre geschichtli-
chen Hintergründe kennt. In Sachsen kultiviert,
handelt es sich beim Weihnachtsstollen um das
Weihnachtsgebäck mit der längsten Tradition
in Deutschland. Es ist auch hier über die Jahr-
hunderte zum bedeutendsten weihnachtlichen
„Gebildgebäck“, so der Fachbegriff für „ereig-
nisgebundene“ Backwaren, entwickelt worden.
Doch aus der Geschichte des beliebtesten Weih-
nachtsgebäcks vor dem Jahre 1700 wissen wir
nicht sehr viel. Ungenaue Quellenangaben, sa-
genhafte Interpretationen und nette Legenden
dominieren.
In diesem Buch wird deshalb erstmals versucht,
zugängliche Quellen im Zusammenhang mit
der Entwicklung der Esskultur und des Fein-
backwesens zu einer Geschichte dieses beliebten
Weihnachtsgebäcks zu fügen.
Dies ist eine Geschichte des Weihnachtsstol-
lens in Geschichten – von seinem Vorläufer, dem
Christbrot, über die verschiedenen Qualitäten
des Stollens in der Vergangenheit bis zur heuti-
gen Stollenbäckerei. Auch die Veränderungen
der mit dem Weihnachtsstollen verbundenen
Bräuche – die Termine des Backens und des Stol-
lenanschnitts – werden beschrieben.
Eine Chronologie ließ sich dabei nicht immer
einhalten, da sich Entwicklungen überschneiden,
manches auch nur ungenau zu datieren ist.
Dieses Buch ist damit eher ein Anfang als der
Weisheit letzter Schluss. Langwierig und zeitrau-
bend war die Suche nach den sehr verstreuten
Quellen, und relativ wenig Ausbeute gönnten mir
die Archive. Deshalb soll das Buch auch zu wei-
teren Betrachtungen und Forschungen anregen.
Bernd Lahl
Chemnitz, im November 2011
Oh, es riecht gut, oh, es riecht fein
Die Weihnachtszeit: Sachsens süßeste ZeitWenn im Herbst die Blätter fallen und frostige
Nächte ihre Herrschaft antreten, dann kommen
auch erste Gedanken an die bevorstehende Ad-
vents- und Weihnachtszeit auf. Das geschieht
– klimatisch bedingt – in den Bergregionen Sach-
sens früher als im Niederland. Spätestens nach
dem wieder aufgekommenen Martinsgans-Essen
kündigt sich die süße Seite der Weihnachtszeit
an: Wer den Stollen am 1. Advent anschneidet,
kauft ihn jetzt, damit er noch richtig durchzie-
hen kann. Doch dann geht’s Schlag auf Schlag.
Plätzchen backen im gemütlichen Freundes-
kreis mit Glühwein und Schnäpschen, „weil‘s
eine alte Tradition is“, zur Eröffnung des Weih-
nachtsmarktes ein, zwei Töpfchen Glühwein
und Vanille- oder Quarkkrapfen probieren, zum
öffentlichen oder zum privaten Stollenanschnitt
am 1. Advent oder schon am Adventssonnabend
einmal die neue Charge probieren. Wer noch
die uralte Tradition des Stollenanschnitts am
1. Weihnachtsfeiertag wahren möchte und bis
dahin auf den mit Rosinen geschwängerten
Butterstollen verzichten muss, der kann sich an
Quark-, Mohn- oder Mandelstollen schadlos hal-
ten. Und dann sind da noch die Leb-, Pfeffer- und
Elisenkuchen sowie die in Dresden erfundenen
Das Stollenhaus auf dem Weihnachtsmarkt in Annaberg-Buchholz.Foto: Brigitte Streek
7
Hier steht eine Bezeichnung, die das jeweilige Bild näher be-schreibt und dem Leser Informationen gibt.
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Hier steht eine Bezeichnung, die das jeweilige Bild näher be-schreibt und dem Leser Informationen gibt.
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Dominosteine zu probieren. Ach ja, beinahe
hätten wir den Stollenkuchen vergessen. Den
kann man jetzt schon vor dem 1. Advent beim
Bäcker kaufen, gleich nach dem Auslaufen der
Martinshörnchen.
Ja, Sachsen ist ein „süßes“ Weihnachtsland! Was
hat der umtriebige Sachse nicht alles „erfunden“,
um sich eine abwechslungsreiche, süße Advents-
und Weihnachtszeit zu verschaffen.
StollnappetitManfred Pollmer
Mit meiner Ruh, do is es aus:
In allen Stubn, in ganzen Haus,
do riecht’s nooch Stolln! Un wie dos riecht!
Waar do fei kaa Gelüstel kriegt!
Nu liegn se aah noch gruß un lang
In meiner Kammer of’n Schrank,
e Stücker siebn, zen Aufhebn drauf!
Dos weckt miech aus’n Schlof noch auf!
E su ewos, dos derft’s net gabn:
Mol kosten schu, doch när in Traam,
dä zu Weihnachten, net gestrieten,
wardn Butterstolln erscht ageschnieten!
Wos blebt, dos is der Appetit!
Ob’s eich emende aah su gieht?
Du liebe Zeit – wos mach iech när?
Wenn bluß erscht bal Weihnachten wär! 4
Am Anfang: Christstollen und Niklaszopf
Besondere Festzeiten brachten in der Vergangen-
heit oft besondere Festspeisen hervor. Das war
bei den Ägyptern, Griechen, Römern, Slawen
und unseren Vorfahren, den Germanen, so. Sie
wollten nicht nur den Festtag ehren, sondern ein
vom Magen auf die Sinne übertragenes Hochge-
fühl vermitteln. Dazu wählte man Formen und
Inhalte, die in einer Beziehung zu dem jeweili-
gen Fest standen. Beim Backwerk war es vor
allem die äußere Form, die eine dominierende
Rolle spielte. Die Volkskunde fasste alle diese
Gebäcke unter dem Namen „Gebildgebäcke“
zusammen. Seit einigen Jahrhunderten gehö-
ren Christstollen und Niklaszöpfe dazu. Für
ihre Geschichte sind die germanischen Feste in
der zweiten Hälfte des Dezembers und die der
in Sachsen siedelnden Slawen und der Römer
maßgebend. In diese Zeit fällt die Wintersonnen-
wende. Sie wurde hoffnungsvoll herbeigesehnt
und besonders festlich begangen.
Die sich seit Ende des 6. Jahrhunderts ansiedeln-
den Slawen feierten Swantewit, den slawischen
Gott des Lichts und der Sonne. Die Germanen
ehrten in dieser Zeit der Sonnenwende die Son-
ne, ihre Toten und sie feierten das Julfest. Bei
den Römern beging man am 25. Dezember, den
sie für den kürzesten Tag des Jahres hielten, das
Sonnenfest, den Geburtstag des unbesiegten
Sonnengottes Mithras. Jahrzehnte nach Kaiser
Das weihnachtlich geschmückte Schneeberg.
10
Konstantins Übergang zum Christentum (312/13)
wurde der (eigentlich unbekannte) Geburtstag
von Jesus Christus – die Sonne der Gerechtig-
keit, das Licht der Welt – auf diesen Tag gelegt.
Von Rom ausgehend, setzte sich dieses Fest in
den späteren Jahrhunderten auch in West-, Mit-
tel- und Nordeuropa durch. Dabei entwickel-
ten sich neben den alten auch neue Bräuche.
Beim Backwerk brachte die neu entstandene
„wihenacht“, die durch die Geburt von Jesus
Christus geweihte Nacht, im Laufe der Zeit im
Gebiet von Eisenach bis in die Lausitz und von
Wittenberg bis ins Vogtland ein neues Gebäck
hervor: den Christ- oder Weihnachtsstollen.
Regional und zu unterschiedlichen Zeiten zu-
erst als Weihnachtsbrot, Weihnachtssemmel,
Christbrot, Strietzel, Strutzel, Strotzel, dann
Christstollen, Christweck, Christstrietzel oder
Schüttchen bezeichnet.
In den ersten Jahrhunderten aus einem großen
Weizenbrot bestehend, Weihnachtsbrot oder
Christbrot genannt, hat er sich im 16./17. Jahr-
hundert zum Christstollen, Christstrietzel oder
Christweck entwickelt. Qualitativ ständig ver-
bessert, stellte der Christstollen bereits um 1700
ein dem höchsten Fest der christlichen Kirche
würdiges Produkt dar. Daneben existierte, wenn
auch nur untergeordnet, noch ein rundes Weih-
nachtsbrot. Die Slawen (Sorben und Wenden)
nannten es Kolatschen.5 Sie wurden in Groitzsch
(1445 und 1547), in Pegau (1445), in Semmichau
bei Stolpen (um 1500) und noch 1624 in Wilthen
als Quelle von Einkünften aus Abgaben genannt.
Dagegen sprechen die zu Weihnachten 1593
nachweislich nur mit Weizenmehl und Wasser
gebackenen „Scheiben“ für Reste eines noch
vorhandenen germanischen Brauchtums zur
Zeit der Winter-Sonnenwende.
Der Christstollen ist wie der Niklaszopf, das
Reformationsbrötchen, das Martinshörnchen
oder das Osterlamm christlichen Ursprungs.
Lokal sind in Sachsen aber auch Gebildge-
bäcke weltlichen Ursprungs entstanden, wie
beispielsweise die Leipziger Lerche, die Meiß-
ner Fummel, das Großenhainer Storchennest,
der Freiberger Bauerhase oder das schon
wieder vergessene Chemnitzer Patschhändel.
Die zeitweilige Deutung des Stollens als Über-
nahme aus dem germanischen Brauchtum
(Juleber, Symbol der Fruchtbarkeit) ist nicht
zutreffend. Der Stollen hat sich erst recht spät
aus einem zum Weihnachtsfest gebackenen
länglichen Weizenbrot entwickelt. Ebenso ist
die Annahme nicht zutreffend, dass der Christ-
sstollen wegen eines päpstlichen Erlasses (der
sogenannte Butterbrief) aus dem Jahre 1491 in
Arlett Herrmann in der Bäckerei und Konditorei Nestler in Buch-holz bei der Herstellung von Annaberger Niklaszöpfen.Foto: Brigitte Streek 11
der vorweihnachtlichen Fastenzeit unter Ver-
wendung von Butter gebacken und komsumiert
werden durfte. Es wurden zu dieser Zeit die
Christ- oder Weihnachtsbrote ohnehin ohne
Butter gebacken. Gegessen wurden sie natürlich
erst ab dem ersten Weihnachtsfeiertag zu Ehren
der Geburt Jesu.
In Sachsen beseitigte die Reformation den aus-
geuferten Heiligenkult. Richtig überlebten nur
zwei Heilige die heftige, manchmal sogar ra-
dikale Umwälzung: St. Nikolaus und St. Mar-
tin. Gegen ihre Beliebtheit bei den Kindern,
Stadtbürgern und Bauern konnte und wollte die
reformatorische Bewegung nichts ausrichten.
Der Gedenktag an den heiligen Nikolaus blieb
ein Tag, an dem man die Kinder beschenkte.
Auch der Martinstag wurde weiter festlich be-
gangen. Dafür sorgten schon die Bauern, de-
ren Patron er war, weil er ihr Vieh beschützte.
St. Nikolaus war allgemein der Schutzpatron
aller Reisenden bzw. der Menschen auf Wan-
derschaft. Dazu zählten die Bäckergesellen, die
auf der Wanderschaft von einem zum anderen
Bäckermeister ihre Ausbildung absolvierten.
Später, als Bäckermeister, standen sie zu ihrem
alten Schutzpatron Nikolaus, und fertigten zu
seinem Ehrentag qualitativ bessere Zöpfe, die
Nikolauszöpfe. So dürfen wir es vielleicht für
das reiche St. Annaberg im Erzgebirge um 1540
annehmen, wo der Bäckeraltar auch nach der
Reformation Bleiberecht erhielt. Später hat sich
das Niklaszopf-Backen auf andere Städte in der
Umgebung von Annaberg-Buchholz ausgedehnt
und nach 1840 ist es auch von einigen Dorfbä-
ckern gepflegt worden. Bei der Erfassung des
Weihnachtsbrauchtums 1936 wurde, neben 16
Orten im Kreis Annaberg und drei Gemein-
den im angrenzenden Kreis Marienberg, nur
ein weiterer Ort im Erzgebirge (Tellerhäuser
bei Rittersgrün) benannt, in dem Niklaszöp-
fe gebacken wurden. In Jahnsbach bei Thum
kannte man dieses Backwerk früher, und im
vogtländischen Reichenbach, wurden sie noch
1936 gebacken und den Kindern am Nikolaustag
ans Bett gelegt. Weiterhin ist aus Meerane das
Backen von Nikolauszöpfen überliefert.6
Alfred und Paula Haase, Besitzer der „Miehl“-Bäckerei in Stein-bach/Erzgebirge (die alte Mühle des ehemaligen Erblehngutes), am Backofen, vermutlich um 1925.
Foto: Hermann Krauße, Fotograf und Klempner in Steinbach. Aus dem Nach-
lass H. Krauße, Steinbach/Erzgebirge. Mit freundlicher Genehmigung der
Familie Krauße.12
Der Niklaszopf
Sanct Niklas, gar ein heil’ger Tropf,
Tat staunenswerthe Wunder;
Es hing ein ungeheurer Zopf
Vom Rücken ihm herunter.
So stark war jedes Haar genau,
Als wie ein mächtig Schiffertau,
Und wer es sah, und wer es schaut,
Der rief gleich vor Verwundrung laut
Der Zopf! der Zopf! der Zopf!
Den Kindern sonderlich war er
Gar freundlich und gewogen,
Drum ist er auch im Land umher
Mit seinem Zopf gezogen.
Und wo er nur ein Kindlein fand,
Gab er den Zopf ihm in die Hand;
Das wurde froh zur selben Stund,
Und schrie vergnügt aus vollem Mund;
Der Zopf! der Zopf! der Zopf!
Wenn Niklas auf der Straße ging,
So gab’s ein groß Gedränge,
Die ganze liebe Jugend hing
Sich an des Zopfes Länge.
In allen Häusern gabs Geschrei;
Aus allen Häusern strömt’s herbei.
Das war ein Jubel Knall und Fall;
Die kleinen Kinder riefen all:
Der Zopf! der Zopf! der Zopf!
Der heil’ge Niklas wurde kalt;
Er starb wie alle Frommen.
Und in den Himmel alsobald
Sah man ihn aufgenommen.
Doch als die gute Seele todt,
Gab’s bei den Kindern große Noth;
Sie wussten nicht mehr aus noch ein,
Man hörte weinen sie und schrei’n:
Der Zopf! der Zopf! der Zopf!
Doch über Tag und über Nacht
War aller Noth ein Ende.
Ein Bäcker sprach: Mir ward vermacht
Der Zopf im Testamente;
Und allen Kindern helf ich gleich:
Ich mach den Zopf von Butterteig
Und back ihn in dem Ofen gar.
Da schrie die ganze Kinderschaar:
Der Zopf! der Zopf! der Zopf!
Drauf fing der brave Bäckersmann
Gar emsig an zu backen.
Das Kind, das einen Zopf gewann,
Das musste fleißig beten,
Und jeder kleine Kindeskopf
Gewann am Ende sich den Zopf;
Weshalb die junge Christenheit
Am Niklastage lärmt und schreit:
Der Zopf! der Zopf! der Zopf! 7
(anonoymes Gedicht aus dem Annaberger-Wo-
chenblatt, vom 16. Dezember 1842)
13
Um 1810: Lausitzer WeihnachtserinnerungenÜber die Jahrhunderte hatte sich, einhergehend
mit einer allmählichen Qualitätsverbesserung,
in Sachsen um 1800 eine kaum noch nachvoll-
ziehbare Vorfreude auf den weihnachtlichen
Stollengenuss entwickelt. Ganz gleich, in welcher
Qualität die Stollen gebacken werden konnten,
im ganzen Lande fieberte man dem Stollenan-
schnitt entgegen. Doch erst Martin Luthers „Vom
Himmel hoch, da komm ich her, ich bring euch
eine gute Mär …“ erlöste Kinder und Erwachse-
ne und gab den Christstollen, das himmlische
Kind, frei.
Der Bildhauer Ernst Rietschel (1804 – 1861)
berichtete in seinem Buch „Erinnerungen aus
meinem Leben“ aus seiner Kindheit in der Pfef-
ferkuchenstadt Pulsnitz:
„Wie man in kleinen Städten bestrebt ist, alle
inneren häuslichen Verhältnisse zu erspähen,
um sie unter der Bitte der Verschwiegenheit zum
Gemeingut zu machen und zu besprechen, so
wurde einerseits alles vermieden oder heimlich
gethan, was der Ehre des Hauses zu nahe treten
und die Voraussetzung erzeugen konnte, daß
der so anspruchslose arme Hausstand nur mit
Entbehrungen, wie sie selbst seiner Anspruchs-
losigkeit nicht angemessen seien, durchgeführt
werden könne, wie andererseits auch jede kleine
Ausgabe verheimlicht wurde, die nicht unbedingt
nothwendig war, sei es die eines Groschens zu
Obst oder zu Bretzeln oder früh zu einer Semmel
zum Kaffee, was alles äußerst selten vorkam und
nur als ein Festvergnügen galt und, wenn man
Jemand kommen hörte, schnell weggeräumt
wurde, daß Niemand etwa meinen Eltern nach-
sagen könne, sie verständen nicht, sparsam zu
wirthschaften, und gäben Geld für Dinge aus,die
besser entbehrt würden.
Diese Rücksicht fand nun besonders am Weih-
nachtsfeste statt. Jede Familie, die einen Haus-
stand hatte, der noch so arm, doch der Art war,
daß er durch geregelte Berufsthätigkeit, wenn
auch dürftig, erhalten werden konnte, suchte
zum Weihnachtsfeste einige Stollen und Kuchen
zu backen. Es war dieß das eine Mal im Jahre,
wo Jeder glaubte, ein Recht zu haben, sich ei-
nen Genuß verschaffen zu dürfen gleich ande-
ren Menschen von nur einigermaßen besseren
Verhältnissen. Jeder hatte durch den lebhaften
Verkehr mehr Arbeit und Verdienst, und so fehlte
es auch bei meinen Eltern nicht, daß die Mut-
ter einige Stollen und Kuchen backen, daß ein
Braten gekauft, und daß sogar einigemal für
die Mutter vom Vater ein Tuch oder ein kleiner
Vorrath von Kaffee, Zucker, Reiß und dergleichen
als Christgeschenk angeschafft werden konnte.
Wir Kinder hatten nur in den frühesten Jahren
ein kleines Christbäumchen angeputzt erhalten
mit einigem billigen Spielzeug. Ich erinnere mich
eines kleinen Schattenspiels, das mein Vater
gemacht hatte. Vom achten Jahre (Kriegsjahr
1812) an kam es nicht mehr zu einer Christbe-
scherung. … Daß Geschenke und Christbäume
später fehlten, vermißte ich nicht. Meine ganze
Glückseligkeit concentrirte sich in den Stollen,
52
die erst am heiligen Abend gebacken wurden, wo
ich die im Jahre gesammelten Pflaumenkerne
aufzuklopfen hatte, die statt bitterer Mandeln
benutzt wurden. Über das Glück dieser Arbeit
ging nichts; ebenso, zuzusehen, wie die Mutter
den Teig bearbeitete und mischte, ihn dann zum
Bäcker trug, von wo sie erst spät in der Nacht
nach Hause zurückkehrte und die Wohnung mit
dem süßen Dufte des Gebäckes füllte. Ich hatte
keinen Schlaf empfunden und wachte mit dem
Vater, der das Spätaufbleiben erlaubt hatte. Als
die Stollen glücklich in die Wohnung gebracht
waren, ging ich ruhig zu Bett und erwachte (am
Christtag) um 6 Uhr früh, wo das Fest mit den
Glocken eingeweiht wurde, in gehobener Stim-
mung, die der Geburt des Christkindes galt, und
im Hintergrunde der Aussicht auf köstlichen
Stollen zum Kaffee und schulfreie Festtage.“ 67
1819: Backen wird preiswerterNach 1817, als die Kriegs- und Hungerzeiten
ihr Ende gefunden hatten, kam es zu einem
Aufschwung der Stollenbäckerei durch eine
mäßige Verbilligung der Backzutaten. Schon
in der Weihnachtszeit 1819 mussten die Schwar-
zenberger Bäcker daraufhin die Backwilligen
auffordern, dass sie beim Stollen- und Kuchen-
backen ihre Kuchendeckel „gefälligst“ selbst
besorgen und markieren sollten.68 Günstig wirkte
sich auch der am 1. Januar 1834 erfolgte Beitritt
Sachsens zum Zollverein aus, der die Binnenzölle
und manche indirekten Abgaben abschaffte.
Dem Bäckerhandwerk brachte die Zeit zwischen
1840 und 1861 bedeutende Veränderungen. Sie
begannen mit dem sächsischen Gesetz vom 9. Ok-
tober 1840 „den Gewerbebetrieb auf dem Lande
betreffend“. Es billigte den Landgemeinden unter
anderem das Recht zu, einem Weißbäcker die
Konzession zu erteilen, ohne dass die städtischen
Bäcker-Innungen dagegen Widerspruch einlegen
konnten. Von nun an wurden auch auf den Dör-
fern vielfältige „weiße“ Backwaren (Weißbrot,
Semmel, Zöpfe, Kuchen) hergestellt und diese
durften von den Stadtbewohnern abgeholt oder
zur Lieferung per Haus bestellt werden.
Seitdem stellten Weißbäcker in den Dörfern
Christstollen her oder betrieben die Lohnbä-
ckerei für die, die ihre eigene Rezeptur hatten
Anzeigen aus dem Annaberger Wochenblatt vom 15. Dezember 1874 (oben) und vom 20. Dezember 1851 (unten).Sammlung Lahl 53
Backuntensilien im Haushalt haben sich über viele Jahre kaum verändert.
54
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und die meisten Zutaten dem Bäcker brachten.
Mancher Bauer bzw. Dorfbewohner verzichtete
nun auf das private Stollenbacken in seinem
oder einem Dorfbackofen. Damit näherte sich
die ländliche Bevölkerung den bereits viel feiner
ausgebildeten Essgewohnheiten und Tischsitten
der Stadtbewohner. Neben den Müllern erwuchs
den städtischen Bäckern infolge der dichten
Besiedelung Sachsens damit eine weitere Kon-
kurrenz. Kaum hatten sich die Stadtbäcker an
die dörfliche Konkurrenz gewöhnt, verkündete
die sächsische Gewerbeordnung vom 15. Okto-
ber 1861 die Gewerbefreiheit. Jetzt konnte jeder
Gewerbetreibende oder Händler auf jedem säch-
sischen Markt seine Waren verkaufen.
Die Widerstände waren diesmal noch heftiger
als 1840. Düstere Prophezeiungen über die ne-
gativen Folgen der Gewerbefreiheit kursierten
in den sächsischen Landen. Im „Lied von der
Gewerbefreiheit“69 heißt es:
„ … Gewerbefreiheit im Verkehr
Für alle Menschenkräfte:
Der Feilenhauer wird Friseur,
Wenn flau gehen die Geschäfte.
Der Grobschmied selbst macht Extratourn,
Wenn seine Gluth erloschen,
Er reparirt Cylinder-Uhrn
Und hämmert goldne Broschen.
… Es bringt der Zuckerbäckerei
Zum allgemeinen Grolle
Vom Dorfe zum Verkauf herbei
Hans Matz Rosinenstolle.
Der Dichter selbst hier vom Couplet
Wird bei der Sache reger,
Denn kommt er nicht bald in die Höh,
So wird er – Schornsteinfeger.“
Doch es kam anders. Die Konkurrenz belebte das
Geschäft. In den Städten hielten die Stadtbäcker
dem Konkurrenzdruck stand, vergrößerten
das Angebot und brachten mehr Produkte in
verschiedenen Größen und Qualitäten auf den
Markt bzw. den Ladentisch. Sehr begrüßt wur-
de allgemein die im Gewerbegesetz enthaltene
Freigabe der Weihnachtsmärkte. Künftig blieb
es den Städten allein überlassen, über die Ab-
haltung und die Dauer ihrer Weihnachtsmärkte
zu entscheiden.
Im Zeitalter von Kohle, Eisen und Dampfkraft
kam es durch den Eisenbahnbau und den Einsatz
immer größerer Dampfschiffe zu einer erhebli-
chen Vergrößerung des Transportvolumens und
zu wesentlichen Verkürzungen der Lieferzeiten
schon bis 1860. Davon profitierte besonders die
Weihnachtsbäckerei mit ihrem hohen Bedarf
an Weizenmehl, Zucker, Rosinen, Mandeln und
Zitronat.
Anzeige aus dem Annaberger Wochenblatt vom 12. Dezember 1850.Sammlung Lahl
56
Zwei neue Produkte, das Dampfmehl und die
Stückhefe (Trockenhefe) schufen die Voraus-
setzung für eine spürbare Verbesserung der
Stollenqualität. „Dampfmehl“, das um 1839 auf
den Markt kam, war qualitativ hochwertiger (fei-
ner) und konnte billiger produziert werden. Im
Bäckergewerbe begann man nach 1850 mit dem
Bau von Kohlebacköfen. Lepsius teilt 1854 mit,
dass „die beliebten Stollen, welche durch ganz
Thüringen und Sachsen um die Weihnachts-
zeit in bedeutenden Quantitäten gebacken und
verspeist werden, um so große Berühmtheit
auch außerhalb ihres ursprünglichen Gebiets
erlangt haben“.70
Stollenwerbung 1858 in Marienberg
Butterstollen, groß und kleine,
Ordinäre, gut und feine,
Alle Sorten, sind schon heut‘
Zum Verkauf bei mir bereit.
Große schöne, aus der Ferne,
Sultan-Rosin’n ohne Kerne,
Auch Mandeln aus Sicilian
Hab ich sehr viel hinein gethan.
Auch Genueser Citronat,
Nur wo man das Beste hat,
Hab ich Alles her bezogen
Und in Stollenteig gewogen.
Was Butter und Gewürz besagen,
Darf gewiß auch Niemand klagen;
Doch ist auch nicht zu vergessen,
Stets dem Preise angemessen.
Wo gute Butterstollen sein,
Kehrt auch der heilge Christ gern ein,
Und die empfiehlt aufs Allerbeste
E. Fritzsche zum Weihnachtsfeste. 71
Anzeige aus dem Annaberger Wochenblatt vom 2. Dezember 1850.Sammlung Lahl
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Chemnitz: Christbrote für den SiechhofWie in einigen anderen Gegenden Sachsens,
so erfahren wir auch von Chemnitz erst aus
dem nach der Reformation angefertigten Vi-
sitationsprotokoll (1541) von dem hier üblichen
Weihnachtsgebäck. Neun Klosterdörfer sowie
der Richter von Stein mussten ihrem Grund-
herrn, dem Chemnitzer Benediktinerkloster,
„nach alter gewonheit“ zu Weihnachten zehn
Christbrote zinsen. Der Richter zu „Ditmerß-
dorff“ gab – wahrscheinlich dem Abt – einen
Pfefferkuchen im Wert von „ungefähr sieben
Groschen“.72 Die „alte Gewohnheit“ dieser Weih-
nachtsabgaben dürfte weit in die Vorzeit führen.
Ihre Christbrote konnten die Abgabepflichtigen
bei den Chemnitzer Bäckern ausbacken las-
sen, denn es war seit 1331 erlaubt worden, dass
man zu Hochzeiten und zur Kirchweihe „in der
Stadt backe“. Der Verzehr von Christbroten
stellt sich im 16. Jahrhundert als allgemeiner
Weihnachtsbrauch dar, reichte man die Strietzel
oder Christbrote doch sogar im Siechhof zum
„Heiligen Geist“.73 Bis ins 19. Jahrhundert hinein
lieferten die Stadtbäcker den Haushalten vor
allem Weißbrot und Semmeln. Der Teig für die
allgemein üblichen Roggenbrote wurde in den
Haushaltungen bereitet und dem Bäcker zum
Ausbacken übergeben. So war es auch mit den
Osterfladen, den Geburtstagskuchen und den
Christstollen, wie der Chemnitzer Gustav Klemm
50 Jahre zurückschauend 1865 berichtete.
Ende 1840 hatte sich schon viel geändert. Die
etwa 22.000 Einwohner der nun noch schneller
wachsenden Stadt konnten sich aussuchen, bei
welchem der 72 Bäckermeister und sechs Kondi-
toren bzw. Schweizer- und Zuckerbäcker sie ihre
Backwaren kaufen wollte.74 Seit diesem Zeitpunkt
versorgte der Klostermüller Canoy Chemnitz
Anzeige aus dem Chemnitzer Tageblatt vom 21. Dezember 1902. Sammlung Lahl
5858
Hier steht eine Bezeichnung, die das jeweilige Bild näher be-schreibt und dem Leser Informationen gibt.
59
und Umgebung mit feinstem Puder- und Tor-
tenmehl, das er mit einer Dampfmaschine und
einem amerikanischen Mühlwerk herstellte.
1853 wurde die Chemnitzer Aktienbäckerei ge-
gründet. Aktionäre waren vornehmlich Arbeiter.
Als der Stadtrat ihnen die Weihnachtsstollen
beschlagnahmte, zogen die Aktionäre zum Rat-
haus und erreichten schließlich die Herausgabe
der Stollen. 1877 versuchte die Dampfbäckerei
Chemnitz mit ihrem modernen Dampf-Backofen
und der Werbung „hochfeiner Butterstollen“
vergeblich, die Stollenhochburg Annaberg ein-
zunehmen. Elf Jahre später gab es in Chem-
nitz schon 28 Konditoreien. Die Konkurrenz
brachte Qualität. In den 1920/30er Jahren war-
ben z. B. die Sächsische Brotfabrik „Union“ mit
„ebenso lecker und buttrig, jedoch nicht teurer
als selbstgebackene Weihnachts-Stollen“, die
Großkonditorei Michaelis mit 400 Plätzen im
Cafe, mit Life-Musik und ihren „weltberühm-
ten sächsischen Christstollen“, die Dresdner
Bäckerei Johann Lenk (Chemnitz) mit ihrem
„anerkannt vorzüglichen sächsischen Christ-
stollen sowie Mohnstollen“ und die Konditorei
„Efreuna“ mit „Christstollen nach Amerika“ um
Kunden für den Versand nach allen Gegenden
des Weltpostvereins oder nach allen Weltteilen.
1830: Dresden wird zum Zentrum der deutschen Back- und Süßwarenindustrie
Der Dresdner Striezelmarkt verbreitete über
Jahrhunderte eine besondere Atmosphäre. Wil-
helm von Kügelgen schildert, wie er die anhei-
melnde Atmosphäre in seinen Kinderjahren
empfunden und jahrzehntelang in Herz und
Seele in bester Erinnerung behalten hat:
Weihnachten 1809 „… Acht Tage vor dem Feste
pflegte sich der Dresdener Altmarkt mit einem
ganzen Gewimmel höchst interessanter Buden
zu bedecken, die abends erleuchtet waren und
große Augenlust gewährten. Das Glitzern der
mit Rauschgold, mit bunten Papierschnitzeln
und goldenen Früchten dekorierten Weihnachts-
bäume, die hellerleuchteten kleinen Krippen mit
dem Christuskinde, die gespenstischen Knechte
Ruprechts, die Schornsteinfeger von gebackenen
Pflaumen, die eigentümlich weihnachtlichen
Wachsstockpyramiden in allen Größen, endlich
das Gewühl der Käufer und höfliche Locken der
Verkäufer, das regte festlich auf.
Hier drängten auch wir uns des Abends gar zu
gern umher, schwelgend in
dem ahnungsreichen Duf-
te der Tannen, der Wachs-
stöcke, Pfefferkuchen und
Striezeln, die in einer den
Wickelkindern entlehnten
Gestalt, reichlich mit Zucker
vorherige Seiten: Der Chemnitzer Weihnachtsmarkt im Lich-terglanz 2010.
Anzeige aus dem Annaberger Wochenblatt vom 1. Dezember 1843, die die hohe Dresdner Backkultur dokumentiert.Sammlung Lahl60
bestreut, vor allen zahlreichen Bäckerbuden
auslagen und Löwenappetit erregten.“ 75
Vielleicht um dieselbe Zeit, vielleicht auch erst
um 1820 hinterließ ein unbekannter Dresdner
in seiner „Acta über den sogenannten Stritzel-
Markt …“ ein Gedicht von 31 Versen.76 Eindeutig
ist daraus abzulesen, dass Striezel und Stollen
in Dresden immer noch ein und dasselbe Weih-
nachtsgebäck bezeichnen.
„Der Stritzelmarkt ist vor der Tür,
Ihr Käufer kommt zu Haufen, …
Hier kamen starke Fuder an
Belästiget mit Butter,
Damit man Stritzel backen kann
Zu süßem Weihnachtsfutter.
Die alte Regel gilt gemein,
Es muß zum Feiertagen
Ein Stollen auf dem Tische seyn,
Denn sonst crepirt der Magen.“
Die Begeisterung der Dresdner für ihre Christ-
striezel scheint damals grenzenlos gewesen zu
sein, ihrer Kauflust waren jedoch Grenzen ge-
setzt, vor allem der breiten Unterschicht der Bür-
ger. Dazu muss man nur die Preise für Zucker,
Butter, Mandeln und Zitronat betrachten. Für
ein Pfund dieser Produkte musste ein Maurer
oder Zimmermann mindestens einen Tag zwölf
Stunden arbeiten. Doch ab 1821 kam Hoffnung
auf. Die Unterzeichnung der Elbschifffahrtsakte
brachte eine erhebliche Erleichterung der Wa-
renlieferung aus Hamburg. Von nun an konnten
die Kolonialwaren Rohzucker, Kaffee, Kakao,
Tabak, Tee, Gewürze sowie die Stollenzutaten
Mandeln, Zitronat und Rosinen, aber auch Wei-
zen viel schneller und billiger nach Dresden
gelangen. Dies war eine maßgebliche Grundlage
für die Entwicklung Dresdens zu einem Zentrum
der Back- und Süßwarenindustrie.
Als sich nach 1840 die 1835 aufgenommene
Dampfschifffahrt auf der Elbe verstärkte, pro-
fitierte vor allem das Mühlenwesen davon, in-
dem man sich nun leichter mit Qualitätsweizen
eindecken konnte. Noch heute steht das in der
Dresdener Mühle produzierte Mehl in gutem
Ruf. Mit der Eröffnung der sächsisch-böhmi-
schen Eisenbahn 1851 erhielt Dresden auch den
wichtigen Anschluss nach Wien, Budapest, Triest
und weiter nach Süd- und Südosteuropa. Dresden
konnte damit seine Rolle als Umschlagplatz für
Rohrzucker, Kaffee, Tabak und Kakao ausbauen,
was wiederum den Ausbau der sich entwickeln-
den Schokoladen-, Süßwaren- und Backwaren-
industrie förderte. Damit hatte Leipzig seine bis
in die 1820er Jahre währende Führungsrolle als
Umschlagsplatz für Kolonialwaren endgültig
verloren.
Anzeige aus dem Annaberger Wochenblatt vom 24. August 1866.Sammlung Lahl
61
1994: Gute Marketingidee – Das Dresdner Stollenfest
Es war eine gute Entscheidung 1994, das Dresd-
ner Stollenfest aus der Taufe zu heben. Warum
nicht ein Ereignis schaffen, dass für ein urty-
pisch sächsisches Produkt wirbt und zugleich an
ein den Christstollen tangierendes Großereignis
erinnert. Dieses hatte Sachsens Marketing-
könig August der Starke so meisterhaft 1730
inszeniert, wobei ihm allerdings die Dresdner
Bäckergesellen geholfen hatten. Auch diesmal
waren es wieder die Dresdner Bäcker, die als
Mitglieder des Schutzverbandes Dresdner Stol-
len dem ersten Stollenfest zum Erfolg verhalfen.
Das Stollenfest wurde von den Dresdnern und
ihren Gästen angenommen. Bis heute ist es, am
Sonnabend vor dem 2. Advent inszeniert, eine
erstklassige Reklame für den Dresdner Stollen,
den Striezelmarkt und nebenbei auch für das
Kuchen- und Stollenland Sachsen.
Zwar hatte man schon seit 1965 die Eröffnung
Das Dresdner Stollenmädchen 2011, Lisa Strasberger, bei der Vorbereitung des Dresdner Riesenstollens.Foto: Norbert Millauer/dapd92
des Striezelmarktes mit dem Anschneiden eines
Riesenstollens begonnen, doch mit dem Stol-
lenfest wurde der Dresdner Stollen in einer
ganz anderen Dimension werbewirksam in den
Mittelpunkt gestellt. Es beginnt mit der Enthül-
lung des von Dresdner Bäckern und Konditoren
gebackenen und aus acht Kilogramm schweren
Stollenplatten zusammengesetzten Riesenstol-
lens im Zwinger. Danach schließt sich ein histori-
scher Umzug durch die Altstadt an, bei dem der
Stollen mit zum Striezelmarkt gefahren wird.
Hier erfolgt die Anschnittszeremonie mit dem
„Großen Dresdner Stollenmesser“ und anschlie-
ßendem portionsweisen Verkauf. Süßenguth gibt
2005 folgende Zusammensetzung für den 2004
angefertigten neuen Dresdner Riesenstollen
an: 1400 Kilogramm Mehl,
228 Kilogramm Zucker, 735
Kilogramm Butter, 300 Liter
Milch, 77 Kilogramm Hefe,
193 Kilo süße Mandeln, 53
Kilogramm bittere Mandeln
und 88 Liter Rum.105
2004: Der Stollen aus dem (Bergwerks-)Stollen
Es gibt sie noch, die seit dem 18. Jahrhundert
beschriebenen kommunikativen, verschmitzten
und erfinderischen Typen im Vogtland. Roman
Wunderlich, der Bäckermeister aus Markneu-
kirchen, ist einer von ihnen. Beim Besuch eines
Weinkellers in Radebeul brachte ihn die La-
gerung des Weins in den dunklen, übers Jahr
relativ wenig temperierenden Räumen auf die
Idee der Einlagerung seiner Weihnachtsstol-
len in einen Bergwerksstollen. Da lag es nahe,
sich an Steffen Gerisch, den rührigen Leiter
des Besucherbergwerks „Grube Tannenberg“ in
Tannenbergsthal, zu wenden. Das Besucherberg-
werk befindet sich unweit des Schneckenstein,
Dresdner Stollenlikör veredelt die weihnachtliche Kaffeetafel. Roman Wunderlich, Bäckermeister aus Markneukirchen, lagert seine Stollen im Besucherbergwerk „Grube Tannenberg“.Foto: Helmut Schneider 93
dessen Topas Europas geschichtsträchtigster
Edelstein ist. Es wirbt mit „Höchstgelegenes und
kältestes Schaubergwerk Sachsens“, besitzt aus-
gedehnte, überwiegend erst nach 1935 durch den
Bergbau auf Zinn geschaffene Grubenräume
in 835 Meter Höhe und gute lufthygienische
Bedingungen zur Einlagerung der Stollen. Al-
lerdings musste erst der optimale Standort im
Hinblick auf die Grubenwetter gefunden und
die Frage der Stollenbehältnisse gelöst wer-
den. 2004 war es geschafft. Seitdem lagern die
Stollen, von der Hygiene kontrolliert, in einem
für die Öffentlichkeit unzugänglichen Teil des
Besucherbergwerks. Schon 2008 konnte er von
seinen insgesamt 20 Tonnen Weihnachtsstollen
6,5 Tonnen im Besucherbergwerk einlagern.
Nach einem Reifeprozess von vier Wochen kann
sein echt Vogtländischer Grubenstollen wieder
ausfahren. Das heißt bis auf die, die zu den be-
rühmten Mettenschichten in der Weihnachtszeit
gleich im Berg verspeist werden.
Rückblick: Mauersberg und Kantor MauersbergerBindeglieder zwischen Regionen gab es zu allen
Zeiten. Der berühmte Dresdner Kreuzkantor Ru-
dolf Mauersberger ist so eins gewesen, zwischen
dem Erzgebirge, dem Weihnachtsland, und der
alten Residenz. Seine langjährige Sekretärin
Erna Hedwig Hofmann hat diese Wechselbezie-
hung in ihrem Buch „Kreuzchor anno 45“ an-
hand der Erzählungen Professor Mauersbergers
überliefert. In Mauersberg, einem 10 Kilometer
östlich von Annaberg gelegenem kleinen Dorf,
als Sohn des Kantors und Kirchschullehrers 1889
ist er geboren worden. Oben im Erzgebirge hatte
er seine Kinderweihnachtsseligkeit erlebt: Bas-
teln in der Adventszeit, Besuch des berühmten
Annaberger Niklasmarktes mit Besuch der Lich-
ter- und der Männelbude sowie abschließendem
Niklaszopfessen, Christbaumschmücken, Heilig-
abendessen, die Lichterfülle der Christmette am
Christtagfrüh 5 Uhr und den anschließenden
Christstollenanschnitt sowie die christlichen
und erzgebirgischen Weihnachtslieder.
Ein ganzes Leben lang ging das dem Kreuzkan-
tor nicht aus dem Sinn. In der Ferne baute er
ein Modell des winterlichen Mauersberg (heute
dort im Museum zu sehen), kaufte auch ein
Gemälde vom Annaberger Niklasmarkt. Sein
Musikalisches Wirken ist nicht nur in Dresden
unvergessen, seine innige Heimatliebe zu Mau-
ersberg durch Finanzierung des Wiederaufbaus
der 1889 abgerissenen Wehrkirche aus dem
14. Jahrhundert und die Stiftung des Mauers-
berger-Museums dokumentiert.
Zu Beginn seines siebenten Jahres als Kreuzkan-
tor in Dresden arbeitete er in der Adventszeit
1936 intensiv an einer Weihnachtsüberraschung
für die Dresdner. Hedwig Hofmann schrieb, dass
der Kreuzkantor sich in einer Pause zur großen
Konditorei „Kreutzkamm“ am Altmarkt begab
und bei einer Tasse Kaffee und zwei Scheiben
Mandelstollen das Konzept für eine Mitteilung
über seine geplante Überraschung an den Mau-
94
ersberger Pfarrvikar Becker auf die Rückseite
der Getränkekarte schrieb: Frühzeitig am 1.
Weihnachtsfeiertag wollte er die Dresdner mit
einer Christmette nach erzgebirgischem Vorbild
überraschen. So geschah es auch.
Doch halt! Stollen 1936 schon in der Adventszeit
gegessen? Und dann noch als Kreuzkantor, im
Dienste der evangelischen Kirche stehend? Nicht
so schlimm, Erzgebirger durften das. Noch nach
dem 2. Weltkrieg galten zumindest im Annaber-
ger Raum Mandelstollen, Quarkstollen oder
Mohnstollen nicht zu den Christstollen, die am 1.
Weihnachtsfeiertagfrüh angeschnitten worden
sind und durchweg aus Rosinenstollen bestan-
den. Mit hoher Sicherheit dürfen wir annehmen,
dass beim Kreuzkantor erst am 1. Feiertag der
aus Mauersberg von der Mutter und später von
Schwester Irma zugeschickte Christstollen an-
geschnitten wurde. Nach altem Rezept beim
May-Bäck an der Kirche gebacken, wo es auch
heutzutage einen vorzüglichen erzgebirgischen
Christstollen gibt. Beim Stollenabholen 2010
erzählte das alte Bäckerehepaar, dass sich der
Kreuzkantor auch fünf Zentimeter große Leb-
kuchen zum Anhängen an seinen Christbaum
mit backen ließ. Der alte May-Bäcker sowie sein
Nachfolger und Enkel David Hielscher sind auch
die Hauptakteure beim alljährlich stattfindenden
öffentlichen Stollenanschnitt im Weihnachts-
„Lichterdorf“ Mauersberg. Er findet am 1. Advent
um 16 Uhr an der Kirche bzw. der Bäckerei statt.
2011: Besuch beim Markt-führer im ErzgebirgeDas Flaggschiff der erzgebirgischen Stollenbä-
ckerei ist zweifellos die Annaberger Backwaren
GmbH, ein mittelständisches Unternehmen mit
regionalem Bezug und Traditionen. Es kann auf
eine über 50-jährige Erfahrung im Stollenbacken
zurückblicken, ohne die Handfertigung aus
den Augen verloren zu haben. „Beim Original
Erzgebirgischen Butterstollen zum Beispiel,
dem qualitativ hochwertigsten Stollenprodukt
des Betriebes, wird nur der Stollenteig maschi-
nell zubereitet, alles andere geschieht in Hand-
arbeit“, erklärt die erfolgreiche langjährige
Geschäftsführerin Martina Hübner. Seit 1979
im Betrieb beschäftigt, hat sie alle Höhen und
Tiefen miterlebt.
Der 1957 als kreisgeleiteter volkseigener Betrieb
mit sieben Meisterbereichen und einem Verwal-
tungsbereich gegründete VEB (K) Backwaren
Annaberg konnte Anfang 1977 durch die Einwei-
hung der neu erbauten Großbäckerei von der
handwerklichen zur modernen großtechnischen
Produktion übergehen. Dabei blieb der bereits
in den Anfangsjahren erworbene gute Ruf der
Stollen, jährlich wurden davon mit über 200
Mitarbeitern 96 bis 100 Tonnen gefertigt, auch
in der Großproduktion erhalten.
Nach der politischen Wende wurde der Betrieb
Mitte 1990 der Treuhand unterstellt, erlebte ei-
nen dramatischen Umsatzeinbruch und wurde
1992 privatisiert.
95
Impressum
Die Geschichte des Weihnachtsstollens
Von Bernd Lahl
Mit Fotos von Ulf Dahl und anderen
Mitarbeit: Claudia Herrmann
Wir danken dem Stadtgeschichtlichen Museum Leipzig, dem Stadt- und Bergbaumuseum Frei-
berg für die zur Verfügung gestellten Abbildungen.
Ebenso danken wir Herrn Manfred Mauersberger und der Familie Krauße für die Fotos aus
dem Nachlass von Hermann Krauße aus Steinbach/Erzgebirge.
© Chemnitzer Verlag
1. Auflage, 2012
Layout: Ingolf Höhl
Gesamtherstellung: Westermann Druck Zwickau GmbH
www.chemnitzer-verlag.de
ISBN 978-3-937025-73-5
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