Ist das Kunst oder kann das bewertet
werden?
Eine Untersuchung von Beurteilungsperspektiven auf freie und kreative Kindertexte
DGLS Tagung 2016Verena Kasztantowicz – wissenschaftliche Mitarbeiterin HU Berlin
Die Kleine Kastanie
wuks bis zum neksten
herpsttag und wuk und wuk-
s die Kleine Kastanie staunte
ende
(Quelle: Leßmann, Beate: http://www.beate-lessmann.de/schuelertexte/tagebuchtexte.html, zuletzt geöffnet 10.12.2016)
Das Postulat freien (und kreativen) SchreibensSeit der Reformpädagogik …
„Mit diesem Aufsatz suchen wir im Kinde die mannigfachen Kräfte zu wecken und zu pflegen: Seine Phantasie, seine Erinnerungskraft, seine
Beobachtungsgabe, seine Urteilskraft (in moralischen, ästhetischen und sachlichen Dingen), natürlich auch sein Gefühl für sprachliche
Darstellung.” (Gansberg 1911, S. 132f., Hervorhebungen VK)
(vgl. auch Jensen, Lamszus, Münch, Anthes, Scharrelmann, Freinet und weitere reformpädagogische Autoren)
● Schreiben als komplexe sprachliche Handlung eines selbständig lernenden Individuums
● inhaltlich und sprachlich selbstbestimmt
● persönliche Bedeutsamkeit (Symbolisierungen persönlicher Lebens- und Entwicklungsthemen)
● Mittel zur Selbst- und Weltdeutung und zur Weiterentwicklung der eigenen kulturellen Identität
(vgl. Ritter, Kohl, Spinner, Dehn, Spitta, Röhner, Hüttis-Graff, Fatke, Sennlaub)
Das Postulat freien und kreativen Schreibens… bis heute
Ist das Kunst?Die Frage der Literarizität freien und kreativen Schreibens
„das Kind arbeitet und schafft wie der Künstler.”(Lamszus 1912, S. 153)
● Vergleich kindlichen Schreibens mit dichterischer Tätigkeit (Ritter 2012)
● Kindliches Schreiben gleicht nach seiner grundsätzlichen Struktur dem erwachsener Schreiber (Spitta 1999)
Was ist ein Text – und wenn ja, wie viele? Texttheorie nach Nussbaumer (1993)
Text 0 (Text im Kopf des Produzenten)
Text 1 (materialisierter Text)
Text 2 (Text im Kopf des Rezipienten)
Das Postulat leserorientierter Texttheorien
Reader Response Theory
● Bedeutungsgenerierung als aktiver, kreativer Prozess (transaction) zwischen Text und Leser
The reader „infuses intellectual and emotional meanings into the pattern of verbal symbols”. (Rosenblatt 1938, S. 25)
● beeinflusst durch Situation, Emotion, Text-/ Weltwissen des Lesers● gleichzeitig: Phänomen geteilter Sichtweisen („interpretive communities” nach
Fish 1982)
Beurteilung schulischer TexteAus Sicht der Lehrkraft
„ist ein kognitiver Akt bzw. ein mentaler Prozess des
Einschätzens. [...] dem Werten liegt – bewusst oder unbewusst
– ein Wertmaßstab zugrunde, der sich in Form von Kriterien
beschreiben lässt.”
(Böttcher/ Becker-Mrotzek 2003, S. 50)
Antizipierter Leser freier Texte
Lehrperson
Rolle: aktiv, kreativ, individuell Rolle: transparent, kriteriengeleitet, möglichst objektiv
Fokus: ästhetisches Erleben Fokus: Beurteilung / Bewertung
vergleichendes Lesen basierend auf Vorerfahrungen und Intertextualität
vergleichendes Lesen zur Einschätzung des Lernstandes und in Hinblick auf Überarbeitungen
Wie beurteilen (angehende) Lehrkräfte freie und kreative Kindertexte
a) persönlich (hinsichtlich ästhetischer Qualität)?
und im Vergleich dazu
b) formal (hinsichtlich kriterialer Qualität)?
Datengewinnung
● Wintersemester 2015 / 2016● Teilnehmende: 23 Studierende● Zeitpunkt: Abschluss des Seminars „Schreiben / Texte verfassen”● 50 Kindertexte● Forschungsdesign und Analyse:
○ Q-Methode mit freier Verteilung○ 2 Bedingungen○ unrotierte Hauptkomponentenanalyse (PCA)
Beurteilungsperspektive: schulischStell dir vor, du bist Lehrer*In und sollst die vorliegenden Kindertexte vergleichend beurteilen. Welche Schreibprodukte sind (an kriterialen Standards gemessen) gut? Welche weniger?
● Nur eine signifikant geteilte Sichtweise
● 61,4 % erklärte Varianz
● Rekonstruktion der erarbeiteten Kriterien aus dem Seminar
Beurteilungsperspektive „schulisch” – Loadings der 23 Teilnehmenden
Beurteilungsperspektive „schulisch” – Beispieltexte
Ein Tag Gespenst sein
Eines Tages sollte ich aus dem Keller einen Stuhl holen, dort war ein Gespenst, es war ein Schulgespenst. Ich sagte: “Wenn ich so sein könnte, wie Du, dann könnte ich alle Lehrer erschrecken, die ich nicht mag.” Da sprach eine rote Kugel aus einer Ecke: ”Hokus, Pokus, Fidibus, lass die Kugel rollen und nun lass Geist zu Mensch werden und Mensch zu Geist!” Auf einmal war ich ein Gespenst und das Gespenst war ich. Das Gespenst, was jetzt also ich war, ging ins Klassenzimmer. Am nächsten Morgen machte ich mir einen Plan, was ich alles machen wollte und der sah so aus: Als erstes die Ethiklehrerin erschrecken! Dann im Klassenzimmer zugucken, wie sich der Geist so benimmt. Als letztes im Jungsklo rumspuken. So sah also mein Plan aus und das tat ich auch alles. Und es hat richtig Spaß gemacht. Am Abend hatte ich mich schon so auf den nächsten Morgen gefreut, aber am nächsten Morgen war ich kein Gespenst mehr. Das fand ich ein bisschen traurig. Nun ja, das war mein Gespensttag.
(Quelle: Ritter, A.; Ritter, M. (Hg.) (2009): Wer liest, ist. Wer schreibt, bleibt. Dokumentation der AG Schreibspielwiese im Schuljahr 2008/2009. Online unter: http://www.schreibritter.de/pdf/doku_kindertexte/dokumentation_schreibspielwiese_2008-09.pdf, S. 32, zuletzt geöffnet: 10.12.2016)
Beurteilungsperspektive „schulisch” – Beispieltexte
Der richtige Weinarst Tag
es wa einmal ein richtige Weinarst Tag ein Mietchen es hat sich Ws es Wa 100.85€ hat es gekostit aber jest kostit es mer fil fil mer die Eltern sagen: nein Sara und jest ist Sara entojscht Sara sagte dann Wünschte ich mich das ir euchen Mund Haldid und Wiees weiter geht ist in mein Kopf Ende Tada
(Quelle: privat)
Beurteilungsperspektive „schulisch” – Beispieltexte
Sturm im Januar 2007
Bei uns war kein Strom mer.Kaspar hate hunger auf Nudeln. Und Bei uns ist die Blume umgefallen.
(Quelle: Goer, Charis; Koeller, Katharina (2014) (Hg.): Fachdidaktik Deutsch. Grundzüge der Sprach- und Literaturdidaktik. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag. S. 311.)
Kriterienkataloge
● Basiskatalog (Böttcher/ Becker-Mrotzek)
● Textanalyseraster
● Kriterien zur Textbeurteilung (Dehn)
● u.a.
Basiskatalog (Becker-Mrotzek/ Böttcher 2014, S. 509)
Dimension Kriterium
Sprachrichtigkeit Orthographie, Grammatikalität
Sprachangemessenheit Wortwahl, Satzbau
Inhalt Gesamtidee, Umfang/ Relevanz
Aufbau Textmuster, Textaufbau, thematische Entfaltung, Leserführung
Prozess Planen/ Überarbeiten, Wagnis/ Kreativität
Kriterien zur Textbeurteilung (Dehn 2007, S. 90 ff.)
1. Ist eine Schreibidee erkennbar?
2. (Entspricht sie der Aufgabenstellung?)
3. Wie differenziert ist die Schreibidee ausgeführt? Macht die Reihenfolge Sinn? Ist die Perspektive eingehalten? Passen die Zeitformen?
4. Ist der Text verständlich, so ausführlich wie nötig, aber nicht langweilig?
5. Sind die Wörter und Sätze und Satzverbindungen richtig?
6. Passen sie zur Schreibidee und Aufgabenstellung?
Beurteilungsperspektive „persönlich”Stell dir vor, du liest die Kindertexte zum privaten Vergnügen. Welche gefallen dir am besten?
● Hypothese: viele individuelle Sichtweisen
Beurteilungsperspektive „persönlich” – Loadings der 23 Teilnehmenden
(50% erklärte Varianz, unrotiert)
Beurteilungsperspektive „persönlich” – Sichtweise 1
Beurteilungsperspektive „persönlich” – Sichtweise 2
Beurteilungsperspektive „emotional-wertschätzend” – Beispieltexte
Rudi ist Tot.
ich war bei Lasses geburtztak und Altz Mama mich Apgehol aht ht sie gesakt das Rudi Tot ist.
(Quelle: Leßmann, Beate: http://www.beate-lessmann.de/schuelertexte/tagebuchtexte.html, zuletzt geöffnet 10.12.2016)
Beurteilungsperspektive „emotional-wertschätzend” – Beispieltexte
Die Kleine Kastanie
wuks bis zum neksten
herpsttag und wuk und wuk-
s die Kleine Kastanie staunte
ende
(Quelle: Leßmann, Beate: http://www.beate-lessmann.de/schuelertexte/tagebuchtexte.html, zuletzt geöffnet 10.12.2016)
Beurteilungsperspektive „emotional-wertschätzend” – Beispieltexte
Das fällt mir noch schwer ...
Mir fällt es sehr schwer ruhig auf dem Teppich zu sitzen.Ich bin nämlich sehr unruhig, wenn Marlene etwas erklärt.Manchmal sagt sie auch etwas.sehr selten sitze ich ruhig, da sagt sie nie etwas.Ich bin einfach zu aufgezogen.Ich möchte es so gerne schaffen, einmal ruhig auf dem Teppich zu sitzen!
(Quelle unbekannt)
Beurteilungsperspektive „emotional-wertschätzend” – Beispieltexte
Hertha BSC Berlin
Was ist mit Hertha BSC Berlin los. Sie sind in der Tabelle letzter also 18. Und sie haben auch erst 3 Punkte. Sie haben 1 Sieg und 5 Niederlagen. Gegen SC Freiburg hat Hertha 0:4 verloren.
Hier sehen sie einen kleinen Spielbericht über das Spiel Hertha BSC Berlin gegen SC Freiburg.In der 5. Minute fällt das erste Tor.Kurz darauf schießt Ebert von Hertha BSC Berlin schießt einen Freistoß aber die SC-Mauer hat den Ball abgefälscht, und der geht um Zentimeter am linken Torpfosten vorbei. Und in der 12. Minute fiel dan auch schon das 0:2 für Freiburg.In der 42. Minute war es dan auch so weit und das dritte mal kam der Torschrei der Freiburger.Das vierte war das letzte und zwar in der 68. Minute viel das 4:0 für Freiburg und gleichzeitig der endstand.
(Quelle: privat F. Dietz)
Beurteilungsperspektiven im Vergleich
Beurteilungsperspektive „persönlich”Stell dir vor, du liest die Kindertexte zum privaten Vergnügen. Welche gefallen dir persönlich am besten?
● 2 Sichtweisen:
a. ist korreliert mit der schulischen Perspektiveb. würdigt emotional ansprechende,
„authentische” Kindertexte trotz formaler Mängel
Diskussion der Ergebnisse
1. Produktorientierte Beurteilung
2. Prozessorientierte Beurteilung
3. Beurteilung hinsichtlich der Funktion eines Textes im Lehr- / Lernprozess
(ergänzend zu Abraham 2014, S. 376)
Diskussion der Ergebnisse
1. Produktorientierte Beurteilung (im weiteren Sinne):
○ Mitteilung über ästhetische Wahrnehmungen des Textessowie
○ die eigentliche Beurteilung nach transparenten Gütekriterien
(ergänzend zu Abraham 2014, S. 376)
Quellen der Kindertexte
Kurztitel Quelle
"Gespenst" Ritter, A.; Ritter, M. (Hg.) (2009): Wer liest, ist. Wer schreibt, bleibt. Dokumentation der AG Schreibspielwiese im Schuljahr 2008/2009. Online unter: http://www.schreibritter.de/pdf/doku_kindertexte/dokumentation_schreibspielwiese_2008-09.pdf, S. 32.
"Weihnachtstag" privat
"Sturm" Goer, Charis; Koeller, Katharina (2014) (Hg.): Fachdidaktik Deutsch. Grundzüge der Sprach- und Literaturdidaktik. Paderborn: Wilhelm Fink Verlag. S. 311.
"Rudi" und "Kastanie"
gesammelte Kindertexte von Beate Leßmann
"Das fällt mir noch schwer"
Quelle unbekannt
"Hertha BSC Berlin" privat von F. Dietz / HU Berlin
Literaturverzeichnis:
Abraham, Ulf (2014): „Kreatives” und „poetisches” Schreiben. In: Baurmann, Jürgen (Hg.): Prozessorientierung und Methoden des Schreibunterrichts. S. 364-381.
Abraham, Ulf; Baurmann, Jürgen (2010): „Kriterien für Texte entwickeln – das Schreiben nach Vorgaben fördern. Zum Einsatz von Kriterien und Kriterienkatalogen im Deutschunterricht.“ In: Praxis Deutsch, (2010), 223, S. 4–11.
Becker-Mrotzek, Michael (2014): Schreibleistungen bewerten und beurteilen. In: Baurmann, Jürgen (Hg.): Prozessorientierung und Methoden des Schreibunterrichts. S. 501-513.
Böttcher, Ingrid; Becker-Mrotzek, Michael (2003): Texte bearbeiten, bewerten und benoten. Berlin: Cornelsen Scriptor.
Dehn, Mechthild (2007): Kinder & Lesen und Schreiben. Was Erwachsene wissen sollten. Seelze-Velber: Kallmeyer. S. 90ff.
Fish, Stanley (1982): Is There a Text in This class? The Authority of Interpretive Communities. Cambridge: Harvard University Press.
Gansberg, Fritz (1911): Demokratische Pädagogik. Ein Weckruf zur Selbstbetätigung im Unterricht. Leipzig: Verlag von Quelle und Meyer.
Klein, Ursula (2001): Die Beurteilung von Texten. Grundschule 11/2001. S. 49-51.
Lamszus, Wilhelm (1912): Der Aufsatz vom Kinde. In: Zeitschrift für Jugendwohlfahrt, Jugendbildung und Jugendkunde: Der Säemann Heft. 4/1912. S. 153-162.
Otto, Ludwig (1988): Der Schulaufsatz: seine Geschichte in Deutschland. Berlin: Walter de Gruyter.
Spitta, Gudrun (1998): Freies Schreiben – eigene Wege gehen. Libelle: Lengwil.
Ritter, Michael (2012): Den Wal im Wald entdecken. Schreibenlernen im Zeitalter der Kompetenzorientierung. Einige Überlegungen zur Inszenierung und Beschreibung von kindlichen Schreibprozessen. In: Ritter, Michael and Ritter, Alexandra (Hg.): Schreibkompetenz und Schriftkultur. Ein Lese- und Arbeitsbuch. Frankfurt a. M.: Grundschulverband e.V. S. 18-35.
Ritter, Michael (2010): Kindern Schreibspielräume eröffnen. Überlegungen zu einer ästhetischen Schreibdidaktik. In: Jantzen, Christoph and Merklinger, Daniela (Hg.): Lesen und Schreiben: Lernerperspektiven und Könnenserfahrungen. Filibach Verlag: Freiburg: S. 35-59.
Rosenblatt, Louise (1983): Literature as Exploration. New York: Appleton-Century