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Benjamin Jörissen, [email protected]
Aufführungen der Sozialität.
Aspekte des Performativen in der Sozialphilosophie George Herbert Meads.
PREPRINT
erschienen in: Michael Göhlich, Christoph Wulf, Jörg Zirfas (Hrsg.): Grundlagen des
Performativen. Zur Einführung in den Zusammenhang von Sprache, Macht und Handeln. Weinheim,
München (Juventa) 2001, S. 181-201.
Der Text darf nach den üblichen Zitierrichtlinien zitiert und unter den Bedingungen der folgenden Lizenz ganz oder in Auszügen verwendet werden (offenes Dateiformat per Email erhältlich). Auf Anfrage stelle ich diesen Text (ggf. aktualisiert) gerne für Sammelbände oder Zeitschriften zur Verfügung.
„Transritualität im Social Web: Performative Gemeinschaften auf Twitter.com“ von Benjamin Jörissen steht unter einer Creative Commons Namensnennung‐NichtKommerziell‐KeineBearbeitung 3.0 Unported Lizenz
Abstract
Ein zentrale Frage des Sozialphilosophen George Herbert Mead war die nach der
Möglichkeit von Gesellschaft. Während sich die klassische Lesart im Sinne des Symbolischen Interaktionismus auf die bindende, universalistische Kraft der Sprache verlässt, zeigt eine genauere Analyse der Meadschen Schriften, dass der Universalismus symbolvermittelter Interaktion – die soziale Bindekraft der Sprache – schon bei Mead ein theoretisches Ideal darstellt, welches aus prinzipiellen Gründen nicht der sozialen Realität entsprechen kann. Die Herstellung von Gemeinschaftlichkeit und Gesellschaftlichkeit (‚Sozialität’) geschieht zwar symbolvermittelt, ist jedoch aufgrund der grundsätzlichen Beschränktheit der Fähigkeit zur sozialen Perspektivenübernahme ein stets gefährdeter Prozess. Das Sozial-Performative (welches bereits an Meads Modell präreflexiver Gestenkonversation aufgezeigt wird) erweist sich als ein den sozialen Prozess immer schon begleitender Vorgang erstens der Aufführung der Fähigkeit des Sozialverbands, sich angesichts kritischer (emergenter) Ereignisse zu reproduzieren und zweitens der Formgebung sozialer Wirklichkeit. In kritischer Ergänzung der Meadschen Fixierung auf zweckorientierte soziale Kooperation werden die ästhetischen Implikationen des Sozial-Performativen untersucht und ihre Bedeutung für pädagogische Praxis sowie erziehungswissenschaftliche Theorie und Methodologie herausgestellt.
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Einleitung
Die Arbeiten George Herbert Meads haben im 20. Jahrhundert eine mehr als beachtliche
Resonanz erfahren, die ihn in den Rang eines Klassikers erhebt. Immer wieder eröffnet sein
reichhaltiges Werk die Sicht auf eine Vielzahl neuer Aspekte und teilweise überraschender,
vorher unbemerkt gebliebener theoretischer Bezüge (vgl. etwa Joas (Hg.) 1985; Bender 1989;
Wagner 1993). Im Sinne eines solchen Aufspürens versteht sich auch der vorliegende Beitrag.
Dabei ist es nicht nur außerordentlich spannend, diesem in der Tiefe seiner Gedankenführung
exzeptionellen Sozialphilosophen die Frage nach den Aspekten des Performativen in sozialen
Kontexten zu stellen; man darf zudem erwarten, dass diese Fragen – aufgrund der engen
Verbundenheit der Erziehungswissenschaft mit Meads Ideen – von unmittelbarer
erziehungswissenschaftlicher und pädagogischer Relevanz sind.
Bezugspunkt der Betrachtung ist Meads (in den verschiedenen posthum erschienenen
Aufsatzsammlungen verstreut enthaltene) Philosophie der Sozialität. Dieser Theorie folgend,
betrachten wir das Performative als ein Moment der intersubjektiven Erzeugung sozialer
Welten und Wirklichkeiten, sowohl auf der Ebene präreflexiver (nichtbewusster,
nichtintentionaler) Gestenkonversation (I) als auch auf der reflexiver symbolvermittelter
Interaktion (II). Aktuell relevante, von Mead eher vernachlässigte Aspekte werden in
kritischer Ergänzung der rekonstruierten Zusammenhänge dargeboten (III). In einem Ausblick
werden schließlich die Implikationen des Gedankens performativ-intersubjektiver
Konstitution von Sozialität hinsichtlich aktueller erziehungswissenschaftlicher und
pädagogischer Problematiken herausgestellt (IV).
I. Die performative Verwirklichung objektiver Sinnstrukturen in der
präsymbolischen Gestenkonversation
Soziale Welten konstituieren sich im gemeinsamen Handeln. Wenn auch bei Mead die
symbolische Interaktion (vgl. Blumer 1969) vorrangig behandelt wird, so spielt doch, wie
Mead wusste, auch die nicht-bewusste, ‚vorsymbolische’ Interaktion nicht nur im Bereich der
tierischen Gestenkonversation, sondern auch in dem der menschlichen Ontogenese wie auch
der Alltagkommunikation eine große Rolle – überall dort also, wo soziales Handeln ohne
bewusste Intentionalität abläuft (Cronk 1987, 11). Dabei meint der Ausdruck ‚vorsymbolisch’
nicht, dass die verwendeten Gesten frei von symbolischen Gehalten wären, jedoch ist die
Bedeutung der Geste für die Umwelt nicht unbedingt mit der Bedeutung für das sie äußernde
Individuum identisch. Die „threefold or triadic relation between gesture, adjustive response,
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and resultant of the social act“ (Mead 1934, 80) lässt sich an einem einfachen Beispiel
darstellen:
Geste A eines Individuums (z. B. eine Drohgebärde) ruft im Gegenüber eine Reaktion b
hervor (z. B. Unterwerfung oder Vorbereitung auf den Angriff), die in ihrem
Ausdruckscharakter als neue Geste B (Unterwerfung- bzw. Drohgebärde) wiederum eine
abschließende Reaktion c des ersten Individuums auslöst (Überlegenheitsgeste oder
Verstärkung der Drohung bzw. Angriff). Diese Gestenkonversation impliziert dabei offenbar
kein den Beteiligten gemeinsames Symbol; obwohl eine Geste jeweils eine bestimmte
Reaktion auslöst, handelt es sich „nicht um Gesten in dem Sinne, dass sie etwas besagten. Wir
nehmen nicht an, dass sich der Hund sagt: ‚Wenn das Tier aus dieser Richtung kommt, wird
es mir an die Kehle springen, und ich werde mich so bewegen’“ (Mead 1973, 82). Der Sinn
liegt also im Handlungsablauf selbst, insofern die Reaktion eines Individuums der Geste des
anderen Sinn gibt (Mead 1973, 117). Sinn existiert gewissermaßen ‚an sich’ (und für uns als
Beobachter), aber nicht für die Beteiligten, wenn sie eine Geste hervorbringen: aus ihrer
Perspektive ergibt sich einfach ein Handlungsablauf, dessen Sinngehalt ihnen nicht bewusst
wird. Vorsymbolische Gestenkonversation beruht somit auf einer Sinnstruktur, die bereits vor
der stattfindenden Interaktion festliegt, die also auf dem instinktivem Verhalten einer Art oder
auch auf (quasi reflexartig, nicht-reflexiv) hervorgebrachten Reaktionen auf bestimmte
Gesten oder Reize basiert. D. h., der Sinn der Rangordnungskämpfe, Balzrituale etc. liegt
nicht in diesen selbst; vielmehr weisen sie über sich hinaus auf einen latent vorhandenen
objektiven Sinn. Die Gesten werden dadurch selbst ein Bestandteil des Interaktionsverlaufs,
welchen sie erst erzeugen bzw. zur Wiederaufführung bringen. Gestenkonversation im
Meadschen Sinn ist deswegen ihrer Struktur nach performativ: insofern sie diesen latenten
objektiven Sinn handelnd wiederaufführt oder (im engsten Wortsinn) ‚reaktualisiert’, lässt sie
eine interindividuelle Handlungswirklichkeit entstehen.
Solche Gesten sind wie angedeutet nicht nur im Tierreich relevant, sondern bilden (noch
vor allem Sprachgebrauch) den ‚grundlegenden Mechanismus’ des gesellschaftlichen
Prozesses (Mead 1973, 52). Die Haltungen des Körpers (attitudes) sind Teil einer
eigenständigen Kommunikationsebene, die sich nicht in artikulierte Sprache übersetzen lässt,
jedoch die Voraussetzung von Sprachentstehung und Spracherwerb darstellt (Mead 1973, 53).
Darin besteht eine grundlegende Einsicht Meads: „Weil wir einen Körper haben, haben wir
Symbol“ (Gebauer/Wulf 1998, 276). Dieses in der Mead-Rezeption oft unterbetonte, von
Mead jedoch mehrfach und explizit betonte körperliche Moment gilt es insbesondere im
Hinblick auf seinen performativen Charakter festzuhalten, zumal das Konzept der
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‚körperlichen Haltung’ im Bereich humaner Interaktion durchaus an den Habitusbegriff
Bourdieus (als Erzeugungsprinzip sozialer Praxis, vgl. Bourdieu 1987) erinnert: unserem „so-
called intent“ (Mead 1934, 15), also unserem bewussten Handeln, liegen nach Mead die
‚attitudes’ zugrunde; „the idea we are talking about […] is one that is involved in the gesture
or attitudes which we are using“ (ebd.), so dass wir auch hochgradig sozial festgelegte
Handlungen, beispielsweise Akte der Höflichkeit, „fast instinktiv“ ausführen (ebd.; Mead
1973, 53).
Auch gesellschaftlich-objektiver Sinn wird also in gestischen Handlungsabläufen erzeugt
und wiederaufgeführt. Diese Aufführungen geschehen nicht bewusst: „Der gesellschaftliche
Prozess setzt die Reaktionen eines Individuums zu den Gesten eines anderen Individuums als
ihrem jeweiligen Sinn in Beziehung und ist somit für Auftreten und Bestehen neuer Objekte
in der gesellschaftlichen Situation verantwortlich, die von diesem Sinn abhängig sind oder
durch ihn geschaffen werden. Sinn sollte daher nicht als Bewusstseinszustand oder als Reihe
organisierter Beziehungen gesehen werden [...]. Ganz im Gegenteil, man sollte ihn sich
objektiv, als völlig unabhängig innerhalb dieses Bereichs bestehend vorstellen“ (Mead 1973,
117 f.). Auf diese Weise entsteht eine soziale Wirklichkeit, die einen beinahe
unhintergehbaren Hintergrund bildet, auf welchem erst Problematisierungen und
Bewusstwerdungsprozesse stattfinden können. Die soziale Handlungswelt erhält in den
performativen Akten durch die beständige Erfahrung ihres Funktionierens den Charakter
absoluter Beständigkeit, Natürlichkeit, Unhinterfragbarkeit. Performative Gestenkonversation
ist also eine (diesen erst verwirklichende) Aufführung nichtintentionalen, objektiven Sinns.
Es soll dabei allerdings nicht übersehen werden, dass Mead die außerordentliche
Bedeutung des präreflexiven Gestengebrauchs für soziale Prozesse letztlich verkennt
(Gebauer 1995, 236) und sich vorrangig für die symbolvermittelte Kommunikation und
bewusste Handlungswelten interessiert.
II. Performative Welterzeugung
Mimetisch-performative Aneignung sozialer Bedeutungsgehalte
Im Gegensatz zur präsymbolischen Geste bezieht sich der Begriff des Symbols (bzw. der
‚symbolischen Geste’) auf eine intersubjektiv geteilte Bedeutung. Besonders die
‚Lautgebärde’, also das gesprochene Wort, eignet sich zur Darstellung der symbolvermittelten
Interaktion: der Sprecher äußert eine sinnvolle Lautgebärde, welche im Empfänger und im
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Sprecher (der sich selbst sprechen hört) dieselbe Reaktion hervorruft. „Wir lösen ständig,
insbesondere durch vokale Gesten, in uns selbst jene Reaktionen aus, die wir auch in anderen
Personen auslösen, und nehmen damit die Haltungen der Personen in unser eigenes Verhalten
herein. [...] Das ist es, was den Sinn eines Objektes ausmacht, nämlich die gemeinsame
Reaktion des eigenen Selbst und der anderen Person, die wiederum zum Reiz für das eigene
Selbst wird“ (Mead 1973, 108, 113, Übersetzung korrigiert). Die Bedeutung eines Objekts ist
somit die Summe dessen, was mit ihm ‚getan’ werden kann, also die Summe der von ihm
evozierten Handlungsalternativen, die im sozialen Zusammenhang erworben wurden.
Es ist für das zu entfaltende Moment des sozial Performativen wesentlich festzuhalten,
dass eine Repräsentation im Meadschen Sinne nicht etwa ein innerpsychisches Gegenstück zu
einem in der Außenwelt so-und-so existierenden Gegenstand darstellt. Der pragmatistische
Bedeutungsbegriff erinnert vielmehr an die Bedeutungstheorie des späteren Wittgenstein
(1984, 132): „Eine Bedeutung eines Wortes ist eine Art seiner Verwendung“. Bedeutungen
werden nicht etwa definitorisch erlernt, sondern in Prozessen der sozialen Haltungs- und
Perspektivenübernahme erworben. Zwar gelingt Mead nicht die Rekonstruktion des
frühkindlichen Spracherwerbs (Joas 1989, 115; Wagner 1993a, 35) – was angesichts des
entwicklungspsychologischen Instrumentariums seiner Zeit nicht verwunderlich ist –, jedoch
kann seine immer wieder vorgetragene Konzeption des kindlichen Spiels (play; vgl. Mead
1896; Mead 1934, Kap. 19 und 20) durchaus als ein mimetisch-performatives1 Modell der
Einverleibung sozialer Gehalte interpretiert werden: im Rollenspiel eignet sich das Kind
objektive Sinnstrukturen spielerisch an. Das Kind „spielt zum Beispiel, dass es sich etwas
anbietet, und kauft es; es gibt sich selbst einen Brief und trägt ihn fort; es spricht sich selbst
an“ (Mead 1973, 193). Hierbei handelt es sich aber nicht, wie Mead anscheinend meint, um
bloße Nachahmung: im Spiel ist das Kind kreativ (Gebauer/Wulf 1998), es gibt den gespielten
Vorgängen einen eigenen Stil und auch einen eigenen Sinn, der noch nicht an
zweckrationalen Maßstäben ausgerichtet ist (Mead 1987a, 438). Es agiert und vollzieht die
sozialen Reaktionen auf sein eigenes Handeln selbst nach; dabei macht es praktische
Erfahrungen mit sozialen Handlungsabläufen, welche in Form von entsprechend
bedeutungsgeladenen Bildern (images) verinnerlicht werden und in passenden Kontexten
Handlungsmittel bereitstellen (Mead 1904, 605). Der objektive Sinn (von Institutionen,
1 Der Ausdruck ‚performativ’ umfasst verschiedene Nuancen, die nicht vermischt werden sollten. ‚Performative Welterzeugung’ bezeichnet das Entstehen (und den Aufführungscharakter dieser Entstehung) objektiver sozialer Wirklichkeiten als Effekt intersubjektiver Aktivitäten. Wenn hier das mimetische Rollenspiel performativ genannt wird, so ist damit hingegen allein sein Aufführungscharakter (im Sinne einer ‚Performance’) bezeichnet. Freilich entsteht gerade durch diese Aufführung spielerisch erzeugter Raum
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Gegenständen, kurz: ‚sozialen Objekten’) wird in der mimetisch-performativen Aneignung2
zur subjektiven Bedeutung und erhält in diesem kreativen Prozess eine aisthetische
Konnotation (Wulf 1994), denn der sinnliche Gehalt, welcher die notwendige Grundlage der
sprachlichen Bedeutungen bildet, „must accompany any concept however abstract this may
be“, auch wenn er nicht in jedem Zusammenhang vorrangig ist (Mead 1904, 606). Aber nicht
nur die Bedeutungen ‚externer’ sozialer Objekte werden im handelnden sozialen Umgang
erlernt und eingeübt: wenn das die Handlung organisierende soziale Objekt das Individuum
selbst ist, so erfährt es in der sozialen Reaktion nicht die Bedeutung von Gegenständen,
sondern seine eigene Bedeutung im jeweiligen sozialen Handlungskontext (Mead 1987a,
293). Diese im Rollenspiel verinnerlichte gesellschaftliche Reaktion auf die eigenen Aktionen
(‚I’) nennt Mead bekanntermaßen ‚Me’ (Mead 1973, 236). Der Form nach ist das Individuum
im reflexiv erfahrenen ‚Me’ für sich selbst kein anderes Objekt als die anderen soziale
Objekte seiner Umwelt; es erfährt sich stets als Veräußertes (Person, Rolle etc.).
Gegenwart und Realität
Symbolbesitz und die menschliche Fähigkeit zur Reflexion bilden die Grundlage der
Entstehung einer mentalen (‚hypothetischen’) Welt. Solange und insofern Interaktionen
reibungslos ablaufen, bewegen wir uns in der oben beschriebenen fraglosen Welt objektiver
Sinnstrukturen (Mead 1987a, 217). Erst wenn der Handlungsablauf durch ein auftretendes
Problem oder einfach einen unerwarteten Aspekt (wie er vor allem im sozialen Handeln
aufgrund der Unvorhersehbarkeit der Handlungen der anderen häufig auftaucht) unterbrochen
wird, so dass die Handlung nicht beendet werden kann, wird die problematische Situation
bewusst und es entsteht eine Aufmerksamkeit bezüglich der Eigenschaften der Situation und
der in ihr enthaltenen Objekte. „In diese Situationen gehen die alternativen Manipulationen
[lies: Handlungsmöglichkeiten, B.J.] ein, die der entfernte Reiz auslöst. Wenn man einen
Nagel einschlagen muss und keinen Hammer hat, dann wandert das Auge von einem Stein zu
einem Stiefelabsatz oder einer Eisenstange“ (Mead 1969, 128). Der kontinuierliche,
unmerklich fließende Strom der Handlungszeit wird unterbrochen; es entsteht die Erfahrung
einer Diskontinuität, die sich in der Dauer (hier orientiert sich Mead kritisch an Bergsons
objektiven Sinns, den sich das Kind dadurch, dass es sich vollständig und körperlich auf das Spiel einlässt und von ihm „vollständig aufgesogen“ wird (Mead 1987a, 438) wird, einverleibt. 2 Mead selbst sah die Fähigkeit zur Mimesis als Folge des Symbolbesitzes an (Mead 1973, 99). Seine Zurückweisung des Mimesisgedankens ist jedoch dem auf bloße Nachahmung reduzierten Mimesisbegriff seiner Zeit (vgl. Gebauer/Wulf 1992) zuzuschreiben, der mit seiner emphatischen Betonung der Kreativität des Individuums (Mead 1973, Kap. 28) nicht zu vereinbaren war (Leys 1993). Die Analyse zeigt jedoch, dass der – unverkürzte – Mimesisgedanke sehr wohl mit Meads Sozialphilosophie in Einklang steht (vgl. Jörissen 2000, Kap. 3.2).
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Begriff der durée, vgl. Mead 1936, 297 ff. wie auch an Whitehead, vgl. Chang 1970, 78) einer
plötzlich – aufgrund der Unterbrechung – ausgedehnten Gegenwart äußert (specious present).
Erst hier kommt es zu einer differenzierten Erfahrung der Situation und des ‚Jetzt’ im
eigentlichen Sinn, gegenüber der „nicht vermittelten Ummittelbarkeit“ einer gleichmäßig und
kontinuierlich ablaufenden Gegenwart (Wagner 1999, 16).
Die Grenzen dieser derart herausgehobenen Gegenwart werden von Vergangenheit und
Zukunft markiert, insofern mit den Mitteln der in der Vergangenheit gemachten Erfahrungen
(wie sie beispielsweise auch im soeben beschriebenen Spiel erworben werden) die Situation
im Hinblick auf ein in der Zukunft liegendes Handlungsziel rekonstruiert wird (Mead 1969,
128). In dem zitierten Beispiel befinden wir uns also in der plötzlich bewusst werdenden
Gegenwart einer Handlungskrise: der Nagel kann nicht eingeschlagen werden. Die
Umgebung wird auf Dinge abgesucht, die erfahrungsgemäß als Hammer dienen können.
Hierbei werden die erblickten Gegenstände bewusst, weil sie vergegenwärtigt werden: der
Stein und alle sichtbaren Dinge werden auf ihre Eignung untersucht, indem wir mit ihnen
hypothetisch einen Nagel einschlagen; dazu versetzen wir uns (was ein mimetischer Vorgang
ist) in die Dinge, um ihre Eigenschaften abzuschätzen.
In der auftauchenden Situation wird so der Versuch einer rekonstruktiven
Wiederherstellung der unterbrochenen Kontinuität unternommen. Zu diesem Zweck werden
die entfernten Objekte der Umwelt zeitlich und räumlich vergegenwärtigt – und somit
rationalisiert, mental ‚handhabbar’ gemacht (Cronk 1987, 55). Die Emergenz des
unvorhergesehenen Ereignisses ist somit zugleich die Emergenz einer bewussten
(hypothetischen) Welt – deren Realität sich jedoch erst im Erfolg des Handlungsvollzugs
erweist (Mead 1969, 129).
Dennoch ist die auf diese Weise entstehende Situation nicht bloß subjektiv. Denn die
„reflexive Erfahrung, die Welt und die Dinge in ihr existieren grundsätzlich in Form von
Situationen. Diese Situationen sind gekennzeichnet durch die Beziehung eines organischen
Individuums zu seiner Umwelt oder seiner Welt. Die Welt, die Dinge und das Individuum
sind, was sie sind, aufgrund dieses Verhältnisses. Wenn sie sich in anderer Form als der
präsentieren, in der sie in dieser Situation existieren, so beruht der Unterschied darauf, dass
sie in einer anderen, aber ähnlich determinierten Situation existieren. [...] Die Besonderheiten
der unterschiedlichen Situationen sind nicht die Besonderheiten von Erscheinungen und
Phänomenen, welche eine absolute Realität inadäquat reflektieren. Diese Situationen sind die
Realität“ (Mead 1969, 147).
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Ontische vs. praktische Realität
Man wird gewiss bemerkt haben, dass im vorletzten Absatz mit Mead behauptet wurde, die
Realität der hypothetischen Situation sei nicht sicher, während im Zitat des letzten Absatzes
feststellt wird, Situationen seien die Realität. Hier ist zu unterscheiden zwischen einem
praktischen Realitätsbegriff (der sich entweder auf instrumentelle oder auf soziale
Handlungsvollzüge beziehen kann) einerseits und einem ontologischen Realitätsbegriff (als
Grundlage aller möglichen Realitäten) andererseits – Mead selbst hat beide Vorstellungen
offenbar nicht differenziert.
Aus pragmatistischer Sicht existiert Wirklichkeit im ontologischen Sinne weder ‚an sich’
(etwa im Sinne eines naiven oder eines ‚externen Realismus’, vgl. Searle 1997), noch ist sie
ein subjektives Produkt des Betrachters (wie idealistische Positionen oder heute noch der
‚radikale Konstruktivismus’ nahe legen). Wirklichkeit konstituiert sich vielmehr prozesshaft
je im Wahrnehmungsereignis und im handelnden Umgang als Verhältnis eines Individuums
zu seiner Umwelt (Mead 1987b, 211 ff.).3 Insofern ein Wahrnehmungsereignis immer an eine
bestimmte Perspektive gebunden ist (man stelle sich nicht nur die optische Perspektive,
sondern etwa auch den ‚point of view’ auf die Welt vor, der sich im Laufe der
Lebenserfahrungen herausbildet, die eigenen Interessen, kulturellen Prägungen, etc.), sind die
aus dieser Perspektive geordneten Ereignisse „die einzigen Formen der Natur, die gegeben
sind“ (Mead 1987b, 220). In diesem Sinne sind Perspektiven objektiv: jedes
Wahrnehmungsereignis ist wirklich und konstituiert Wirklichkeit, indem Betrachter und
Betrachtetes sich in ihrer Beziehung zueinander verorten und nur in der Wechselseitigkeit der
Beziehung jeweils eine bestimmte Form erhalten. Dies gilt auch für
Wahrnehmungsereignisse, die nicht intersubjektiv geteilt werden oder nicht geteilt werden
können (‚private Perspektiven’; Mead 1987b, 35). Weil das Wahrnehmungsereignis immer
Effekt von emergenten Geschehnissen ist (welche den kontinuierlichen Handlungsablauf
unterbrechen), existiert Realität ausschließlich in der erstreckten Gegenwart (Mead 1969,
229).
Diese Gegenwart dauert bis zur Handlungsvollendung an, welche den kontinuierlichen
Gang der Dinge wieder einleitet. Taucht nun hier ein erneutes Problem auf (wenn z. B. der
zum Hammer erkorene Stein zerbricht statt zu funktionieren), so emergiert abermals eine
Gegenwart. Wieder findet eine Rekonstruktion statt, in welcher sich die vorhergehende
Realität (die den Stein für ein geeignetes Werkzeug hielt) als nicht (mehr) gültig erweist.
3 Neuerdings gibt es unter dem Titel des ‚interaktionistischen Konstruktivismus’ Bestrebungen innerhalb der Erziehungswissenschaft, ähnlich dieser Idee die Problematik von Lebenswelt, sozialisatorischer Interaktion und Ontogenese in neuem Licht zu betrachten, vgl. Sutter (Hg. 1994), Reich (1998), Neubert (1998).
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Diese Beziehung zwischen zwei Gegenwarten könnte man praktische Realität nennen (vgl.
den Ausdruck „volle Realität“, Mead 1987b, 224). Aus dieser Perspektive ist jede
„gegenwärtige Realität [...] eine Möglichkeit. Realität ist, was sein würde, wenn wir uns dort
anstatt hier befänden. Mit Hilfe des sozialen Mechanismus des signifikanten Symbols vermag
der Organismus sich ‚nach dort’ zu versetzen – als eine Möglichkeit seines Handelns“ (Mead
1987b, 222). Praktische Realität ist also eine symbolvermittelte, zeitlich strukturierte
Beziehung von Handlungsentwurf (Hypothese) und Handlungsvollzug.4
Die performative Konstitution sozialer Wirklichkeit
Die vergegenwärtigte Situation ist zunächst eine subjektive ‚Perspektive’. Diese wird zwar
im Gegensatz zur ‚privaten Perspektive’ (z. B. Zahnschmerzen) mit sozialen Mitteln
(Symbolen) gewonnen und ist daher im Gegensatz zu dieser kommunizierbar; jedoch sind die
konstituierten Objekte bloß ‚ideell’ (Mead 1987b, 35). Die in der Situation erzeugte
Gegenwart ist eine symbolisch konstruierte Gleichzeitigkeit von Individuum und Umwelt, da
die in der Zukunft liegenden Handlungsziele (wie auch beispielsweise raumzeitlich entfernte
Objekte) virtuell in die Gegenwart des Individuums gebracht, vergegenwärtigt, werden. Dies
ist aber nicht notwendigerweise zugleich die Gegenwart anderer Individuen, weil es „eine
unbegrenzte Anzahl möglicher Gleichzeitigkeiten jedes Ereignisses mit anderen Ereignissen
gibt und folglich unendlich viele zeitliche Ordnungen derselben Ereignisse; deshalb ist es
möglich, sich ein und dieselbe Gesamtheit der Ereignisse in unendlich viele verschiedene
Perspektiven eingeordnet zu denken“ (Mead 1987b, 214). Eine gemeinsame Gegenwart kann
nur dadurch erreicht werden, dass alle am sozialen Prozess beteiligten Individuen die
Perspektiven der anderen einnehmen. Dieses Prinzip der Sozialität, als „Fähigkeit, mehrere
Dinge gleichzeitig zu sein“ (Mead 1969, 280), bezeichnet die Bedingung der Bestehens
(strukturelle Dimension) und des Erhalts (temporale Dimension) von Gesellschaft (Bergmann
1981, 362).
Ob die Individuen tatsächlich dieselbe Perspektive einnehmen, ist nicht direkt beobachtbar
– und keinesfalls selbstverständlich, denn es „gibt Perspektiven, die aufhören, objektiv zu sein
[...], und es gibt Perspektiven hinter dem Spiegel und die eines Alkoholiker-Hirns“ (Mead
1987b, 221). Dabei ist es durchaus umgekehrt möglich, dass eine ‚subjektive’ Ansicht
‚objektiv’ wird, indem sie durch vernünftige Argumente allgemeine Anerkennung findet
4 Damit wird der traditionelle dualistische Wahrheitsbegriff – Wahrheit als Übereinstimmung von (im Subjekt verorteter) Aussage und (in ‚der’ Welt liegendem) Sachverhalt im Rahmen eines verzeitlichten Handlungsmodells aufgehoben. In der Sicht des Pragmatismus beschreiben wahre Aussagen (bzw. Handlungsentwürfe) nicht mehr eine unveränderliche Wirklichkeit (wodurch sie selbst zu notwendigen, ‚ewigen Wahrheiten’ werden), sondern lediglich ihre Praktikabilität.
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(Mead 1973, 210). Jedenfalls aber, und dieser Punkt darf nicht übersehen werden, sind die
„Grenzen sozialer Organisation [...] in der Unfähigkeit von Individuen zu suchen, die
Perspektive von anderen zu übernehmen, sich an ihre Stelle zu versetzen“ (Mead 1987b, 217).
Das Auffinden einer gemeinsamen Perspektive besitzt lediglich eine nicht garantierte
Wahrscheinlichkeit (Mead 1987b, 224), weil die einzelnen Perspektiven allenfalls relative
Ähnlichkeit besitzen (Farbermann 1992, 46). Mead war sich durchaus der Tatsache bewusst,
dass realiter nicht „alle mit einer Stimme bei der Organisation sozialen Verhaltens sprechen“
(Mead 1969, 145), und dass nicht einfach ein für die gesamte Gesellschaft repräsentativer
‚generalized other’ ein ‚logisches Universum’ erschafft (Mead 1973, 198), welches eine
lückenlos funktionierende symbolische Ordnung bereitstellte, der ein nahtlos integriertes
Selbst (Self) entspräche (Cronk 1987, 52). Es existiert für Mead kein überzeitliches System
etwa der Kultur oder der Werte (Wenzel 1985, 50). Diese hochabstrakten Konzepte sollten in
Meads Texten eher als theoretische Leitbilder denn als deskriptive soziologische bzw.
sozialpsychologische Kategorien betrachtet werden.5
Sozialität ist vielmehr ein prekärer, stets auch vom Scheitern bedrohter Prozess. Soziale
Wirklichkeit als kommunikativ vermittelte Überschneidung der Realitäten verschiedener
Individuen erklärt sich allein auf dem Erfahrungsboden einer gemeinsamen Praxis: „Man
muss eine gewisse Zusammenarbeit, in die die einzelnen Mitglieder selbst aktiv eingeschaltet
sind, als die einzig mögliche Grundlage für diese Teilnahme an der Kommunikation
voraussetzen. Man kann mit den Marsmenschen keinen Dialog beginnen und keine
Gesellschaft errichten, wenn es keine vorausgehenden Beziehungen gibt“ (Mead 1973, 304,
Herv. v. mir). Sozialität verdankt sich einer ‚gemeinsamen Vergangenheit’ (und darüber
hinaus einem gemeinsamen Handlungsziel, welches den sozialen Prozess strukturiert). Die
Weltentwürfe der Individuen entsprechen vergangenen, lebensgeschichtlich gemachten
Erfahrungen in sozialen Zusammenhängen. Diese memory images oder pictures we form of
the past (Mead 1932, 29) sind von ihrer Körperlichkeit nicht zu trennen: „Imagery belongs to
5 Meads zahlreiche Hinweise darauf, dass seine universalistischen Modelle theorieleitende Idealvorstellungen sind, die faktisch vielfachen partikularistischen Strukturen (seien es gesellschaftliche Klassenbarrieren, internationale Sprachbarrieren oder auch einfach die vielfach thematisierte Bindung des Erwerbs sozialer Gehalte an den sozialen Nahraum) gegenüberstehen, werden gern überlesen. „Wenn wir die Menschen derart zusammenführen können, dass sie in das Leben der jeweils anderen eintreten können, werden sie zwangsläufig ein gemeinsames Objekt besitzen, das ihr gemeinsames Verhalten kontrolliert. Diese Aufgabe jedoch ist gewaltig genug, denn sie erfordert nicht allein des Abbau passiver Barrieren, wie räumlicher, zeitlicher und sprachlicher Distanzen, sondern gerade den Abbau der verfestigten überkommenen und statusabhängigen Einstellungen, in welche unsere Identität eingebettet ist. Jede Identität ist eine soziale Identität, doch als solche ist sie auf die Gruppe beschränkt, deren Rollen sie übernimmt, und sie wird sich niemals selbst aufgeben, bis sie in eine umfassendere Gesellschaft eintritt und sich in dieser erhält“ (Mead 1987a, 328). Es sei daher ein Erziehungsziel, dem Kind das ‚Provinzielle auszutreiben’ und das übrig zu lassen, „was für alle Menschen und zu allen Zeiten gilt“ (Mead 1987a, 296).
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the perspective of the individual. He alone has access to it, and, finally, it is always stuff that
has appeared in earlier perception. It constitutes a most important part of the environment of
the human individual. It is however generally so merged with the objects and attitudes with
which it functions, and, especially in speech, with incipient muscular reactions, that it is
difficult to define and isolate it in our actual experience. It functions largely in the building
out of the past and the future“ (Mead 1932, 75). Zwar sind die Bedeutungsgehalte, wie sie im
beschriebenen play angeeignet werden, sozialer Natur, doch markiert die spezifische
Leiblichkeit der Erfahrungen – ihr nicht-kognitiver Anteil – die Grenze ihrer
Universalisierbarkeit. Das viel beforschte und – aufgrund seiner außerordentlich hohen
Relevanz für soziale Prozesse – erziehungswissenschaftlich sehr bedeutsame Thema sozialer
Perspektivenübernahme (vgl. Geulen (Hg.) 1982) muss um die Einsicht der strukturellen
Grenzen von Prozessen der Perspektivenübernahme bereichert werden; es ist ein Irrtum, das
Scheitern von Perspektivenübernahmen – das Misslingen von Sozialität also – lediglich als
defizitäres Stadium eines epigenetischen moralischen Entwicklungsablaufs (Kohlberg 1996)
zu betrachten. Gerade in nachtraditionalen, ‚postmodernen’ Gesellschaften ist es vielmehr von
größter pädagogischer Relevanz, das Problem der Alterität (Todorov 1985; Wimmer 1988;
Bialas 1998; Hess/Wulf (Hg.) 1999) angemessen zu behandeln.
Gelingen und Misslingen von Sozialität stehen in engem Zusammenhang. Weil die
Möglichkeit des Misslingens tendenziell das Überleben der Gemeinschaft – und auch ihrer
Mitglieder – gefährdet, tritt ihr Gelingen besonders hervor; es wird immer auch zur
Demonstration oder Aufführung des Gelingens. Dieser Aspekt ist in der Struktur des
temporalen Modells der Sozialität implizit enthalten:
In der Gegenwart der Reflexionsphase – also im Fall einer Unterbrechung sozialer
Interaktionsverläufe, eines emergenten gemeinsamen Handlungsproblems – werden die
leiblich-kulturellen Erfahrungen herangezogen, um einen Entwurf der Zukunft zu erzeugen
(Mead 1969, 156), der zum Leitbild der Handlungsorganisation wird. Sozialität ist also der
Prozess einer gemeinsamen Gegenwart, in welchem aufgrund kulturell geteilter Werte ein
gemeinsames zukünftiges Handlungsziel entworfen wird, und in welchem umgekehrt von
einer Gegenwart aus der gemeinsame Handlungsentwurf die vergangenen Erfahrungen
rekonstruiert. Damit bezeichnet Sozialität die Fähigkeit von Gemeinschaften und
Gesellschaften, sich angesichts von (größeren oder kleineren) Handlungskrisen (emergenten
Ereignissen) in einer zeitlichen Dimension selbst zu reorganisieren bzw. zu restrukturieren
und so als Gemeinschaft bzw. Gesellschaft erhalten zu bleiben.
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Der Erfolg dieser Reorganisation erweist sich allein im tatsächlichen sozialen Handeln
(und nicht schon im Entwurf; Mead 1987b, 224). Das Gelingen rechtfertigt rückwirkend die
Rekonstruktion als gültige: die (nach der Lösung des Problems) nunmehr vergangene
Gegenwart war wirklich im Sinne der ‚praktischen Realität’, weil ihr Zukunftsentwurf sich als
zutreffend erwies. Dies bedeutet zugleich, dass die in dieser vergangenen Gegenwart
mobilisierten Handlungsmittel – seien es traditionelle oder auch neue Methoden – sich als
ebenso praktisch-real erweisen. Von der sozialen Gegenwart aus wird auf diese Weise eine
gemeinsame (verbindliche Interpretation der) Vergangenheit als wirklich dargestellt, wodurch
auch – und gerade – eine Neudefinition der Vergangenheit, z. B. das ‚Erfinden von
Traditionen’ (Hobsbawm 1998) möglich wird. Diese sozial konstruierte gemeinsame Basis
ermöglicht wiederum erst den Entwurf gemeinsamer Zukünfte und von hier aus strukturierte
soziale Gegenwarten.
Eine gelingende soziale Handlung ist daher unweigerlich immer auch Demonstration der
Reproduktionsfähigkeit einer Gemeinschaft bzw. Gesellschaft: von einem emergenten
Ereignis zum anderen erweist sich aufs neue die Fähigkeit des Sozialverbands, Sozialität
herzustellen, eine gemeinsame Welt entstehen zu lassen: „In der Perspektive einer
Unternehmung oder einer Familie zu handeln bedeutet, durch eben dieses Handeln die
Identität der Unternehmung oder der Familie zu bekräftigen“ (Lüscher 1990, 262). Die
„höchste Vollendung des gesellschaftlichen Prozesses“ (Mead 1973, 322) liegt deshalb nicht
in kooperativen Zweckhandlungen, sondern in solchen (altruistischen) sozialen Handlungen,
die allein um der Sozialität willen stattfinden: „Man hat vielleicht nicht viel zu geben, doch
will man sich ganz geben“ (ebd.); in der unbedingten Gabe wird das Tauschverhältnis
transzendiert und die reine Sozialität tritt als Selbstzweck hervor (vgl. den Beitrag zu Derrida
in diesem Band): Sozialität selbst wird sichtbar und konkret erfahrbar.
In diesem Sinne ist die Konstitution sozialer Realität – als gelingendem gemeinsamen
Handeln – immer auch performativ, und zwar im doppelten Sinne des ‚Aufführens’ (denn das
Funktionieren des sozialen Zusammenhangs als solches gelangt zur Aufführung, ähnlich wie
schon bei der vorsymbolischen Gestenkonversation) wie auch der ‚Durchformung’ von
Wirklichkeit – der formgebenden Strukturierung sozialer Zeiten, Räume und Situationen im
Rahmen einer intersubjektiv geteilten Gegenwart, die, wo sie gelingt, immer auch neue
Horizonte eröffnet: „This present is the scene of that emergence which gives always new
heavens and a new earth“ (Mead 1932, 90).
13
III. Resümee
Wenn auch das Potenzial rationaler symbolvermittelter Kommunikation auf keinen Fall
unterschätzt werden darf, so ist sie doch hinsichtlich der Konstitution von Sozialität bei
weitem nicht das allein wirksame Moment. Sozialität, das zeigte ein genauerer Blick in
Meads Schriften, muss stets hergestellt werden, sowohl in synchroner Hinsicht als auch in
diachroner, im Übergang (passage, Mead 1932, 51) von einer Gegenwart zur nächsten.
Gelingende soziale Kooperation und Kommunikation ist das letzte (hinreichende) Kriterium
gesellschaftlicher Wirklichkeit; ihre Voraussetzungen bilden alle mit Sprache und
Spracherwerb zusammenhängenden Bereiche. Von frühkindlichen sozial-mimetischen
Prozessen mit ihren starken emotionalen und somatischen Implikationen über individuelle,
immer auch kontingente Erinnerungsbilder und den jeweiligen im sozialen Nahraum
erworbenen Habitus (habits), die sich zu „statusabhängigen Einstellungen, in welche unsere
Identität eingebettet ist“ (Mead 1987a, 328), verfestigen, bis hin zu den umgrenzten
Perspektiven der eigenen Kultur, welche die Sprache (erst recht, was und wie gesprochen
wird) prägen, stehen der Sozialität zugleich ermöglichende und begrenzende Mittel zur
Verfügung.
Sozialität ist immer gefährdet, weil sie stets hergestellt und erneuert werden muss; diese
‚Re-Präsentation’ (in Sinne einer ‚Wieder-Herstellung’ sozialer Gegenwart) hat performativen
Charakter. Meads tendenzielle Beschränkung auf pragmatisch-rationale Zusammenhänge
sollte durch die sozial-ästhetischen Dimensionen weltschaffender Performativität ergänzt
werden, wenn sich ein unverzerrter Blick auf pädagogische Handlungs- und Forschungsfelder
eröffnen soll. Dafür seien einige Beispiele genannt:
Aufführungen von Ritualen: Klassischerweise spielen Rituale eine wichtige Rolle in
sozialen Zusammenhängen (vgl. den Beitrag zu Turner in diesem Band). Sozialität kann
dadurch hergestellt werden, dass eine kollektive Vergangenheit als wirkmächtige Tradition in
der sozialen Gegenwart jeweils reaktualisiert wird. Ritualisierte Wieder-Aufführungen
rekurrieren auf eine (kollektive) Vergangenheit und bringen diese den Einzelnen vermittelt
über emotional besetzte „symbolisch kodierte Körperprozesse“ (Wulf 1996, 168) ins
Gedächtnis. Insofern Vergangenheiten je ihre konstruierte Realität von einer Gegenwart aus
erhalten, erzeugen Rituale jeweils ihre eigene Vergangenheit; diese Konstruktion erhält
gerade durch die regelmäßige Wiederholung der Rituale Realitätscharakter. Andererseits
erlaubt die eingeübte, ‚synchronisierte’ Teilnahme aller am Ritual eine besonders
beispielhafte Herstellung sozialer Gegenwart. Gerade weil ihr ästhetischer ‚Überschuss’ kein
14
eigenes ‚Handlungsziel’ hat,6 inszenieren Rituale die gesellschaftliche Kooperation in
besonders reiner Form; in diesem Sinne handelt es sich nahezu um eine ‚Performance’ von
Sozialität.
Angesichts der gegenwärtigen Enttraditionalisierungen (Beck 1986) und sozialen
Desintegrationstendenzen (Honneth 1994) kann man auf der Basis der Meadschen Theorie
feststellen, dass sowohl in Richtung der Vergangenheit (kollektiv geprägte Gewohnheiten) als
auch der Zukunft (gemeinsame Handlungsziele) kulturelle Erosionen zu konstatieren sind,
welche der Herstellung gesellschaftlicher Wirklichkeit, jedenfalls der Tendenz nach, den
Boden entziehen müssten. In Anbetracht der Geschwindigkeit, mit der die Umbrüche der
Globalisierung und Technisierung die tradierten Strukturen auflösen, ist es daher geradezu
verwunderlich, dass die sozialen Desintegrationserscheinungen nicht deutlicher zutage treten.
Auf welcher Grundlage, so können wir mit den von Mead bereitgestellten Begriffen fragen,
wird angesichts dieser Entwicklungen soziale Realität hergestellt? Was ermöglicht in einer
enttraditionalisierten und von sozialen Handlungszielen weitgehend entbundenen (diese
werden zunehmend in die gesellschaftlichen Subsysteme ausgelagert) Welt noch gemeinsame
Perspektiven? Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien zwei Momente herausgegriffen.
Inszenierung von Traditionen: In der forcierten Inszenierung traditionaler Gehalte, einem
(mehr oder weniger künstlichen) Rekurs auf lokale bzw. partikulare Kulturen und
Traditionen, liegt der Versuch (ganz im Sinne der Meadschen Theorie) eine gemeinsame
Vergangenheit zu (re-)konstruieren, die das Gefühl von Sozialität als Aufgehobensein in einer
Gemeinschaft bewirkt. Die so installierten sozialen Orientierungen können objektiv
sinnschaffend wirken, obwohl die kulturellen Grundlagen nicht mehr wirklich existieren.
Besonders in kulturellen und sozialen Umbruchsituationen werden die Traditionen eigens
zum Zweck ihrer Inszenierung erfunden. Erfundene Traditionen bestehen aus „Praktiken
ritueller oder symbolischer Natur“ (Hobsbawm 1998, 98), die nach Möglichkeit „eine
Kontinuität mit einer brauchbaren geschichtlichen Vergangenheit herzustellen“ versuchen
(ebd.). „Es handelt sich also um eine Antwort auf neue Situationen, die [...] sich mittels einer
quasi obligatorischen Wiederholung ihre eigene Vergangenheit schaffen. Es ist der Gegensatz
zwischen der sich ständig wandelnden und erneuernden modernen Welt und dem Versuch,
6 Rituale können in Arbeits- und Kooperationszusammenhänge eingebettet sein. Ihr ästhetisches Moment dient jedoch nicht unmittelbar dem Handlungsziel. Ein Arbeitsablauf z. B., der aus technischen Gründen immer in der gleichen Reihenfolge ausgeführt werden muss, eignet sich in dieser Eigenschaft nicht gut zur Ritualisierung, weil ein evtl. in der Reihenfolge der Handlungsbeiträge liegendes ästhetisches Moment als solches nicht erkennbar wäre.
15
wenigstens einige Teile ihres gesellschaftlichen Lebens als unwandelbar und unveränderlich
zu gestalten [...]“ (ebd.).
Performative ‚Ver-Wirklichung’ der Medienrealität: Die mediale Durchdringung aller
Lebensbereiche bewirkt, dass quer zu den sozialen Schichten ähnliche Bilder die
Lebensräume anfüllen. Sowohl die transportierten Inhalte (Themen) als auch die
übermittelten Formen (Stile, Moden, Gesten etc.) und die Rituale des gemeinschaftlichen
Mediengebrauchs stellen ein Angebot dar, eine zunehmend auf sich selbst gestellte, nicht
mehr auf traditionellen Werten begründbare Sozialität aufrechtzuerhalten. Die medialen
Codes haben die Eigenschaft, ihre realen Bezugspunkte (falls sie solche überhaupt noch in
Anspruch nehmen) im Rahmen der technischen Möglichkeiten sowie der etablierten medialen
Darstellungsformen derart zu transformieren, dass sie eher ein Abbild der technischen Mittel
als der zugrundeliegenden Ereignisse sind. Die performativ-mimetischen Prozesse der
Gemeinschaftsbildung basieren somit zunehmend auf virtuellen Bildern: „Sicher ist [...], dass
das Fernsehen gerade durch seine beiläufige Rezipierbarkeit zum Universalhilfsmittel für die
Alltagsorganisation und Beziehungsgestaltung in der modernen Familie taugt. [...] Es hält
stets einen kleinsten gemeinsamen Nenner bereit für die wechselseitige Orientierung
aneinander und an überschaubaren Inszenierungen von ‚Wirklichkeit’“ (Hurrelmann 1999,
112). Lebendige soziale Mimesis transformiert sich auf diese Weise in eine Mimesis an das
(tote) Medienbild (Gebauer/Wulf 1992, 436); umgekehrt hat das Bild Teil an lebendiger
Realität, wie Welsch (1995, 269) schreibt: „Mediale Eigentümlichkeiten werden [...] auch
außerhalb der Medien zu Realbeständen der Wirklichkeit. Nicht nur die mediale Präsentation
von Wirklichkeit, sondern die extra-mediale Wirklichkeit selbst ist fortan von medialen
Determinanten durchzogen.“ In dem Maße, in welchem die medialen Inhalte zur primären
Quelle von Gemeinsamkeiten werden (indem sie zunehmend das Alltagsverhalten prägen, vgl.
Meyrowitz 1987), wird Sozialität aufrechterhalten – insofern Sozialität eine sozial
konstruierte Gegenwart ist, welche ihrerseits Vergangenheiten und Zukünfte konstruiert und
sich zwischen diesen konstituiert, ist es letztlich relativ unerheblich, woher die Gehalte
kommen, welche Mead ursächlich dem sozialen Kooperationszusammenhang und der
Fähigkeit zur Perspektivenübernahme zuschrieb (solange sie nicht den habits der Individuen
widersprechen).
In diesem Fall würde Sozialität durch performative Effekte erzeugt, die nicht auf einen
sozialen, zielorientierten Kooperationszusammenhang aufsetzen, sondern nach dessen
tendenzieller Abschaffung (Auslagerung in gesellschaftliche Institutionen und Teilsysteme)
die entstandene Lücke ausfüllen. Insofern aber in dieser Weise weitgehend funktionierende
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Sozialitäten hergestellt werden, der soziale Austausch also wirklich stattfindet und objektiven
Sinn erzeugt (auch wenn seine Mittel ursprünglich keiner sozialen Realität, sondern medialer
Virtualität entstammen), dürfte der Unterschied, die Virtualisierung des Konstitutionsmodus
von Sozialität, den beteiligten Individuen weitestgehend verborgen bleiben: die
Derealisierungseffekte technischer Medien – Entwirklichung durch die Auflösung des
leiblichen Hier einerseits, Homogenisierung der Wirklichkeit durch Einebnung des Hier
andererseits (Waldenfels 1998, 230) – werden von der Performanz der Sozialitätskonstitution
überblendet.
Es zeigt sich übrigens an den angeführten Beispielen, dass Meads Gedanke der Sozialität
weitestgehend offen gegenüber historischen Transformationen ist. Es ist offenbar in der Lage,
der kulturellen und historischen Vielfalt an Performativitätsstilen, d. h. der Historizität
menschlicher Gemeinschaftlichkeit, Rechnung zu tragen.
IV. Ausblick
Erziehung, Bildung, Sozialisation, Humanontogenese
Der performative Aspekt sozialen Handelns ist ein zentrales Moment der Erzeugung und
Aufrechterhaltung von Sozialität. Die Sicherung des Erhalts und der Reproduktionsfähigkeit
prinzipiell offener Gesellschaften ist, ob in der Herstellung bürgerlicher Sozialität durch
humanistische Bildung, der Sicherung staatsbürgerlicher Sozialität durch Erzeugung
reflexiver Kommunikationskompetenzen oder anderweitig, eines der (mal mehr, mal weniger
impliziten) Anliegen von Pädagogik und Erziehungswissenschaft, begriffen als Instanz
sowohl gesellschaftlicher Reflexion als auch Praxis.
Die Umbrüche der neuesten Zeit lassen die Modi sozialer Welterzeugung nicht unberührt.
Es stellt sich die Frage nach Bedingungen, Struktur und Auswirkungen dieses
Transformationsprozesses und damit auch die Frage nach den Bedingungen der performativen
Erzeugung von Sozialität im kulturellen Kontext überhaupt. Wenn die Veränderungen im
Zusammenleben notwendigerweise auf veränderten Performativitätsstilen gründen, verlangen
diese eine Überprüfung unserer Vorstellungen von Bildung, Erziehung und Sozialisation,
welche auch Bildungsinstitutionen, Bildungsmedien und Bildungsziele konstruktiv-kritisch
hinterfragen muss (die Erziehungswissenschaft nimmt diese Frage durchaus ernst, vgl. etwa:
Hansmann/Marotzki (Hg.) 1988 & 1989; Lenzen (Hg.) 1990; Schuhmacher-Chilla 1995;
Mollenhauer/Wulf (Hg.) 1996; Wulf (Hg.) 1998; Koch 1999; Veith 2000;
Marotzki/Sandbothe (Hg.) 2000).
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Erziehung als ‚praktische Intersubjektivität’ muss als symmetrischer Prozess der
gemeinsamen Konstitution von Bedeutung und Realität betrachtet werden, welcher die
pädagogische Asymmetrie von Lehrenden und Educandi durchkreuzt (Biesta 1994). Der
performative Charakter sozialer Realitätserzeugung eröffnet eine zweite Ebene jenseits des
unvermeidlichen Macht- und Erfahrungsgefälles in pädagogischen Kontexten, in welchem der
radikaldemokratische Charakter des Sozialitätsgedankens darin zum Ausdruck kommt, dass
notwendigerweise alle Mitglieder des Sozialverbands gleichermaßen aktiv am Versuch der
Herstellung sozialer Wirklichkeit beteiligt sind. Bezogen auf die Schule bedeutet dies, dass
die partikularen Weltentwürfe aller Beteiligten sich in sozial-performativen Prozessen
vermitteln müssen. Darin besteht sowohl die Chance der virtuellen Überwindung von
Habitusgrenzen und ‚beschränkten Identitäten’ (Mead 1987a, 328) – eine Erfahrung
gelingender Sozialität, welche ein genuines pädagogisches Ziel darstellt – wie auch die
Gefahr des Scheiterns an der Dominanz gesellschaftlicher und kultureller Differenzen.
Angesichts der zumindest in urbanen Milieus teilweise erheblichen sozialen und kulturellen
Spannungen sollte die Frage nach den Bedingungen performativer Sozialität in pädagogischen
Kontexten eine Aufwertung erfahren.7 Dies betrifft nicht nur die Schule als Institution,
sondern das Verständnis von Sozialisationsvorgängen überhaupt.
Praktische Subjektivität in pädagogischer Hinsicht ist ein „process of acculturation“
(Biesta 1994, 310), der in mehrfacher Hinsicht vom Beitrag des sich sozialisierenden
Individuums abhängig ist: a) Es ist erziehungswissenschaftlicher Konsens, dass das
Individuum als Teilnehmer am sozialen Zusammenhang wesentlichen Anteil an der
Gestaltung seiner Umwelt hat. Dies ist nicht nur auf der bewussten Handlungsebene (Geulen
1977) der Fall, sondern b) ebenfalls auf der sozial aisthetischen und ästhetischen Ebene (vgl.
den Beitrag von Chr. Wulf in diesem Band), was zumal c) unter der Perspektive performativer
Sozialität gilt, an der sowohl reflexive wie auch mimetische Prozesse beteiligt sind. In der
Teilnahme an performativen sozialen Prozessen erschließt sich dem Individuum die soziale
Welt als eine Welt der Möglichkeiten (Mead 1987b, 223), von der aus es sich selbst in seiner
existenziellen Offenheit erfahren kann (Farbermann 1992, 50). Sozialisation, Erziehung,
Bildung, ‚Humanontogenese’ (Lenzen/Luhmann (Hg.) 1997) sind in diesem Sinne Prozesse
der performativen reflexiven Enkulturation. In dieser Konstellation ermöglicht es der Begriff
7 Unterschätzen die pädagogischen Institutionen ihre Aufgabe, Bildung im Sinne einer (nicht nur kognitiv-moralischen, sondern auch performativ-mimetischen) Befähigung zur Sozialität zu vermitteln, so riskieren sie, v. a. unter heterogenen kulturellen Bedingungen, ihre Effizienz als Ausbildungsinstitutionen: denn die sich im Medium Sprache vollziehende intentionale Vermittlung im schulischen Rahmen kann „nicht gegen dominante Strukturen im Erziehungsfeld durchgesetzt werden. Wenn es also zu Widersprüchen zwischen
18
des Performativen, wie A. Tervooren in diesem Band treffend hervorhebt,
lebensgeschichtliche und soziale Dimensionen mit der „Ebene ihrer konkreten
Hervorbringung in Interaktionen“ zu verknüpfen.
Methodologie erziehungswissenschaftlicher Forschung
In methodologischer Hinsicht (bezgl. etwa der Sozialisations-, Schul-,
Biographieforschung) ist es erwähnenswert, dass Meads Philosophie der Sozialität, wie
unlängst Wagner (1999) dargelegt hat, forschungspraktisch verwertbare Implikationen
bereithält, die sich durchaus auch im Kontext moderner Methodologien (Grounded Theory,
Objektive Hermeneutik, Dokumentarische Methode) als fruchtbar erweisen. Im Sinne der hier
vorgestellten Rekonstruktion des Performativen bei Mead möchte ich Wagners
methodologische Überlegungen, ohne sie an dieser Stelle würdigen zu können, um eine
kritische Anregung ergänzen. Die „Rekonstruktive Methodologie“ zielt vor allem auf die
Bergung objektiver (latenter) Sinnstrukturen sozialer Akte und orientiert sich hierzu u.a. an
Chomskys Begriff der ‚generativen Regel’ (Wagner 1999, 90). Damit läuft sie Gefahr, den
Aspekt der ‚Kompetenz’ gegenüber der ‚Performanz’ (um in Chomskys Begrifflichkeit zu
bleiben) so weit zu bevorzugen, dass die nicht leicht fassbaren performativ-ästhetischen
Momente rekonstruktiv eliminiert werden. Es reicht zur Vermeidung einer unbeabsichtigten
rationalistischen Verzerrung des Forschungsergebnisses nicht aus, lediglich darauf
hinzuweisen, dass aufgrund der „Dialektik von Emergenz du Determination“ der
„Rekonstruktions- bzw. Erkenntnisprozess [...] nie endgültig abgeschlossen“ (ebd. 22) ist
(denn aus forschungspraktischen Gründen werden Untersuchungen zwangsläufig
abgeschlossen). Vielmehr fordert das von Mead emphatisch betonte instantane Moment der
Gegenwärtigkeit die systematische Rekonstruktion auch der performativen, sozial-
ästhetischen Aspekte zwischenmenschlicher Interaktionen.
intentionaler Vermittlung und strukturell gegenläufig bestimmter Aneignung kommt, wird zweitere sich tendenziell durchsetzen“ (Liebau 1995, 135).
19
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