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Page 1: Eine Epidemie der Heine-Medinschen Krankheit in Weißrußland

(Aus der Nervenklinik der mediz. Fakult~t der Weil3russischen Staatsuniversit/~t. Direktor: Prof. Dr. M. Kroll.)

Eine Epidemie der tIeine-Medinsehen Krankheit in Wei]rullland.

Von Dr. reed. M. Chasanoff (Minsk),

Assistent der Klinik.

Mit 5 Textabbildungen.

(Eingegangen am 25. Mai 1926.)

Wi~hrend die meisten Staaten Europas und Amerikas im Laufe der letzten Jahrzehnte yon Poliomyelitisepklemien heimgesucht wurden, ist Rui~land yon einer seuchenhaften Verbreitung dieser Kran]~heit verschont geblieben, nur hie und da konnte man sporadische Fi~lle verzeichnen. Auch in Weii~ruI31and kamen bis zur letzten Zeit nur ver- einzelte F~lle zur Beobachtung. Im Sommer und Herbst 1925 kamen geh/~ufte frische Poliomyelitisf/~lle in unserer Poliklinik und Klinik zur Beobachtung. Die meisten F/~lle s tammten aus derselben Gegend, was uns zur Vermutung veranla~te, dal3 es sich mn eine 5rtliche Epi- demie handle. I m Auftrag des t Ierrn Prof. Dr. M. Kroll haben wir eine pers6nliche eingehende Nachforschung an Ort und Stelle unter- nommen und die Art und Weise der Weiterverbreitung der F~lle einer Untersuchung unterzogen.

Die grSBte Anzahl der F/~lle s tammten aus den dichtbevOlkerten Amtsbezirken Zasslawl und Koidanowo (Kreis Minsk), die li~ngs der WeiBrussiseh-Polnisehen Staatsgrenze liegen. I m Amtsbezirke Zasslawl konnten wir 33 frische Poliomyelitisfglle ausfindig machen, im Amts- bezirk Koidanowo 9. In unseren Fgllen lieB sich eine herdf6rmige Verbreitung sowie die kontagiSse Art der Krankhei t nachweisen. Im Amtsbezirk Zasslawl waren es 3 Herde, die Gruppen bildeten und sich yon Doff zu Doff fortentwickelten, im Amtsbezirk Koidanowo 2. lVIehr als die H~ilfte der F/~lle entstand dureh direkte Ubertragung yon einem an Poliomyelitis erkrankten Kinde auf das andere. So erkrankten in einem kleinen, etwa 35 Hi, user zghlenden Dorfe ,,Ogarki" - - 8 Kinder, die in direktem Verkehr miteinander standen und ver- wandt waren, in kurzen Zwischenr/~umen hintereinander; an 4 anderen Ortsehaften: ,,Nedreski", , ,Kriszowka", ,,Dziagilno" und ,,Negoreloje", erkrankten je 2 bis 3 Naehbarkinder, im D6rflein ,,Bolble" - -

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2 Geschwister . Durch persSnliche anamnes t i sche E rhebungen konn te der Nachweis e rb rach t werden, dal~ die i ibr igen Fa l le nach gelegent l ichem Verkehr der AngehSr igen mi t Fami l i enmi tg l i ede rn des fr i iher e rk r a nk t e n K indes zum Ausbruch kamen. W i r f t ihren einige Beispiele an :

1. Der Waldhtiter Ch. war auf Besuch bei seinen Verwandten A. in Ogarki, dessen Kinder an Polyomyelitis krank lagen; nach Heimkehr erkrankten einige Tage darauf seine beiden Kinder an einer typischen Poliomyelitis.

2. Der Brieftr~tger G. besuchte die D6rfer Zweniatschi, Ogarki und Wek- schitze, woes schon Poliomyelitisf~lle gab, und kam mit den Angeh6rigen dieser Kranken zusammen. Einige Tage naeh Rtickkehr zu Hause erkrankte das ll/ujghr. Kind des Brieftri~gers.

3. Nach l~ingerem Aufenthalt im Dorfe Wekschitze kehrte der gltere Sohn des Waldhfiters A. Ende Juli helm. Einige Tage spgter erkrankte der jiingere Sohn an Kinderlghmung, bald darauf erkrankte das Nachbarskind, das mit dem Knaben zu spielen pflegte.

4. Der Bauer K. hielt sich einige Zeit beim Schmiede G. auf, dessen beide Kinder an Poliomyelitis krank lagen, und etwa 1 Woche spgter erkrankten kurz nacheinander die beiden Kinder des Bauern K., das eine abortiv, das andere mi~ schweren Lghmungserscheinungen.

5. Den Bauern D., dessen" H~uschen direkt an der Landstral~e liegt, be- suchten Bekannte aus dem Dorfe Ogarki, und einige Tage nach dem Besuch er- krankte sein Kind an Poliomyelitis. Kurz darauf bekam die Familie D. Besuch yon einer verwandten Witwe K. aus dem Dorfe Metkowo. Die Witwe K. kam nach ihrer Heimkehr mit der Nachbarsfamilie L. zusammen und spielte mit dem kleinen Eduard; einige Tage sp~ter erkrankte Eduard an typischer Poliomyelitis.

6. Der Schaffeligerber H. aus dem St~dchen Koidanow erhielt zur Be- arbeitung Schafpelze aus dem Dorfe Gajowka, wo ein Poliomyelitisfall war. Die Pelze haben die Landleute aus Gajowka gebracht. Etwa 3 Tage spi~ter erkrankte das jiingste Kind des Gerbers, das mit den Schaffellen auf dem Erdboden spielte.

Samt l iche ~al le in den genann ten Amts be z i rke n waren aus nahe, ja aus nebene inander , in e iner En t f e rnung yon 1 - -2 k m l iegenden Ortschaf ten, und wenngleich viele dieser Or t schaf ten n ich t d i r ek t an der gro~en Landstral~e liegen, so lieB sich doch ein reges Verkehrs- leben zwischen ihnen feststel len. I n zahl re ichen F a l l e n waren es Ver- wand te und Bekann te , die geschaf t l ich oder aus ande ren Grf inden in yon Pol iomyel i t i s befal lene Orte re is ten und d i r ek t mi t jenen Fami l i en in Beziehungen s tanden , in denen sich k r anke K i n d e r bere i ts be fanden , und, als sie he imkehr ten , e r k r a n k t e n ihre eigenen K i n d e r nach kurze r F r i s t an Pol iomyel i t i s . Wie aus den angef i ihr ten Beispie len zu sehen ist, b rach in manchen Fa l l en die K r a n k h e i t aus, na c hde m in der Fami l i e sich Personen aus den inf iz ier ten Gegenden aufhiel ten. Die meis ten E l t e rn der befa l lenen K i n d e r aus den Amtsbe z i rke n Zasslawl und

Koidanowo s ind Acker leute , aber b i lden keine se[thafte Bauernbe- vSlkerung: Die Va te r s ind an der Grenzwache, in der FSrs tere i , als Br ie f t rager und als Dof f ra t smi tg l i ede r t a t ig , die Mehrzahl aber, a ls Grenzeinwohner , beschaf t igen sich noch mi t Schmuggel und reisen in der ganzen Gegend herum. Samt l i che Va te r waren auffa l lender-

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weise reeh t gu t m i t e inande r b e k a n n t und k a m e n sowohl vor als wahrend der K r a n k h e R der K i n d e r 6fters zusammen. Bemerkenswer t is t es noeh, dab viele (20) n ich t in den D6rfern wohnen, sondern in den Vor- werken (Hutars) , ein Ums tand , weshalb die Ep idemie keine noch gr6Bere Verbre i tung nahm.

Aus den fibrigen Amtsbez i rken des Kreises Minsk waren bloB die an die Bezirke Zasslawl und Koidanowo grenzenden, dichtbev61- ke r ten und sumpffre ien befal len, aber in e inem bedeu tend ger ingeren MaBe: I m Amtsbez i rke Os t rosch i tzk i -Gorodok - - 5 Fal le , Logoisk - - 1,

Samochwalowi tschi - - 2, Smolewitsehi - - 1 und J a n u a r 1925 3 Fa l l e in Smilewitschi .

Auch in diesen Fa l l en lieB sich in einer ziemlich bedeu tenden Zahl eine Verschleppung aus den befa l lenen Or tschaf ten verfolgen, mi t denen d i rekte Verkehrswege bestehen, und durch welche die meis ten Sehmuggler ihren Umweg nehmen.

1. In einem Orte ,,Pereschir" (Bezirk Smilewitschi) erkrankten 3Nachbars- kinder. 2. Im Dorfe Kritschniki erkrankte 1 Kind, nachdem der Vater zu Besuch im Zasslawler Bezirk war. 3. In den D6rfern des Bezirks Ostroschitzki-Gorodok kamen 6fters zu Besueh Bekannte aus Zasslawl. 4. Der Telegraphenpfahlaufseher G. auf der Strecke Negoreloje-Smolewitsehi hielt sich einige Zeit in Negoreloje auf, wo, wie erw/~hnt, Poliomyelitisfi~lle vorkamen. Naeh seiner Heimkehr erkrankte 3 Tage sparer sein 1 j/~hr. Sohn an Poliomyelitis. Genannter Telegraphenaufseher verkehrte in Smolewitschi mit dem Ziegelfabrikleiter, und kurz darauf erkrankte der Sohn des Ziegelfabrikleiters.

I n der S t a d t Minsk konn ten 10 frische Pol iomyel i t i s fa l le verze ichnet werden, d a r u n t e r 2 Gesehwister in einer Fami l ie . Auch in diesen Fa l l en s t anden die E l t e rn im Verkehr mi t den befal lenen Or tsehaf ten :

1. Die GroBmutter und der V~ter des M/~dchens F. hielten sich einige Zeit in einem Dorfe des Zasslawler Bezirks auf, wo damals Poliomyelitiskranke waren, und nach Heimkehr erkrankte das M/idchen F.

2. Die Familie S. kam aus dem Wolgagebiet mit der Absieht, sich fiber die Staatsgrenze hinfiberzuschmuggeln. Dies gelang ihnen nicht, und nach kurzem Aufenthalt im Bezirk Zasslawl kehrten sie nach Minsk ZUlfick. Etw~ 1 Woehe sp/~ter erkrankte das einzige Kind an Poliomyelitis.

3. Die Familie B. bekam Besuch yon ihren Verwandten aus Wilna, die sich fiber die Staatsgrenze hiniiberschmuggelten und sich einige Zeit in den Ortsehaften des Zasslawler Bezirks aufhielten. 3 Tage naeh dem Besuch erkrankten kurz nach- einander die beiden Kinder des Bfirgers B.

I m groBen und ganzen war der Kre is Minsk an Zahl und Verb re i tung am meis ten befallen. Die Gesamtzah l der Fa l le im Kreise Minsk be t r ag t 64, was bei der Gesamte inwohnerzah l des Kreises - - 498 552 - - e twa 0,0125% und bei der K inde rzah l (bis zum 16. Lebens jahr ) yon e t w a 170 000 - - e twa 0,038% ausmacht . I n sonst igen 9 Kre isen der WeiB- russischen Sowje t -Repub l ik war die Zahl der Fa l le auBerst gering, und zwar wurden Po l iomye l i t i s e rk rankungen bloB in den an den Kre is Minsk grenzenden Kre isen beobaehte t . I m an der S taa t sg renze

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Abb. L Karte der WeiBrussischen Sowjet-Itepublik mit Verteilung der Herde.

gelegenen, aber morastigen und deshalb diinnbevSlkerten (36 Einwohner pro 1 qkm) Kreise Slutzk -- 6 F~tlle, in den Kr'eisen Bobruisk, Borissow und Kalininsk je 3 FMle, in den Kreisen Mohilew, Mozyr, Orscha je 1 Fall (s. Abb. 1). Auch in manchen dieser FMle lies sich sowohl die indirekte als direkte Art der Weiterverbreitung eruieren,

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1. Im Kreise Slutzk waren in 2 Nachbarvorwerken 2 Kinder kurz naeh- einander erkrankt, naehdem die Eltern des einen das 0rtchen Negoreloje besuehten und beim Schmiede G. sich aufhielten, dessen Kinder krank lagen.

2. Im St~dtchen Slutzk erkrankten 2 Nachbarskinder, naehdem die Eltern des einen Besuch einer Schullehrerin aus dem infizierten Dorfe Borozdynia (Bezirk Zasslawl) bekamen. Noch 2 Kinder erkrankten kurz nacheinander bei nahen Verwandten.

3. Im Dorfe Mormal (Kreis Bobruisk), das zwar fern entlegen yon der Staatsgrenze liegt, bekam der Bauer M. Besuch seines Bruders, der an der Zasslawler Grenzwaehe dient. Etwa 1 Woche spi~ter erkrankte das jiingste Madchen des Bauern M. an Poliomyelitis.

Die Gesamtzahl dcr yon uns vorl~ufig festgestell ten frischen F~lle

in den versehiedenen Ortschaften Wei[tru~lands betr~gt 82. Am meis ten (58 F~lle) waren Bauernk inder auf dem Lande gel~hrdet, deren V~ter

aber grSl3tenteils keine sel~hafte BevOlkerung bildeten. I n d~n Sti~dten

u n d Sti~dtchen waren es Kinder , deren V~ter entweder beruflich oder

amt l ich in der g~nzen Gegend herumreis ten oder li~ngere F a h r t e n in

infizierte Gegenden u n t e r n e h m e n m u ~ t e n oder infolge ihres Gewerbes

e inen lebhaf ten Verkehr mi t ausw~rtigen Personen in ihrem Hause

~fihrten (Schneider, Schreiner, Ladenbesi tzer usw.), wie aus der folgenden

Tabelle ersichtlich ist.

Beru/e der Eltern:

Landwirte . . . . . . . . . . . 49 Landgutsknechte . . . . . . . . 3 Fuhrwerksbesitzer . . . . . . . 1 Zollbeamte . . . . . . . . . . . 1 Brieftr~ger . . . . . . . . . . . 1 Waldhiiter . . . . . . . . . . . 3 Schmiede . . . . . . . . . . . 1 Dorfratsmitglieder . . . . . . . 2 Schaffellgerber . . . . . . . . . 1 Ziegelfabrikleiter . . . . . . . . 1 Ladenbesitzer . . . . . . . . . 1 Schneider . . . . . . . . . . . 3 Konsumgenossenschaftsangestellte. 1 Angestellte (Reisende, Lieferungs-

und Einkaufsagenten) . . . . . 4 Schreiner . . . . . . . . . . . 2 Telegraphenaufseher . . . . . . 1 W~rterin im Findelhaus . . . . . 1 Offizier der Grenzwache . . . . . 1

insgesamt 77

Die Mehrzahl der Fi~lle un te r der Landesbev61kerung verteil te sich

auf sehr kleine Gemeinden, nu r in 2 0 r t s c h a f t e n betrggt die Einwohner-

zahl 35, in den iibrigen DSrfern und Vorwerken bel~uft sich die Famil ien- zahl auf 2 bis hSchstens 14.

z. f. d. ges. Neur. u. Psych. 104. 43

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Betroffen wurde sowohl die ~rmste als auch die leidlich bemittelte wie auch die wohlhabende BevSlkerung. Allerdings fiberwiegt die Zahl der Falle unter den in ~uI~erst unhygienischen Bedingungen wohnenden Familien. Aber auch verh~ltnismi~l~ig saubere Familien wurden in manehen Ortschaften befallen. Wir mfissen noch hinzu- ffigen, dab die Bauernbev61kerung Wei~ru~lands in ~ul~erst unhygie- nischen Verhi~ltnissen lebt, sie kennt weder Seife noch Badestube. In den meisten niedrig gebauten, kleinfenstrigen tt~usern wimmelt es von Ungeziefer und Insekten (Wanzen, sehwarzen Sehaben, Spinnen, Fliegen, F16hen usw.). Die Hi,user bestehen aus dem Flur und aus der Stube, die meistens eine Kammer bildet. In dem Flur befinden sich die tIaustiere : Schweine, Ziegen, Kfihe, Pferde; in der Stube, in weleher eine gute H~lfte des Raumes der sogenannte russisehe Ofen einnimmt, wohnt, arbeitet und schli~ft die ganze Familie, die oft aus 10 und mehr Mitgliedern besteht. Meistens schl~ft die Familie auf schmutzigen B~nken, auf dem Ful~boden, d e r n u r selten mit Brettern bedeckt ist, und auf der Ofenbank. Aueh die Wi~sche und Kleider sind ebenfalls roll yon Insekten und werden nur vor den groBen Festtagen gewaschen.

Allem Anschein nach waren es jedoch nicht hauptsachlich die un- hygienischen Verh~ltnisse, die die Fortentwicklung der Herde begfin- stigen. Sonst w~ren eben in den wei~russischen D6rfern alle Umst~nde da fiir ein bedeutend ausgedehnteres Fortschreiten der Epidemie. Vielmehr ist darauf Gewicht zu legen, da{3 1. die Krankheit hauptsi~chlich solche Familien betroffen hatte, die im regen Verkehr mit der AuI~en- welt standen; dab 2. die Herdbildung sich nach bestimmten Richtungen erstreckte und die n~chstliegenden Ortsehaften in 5--10 km Umkreis umfa~te; und da~ 3. die Gruppenbildung und selbst die einzelnen Fi~lle ausschliel~lich in den hoehgelagerten, an der Grenze liegenden und trockenen Ortschaften vorkamen. Letzterer Umstand scheint ein Be- leg ffir die Meinung Wiclcmans, Ed. Mi~llers u. a. zu sein, da{~ die Krankheit sich meist an die Verkehrswege hi~lt. Die morastigen, sp~r- lich bev61kerten und verkehrsarmen Gegenden, deren es recht viel in Wei~rul~land gibt, sind wohl deswegen vorli~ufig v o n d e r Ausbreitung verschont geblieben.

Gleichzeitig mit dem Ausbruch der Poliomyelitisepidemie in den Bezirken Zasslawl und Koidanowo konnte man ein bedeutendes Hiihner- sterben in den befallenen D6rfern konstatieren, das laut Meinung des Zasslawler Tierarztes auf eine dort herrsehende Hfihnereholera zu- rfickzufiihren ist ; auch eine bedeutende Pestseuche der Sehweine (Swine plague) land dort start, dagegen wui~te er bloB von einem Falle zu berichten, wo ein Fohlen, aus einem poliomyelitisfreien Dorfe stammend, an L~hmungserscheinungen erkrankte und daran noch krepierte; ob es sich um die Bornasche Krankheit handelte, konnten wir nieht feststellen.

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U n t e r d e n K i n d e r n de r b e f a l l e n e n Bez i rke h e r r s c h t e n a u c h r e c h t

s t a r k g a s t r o - i n t e s t i n a l e E r k r a n k u n g e n , obschon die Z a h l de r Magen-

D a r m k r a n k h e i t e n v i e l wen ige r w a r als i m J a h r e 1924. B e m e r k e n s w e r t

i s t es noch , d a b d ie P o l i o m y e l i t i s geh~uf t u n d in b e d e u t e n d e r Zah l

auf d e m L a n d e haup t s~ch l i ch in d e n j e n i g e n D 6 r f e r n u n d B e z i r k e n

a u f t r a t , wo sons t ige I n f e k t i o n e n , i n sbesondere K i n d e r i n f e k t i o n e n

(Masern, Scha r l ach , D y p h t h e r i e ) n u r in g e r i n g e m )/falSe s t a t t f a n d e n ,

d a g e g e n w a r e n sons t ige Bez i rke , die y o n P o l i o m y e l i t i s v e r s c h o n t b l ieben ,

au l~erordent l ich s t a r k y o n Mase rn u n d S c h a r l a c h e p i d e m i e n he im-

ge such t .

Kreis Amtsbezirk

~ .~ ~ Kinderinfektio- Sonstige Infek- �9 ~ ~ ~ ~ ]nen in der ersten tionen in der Poliomyelitis-

~'~ I tt~ilfte desJahres ersten Hiilfte fiille im Jahre ~ ~ 1925 des Jahres 19'25 1923

r ~ 0o o % z u r % z u r I o ~ ~ ~lAnzahl Yo zur Anzahl Anzahl ~ ~ ] Gesamt- Gesamt. Gesamt-

~ 2 ~ I d e r �9 der einwoh- der ~ ~ 1 F~ille Falle einwoh. Fiille einwoh- I~ ~ ~ [ nerzahl nerzahl nerzahl

Minsk

Slutzk

Mohilew Bobruisk

Kalininsk

Koidanowo . . 1,4% Logoisk . . . . 0,4% Ostrochitzki-Gorod. 2,2% Samochwalowitschi 4,2~ Smolewitschi . . 2,2% Smilowitschi . . 2,3% Minsk (Stadt) . 3,1% Tscherwenj . . 4,7% Puchowitschi . . 5,9% Schatzk . . . . . Uzda . . . . . . Slutzk (Stadt) . .

1,5% 1,7% 2,0%

Kopyl . . . . . . 1,0% Belynitschi . . . 1,5% Bobruisk (Stadt) . 1,0% Swislotsch . . . . 0,1% Buda-Koschelewski 0,6%

- - 1 , 8 %

2 95 52

3 15

85 1101

68 253

13 23 13 29 25 51

0,007 0,2 0,2 0,007 I

002 I 0,2 ] 1,0 ] 0,3 I 1,0 0,06 0,1 0,06 0,05 0,05 1,0

0,5

54 9

7

26 176 25 9 13

108

0~ I

0,06 0,016 0,08 0,03 0,06 4,0

0,7

0,11 331) 0,02

0,003 5 0,02 1 0,002 2 0,006 33) 0,01

1 0,01

0,02 0,005 0,002 0,002 0,004 O,004

�9 0 , 0 0 1

D e r B e g i n n de r E p i d e m i e fg l l t auf den M o n a t J u n i - - 8 FMle

m i t r a s c h e m A u f s t i e g i m J u l i bis 43 u n d S inken de r K u r v e in de r z w e i t e n

H M f t e des A u g u s t (s. Abb . 2 u. 3). I n den f o l g e n d e n M o n a t e n w u r d e n

n u r e inze lne FMle b e o b a c h t e t . I m J a n u a r 1926 w u r d e n in d e m bisher

n i c h t be fa t l enen Bez i rk Smi lowi t s ch i 2 FMle in e i n e m D o r f e u n d 1 F a l l

1) Die Kinderinfektionen waren in den D6rfern, wo PoliomyelitisfMle statt- ianden, ~ul~erst gering.

3) Im Jahre 1925 war kein einziger Fall im Amtsbezirk Smilowitschi ver- zeichnet, die 3 FMle fanden im Januar 1926 statt, als dort die Kinderinfektionen abgenommen hatten.

43*

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660 M. Chas~noff:

~S

a0

35

38

/ 5

10

5

G

in einem daran ni~chstliegenden Vorwerk verzeichnet. Das r~sche Sinken der Epidemie in der zwciten I-IMfte des August ist vermutlich auf die zu dieser Zeit zunehmenden Feldarbeiten in den genannten Gebieten zuriickzuffihren, infolge deren auch der Verkehr der B~uernbevSlkerung

1.q.~,J 19Z.6 Jan, febnMarz ~ atai 3uni Juli A~ ~, O~ Nov, Dez, 3on,

l

A

J\ 7gz5 1925 Moi gun/Ouh' ~ O/d; Nosy. Dez, Jan.

Abb. 2. Abb. 3. 1)rozentuelle Monats- verteilung der F~ille.

stark reduziert wird. Dagegen ist es bemerkenswert, dab dort, wo der Verkehr nicht unterbrochen wurde, wie z . B . im Herdzentrum ,,Ogarki" und in dem 1 km davon entfernten Orte ,,Jermaki", die Krank- heir sich fortentwickelte, und Ende August waren im Dorfe Ogarki 2 frische FMle und in Jermaki 1 Poliomyelitisfall verzeichnet.

% gO 7O

66 56

~6 36 Z6 10

0-5 Johre

6-1o 17-75 16-F.0 ,~I-2.5 ~-3r

Jahrzehr# % I. 2. 3. lol

6O

5O

qO

2O

lO 5 .... 7~

Abb. 4. Verteilung der Fglle nach dem Jahresalter (prozentuell).

Abb. 5. Verteilung der F~ille nach den Jahrzehnten.

Das weibliche Geschlecht wurde in unseren Fi~llen mehr betroffen als das mi~nnliche, 49 Miidchen aus der Gesamtzahl 82 (s. Tab. 6). Fast 78% der Erkrankten waren nicht 6 Jahre alt, und 80% der erkrankten Mi~dchen waren im Alter bis 3 Jahre. Das mgnnliche Geschlecht wurde mehr (55%) vom 5 jghrigen Lebensalter bevorzugt. Das jfingste Kind zghlte 14 Wochen; nur vereinzelt kamen Fhlle im 2. Dezennium vor (s. Abb. 4 u. 5), und erst vor kurzem konnten wir noch einen frischen Poliomyelitisfall bei einem 29 jghrigen feststellen.

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Eine Epidemie der Heine-Medinschen Krankheit in WeiBrul~land. 661

T a b e l l e 6. Verteilun 9 der Fdille nach dem Jahresalter.

[ Zahl der Zahl der Gesamt- J a h r e s a l t e r l m ~ n n U c h e n we ib l i chen Gesamt-

Jahresa l ter K n a b e n M ~ d c h e n zahl [ I n d i v i d u e n Ind iv iduen zahl

b i s 1 1--2 2---3 3 - 4 4--5 5--6 6---7 7--8 8--9 9~-10

10--11 11--12 12--13 13---14 14---15

2

1

9 14 17 21 I3 15 4 7 3 5

- - 2

- - 3 - - 3

- - 3

2 4

- - 2

- - 1

Insgesamt . . . . . . .

15--16 16~20 20 25 25--30

- - 1

1

1

1

Aus der Gesamtzahl der Falle war mehr als die Halfte (43 Kinder) kSrperlich schwachlieh ent.wickelt, rachitisch und skrofulSs. In den Familien, wo je 2 Kinder erkrankten, waren die beiden skroful6s, in Familien, wo aus vielen Kinclern nur 1 Kind an Poliomyelitis erkrankte, war es skrofulOs. Wir haben also den Eindruek gewonnen, daf~ die sehwachlieh entwiekelten, rachitischen und skrofulSsen Kinder zur Erkrankung mehr pradisponiert waren. In 2 Fallen wurde fiber voran- gehende Erkaltung beriehtet, in einem Fall soll die Krankheit naeh langerem Aufenthalte des Kindes auf der Sonnenseite und Verbrennungen des Gesichtes und Leibes entstanden sein.

Die Inkubationsdauer in denjenigen Fallen, wo wir den Termin wie aueh die UbertragungsmSglichkeiten genau feststellen konnten, betrug in 4 Fallen -- 3 Tage, in 4 Fallen -- 4 Tage, in 4 Fallen -- 8 Tage, in 1 Fall -- 10 Tage, in 1 Fall -- 12 Tage und in 2 Fallen 20 bis 23 Tage.

In samtlichen Fallen begann die Krankheit mit fieberhaften Erschei- nungen, in manehen Fallen wurde sogar hohe Temperatursteigerung bis 40 o beobaehtet. Das Fieber hielt in 8 Fallen -- 2 Tage an, in 22 Fallen -- 3 Tage, in 10 Fallen -- 4 Tage, in 5 Fallen -- 7 Tage und in 1 Fall -- 14 Tage. In einzelnen Fallen wurde das Fieberstadium yon allgemeinen Konvulsionen ,Erbrechen und Schfittelfrost begleitet. In einer ganzen Reihe der Falle wurde die Krankheit, infolge initialer 1Vfagendarm- erscheinungen, im Anfang von den Landarzten verkannt. In 30 Fallen waren es heftige Durchfalle, in 1 Falle sogar ruhrahnliehe und in 4 Fallen hartnackige Verstopfungen. StSrungen von seiten der Luftwege waren

33 I I 82

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662 M. Chasanoff :

bedeutend weniger beobaehtet: in 3 Fallen heftiger Rachenkatarrh, in 2 Fallen bei 2 Gesehwistern stark ausgesproehene Stomatitis mit SpeichelfluB, in 9 Fallen Bronchitiden und Pneumonien. Eine bedeutende Sehlafrigkeit und Apathie trat auffallend oft hervor. In 6 Fallen be- haupteten die Eltern, dab ,,das K6pfchen nach hinten gestreckt war". In 8 Fallen wurde auf Kopfweh geklagt, in 6 Fallen traten anfallsweise Krampfe und Erbreehen auf, in den fibrigen Fallen beriehteten die Eltern fiber starke Unruhe und 1Jberempfindlichkeit der Kinder.

Fast in samtlichen Fallen wurde ein fibermaftiges Schwitzen be- obaehtet. Leider konnten wir nieht genauer die klinischen Erschei- nungen des Fieberstadiums verfolgen, da wir die meisten Falle im Lahmungsstadium und poliklinisch zur Beobachtung bekamen. Die Lahmungserseheinungen folgten in den meisten F611en direkt nach Temperaturabfall, in 5 Fallen kamen sie schon innerhalb der Fieber- periode zum Vorschein, und nur in 7 Fallen wurden die Angeh6rigen erst nach 2--7 Tagen nach Temperaturabfall auf die Lahmungser- scheinungen aufmerksam. Am haufigsten waren die unteren Extremi- taten ergriffen.

Die Lahmungserscheinungen verteilten sich folgendermaBen:

Beide unteren Extremit/~ten . . . . . . . . . . . . . . 25 F/~lle ,, oberen ,, . . . . . . . . . . . . . . 2 ,,

unteren und beide oberen Extrem~t/~ten . . . . . 8 ,, Eine obere Extremit/~t . . . . . . . . . . . . . . . . l0 ,,

,, untere ,, . . . . . . . . . . . . . . . . . 12 ,, Beide unteren Extremit~ten u. eine obere Extremiti~t . . 5 ,,

,, oberen Extremit/iten u. eine untere Extremit/~t . . 1 ,, Gekreuzte L/~hmung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 ,, Isolierte Hemiplegien . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 ,, Hemiplegie, kombiniert mit Faci~lislghmung . . . . . . . 7 ,, Monoparese, kombiniert mi~ Facialisl/~hmung . . . . . . 2 ,, Paraparese mit Facialisl/~hmung . . . . . . . . . . . . 2 ,, tIemiplegie mit Abducensl~hmung . . . . . . . . . . . 1 ,,

Besonders auffallend ist die ziemlich groBe Haufigkeit der doppelt- seitigen Beinlahmungen, die ca. 1/3 der Gesamtzahl ausmachen, und die etwa 10% ausmaehenden Tetraparesefalle. Augerdem wurde in etwa 12% im Lahmungsbeginn eine vorfibergehende doppeltseitige wie auch vSllige L~ihmung aller Extremitaten beobaehtet. Die Zahl der Armlahmungen war viel kleiner und in unseren Fallen wie aueh bei Ed. Mi~ller und Wernstedt haufiger einseitig (10) als doppeltseitig (2). Eine besondere Vorliebe einer bestimmten SeRe konnten wir auch nicht nachweisen, die Anzahl der Lahmungen entfiel fast gleichmaBig auf die linke wie auf die rechte Seite. In 73 Fallen lagen gypotoriie und Verschwinden der Sehnenreflexe vor, in manchen Fi~llen konnten wir im Anfang des Lahmungsstadiums die Sehnenreflexe, besonders bei gelahmten unteren Extremit/~ten noch die Patellarreflexe ausl6sen,

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Eine Epidemie der Heine-Medinschen Krankheit in Weil~rul~land. 663

aber im folgenden verschwanden dieselben. Recht haufig war der Ver- lust der Bauchdeekenreflexe infolge Lahmung der Bauchmuskulatur. In 2 Fallen konnten wir bei fehlendem Patellarreflex einen gesteigerten Aehillessehnenreflex ausl6sen, in 4 anderen Fallen Verlust der Achilles- sehnenreflexe bei Vorhandensein der Patellarreflexe. Am haufigsten war jedoch der M. quadriceps fern. ergriffen. Das Babinskische Zehen- phanomen und das Oppenheimsche Unterschenkelphanomen waren in 4 Fallen bei zwei 4 jahrigen und bei zwei 11/4 jahrigen Kindern vor- handen, aber sonstige Erscheinungen einer Pyramidenbahnlasion fehlten. Bei einem l0 monatlichen Knaben beobachteten wir den ttornerschen Symptomenkomplex bei gleiehseitiger Armlahmung. Meist kam es rasch zur Muskelatrophie, und es entwiekelten sich Deformitaten an Rumpf und Wirbelsaule, und an den FiiBen entstand ein Pes equinus, selten der Pes varus, in manchen Fallen wurde Pes calcaneus beobaehtet. In 8 Fallen waren anfanglich und voriibergehend Blasen- und Mast- darmst6rungen sowohl in Form yon Retentio wie Ineontinentia be- obachtet, letztere sind jedoeh als febrile Epiphanomene zu deuten, da sie ausschliel~lieh im Fieberstadium vorkamen. Vasom0torische Erscbeinungen wie Kalte, Cyanose konnten wir bereits in der Mehrzahl der Falle im Friihstadium der Lahmungen feststellen. Bei einem 15 jahrigen Patienten bestand in diesem Stadium ein ausgesprochenes 0dem ohne irgendwelehe Herz- oder Nierenst6rungen. Das 0dem war ebenfalls trophischer Natur. SensibilitatsstSrungen in Form yon Hypasthesien waren in 3 Fallen naehweisbar, abet 2 fliichtigen Charak- ters, dagegen waren sensible Reizerseheinungen in Form von Sehmerzen und gyperasthesien recht haufig. In 5 Fallen gesellte sieh den schlaffen Lahmungen noch einseitige leichte, peripherisehe Faeialisparese und in 1 Falle eine einseitige Abdueensparese hinzu. In 2 Fallen ging sogar die periphere Faeialislahmung voraus, und direkt naeh Temperatur- abfall entstand eine Monoparese der Extremit~ten mit Aufhebung der Sehnenreflexe. Hypotonie der Muskulatur kam erst naehtraglich zum Vorschein. Pupillendffferenzen haben wir nur in vereinzelten Fallen beobaehtet, lJber Spraehst6rungen im Anfangsstadium wurde haufig yon den Eltern beriehtet.

Der poliklinisehe Charakter der Mehrzahl unserer Falle gestattet uns nicht, auf die wenigen Untersuchungen der Senkungsreaktion, Liquorbefund und Leukoeytengehalt einzugehen.

Von den klinisehen Typen war die spinale Form am meisten (68 Falle) in unseren Beobachtungen ausgesprochen.

In 7 Fallen wurde eine Kombination der bulbaren mit. der spinalen Form beobachtet, indem, wie erwahnt, zur spinalen Form der Kinderlahmung periphere Facialis- und Abducenslahmungen hinzutraten.

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In 2 anderen Fallen, die letal verliefen, und die wir selbst nicht beobachteten, aber nach Angaben des Landarztes mit einer raseh aufsteigenden Li~hmung und schweren Bulbussymptomen, ist wohl die Landrysche Form zu vermuten.

In 3 Fallen kam es zu spastischen Hemiplegien:

1. Bei einem 6jahr. Knaben entwickelte sich kurz, nachdem er mit seiner Base gespielt hatte, die an typischer spinaler Poliomyelitis erkrankte, akut nach 3t/igigem subfebrilen Zustand, eine linksseitige spastische Hemiparese mit rechts- seitiger Mundfacialisl/ihmung. Diese Erscheimmgen gingen nach einigen Wochen ra,sch zuriick.

2--3. In 2 anderen FMlen entwickelten sich spastische Hemi paresen, kom- biniert mi~ Facialisparesen nach kurzdauerndem Fieberstadium; in einem Fall trat wenige Tage spater zur spastischen Hemiparese noch eine schlaffe Parese des anderen Beines hinzu.

Wir rechnen diese Falle zur cerebralen Form der Heine-Medinschen Krankheit.

In einem weiteren Fall handelte es sich allem Anschein n a c h u m eine polyneuritisi~hnliehe Form der Heine-Medinsehen Krankheit.

Das 16j/ihr. Bauernm/~dchen K. erkrankte am 16. XI. akut mit hohem Fieber, Miidigkeit und Kopfweh, die 4 Tage anhielten. Nach TemperaturabfaU trat eine Schw/~che in den Beinen auf, die fortschritt und bald auch den linken Arm ergriff. Am 3. Tage nach Temperaturabfall konnte die Patientin sich weder aufrichten noch Arme und Beine bewegen, aber ohne irgendwie Schmerzen zu empfinden. Bei Aufnahme in die Klinik bestand doppeltseitige peripherische Facialisl/~hmung, vollstandige schlaffe L~hmung beider oberen und unteren Extremit/~ten, ttypo- tonie, Sehnenreflexe mit Ausnahme der Bicepsreflexe erloschen, Bauchdecken- reflexe erhalten, Nervenst/~mme druckempfindlich. Keine St5rung der Sensibilit/it, keine Blasen- und MastdarmstSrungen. Der Liquor strSmte unter hohem Druck aus und zeigte eine starke Hyperalbuminose, Fibringerinnung, positiven Nonne- Appelt und Pandy. WaR. im Liquor und Blut negativ. Leukocytengehalt des Blutes etwas erhSht. Im weiteren Verlaufe entstanden bedeutende Schmerzen an den Extremit~ten, Tiefensensibilit~tsstSrungen an den Fingern und Ab- stumpfung der Bertihrungsempfindlichkeit an den Beinen. Diese Erscheinungen hielten aber nicht lange an, und nach 11/2 Monaten traten dieselben allm/~hlich zurtick, wenngleich noch eine Entartungsreaktion und leichte ]Viuskelatrophie besteht, aber die Kniereflexe sind bereits auslSsbar, dagegen besteht noch immer erhShter EiweiSgehalt im Liquor. Im Blut sind die Leukocyten bis zur Norm gesunken.

Genannter Fall s t ammt aus einer poliomyelitisinfizierten Gegend und ist seinem Anfangsstadium, dem erhShten Druck des Liquors, der Hyperalbuminose im Liquor 1) und der rasehen Wiederherstellung naeh in einzelnen Gebieten wohl als eine polyneuritische Form der Polio- myelitis zu deuten. Die Tiefensensibilitats- und Berfihrungsempfind- lichkeitsstSrungen sind wohl als Veranderungen in den Hinterh5rnern

1) Vgl. auch S. Wol/, Lumbalpunktionen bei spinaler Kinderl~thmung. :Miinch. reed. Wochenschr. 1925, Nr. 7 und Presse m~d. 1926, Nr. 2, S. 23.

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oder als Ubergreifen der Entzfindung auf die peripheren Nerven auf- zufassen, wie es auch Wickmann in einem Falle beschrieb.

Ein abortiver Verlauf mit geringen Allgemeinerscheinungen und raschem Abklingen der paretischen Erscheinungen wurde in 9 Fallen beobachtet. In mancheh Familien waren bei einem Kinde die Aus- fallerscheinungen typisch und lange ausgesprochen, beim anderen hatten sie einen abortiven Charakter. Aul]er diesen FMlen war, wie be- reits oben erw~hnt, in den yon Kinderl~hmung befallenen Ortschaften eine bedeutende Anzahl yon Magen-Darmkrankheiten unter den Kindern beobachtet. In den meisten F~llen erkrankten fast gleichzeitig in einer Familie alle oder mehrere Kinder an gastro-intestinalen StSrungen, und sp~terhin traten Ausfallerscheinungen bei einem oder zwei Ge- schwistern auf. MSglicherweise konnten auch diese FMle mit genannten Initialerscheinungen zu den abortiven Formen gerechnet werden, wie es auch Wiclcman, Ed. Mi~ller und Wernstedt unterscheiden. Wir haben diese nicht gerechnet und auch das geh~ufte Auftreten in den befallenen Gegenden Zasslawl, Koidanowo, Slutzk, Minsk, Bobmisk yon Chorea minor unter den Kindern nicht verzeichnet, obschon Wernstedt wohl mit Recht derartige choreatische Formen als poliomyelitisverd~chtig unterscheidet.

Die Mortalit~t war in unseren FMlen nicht groin, 3 starben w~hrend der ers~en Woche: 2 unter Erscheinungen der Landryschen Paralyse und 1 an der cerebralen Form. Ein weiterer 4. Fall erlag an einer sich im sp~teren zugesellten Pneumonie. Die Mortalit~tsziffer betr~gt etwa 4~

Von den therapeutischen Mai~nahmen scheint uns einen recht gfinstigen Effolg und Besserung des Zustandes im Anfangsstadium der L~hmungen die Diathermiebehandlung zu versprechen.

Zusammenfassend kommen wit zu folgenden Schluitfolgerungen: 1. Das Studium der Poliomyelitisepidemie in Sowjet-Wei[truBland

besti~tigte die Ansichten Wicl~mans, Ed. Mi~llers und Wernstedts fiber die Verbreitungsart des Leidens, und zwar yon a) der direkten und in- direkten Ubertragung, b) der Verbreitung der Krankheit in den Ort- schaften mit regem Verkehr und c) der Neigung der Krankheit, Gruppen und Herde zu bilden.

2. Die Poliomyelitisepidemie verbreitete sich auf dem Lande haupt- si~chlich im Juli und in den hochgelagerten, trockenen und yon sonstigen Kinderinfektionen wenig betroffenen Amtsbezirken. Die Epidemie betraf ausschlieBlich die langs der Wei~russisch-Polnischen Staats- grenze liegenden Bezirke und an letztere grenzenden Kreise. Die meisten F~lle stammten aus ]~auernfamilien, deren V~ter viel herum- reisten oder sich mR Schleichhandel besch~ftigten, oder aus Familien, deren V~ter in regem Verkehr mit der Au~enwelt standen.

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3. Die Epidemie scheint noch nicht abgeschlossen zu sein, es liegen neue Fiille im Januar vor.

4. Die Krankheit zeigte verschiedene Formen: die spinale, die cerebrale, die Landrysche und die polyneuritis~Lhnliche. Am treffendsten ware es, nach dem Vorsehlage Ed. M~llers, die K}ankheit als ,,epidemische Kinderlahmung" zu bezeiehnen.

Es liegt mir noeh die angenehme Pflieht ob, an dieser Stelle meinem hochverehrten Chef und Lehrer, Herrn Prof. Dr. M. Kroll, ffir seine stere Unterstiitzung und Leitung beim Studium dieser Epidemie meinen verbindlichsten Dank auszt~spreehen.

Ieh danke aueh Herrn Prof. Dr. Leono]], Direktor der Kinderklinik, fiir sein liebenswiirdiges Entgegenkommen bei Untersuehung der Fi~lle, die sich in seiner Klinik aufhielten.


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