Sexuelle Viktimisierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz Fokus: Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen und Empfehlungen
29. April 2014 – Hessisches Ministerium der Justiz, Wiesbaden
Margit Averdijk, ETH Zürich
Heute
• Resultate der Optimus Studie und daraus abgeleitete Empfehlungen
• Fokus: jugendliche Paarbeziehungen.
• Ausmass und Risikofaktoren
• Ein erster Impuls zur Prävention
• Die Wirkung von Präventionsprogrammen
1. Begriffserklärungen
Konzeptuelle Fragen:
- Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen - Bezieht sich auf Aggressionen / Gewalthandlungen von Jugendlichen in Paarbeziehungen - Nicht nur bestehende, feste Paarbeziehungen; auch Gewalt zwischen Ex-Partnern und Gewalt
bei Verabredungen und in vorübergehenden Liebes- oder sexuelle Beziehungen. - Körperliche, emotionale und sexuelle Gewalt - Ein Aspekt der Ausübung von Dominanz und Kontrolle
- Sexueller Missbrauch von Kindern versus sexuelle Viktimisierung - Missbrauch: Verantwortungs-, Vertrauens- oder Machtverhältnis - Viktimisierung: generell, inkl. Viktimisierung durch Gleichaltrige
2. Studiendesign
Ziel:
• Problem besser verstehen
• Bewusstsein stärken
• Politische Prozesse sowie Präventionsmassnahmen in Gang setzen
Fragebogenentwicklung, Studiendesign und Datenerhebung:
Prof. Ulrich Schnyder, Dr. Meichun Mohler-Kuo, Dr. Markus Landolt und Dr. Thomas Maier (Co-Leiter, Universität Zürich)
Datenanalyse und Schlussbericht
Dr. Margit Averdijk (ETH), Prof. Manuel Eisner (Universität Cambridge), Dr. Katrin Müller-Johnson (Universität Cambridge)
Broschüre und vollständiger Bericht:
http://www.optimusstudy.org
Methodik
• Datenerhebung im Klassenzimmer, standardisierter Fragebogen auf Laptops, randomisierte Stichprobe in allen Kantonen und Sprachregionen.
• Realisierte Stichprobe: 6 749 Schüler und Schülerinnen des neunten Schuljahres in 445 Klassen.
• Alle Kantone und Sprachregionen berücksichtigt.
• 91% der Schüler in den teilnehmenden Klassen nahmen an der Befragung teil.
• Offensichtlich falsch ausgefüllte Fragebogen wurden von der Analyse ausgeschlossen.
• Zudem: eine Organisationsbefragung.
Fragen zu sexueller Viktimisierung
• Insgesamt 22 Fragen zu sexueller Viktimisierung, gegliedert in zwei Hauptbereiche: – Viktimisierung mit Körperkontakt: z.B.: Berührung von Intimbereichen oder Küssen gegen den
Willen; gezwungen werden, Geschlechtsteile einer anderen Person zu berühren; versuchte oder vollendete vaginale/orale/anale Penetration. Beispiel: „Wurdest du jemals gegen deinen Willen von einer Person in sexueller Absicht am Körper und / oder an den Geschlechtsorganen berührt oder geküsst?“
– Viktimisierung ohne Körperkontakt: z.B.: Exhibitionismus; gezwungen werden, sexuelle Akte zu betrachten; sexuelles Mobbing; sexuelle Belästigungen im Internet (SMS, MSN, E-Mail).
Beispiel: „Hat dich jemals jemand belästigt, indem er dir sexuelle Dinge gesagt oder geschrieben hat (auch per SMS, E-Mail oder Telefon)?“
• Fragen zu Viktimisierung im letzten Jahr und irgendwann im Leben.
Fragen zu Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen
Sexuelle Viktimisierung
• Fragen zu TäterIn: – Dein Freund, deine Freundin, dein Date (Person, mit der man ausgeht), dein Ex-Freund, deine
Ex-Freundin (alles gemeint im Sinne von Partner/in)
Körperlicher Angriff:
• Hat dich jemals dein Freund oder deine Freundin (im Sinne von Partner/in) oder jemand, mit dem du eine Verabredung (Date) hattest, gehauen oder geschlagen?
4. Wer sind die Täter?
In welchen Konstellationen zwischen Opfer und Täter kommt es zu Opfererfahrungen bei 14-15-jährigen?
• Vorgehen: Zu jeder Opfererfahrung wurden Zusatzfragen zum Verhältnis zwischen Opfer und Täter, vermutetem Alter der Täter, etc. gestellt.
• Die Angaben aus der Jugendbefragung geben vor allem Auskunft über Erfahrungen in den 1-2 Jahren vor der Befragung. Sie eignen sich nicht, um die Täter-Opfer-Beziehung in der Kindheit zu bestimmen.
• Ergänzend Auswertungen aus der Organisationsbefragung zu bekannt gewordenen Fällen.
• Zentrale Erkenntnisse: – Bei Jugendlichen ereignen sich die meisten Opfererfahrungen im Kontakt mit etwa
Gleichaltrigen, oft im Rahmen von Partnerbeziehungen oder «dates», aber auch mit anderen Kollegen oder Kolleginnen aus den näheren Umfeld.
– Bei Kindern stehen Viktimisierungen im familiären Umfeld im Vordergrund.
Täter-Opfer-Beziehung: Erfahrungen mit Körperkontakt
Bei Jugendlichen ereignen sich die meisten Opfererfahrungen im Kontakt mit etwa Gleichaltrigen (< 18 Jahre), oft im Rahmen von Partnerbeziehungen oder «dates», aber auch mit anderen Kollegen oder Kolleginnen aus den näheren Umfeld.
Beziehung zum Täter in verschiedenen Altersgruppen, gemäss Organisationsumfrage
Vorschulalter (1-5 Jahre)
Lesehilfe: Unter den registrierten Opfern im Alter von 1-5 Jahren war in 45% der Fälle der Vater der Täter. Unter den registrierten Opfern im Alter von 11-17 Jahren war in 39% der Fälle ein Gleichaltriger der Täter.
Quelle: Averdijk, M., K. Müller-Johnson, M. Eisner (2012). Sexual Victimization of Children and Adolescents in Switzerland, Tabelle 6.2.
5. Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen: Prävalenz
Männliche Befragte
Weibliche Befragte
Körperlicher Angriff 4.1% 4.4% Sexuelle Viktimisierung - Mit Körperkontakt 4.0% 8.5% - Ohne Körperkontakt 6.7% 7.5%
Wiederholte Opfererfahrungen
,0
5,0
10,0
15,0
20,0
25,0
30,0
35,0
40,0
45,0
1x 2x 3x 4x 5x oder mehr
%
Wie viele Male in deinem Leben?
Zusammenhang Typen Viktimisierung in jugendlichen Paarbeziehungen
• Von den Opfern von körperlichem Angriff durch Partner wurden 23% auch Opfer von sexueller Viktimisierung MIT Kontakt durch Partner
• Von den Opfern von körperlichem Angriff durch Partner wurden 28% auch Opfer von sexueller Viktimisierung OHNE Kontakt durch Partner
• Von den Opfern von sexueller Viktimisierung MIT Kontakt durch Partner wurden 39% auch Opfer von sexueller Viktimisierung OHNE Kontakt durch Partner
6. Empfehlungen: Drei Zielkomplexe für Reduktion und Prävention
1. Sexueller Missbrauch durch Familienmitglieder oder erwachsene Autoritätspersonen – Steht bei Kindern im Vordergrund – Oft mit anderen Formen von Vernachlässigung und Missbrauch verbunden – In der Optimus Jugendbefragung ca. 5-10% der Fälle gegen Jugendliche, evtl. nur teilweise
abgedeckt – Zentrale Bedeutung des Kinderschutzes und familienorientierten Präventionsprojekte
2. Sexuelle Übergriffe durch Unbekannte/flüchtig Bekannte – Pädophilie, Exhibitionismus, Übergriffe im Internet, mit zunehmendem Alter auch sexuelle
Belästigung und Übergriffe im öffentlichen Raum. – Gemäss Optimus Studie zahlenmässig wichtiger als oft angenommen, ca. 20% der Fälle – Massnahmen führen über Kinderschutz hinaus -> Freizeit, öffentlicher Raum
3. Sexuelle Übergriffe durch (bekannte) Gleichaltrige – Wird ab Alter von ca. 12 Jahren wichtiger (Pubertät) – Oft im Rahmen von ersten Liebesbeziehungen und sexuellen Erfahrungen – Oft auch Bekannte aus Freizeit und Schule – Fliessender Übergang zu nicht-sexuellem Mobbing – Bisher relativ wenig beachtet – Massnahmen führen über Kinderschutz hinaus -> Schule, Freizeit, Sport
7. Risikofaktoren für sexuelle Gewalt in jugendlichen Paarbeziehungen
• Risikofaktoren sind Merkmale der Person oder ihres Umfeldes, die mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit für eine Opfererfahrung einher gehen.
• Keine klaren kausalen Zusammenhänge.
• Risikofaktoren sind keine Schuldzuweisungen.
• Eine Analyse von Risikofaktoren hilft zu verstehen, auf welche Gruppen sich Prävention und Intervention konzentrieren sollten.
Fokus: Jugendliche Täter
• Risikofaktoren – Mit Freunden rumhängen, viel Zeit im Internet – Gewalttätig, Substanzkonsum – Missbrauch in der Familie, Vernachlässigung durch Eltern.
• Täter überdurchschnittlich oft auch Opfer – Überlappung von Viktimisierung und Täterschaft.
Sexuelle Gewalt steht in einem allgemein von Gewalt und Vernachlässigung geprägten Kontext.
-> Empfehlungen für Prävention und Intervention
• Riskanter Lebensstil hängt mit Viktimisierung und Täterschaft zusammen – Ausserhäusliche Aktivitäten sicherer machen, z.B. durch das Angebot organisierter Aktivitäten
oder eine situationsbezogene Verbrechensprävention an Orten, an denen sich Jugendliche treffen und ausgehen.
– Prävention im Internet
• Zusammenhang zwischen Alkohol- und Drogenkonsum, Viktimisierung und Täterschaft – Strengere Kontrollen des Verkaufs und der Abgabe von Alkohol
• Zusammenhang mit Misshandlung und Vernachlässigung in der Kindheit – Familienorientierte Präventionsprojekte
• Zusammenhang mit Gewalt in der Schule – Schulische Programme zur Prävention – Massnahmenpaketen/klare Sanktionen in konkreten Fällen
• Risikogruppen – Körperliche Einschränkung, nicht-Schweizerische Nationalität
• Sexuelle Gewalt steht in einem breiteren Rahmen von Aggression und Delinquenz – Präventionsstrategien müssen das in Betracht ziehen und mehr im Allgemeinen auf die
Reduktion von Gewalt und Mobbing gezielt sein.
8. Woran leiden die Opfer?
• Internalisierungsprobleme: negatives Selbstwertgefühl, Depressivität, sich einsam fühlen
• Externalisierungsprobleme: aggressive Verhaltensweisen
• Keine kausale Zusammenhänge
9. Wer erfährt von Opfererfahrungen
• Wie viele jugendliche Opfer berichten ihre Opfererfahrungen einer Drittperson?
• Wem berichten sie?
• Wie viele Jugendliche erstatten bei der Polizei Anzeige?
9. Wer erfährt von Opfererfahrungen
• Wie viele jugendliche Opfer berichten ihre Opfererfahrungen einer Drittperson?
• Wem berichten sie?
• Wie viele Jugendliche erstatten bei der Polizei Anzeige?
• Zentrale Erkenntnisse: – Rund 60% der Opfer berichtet einer Drittperson von ihrem Erlebnis. – Mädchen vertrauen ihre Erfahrungen eher einer Drittperson an als Knaben. – Bei weitem am ehesten werden KollegInnen oder Freunde ins Vertrauen gezogen (ca. 50% der
Opfer), gefolgt von Eltern (ca. 21% der Opfer). – Etwa 5% der Opfer von Opfererfahrungen mit Körperkontakt und 3% der Opfer ohne
Körperkontakt nehmen die Hilfe einer Fachorganisation in Anspruch. – Etwa 4-7% der Opfer kontaktieren die Polizei.
-> Empfehlungen für Prävention und Intervention: Opferhilfe
• Psychologische Beratung für Opfer – Psychische Gesundheit verbessern und wiederholte Opfererfahrungen reduzieren
• Opfer melden sich nicht oft bei professionellen Opferberatungsstellen – Niederschwellige Hilfsangebote
• Offenlegungsraten erhöhen – Z.B. Programmen mit (Schul-) Sozialarbeitern
• Freunde und Eltern werden oft anvertraut – Zielgruppen für Informationskampagnen
Empfehlungen: Übersicht
Verhindern der Viktimisierung -> Sicherheit ausserhäuslicher Aktivitäten erhöhen -> Kontrolle Alkohol/Drogen -> Prävention in der familiären Umgebung -> Breit angelegte Strategie zur Prävention Gewalt und Mobbing -> Sexualerziehung: Adäquates Sexualverhalten
Reduktion der Folgeschäden -> Niederschwellige Hilfsangebote für jugendliche Opfer -> Bessere Information für Risikogruppen (z.B. in Jugendclubs) -> Erhöhung der Offenlegungsraten -> Gleichaltrige und Eltern über Hilfsangebote aufklären -> Psychologische Behandlung
Intervention Täter -> Therapieprogramme für jugendliche Sexualtäter -> Massnahmenpläne/klare Sanktionen für Umgang mit Vorfällen in Schule, Sport, Freizeit
Aktionsplan -> Arbeitsgruppe: Ausarbeitung detaillierter strategischen Empfehlungen
10. Zwei weitere Projekte
1. Ein erster Impuls zur Prävention sexueller Gewalt zwischen Teenagern – Ziel: Fachliche Impulse zur Prävention geben – Die Diskussion zum Thema der sexualisierten Gewalt in jugendlichen Beziehungen anstossen – Primär an Praxisstellen und –organisationen gerichtet, aber auch an PolitikerInnen,
Forschende, Lehrpersonen und Eltern – Komplexes praktisches Feld – Keine konkrete Handlungsempfehlungen, sondern aufzeigen: welche Initiativen können im
Anschluss an die Ergebnisse der Optimus Studie als sinnvoll erachtet werden und wo besteht noch Handlungsbedarf
2. Bündelung der internationalen wissenschaftlichen Erkenntnisse – Dynamik hin zu mehr erkenntnisbasierte Gewaltpräventionsstrategien unterstützen – Vorläufiger Kompass für Massnahmen, die zu einem besseren Schutz der Kinder vor
Missbrauch und Gewalt führen können
Ein erster Impuls zur Prävention
A. Universelle Prävention: Sensibilisieren und politische Debatte anstossen
B. Prävention von sexueller Gewalt durch Gleichaltrige: Risikogruppen in den Fokus nehmen
C. Prävention von Cyberviktimisierung: Eltern und Jugendliche in ihren Kompetenzen stärken
D. Eltern- und familienfokussierte Prävention: Früherkennung fördern
E. Interventionen im Freizeitbereich: Situationsbezogene und aufsuchende Prävention
F. Schulische Massnahmen: Sensibilisieren, Aufklären und Thematisieren
G. Intervention und Therapie für Täter und Täterinnen: Frühe Prävention und gezielte Intervention
H. Weitere Forschung: Mehr Studien zur Erfassung des Problems
Zwei weitere Projekte
1. Ein erster Impuls zur Prävention sexueller Gewalt zwischen Teenagern – Ziel: Fachliche Impulse zur Prävention geben – Die Diskussion zum Thema der sexualisierten Gewalt in jugendlichen Beziehungen anstossen – Primär an Praxisstellen und –organisationen gerichtet, aber auch an PolitikerInnen,
Forschende, Lehrpersonen und Eltern – Keine konkrete Handlungsempfehlungen, sondern aufzeigen: welche Initiativen können im
Anschluss an die Ergebnisse der Optimus Studie als sinnvoll erachtet werden und wo besteht noch Handlungsbedarf
2. Bündelung der internationalen wissenschaftlichen Erkenntnisse – Dynamik hin zu mehr erkenntnisbasierte Gewaltpräventionsstrategien unterstützen – Vorläufiger Kompass für Massnahmen, die zu einem besseren Schutz der Kinder vor
Missbrauch und Gewalt führen können
10. Wo sind wir und wie weiter?
4 Stufen bei der Ausarbeitung von Interventionsmassnahmen:
1. Das Problem begrifflich und numerisch definieren: - Problem wurde definiert - Überblick über Ausmass und Charakteristika des Problems gegeben
2. Risiko- und Kausalfaktoren identifizieren: - Risikofaktoren wurden identifiziert -> Kausalfaktoren: adäquates Forschungsdesign
3. Adäquate Interventionsmassnahmen entwickeln und testen - Bewertung der aktuellen Massnahmen - Übersicht der aktuellen Präventions- und Interventionsaktivitäten ! Effektivität Präventionsmassnahmen (RCTs, länderübergreifende Studien zu strukturellen
Eigenschaften, geschichtliche Entwicklung, Fallstudien)
! Kontext ! Qualitative Forschung zur Nutzung (psychologischer) Beratung
4. Verbreitung von Informationen über effektive Interventionsmassnahmen und systematische Ansatz im Bereich der sexuellen Viktimisierung
11. Weitere Informationen und Kontakt
Dr. Margit Averdijk Ko-Autorin Schlussbericht Optimus Studie ETH Zürich E-mail: [email protected]
Dr. Patricia Lannen Koordinatorin Optimus Studie UBS Optimus Foundation, Zürich Telephon: +41 44 234 31 47 Mobile: +41 78 685 78 66 E-mail: [email protected]
Weitere Informationen: www.optimusstudy.org