1911 entstand in Paris die Plastik der Knienden von Wilhelm Lehmbruck. Die Zeitgenossen
erkannten bereits in der Ausstellung des Salon d’Automne im gleichen Jahr in ihr sein revo-
lutionäres Hauptwerk. Aus Anlass ihres 100. Geburtstags widmet das LehmbruckMuseum in
Duisburg der Knienden im Herbst 2011 eine große Ausstellung mit besonderem Blick auf
den künstlerischen und kulturellen Kontext ihrer Entstehungszeit.
Woher kommt die Haltung der Knienden? Diese zentrale Frage verfolgen Ausstellung und
Katalog über die zeitgleich in den Pariser Salons und Galerien ausgestellten Gemälde und
Skulpturen der künstlerischen Avantgarde sowie das kulturelle Pariser Umfeld der 1910er
Jahre mit all seinen Innovationen auch im Bereich des Tanzes und der Musik.
100
Jahre
Knien
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191
1
Lehmbruck in Paris 1911
100 JahreKniendemit Matisse, Brancusi, Debussy, Archipenko, Rodin, Nijinsky …
Umschlagvorderseite:
Die Kniende im Pariser Atelier, 1911
Umschlagrückseite:
Bernd JansenLehmbrucks Kniende / Ballerina Greetje Groenendyk, aus der Serie:„An der Knienden kommt keiner vorbei“, 1975
Raimund Stecker
Die Kniende – sie kniet sich vor uns nieder
Die Kniende und motivverwandte WerkeMarion Bornscheuer
Lehmbrucks Kniende, Paris 1911
Die Kniende im Kontext von Lehmbrucks Ausstellungsbeteiligungen in Paris 1910–1914Susanne Kudielka
In Harmonie mit dem Betrachter.
Zur Funktion der Rückenansicht bei Wilhelm Lehmbruck
und Henri Matisse
Die Kniende im kulturellen Pariser Kontext 1910–1914 Denise Wendel-Poray
Das Geheimnis des Fauns
Hans Portsteffen
Wilhelm Lehmbrucks Kniende –
eine Röntgenuntersuchung
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14–109
110–151
112
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206
214
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Inhalt
Anhang
Anmerkungen
Literatur
Vergleichsabbildungen
Verzeichnis der ausgestellten Werke
6
Die Kniende – sie kniet sich vor uns niederEin Kunstwerk, eine Plastik, zugegeben ein Jahrhundertkunstwerk und eine außerordentliche, in der
Geschichte der Kunst so erstmalig geschaffene und seither in Ausdruck, Vollendung und ästhetischer
Präsenz unerreicht gebliebene Plastik hat einen „runden“ Geburtstag: Die Kniende von Wilhelm
Lehmbruck wird 100!
Für das LehmbruckMuseum in Duisburg – der Geburtsstadt Wilhelm Lehmbrucks –, das
nunmehr aufgrund der weltweit einzigartigen Architektur des Bildhauersohnes, Manfred Lehmbruck,
für seinen hoch verehrten Vater auf den Vornamen des Künstlers zugunsten des gemeinsamen
Familiennamens verzichtet und sich „nur“ noch LehmbruckMuseum nennt, ist dieser Geburtstag
der gegebene Anlass, eine Ausstellung auszurichten, die in der Geschichte des Hauses einen weiteren
Meilenstein markieren möchte. Die Kniende will zurück gebracht werden in ihre Zeit, an ihren
Ort und in ihr historisches und künstlerisches Umfeld – ins Jahr 1911, nach Paris, in Wilhelm
Lehmbrucks Zeit zwischen künstlerischer Orientierungssuche, genialen Schöpfungsmomenten und
seinen ersten internationalen Erfolgen. Und so will sie, die Kniende (und natürlich synonym auch ihr
Schöpfer), in den zeitgeistigen Kontext treten von Stéphane Mallarmé und Marcel Proust, von Julius
Meier-Graefe, Henri van de Velde und Karl Ernst Osthaus, von Zola-Verehrung, Claude Debussys
Musik und den Nachwehen der Dreyfus-Affäre, von Coco Chanel – sie hatte gerade in Paris ihr erstes
Geschäft eröffnet – und so mithin in ein für die Bourgeoisie neu aufkommendes emanzipatorisches
Gesellschaftsbewusstsein. Die Kniende wird sich behaupten gegen eine bis heute noch herrschende
Rodin-Omnipräsenz und wird die Nähe des Café du Dôme nicht zu leugnen vermögen, des unweit
von Lehmbrucks Atelier zu Künstlerehren gekommenen Treffpunktes einer bestimmten Bohème
mit permanent drohender Künstlerarmut – so Henri Matisse und die Mitglieder seiner Akademie
wie Hans Purrmann, Rudolf Levy, Margarete und Oskar Moll. Sie wird die Einflüsse offenbaren, die
die Zirkel mit Aristide Maillol, Amedeo Modigliani, Pablo Picasso, Georges Braque, Maurice Denis,
mit Alexander Archipenko, Constantin Brancusi und vielen mehr mit sich brachten und den Odem
atmen lassen, den die Tänzerin Isadora Duncan, das Modell Antoine Bourdelles für die Reliefs des
Théâtre des Champs-Élysées, und Sergei Diaghilew mit seinen Balletts Russes und dem Tänzer und
Choreografen Vaslav Nijinsky erwirkten, die zwischen Furore und Skandal oszillierten. (Zu all dem
mehr Details in den Katalogbeiträgen.)
Doch nicht nur das. Die Kniende, die Plastik, stellt sich auch ihrer autonomen Bedeutung –
und so erweist sie sich schon nach dem ersten Blick nur bedingt als Abbild einer knienden, zugegeben
auch nach heutigen Schönheitskriterien noch höchst attraktiven Frau. Marion Bornscheuer, die
Raimund Stecker
Wilhelm lehmBrucKKniende, 1911 / 47
Woher kommt das Haltungsmotiv der Knienden? Der erste Ausstellungsteil
fokussiert die Motivgenese der Knienden und präsentiert neben Werken von
Wilhelm Lehmbruck, die in gestalterischem Zusammenhang mit der Knienden
stehen, auch motivverwandte Werke von Künstlerkollegen, mit denen Lehmbruck
in engem Kontakt gestanden hat.
Die Kniende und motivverwandte Werke
16
Lehmbrucks Kniende, Paris 1911Marion Bornscheuer
„… in der Mitte des Ateliers stand eine überlebensgroße halb kniende Frauengestalt, die nicht aufhörte.“
Mit den zitierten Worten beschrieb der Kunsthistoriker Julius Meier-Graefe rückblickend seinen ersten
Eindruck von der Knienden, die Lehmbruck 1911 im Pariser Salon d’Automne gezeigt hat.1 Im Vorjahr
war Lehmbruck mit seiner Frau Anita und seinem im März 1909 geborenen ersten Sohn Gustav
Wilhelm in die Kulturmetropole umgezogen. Die Entscheidung zum Landes- und Wohnortwechsel
ist offensichtlich nicht nur künstlerisch, sondern auch ökonomisch motiviert gewesen, denn
in Düsseldorf standen Lehmbruck weder besondere künstlerische Entwicklungsmöglichkeiten
noch potente Förderer in Aussicht.2 In Paris hingegen hatte sich – angelockt von international
renommierten Meistern wie Auguste Rodin oder Henri Matisse – die künstlerische Avantgarde Europas
versammelt. Bereits ab 1906 hatte Lehmbruck mit Unterstützung durch den späteren Kunsthändler
Alfred Flechtheim Kontakt zu diesen Kreisen gesucht.3 Eine wichtige Rolle könnte in diesem Kontext
auch der Bildhauer Bernhard Hoetger gespielt haben, der neben Lehmbruck der bedeutendste
Meisterschüler von Carl Janssen an der Düsseldorfer Akademie war und seinen Wohnsitz schon 1900
nach Paris verlegt hatte.4 Hoetger hatte als Sozietär des Salon d’Automne5 wichtige Kontakte und
könnte Lehmbruck bei deren Vermittlung – möglicherweise auch im Hinblick auf die Ausstellung der
Knienden im Salon 1911 – hilfreich gewesen sein. Er war außerdem mit Meier-Graefe bekannt, der
von ihm – wie später von Lehmbruck – Arbeiten kaufen sollte, sowie mit französischen Bildhauern wie
Aristide Maillol und Auguste Rodin, bei dem er bis 1904 sogar gelegentlich gearbeitet hatte.6 Belege für
eine Förderung Lehmbrucks durch Hoetger gibt es allerdings nicht. 1910 hat Lehmbruck schließlich
trotz mangelnder Sprachkenntnisse den Umzug nach Paris gewagt,7 den der Düsseldorfer Sammler
28
Die Armory Show (im Zentrum Lehmbrucks Kniende, rechts die Große Stehende), New York 1913
den gewaltigen Gliederbau, gibt der emporschwebenden Hand hauchhaft umhüllende Gebärde.
Eine Gebärde antiken Adels und süßester Christus-Verehrung. So könnte man sich den Engel der
Verkündigung vorstellen.“97
Waren Lehmbrucks Plastiken wie die Kniende dem deutschen Publikum 1914 aufgrund ihrer
lang gestreckten Glieder also zu modern, so waren sie der französischen Öffentlichkeit aus denselben
Gründen zu diesem Zeitpunkt bereits zu altmodisch. Möglicherweise dürfte auch dies – neben den
teuren Lebenshaltungskosten in Paris und dem Beginn des Ersten Weltkriegs – zu Lehmbrucks
Entscheidung beigetragen haben, 1914 nach Berlin umzuziehen.
In der Folgezeit hat Lehmbruck die Kniende nicht mehr in Frankreich ausgestellt. Bis zu
seinem Freitod am 25. März 1919 sollte die Steingussversion dieser Plastik aber auf wichtigen
Ausstellungen in Deutschland und in der Schweiz, in die Lehmbruck 1917 übergesiedelt ist, zu
sehen sein. Nach Gruppenausstellungen in München (2. Ausstellung der Neuen Secession, 1916),98
Mannheim (Kunsthalle, 12. November bis 6. Dezember 1916)99 und Frankfurt am Main (Kunstsalon
constantin BrancusiDer Kuss, 1907
Der zweite Teil erweitert den Blick auf den zeitgenössischen Pariser Ausstellungs-kontext, in dem Lehmbruck seine Kniende präsentiert hat. Gezeigt werden Werke von Künstlern aus Lehmbrucks Pariser Bekanntenkreis, mit denen er zwischen 1910 und 1914 – dem Zeitraum seines Paris-Aufenthaltes – gemeinsam im Salon d’Automne und im Salon des Artistes Indépendants ausgestellt hat.
Die Kniende im Kontext von Lehmbrucks Ausstellungsbeteiligungen in Paris 1910 – 1914
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In Harmonie mit dem Betrachter
Eine Reihe von Wilhelm Lehmbrucks Zeichnungen und Radierungen aus den Pariser Jahren zeigen
ein besonderes Interesse des Künstlers an der Darstellung der menschlichen Figur mit dem Rü-
cken zum Betrachter (Das einsame Weib, Abb. S. 112). Die Verankerung der Figur in der Fläche im
Verhältnis zur Größe des Papiers bei der überwiegenden Zahl der Blätter und die lose Beziehung
der grafischen Arbeiten zu seinen Plastiken, aber auch die Technik der Radierung sprechen gegen
die Vermutung, es handle sich jeweils um Entwürfe, in denen der Bildhauer die Ausführung der
Rückenansicht einer Plastik skizziert habe. Mit dem Motiv der sich vom Betrachter abwendenden
menschlichen Figur umkreist Lehmbruck ganz offensichtlich eine Idee, die ihn über die Frage der
Mehransichtigkeit einer Plastik hinaus beschäftigt hat. Die grafischen Blätter geben einen Einblick
in diese Auseinandersetzung und verweisen auf Lehmbrucks Suche nach bildnerischen Formen, de-
ren anschauliche Erfahrung seinen künstlerischen Vorstellungen Gestalt geben können. Rückenfi-
guren in der Kunst sind uns aus der Malerei vertraut, wo sie gleichsam ins Bild hinein schauen und
über ihre Haltung dem Betrachter die Erfahrung des eigenen Tuns vor dem Bild vermitteln, wie etwa
in Caspar David Friedrichs Frau am Fenster von 1822. Das Abwenden vom Betrachter suggeriert aber
Ah! la charmante choseQuitter un pays morose
Pour ParisParis joli
Qu‘un jourDut créer l‘Amour
Ah! la charmante choseQuitter un pays morose
Pour ParisGuillaume Apollinaire, Voyage à Paris
Susanne Kudielka
Zur Funktion der Rückenansicht bei Wilhelm Lehmbruck und Henri Matisse
l e h m b r u c k u n d m a t i s s e
116
erfogreich einige Werke an Sammler verkaufen können. So bot neben den erhofften Impulsen für
die künstlerische Arbeit eine Übersiedlung in die Metropole Paris Lehmbruck auch die Chance, neue
Sammler zu finden und zugleich auf seine Verbindung mit der Pariser Bildhaueravantgarde aufmerk-
sam zu machen. Lehmbruck suchte seine Identität als Künstler in der französischen Kunst zu finden,
indem er sein Atelier nach Paris verlegte. Bisher konnte er nur die wiederholte Beteiligung an den
Salonausstellungen in Paris als Referenz anführen.9
Die vielseitigen Anforderungen an ein Künstlerdasein
hatte er in den wenigen Jahren seit seinem Studien-
abschluss schon erfahren und die Bedingungen in der
Kunstmetropole Paris schienen dafür wie geschaffen.
Als er im Frühjahr 1910 in Paris ankommt, wählt er
als Adresse das Künstlerviertel Montparnasse am lin-
ken Ufer der Seine, das seit wenigen Jahren als neues
Zentrum des künstlerischen Lebens galt.
Die Pariser VerwandlungBereits im Jahr seiner Ankunft ist Lehmbruck erst-
mals im Salon d’Automne vertreten, auf dem auch die
in Paris heftig diskutierten Gemälde Der Tanz II und
Die Musik von Henri Matisse zu sehen sind. Lehm-
bruck zeigt neben dem Grabrelief Seele von 1908
(Abb. S. 105 links) und der Skulptur Mutter und Kind
von 1907 (Abb. S. 130) sowie einem Gemälde und ei-
ner Zeichnung die in den ersten Monaten in Paris ent-
standene Große Stehende (Abb. S. 135), die sogleich
Aufmerksamkeit erregt und in der Zeitschrift Kunst
und Künstler in Deutschland als einziges Werk der
Pariser Ausstellung nicht nur erwähnt und abgebildet
wird, sondern mit Blick auf den Künstler als Beweis für sein Talent dient: „Der Salon gibt erfreuli-
chen Anlass, ein deutsches Talent zu signalisieren: den Bildhauer Wilhelm Lehmbruck aus Duisburg,
[...] Seine lebensgroße Plastik eines halbnackten Mädchens [...] Diese merkwürdig reife und sichere
Arbeit hat Lehmbrucks Erfolg in Paris entschieden.“10 Die kurze Charakterisierung „merkwürdig rei-
Fotografie von Anita und Wilhelm Lehmbruck im Atelier in Düsseldorf, 1908
antoine BourDellePenelope, 1905–1909
Die Kniende im kulturellen Pariser Kontext 1910 – 1914
In erster Linie ist hier an die Erneuerung des Tanzes durch Isadora Duncan und Vaslav Nijinsky, den Startänzer der Balletts Russes, zu denken, die in den 1910er Jahren auch die Künstlerateliers frequentierten. Der Bildhauer Antoine Bourdelle verewigte die beiden im Reliefdekor des Théâtre des Champs-Élysées. Auch andere bildende Künstler standen mit der zeitgenössischen Tanzszene in engem Kontakt und so entwickelte sich der Tanz zeitgleich in der bildenden Kunst zu einem Hauptthema. Könnte daher nicht auch die graziöse Haltung der Knienden vom Tanz inspiriert sein?
155
Debussys Orchestersuite Prélude à l’après-midi d’un faune (Vorspiel zum Nachmittag eines Fauns)
von 1894 beginnt mit der einsam wogenden Linie einer Flöte, einem reinen unbeschwerten Atemzug,
der in den zeitlos offenen Raum eines Tritonus strömt.
Dem Lauf dieser Linie zu folgen ist wie einem fallenden Blatt zuzusehen; erst flirrt es dahin,
wirbelt auf dem C# im Raum, und gerade als man die
Hand ausstreckt, gleitet es außer Reichweite hinab, bevor
es plötzlich nach oben entflieht und sich auf dem hohen
Zweig des G# niederlässt, wo es eine Weile unsicher auf
der Tonart E-Dur balanciert.
Eine frei improvisierte Linie bildet auch die kleine
Zeichnung, die Wilhelm Lehmbruck 1912 skizzierte und
über die er mit einem abschließenden Strich „Nachmittag
eines Fauns“ kritzelte. 16 Jahre trennen die beiden Werke,
entscheidende Jahre für die Bewegung der Moderne, ein
„Zeit-Raum“ im aufblühenden 20. Jahrhundert, der sie
in einem verästelten Geflecht künstlerischer Kreuzwege
miteinander verknüpft.
Die musikalische Syntax des Fauns von Debussy
war anders als alles dagewesene und sollte tiefen Einfluss
auf die Komponisten des nachfolgenden Jahrhunderts
ausüben. Pierre Boulez bemerkte: „Die Flöte des
Fauns hauchte der Musikkunst neuen Atem ein; umgeworfen wurde dabei weniger die Kunst der
Sonatendurchführung als vielmehr das Konzept der Form selbst [...] der Jungbrunnen in dieser
Partitur trotzt jedem Versuch, ihn auszutrocknen oder auszuschöpfen.“1
Lehmbrucks Zeichnung stammt aus dem zweiten Jahr seines vierjährigen Aufenthalts in Paris.
Es ist ein spontanes Werk, von lockerer Hand hingeschlängelt – mit entschlossenen Pinselstrichen
Das Geheimnis des FaunsDenise Wendel-Poray
Wilhelm Lehmbruck Nachmittag eines Fauns (Original verschollen), 1912
D a s g e h e i m n i s d e s fa u n s
168
Der unwiderstehliche Ruch des Skandals
Das lange feingesponnene Flötensolo, das Debussys Faun eröffnet, klang in vielen Formen der
Moderne nach, so etwa in Lehmbrucks Kniender, in den gedehnten Proportionen von Modiglianis
Porträts, aber auch im Bereich von Design und Mode, zum Beispiel in den schlichten Arabesken von
Paul Iribes Mobiliar oder den in langen Linien fließenden Kleidern von Paul Poiret. Die russische
Ballerina und Schauspielerin Ida Rubinstein (Abb. S. 168) war die Verkörperung des neuen modernen
Frauenideals. Sie zählte zu den Stars in Diaghilews Ballets Russes und war, ohne eine herausragende
Ballerina zu sein, unter keine Kategorie zu fassen. Das Skandalimage, das ihr unmittelbar anhaftete,
bekam sie 1910 durch ihre Rolle als Scheherazade, einem von Michail Fokin zu einer Musik von
Rimsky-Korsakow choreografierten Ballett. Das Ballett wurde ob seines unverhohlen sinnlichen
Charakters zensiert, Rubinstein aber
über Nacht zur Sensation, da sie einen
kühnen neuen Stil einführte, der die
Mélisande und Prinzessin Maleines
von Maeterlinck, Maurice Denis
und Konsorten in einem Schwall
irrlichternden Sfumatos hinter sich
ließ. Rubinstein war das Inbild einer
neuen Generation gertenschlanker
androgyner Schönheiten und eines
Frauentyps, für den Paul Poiret
Kleider entwarf – aber auch einen
neuen Duft, Les Parfums de Rosine.
Unabhängig von Diaghilews
offizieller Spielzeit sorgte Rubinstein
für einen weiteren Aufschrei, als sie
den italienischen Dichter Gabriele
d’Annunzio und Claude Debussy
beauftragte, ein Stück für sie zu schreiben. D’Annunzios Martyrium des Heiligen Sebastian, in dem
sich christliche und heidnische Riten mischten, brachte alle nötigen Zutaten für einen neuerlichen
Pariser Skandal mit sich, zumal mit Rubinstein in der Hauptrolle. Nach der Urauffführung des
Heiligen Sebastian im Mai 1911 am Théâtre du Châtelet untersagte der Erzbischof von Paris
Katholiken den Besuch des Stücks mit der Begründung, dass es von einer Frau, ja schlimmer noch,
einer Jüdin gespielt wurde, und drohte bei Zuwiderhandlung mit Exkommunikation.
Valentin Serov Ida Rubinstein, 1910
204
Mithilfe der Röntgenuntersuchung können, wie aus dem Bereich
der Medizin hinlänglich bekannt, „unter der Haut“ verborgene
Strukturen sichtbar gemacht werden, wenn sie entweder durch
Dichte- und Materialunterschiede oder durch ihre Materialstärke
bei der Durchstrahlung der einwirkenden Röntgenstrahlung unter-
schiedlichen Widerstand entgegenstellen.
Die Untersuchung an Lehmbrucks Kniender1 beschränkte sich
auf einzelne ausgewählte relevante Bereiche der Plastik und ergab
zahlreiche Hinweise zur Herstellungstechnik und Ausführung, die
nur durch dieses Verfahren gewonnen werden können und so erstmals
einen Aufschluss über die zur Anwendung gekommene Gusstechnik
ermöglichen.
Es kann davon ausgegangen werden, dass die Figur als Hohlguss
in einzelnen Segmenten gegossen wurde. Die hohl gegossenen Teile
markieren sich in den Röntgenaufnahmen durch stark absorbierende
Wandungen (z. B. Becken, Kopfansicht, Abb. 1, 4) und entsprechend
geringer absorbierende Bereiche der Hohlräume. Die Wandungsstärke
schwankt zwischen wenigen Millimetern und einigen Zentimetern,
einige Bereiche wie die Hände und Unterarme sowie die Draperie und
der Sockel sind vollständig gefüllt.
Hohlguss ist die traditionelle Technik der Gipsformereien. Dazu
werden Segmentformen für die einzelnen Bereiche erstellt und diese
dann mit der flüssigen Gussmasse ausgegossen. Durch Schwenken
und Drehen der Form wird die flüssige Masse während des Abbindens
auf eine möglichst gleichmäßige Wandungsstärke gebracht. Die
erhärteten Einzelsegmente müssen dann ausgeformt und versäubert
werden, bevor es zur Montage der Einzelteile kommt.
Wilhelm Lehmbrucks Kniende – eine RöntgenuntersuchungHans Portsteffen
Abb. 1Becken, seitlich; axiale Metallstange
als zentrale Armierung.
Abb. 2Oberschenkel mit aufliegendem Arm;
im Oberschenkel Hohlraum, der Arm ist mit einer Drahtschlaufe verstärkt.
1911 entstand in Paris die Plastik der Knienden von Wilhelm Lehmbruck. Die Zeitgenossen
erkannten bereits in der Ausstellung des Salon d’Automne im gleichen Jahr in ihr sein revo-
lutionäres Hauptwerk. Aus Anlass ihres 100. Geburtstags widmet das LehmbruckMuseum in
Duisburg der Knienden im Herbst 2011 eine große Ausstellung mit besonderem Blick auf
den künstlerischen und kulturellen Kontext ihrer Entstehungszeit.
Woher kommt die Haltung der Knienden? Diese zentrale Frage verfolgen Ausstellung und
Katalog über die zeitgleich in den Pariser Salons und Galerien ausgestellten Gemälde und
Skulpturen der künstlerischen Avantgarde sowie das kulturelle Pariser Umfeld der 1910er
Jahre mit all seinen Innovationen auch im Bereich des Tanzes und der Musik.
100
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Knien
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Lehmbruck in Paris 1911
100 JahreKniendemit Matisse, Brancusi, Debussy, Archipenko, Rodin, Nijinsky …
Umschlagvorderseite:
Die Kniende im Pariser Atelier, 1911
Umschlagrückseite:
Bernd JansenLehmbrucks Kniende / Ballerina Greetje Groenendyk, aus der Serie:„An der Knienden kommt keiner vorbei“, 1975