Empathie statt „Mit-Leid“ n. Bischoff-Wanner (2002)
„Tag der Pflegewissenschaft“ 08. März 2012
Ev.-Luth. Diakonissenanstalt Marienstift Braunschweig
Ziele der Tagesveranstaltung
• Bedeutung von Empathie (= Einfühlungsvermögen) für die Pflegebeziehung und die eigene pflegerische Haltung – „Gefühlsarbeit“ in der Pflege
• Vorstellung der pflegespezifischen Dimensionen von Empathie
• Vorstellung des empathischen Prozesses der Perspektivenübernahme und dessen Umsetzung als Teil der pflegerisch-therapeutischen Pflegebeziehung – Abgrenzung zum „Mit-Leid“
=>Möglichkeiten zur Förderung empathischer Kompetenz im lebenslangen Lernen
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 2
Gliederung
• Einführung • Was ist „Pflege“? Was ist der „Kern“ pflegerischer
Arbeit? • Reflexion: Empathie • Wesentliche Merkmale von Empathie als
Perspektivenübernahme => pflegespezifische Aspekte • Der Prozess der empathischen Perspektivenübernahme • Chancen und Herausforderungen empathischen
Verstehens
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 3
Gefühlsarbeit – Anerkannte -
„Berechenbare“ Zusatzleistung der Pflege?
Was macht Pflege? Was ist der „Kern“ pflegerischer Arbeit?
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• Körpernahe Pflegeleistungen z. B. n. ATL …
• Behandlungspflege...
Gefühlsarbeit (vgl. Wittneben, 2001)
Abrechenbare Pflegeleistungen –
Körperpflege, Ernährung, Mobilität, Ausscheidungen
(n. Pflegeversicherungsgesetz)
Empathie in der Pflege
Gefühlsarbeit in der Pflege-pflegeberufliche Leistungen ?
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Trost und Behaglichkeitsarbeit
Fassungsarbeit
Identitätsarbeit
Trauer- und Sterbebegleitung
Vertrauensarbeit
Berührungsarbeit
Ablenkungsarbeit
(vgl. Wittneben, 2001)
„Pflege beschäftigt sich nicht nur mit den körperlichen Zuständen von
pflegebedürftigen Menschen, sondern auch mit deren Problemen, Sorgen und Ängsten.
Diese Gefühlsarbeit gibt es in unterschiedlichen Formen und Situationen;
sie ist ein elementarer Bestandteil der Pflege“. (Wittneben 2001)
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Der „neue“ Pflegebedürftigkeitsbegriff? Module 1 - 6
1. Mobilität 2. Kognitive und kommunikative Fähigkeiten 3. Verhaltensweisen und psychische Problemlagen 4. Selbstversorgung 5. Umgang mit krankheits-/therapiebedingten
Anforderungen und Belastungen 6. Gestaltung des Alltagslebens und soziale
Kontakte => statt 3 Pflegestufen – 5 Bedarfsgrade
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Was macht Pflegewissenschaft? • Pflege auf dem Weg zur Profession ? !? Begriffsanalyse?
„Jede Wissenschaft muss danach streben, die ihr eigenen Begriffe zu erkennen, zu benennen, zu beschreiben und zu bestimmen, welche Indikatoren ihr Vorhandensein in der Realität anzeigen, damit sie in Theorie, Forschung und Praxis sinnvoll angewendet werden können „ (Bischoff-Wanner 2002, 25)
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Begriffsanalyse: „Empathie in der Pflege“ - Ergebnisse und Konsequenzen
- Chancen und Grenzen
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 9
Reflexionsfragen Empathie / Empathisches Verstehen
• Was bedeutet Empathie für mich selbst? • Welche Vorstellungen, Erlebnisse und Verhaltensweisen
verbinde ich mit Empathie? • In welchen Situationen erwarte ich, dass Menschen
empathisch mit mir umgehen? Welche Signale sende ich aus?
• Wie geht es mir, wenn das empathische Verstehen ausbleibt und mich „der andere einfach nicht verstehen kann“?
• Was bedeutet es für mich, „sich in einen anderen hineinzuversetzen“ ?
• Über welche Mechanismen kann empathisches Verstehen signalisiert werden? Peter Scheu, dip Köln, März 2012 10
Wesentliche Merkmale von Empathie als Perspektivenübernahme
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 11
Empathie n. Florence Nightingale
„Spender des Lebens, gib mir Kraft, dass ich meine Arbeit mit Überlegung tue, getreu dem Ziel, das Leben jener zu hüten, die meiner Versorgung anvertraut sind. Halte meine Lippen frei von verletzenden Worten, gib mir klare Augen, das Gute der andern zu sehen. Gib mir sanfte Hände, ein gütiges Herz und eine geduldige Seele. Dass durch deine Gnade Schmerzen gelindert werden, kranke Körper heilen, Gemüter gestärkt werden, der Lebenswille wieder wachse“ (Nightingale; zit. n. Evang. Landeskirche 1998, S. 913)
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 12
1. Erkenntnisse über den
Menschen mit Pflegebedarf
gewinnen
3. Offenheit / Empfänglichkeit der
Pflegeperson
2. Absicht, Wille, empathisch zu sein
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Wesentliche Merkmale von Empathie als Perspektivenübernahme (1)
„Herr Müller bleibt nicht liegen“… Herr Müller liegt seit einigen Tagen, nach einem
Schlaganfall, in ihrer Einrichtung. Sein Bett steht an der Wand. Gerade waren, wie immer um 18.30 Uhr, zwei Pflegekräfte zur abendlichen Pflege von Herrn Müller im Zimmer.
Herr Müller wird immer um diese Zeit auf die gesunde Seite in Blickrichtung zur Wand gelagert. „Er dreht sich ja eh gleich wieder zurück“, sagt die Pflegekraft beim Verlassen des Zimmers zu ihrer Kollegin.
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 14
4. Direkte Anwesenheit des pflegebedürftigen
Menschen
6. Empathie kann nur innerhalb einer
Interaktion stattfinden
5. Zugänglichkeit des pflegebedürftigen
Menschen
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 15
Wesentliche Merkmale von Empathie als Perspektivenübernahme (2)
7. Fokus der Aufmerksamkeit
liegt auf dem Erleben des
Anderen
9.Temporäre Identifikation
8. Erkennen und Interpretieren von
Hinweisreizen
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 16
Wesentliche Merkmale von Empathie als Perspektivenübernahme (3)
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 17
10. Perspektiven-übernahme ohne
Gefühlsteilung („ohne Mit-Leiden“)
12. Empathie ist ein bewusster Prozess
11. Ich-Andere-Differenzierung
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 18
Wesentliche Merkmale von Empathie als Perspektivenübernahme (4)
13. Gegenwärtigkeit, „Hier und Jetzt“
15. Neutralität bei der Erfassung von Gefühlszuständen
14. Zeitliche Begrenzung
16. Objektivität
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 19
Wesentliche Merkmale von Empathie als Perspektivenübernahme (5)
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13. Gegenwärtigkeit, „Hier und Jetzt“
15. Neutralität bei der Erfassung von Gefühlszuständen
14. Zeitliche Begrenzung
16. Objektivität
10. Perspektiven-übernahme ohne
Gefühlsteilung („ohne Mit-Leiden“)
12. Empathie ist ein bewusster Prozess
11. Ich-Andere-Differenzierung
7. Fokus der Aufmerksamkeit liegt auf dem Erleben des Anderen
9.Temporäre Identifikation
8. Erkennen und Interpretieren von
Hinweisreizen
4. Direkte Anwesenheit des Menschen mit
Pflegebedarf
6. Empathie kann nur innerhalb einer
Interaktion stattfinden
5. Zugänglichkeit des Pflegebedürftigen
1. Erkenntnisse über den Menschen mit
Pflegebedarf gewinnen
3. Offenheit / Empfänglichkeit der
Pflegeperson
2. Absicht, Wille, empathisch zu sein
Wesentliche Merkmale von Empathie als Perspektivenübernahme
Pflegespezifische Aspekte der Empathie - Zusammenfassung
• Empathie als pflegerische Grundhaltung, als eigentliches „Wesen der Pflege“
• Empathie als pflegerisch-therapeutische „Strategie“ oder „Werkzeug“
• Ziel von Empathie ist es, durch Perspektivenübernahme den Patienten besser kennen zu lernen, um mit ihm individuell und an seinen Bedürfnissen orientiert seine Pflege zu planen.
• Empathie ist nicht immer und nicht mit allen Patienten notwendig. • Durch Empathie kann Beziehung und Nähe zum Patienten entstehen
(„Gefühlsband“). Beziehung ist jedoch keine Bedingung für Empathie, sondern eine mögliche Folge.
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…pflegespezifische Aspekte der Empathie
• Empathie hat nonverbale Aspekte und ist dadurch für die Pflege von herausragender Bedeutung. Bei bewusstlosen oder kommunikationsgestörten Patienten spielen körperliche Hinweisreize in der Wahrnehmung eine besondere Rolle.
• Empathie ist in der Regel eindirektional. Der Patient selbst muss
nicht empathisch sein, da er keine Erkenntnisse über die Pflegeperson gewinnen muss. Vielmehr müssen Pflegende in der Lage sein, Erkenntnisse über die Patienten zu gewinnen.
• Empathie in der Pflege ist handlungsorientiert, entweder über die
Kommunikation (verbal, nonverbal, körperorientiert) oder durch eine direkt ausgeführte Pflegemaßnahme.
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Der Prozess der empathischen Perspektivenübernahme
1. Voraussetzungen
2. Die Interaktion
3. Ergebnisse des Prozesses
Reflexionsfragen Empathie / Empathisches Verstehen
• Welche Bedeutung hat Empathie für mich im pflegerischen Alltag?
• In welchen Situationen sollte ich als Pflegende empathisch sein?
• In welchen Situationen bin ich empathisch? • Wie zeigt sich gegenüber den Menschen mit
Pflegebedarf mein Einfühlungsvermögen? • Wie reagieren Pflegebedürftige,
- wenn ich empathisch bin? - wenn ich nicht empathisch bin?
• Wann und was belastet mich im Rahmen des empathischen Verstehens? Wie reagiere ich darauf? Peter Scheu, dip Köln, März 2012 24
1. Voraussetzungen für Empathie
• Disposition • Wahrnehmungs-
vermögen • Vorstellungskraft • Berufliche
Erfahrung und Kompetenz
• Ausbildung
• Bewusste Perspektiven-übernahme (berufliche Verantwortung)
• Gewinnung von pflege-spezifischen Erkenntnissen
Rahmenbedingungen Situation Motive Person
• Stärke • Dringlichkeit • Interpretation
• Mitarbeiterideologie • Rollenmodelle • Patienten /
Bewohner-orientierung
• Organisationssystem • Arbeitsbedingungen
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temporäre Identifikation
Prozess
Wahrnehmung von Stimuli
Verarbeitung der Hinweisreize
Absicht, Wille
2. Die Interaktion
Ausdrucks-verhalten
Körperliche Anzeichen
Situation
Perspektiven-übernahme • Wahrnehmend • Verstehen des „inneren
Zustands des Anderen“ • Affektiv • Bewusstes Erfassen de
fremden Perspektive
Erfahrung im „Hier und Jetzt“
Emotion / Erregung
Gefühls-teilung Mitgefühl /
Mitleid Aufmerksamkeit auf dem anderen
Ich-Andere Unterscheidung
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Mögliche Folgen von „Mit-Leiden“
• Ausstieg aus dem Beruf • Psychosomatische Krankheiten • Aggression – Rückzug der Pflegenden • Symptome des Burn-out • Gewalt in der Pflege • …
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3. Ergebnisse des Prozesses
Ergebnisse
• Individuelle Wahrnehmungs-genauigkeit der Pflegenden
• Verstehen der fremden Perspektive
• Empathische Anteilnahme
• Pflegeintervention z. B. • Nonverbale Kommunikation • Verbale Kommunikation • Körperorientierte
Zuwendung • Pflegemaßnahme • Gestaltung der Umgebung • Beziehung usw.
Mitgefühl / Mitleid 28
interpersonell
intrapersonell
„Stufenmodell“ der Dimensionen des Trainingskonzeptes „Empathisches Verstehen“
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Reflexion empathischer Haltungen / Handlungen (eigener / fremder – verbal / non-verbal); Entwicklung der Wahrnehmungsfähigkeit und
Wahrnehmungsgenauigkeit
Förderung der Perspektivenübernahme
Förderung empathischen Verstehens (z. B. Kommunikation, Berührung)
Theorie-Praxis-Theorie-Transfer (Umsetzung und Nachhaltigkeit; Selbsteinschätzung -
Fremdeinschätzung
„Nahe, wenn auch nicht emotional tiefe, Beziehungen zu Patienten mit einer gewissen Reziprozität nützen nicht nur dem Patienten, sondern können zu hoher Berufszufriedenheit der Pflegenden führen. Die Verbündeten der Pflegenden sind somit die Patienten. Pflegende und Patienten gemeinsam müssen die Bedingungen schaffen, die eine qualitativ hoch stehende, einfühlsame Pflege ermöglichen“ (Bischoff-Wanner 2002, S. 283).
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 30
Chancen und Herausforderungen von Empathie in der Pflege ?
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 31
Literaturhinweise • Bischoff-Wanner, C.: Empathie in der Pflege: Begriffsklärung und
Entwicklung eines Rahmenmodells. Bern et al., Huber 2002 (Reihe Pflegewissenschaft)
• Overlander, G.: Die Last des Mitfühlens. Aspekte der Gefühlsregulierung in sozialen Berufen am Beispiel der Krankenpflege. Frankfurt am Main, Mabuse Verlag GmbH 2001
• Wittneben, K.: Pflegekonzepte in der Weiterbildung zur Pflegelehrkraft. Über Voraussetzungen und Perspektiven einer kritisch-konstruktiven Didaktik der Krankenpflege. Europäische Hochschulschriften. Reihe XI. Pädagogik Bd./Vol. 473. Frankfurt am Main et al., Verlag Peter Lang 1998
• Scheu, P.: Empathie statt „Mit“Leid. Ein praktisches Konzept zur Förderung empathischer Kompetenz in der Pflege. 2010, Marburg, Tectum Verlag
Peter Scheu, dip Köln, März 2012 32