Institut für TherapieforschungMünchen
Institut für Klinische Psychologie und Psychotherapie
Zum Verständnis von Abh ängigkeit und Sucht: Sind wir in den letzten
100 Jahren klüger geworden?
DG Sucht, Wissenschaftliches Gespräch 02.-04. Dezember 2011, Lübeck
Gerhard Bühringer Anja Kräplin
Übersicht
1. Definitionsversuche
2. Exkurs zur Geschichte
3. Störungsbild
4. Störungsentwicklung
5. Ätiologische Modelle
6. Störungsbegriff
7. Substanzstörungen und andere abhängige Verhaltensweisen
8. Forschungsbedarf
2
1. Definitionsversuche
(1) Sucht ist ein Zustand periodischer oder chronischer Vergiftung, hervorgerufen durch den wiederholten Gebrauch einer natürlichen oder synthetischen Droge und gekennzeichnet durch 4 Kriterien: unbezwingbares Verlangen, Toleranz, Abhängigkeit, individuelle und soziale Schädigung. (WHO, 1957)
3
(2) Sucht ist ein unabweichbares Verlangen nach einem bestimmten Erlebniszustand. Diesem Verlangen werden die Kräfte des Verstandes untergeordnet. Es beeinträchtigt die freie Entfaltung einer Persönlichkeit und zerstört die sozialen Bindungen und die sozialen Chancen des Individuums. (Wanke, 1985)
(3)Drug addiction is a brain disease. Although initial drug use might be voluntary, once addiction develops this control is markedly disrupted. (Volkow, 2004)
2. Exkurs zur Geschichte2.1 Entwicklung des Krankheitsbildes
(1) Im Mittelalter regelmäßiger exzessiver Alkoholkonsum normal
(2) Erst mit der Aufklärung allmähliche Entwicklung des Konzepts der individuellen Selbstkontrolle und Verantwortung
(3) Sucht als Gottesstrafe für persönliches Fehlverhalten
� Isolation und Verwahrung, Bestrafung
(4) Verschärfung der Problemlage und soziale Kontrolle mit der Industrialisierung− Hohe industrielle Produktion billigen Alkohols
− Automatisierte Prozesse erfordern Abstinenz
4
2. Exkurs zur Geschichte2.2 Frühe Kategorisierung
5Marlatt & Bear (1988)
Personal responsibility for onset
yes no
Personal responsibility for cessation
yes Moral model Compensatory model
no Enlightenment modelMedical/ disease
model
2. Exkurs zur Geschichte2.2 Frühe Kategorisierung
6
(1) Moral model•Zeichen eines schwachen Charakters•Fehlende Willenskraft�Grundlage für die Kontrolle von Substanzen und Abhängigen (z.B. Prohibition)
(2) Enlightenment model•Abhängigen hilft eine Erleuchtung über die wahre Natur der Abhängigkeit •Kontrolle durch “Höhere Mächte”�Grundlage für spirituelle Selbsthilfegruppen
(e.g. Alcoholics Anonymous)
2. Exkurs zur Geschichte2.2 Frühe Kategorisierung
7
(3) Disease model•Zu Grunde liegen Krankheitsprozesse mit Fokus auf körperlicher Abhängigkeit und automatisches Fortschreiten der Krankheit
•Kein Einfluss auf Beginn und Beendigung durch das Individuum
� Grundlage für pharmakologische Behandlung (harm reduction)
(4) Compensatory model•Abhängige sind nicht verantwortlich für den Beginn der Störung aber sie haben eine aktive Rolle bei Veränderungsprozessen
� Grundlage für Programme zur Verhaltensänderung
3. Störungsbild3.1 Beschreibung der Störungsentwicklung
8
Kein Konsu
m
Initialer Konsum
Experi-menteller Konsum
Regel-mäßiger Konsum
Riskanter Konsum
Abhängiger Konsum
Schädlicher Konsum
Risikoarmer Konsum
•Konsum-menge
•Konsum-muster
•Abstinenz-regeln
CAVE! Individuelle
Varianz
3. Störungsbild3.2 Übergangswahrscheinlichkeiten (stat. Risiken)
9Behrendt, 2011; Sassen et al., 2011
Regelmäßiger Konsum
DSM-IV Missbrauch
DSM-IV Abhängigkeit
Alkohol
Konsum 72% 25% 11%
Regelmäßiger Konsum
32% 15%
Nikotin
Konsum 65% 36%
Regelmäßiger Konsum
55%
Cannabis
Konsum 61% 18% 6%
Regelmäßiger Konsum
30% 10%
Glücksspiel (prob. Glücksspielen) (pathologisches Glücksspielen)
Glücksspielen 0,6% 0,8%
3. Störungsbild3.3 Beschreibung des Störungsbildes
10
• Edwards (1986, Edwards & Gross, 1976)� Sucht als Syndrom von Störungen� “primäre Symptome” (des Syndroms) und “sekundäre Schäden”
• DSM-IV (APA 2000)� Abhängigkeit liegt bei wiederholtem und unangemessenem Gebrauch
eines Stoffes vor, der zu beträchtlichen Störungen führt� 3 oder mehr der folgenden Kriterien innerhalb eines 12-Monats-
Zeitraums:� Toleranzentwicklung� Entzugssymptome� Konsum mehr oder länger als beabsichtigt� Anhaltender Wunsch / erfolglose Versuche, Gerbrauch zu vermindern� Hoher Zeitaufwand� Einschränkung wichtiger Aktivitäten� Fortgesetzter Gebrauch trotz Kenntnis der persönlichen Schädigung
3. Störungsbild3.4 Beschreibung des Störungsbildes: aktueller Stand
11
• Neuroadaptation (Entzugserscheinungen, Toleranzentwicklung, Craving)
• Kontrollverlust über den Substanzkonsum (Menge, Frequenz, Muster, Dauer)?
+ Kompetenzdefizit oder
+ Motivationsdefizit?
• Gestörte Lernprozesse (Dominanz habit learning, Deevaluation alternativer Verstärker)
• Beeinträchtigte kurz- und langfristiger Planungen und Entscheidungen (gestörte
kognitive Kontrolle)
• Beeinträchtigte Änderungsmotivation
• Eingeschränkte Einschätzung der Selbstwirksamkeit?
• Eingeschränkte Änderungskompetenzen?
• Negative Konsequenzen für Konsumenten und Dritte?
4. Störungsentwicklung4.1 Analyseebenen
12
Kein Konsu
m
Initialer Konsum
Experi-menteller Konsum
Regel-mäßiger Konsum
Riskanter Konsum1)
Abhängiger Konsum
Schädlicher Konsum2)
Korrelative Zusammenhänge Riskanter Störungs-
Kausale Zusammenhänge Konsum Konsum ausbildung
Wirkmechanismen
1) Allgemeiner Begriff für Konsummuster mit einem erhöhtem Risiko einen gefährlichen Konsum zu entwickeln.
2) Allgemeiner Begriff für Konsummuster mit negativen Konsequenzen.
4. Störungsentwicklung4.2 Relevante Einflussfaktoren
13
(1)Relevanz von Substanzmerkmalen
Unterschiede zwischen Substanzen:
• Wahrscheinlichkeiten für den ersten Konsum und den regelmäßigen
Konsum
• Wahrscheinlichkeiten für riskanten, schädlichen und abhängigen
Konsum
• Die Wahrscheinlichkeiten der Reduktion und Beendigung des
Konsums und für Rückfall
���� Substanzbezogene Merkmale sind relevant!
4. Störungsentwicklung4.2 Relevante Einflussfaktoren
14
(2) Relevanz von Personenmerkmalen
• Nur eine Untergruppe der Konsumenten entwickelt einen riskanten
oder schädlichen Konsum
• Unterschiedliche Ausprägung von
� Kognitionen
� Lernen
� Motivation
� Individuelle Unterschiede sind relevant!
4. Störungsentwicklung4.2 Relevante Einflussfaktoren
15
(3) Relevanz von sozialen Merkmalen
• Für den Beginn und Verlauf von Konsum, riskantem und schädliche Konsum
• Für die Art und Schwere der negativen Konsequenzen • Für die Reduktion, Beendigung und den Rückfall• Für die Bereitstellung von Hilfsangeboten
+ Unterschiede in der Prävalenz und den Mustern von Konsum und schädlichem Konsum zwischen verschiedenen Ländern können nicht mit dem Konzept einer “Erkrankung des Gehirns”erklärt werden
+ Wirkmechanismen unklar!
���� Soziale Unterschiede sind relevant!
1)Allgemeiner Begriff für den Einfluss der sozialen Umwelt, Kultur, gesetzlicher Rahmen, Strafvervolgung, Werbung
5. Ätiologische Modelle5.1 Relevante Faktoren und zeitliche Ordnung
16
Vulnerabilitäts- Stress- Konzept (Wittchen et al. 1999)
5. Ätiologische Modelle5.2 Modell zur zeitlichen Relevanz früher und später
Risikofaktoren
17
Le Moal & Koob, 2007
• Beginn des Konsums und riskanten Konsums wird vor allem beeinflusst von sozialen Bedingungen
• Beginn von schädlichem/ abhängigem Konsum wird vor allem beeinflusst von individuellen Vulnerabilitäten
5. Ätiologische Modelle5.3 Faktoren frühen Konsums
18
(1)Genetische Variationen• Höhere positive Folgen („Kick“)• Hohe Verträglichkeit: geringere, verzögerte negative Folgen• Höhere Sensitivität für die beruhigende Wirkung von Alkohol
(2)Vererbung bei alkoholabhängigen Eltern• Höhere Verträglichkeit
(3)Ungleichgewicht neuronaler automatischer Abläufe gegenüber kognitiver Kontrollprozesse
• Späte Ausprägung exekutiver Kontrolle am Ende der Adoleszenz
(4)Hohe Impulsivität und Risikobereitschaft (vererbt, erworben)
5. Ätiologische Modelle5.3 Faktoren frühen Konsums (Forts.)
19
(5) Elterliche Erziehungsmodelle• Klare Regelbildung
(6) Bezugsgruppe• Modelllernen• Sozialer Druck
(7) Soziale Umwelt• Unterschiede zwischen Staaten (Prävalenz, Konsummuster,
Störungsumfang)• Kulturelle Merkmale• Gesetzgebung und –kontrolle• Preisgestaltung• Werbung
5. Ätiologische Modelle5.4 Faktoren für riskanten und abhängen Konsum
20
(1) Früher Beginn• Langer Zeitraum mit riskantem Konsum?
(2) Individuelle genetische Unterschiede • hohe positive Auswirkungen (Selbstmedikation, „Kick“) und• geringe negative Auswirkungen
(3) Defizite in kognitiver Kontrolle
(4) Attentional bias (motivationale Störung? fehlende Aufmerksamkeitskontrolle?)
(5) Habit learning (automatisierte Konsumprozesse)
(6) Interaktion von Persönlichkeitsfaktoren x Substanzwirkung: • Impulsivität/ Risikobereitschaft x stimulierende Rauschwirkung
� Externalizing pathway• Negative Stimmung/ Probleme x beruhigende Wirkung
� Internalizing pathway
5. Ätiologische Modelle5.4 Modell zur Störungsentwicklung
21
Volkow et al. (2003, 2011)� Sucht als eine Erkrankung des Gehirns
� Präfrontale und striatale Dysfunktionen führen zu Kontrollverlust und zwanghafter Substanzeinnahme wenn die betroffene Person Substanzen konsumiert oder mit substanzbezogenen Reizen konfrontiert ist
5. Ätiologische Modelle5.4 Modell zur Störungsentwicklung
22
• Bühringer et al. (2008)� Sucht als Ungleichgewicht zwischen (1) einem automatischen
(impulsiven) System und (2) einem höheren (reflektiven) Kontrollsystem
� Gestörte kognitive Kontrollfunktionen als Vulnerabilitätsfaktor oder proximaler Risikofaktor für die Entstehung von Sucht und als wichtiger Moderator bei der Beendigung
5. Ätiologische Modelle5.5 Mögliches Konzept für Interaktionen der Faktoren
23
• Genetik• Temperament/
Persönlichkeit• Neuropsychologische
Faktoren• Kindheit/Eltern
Vulnerabilitäten
• Individuelle Faktoren (z.B. Kognitive Kontrolldefizite, Psychopathologie Selbstwirksamkeit)
• Bezugsgruppe• Soziale Umwelt (z.B.
Verfügbarkeit)
Akute Risikofaktoren
Riskanter Konsum Abhängiger Konsum
• Neuroadaptation• Gestörtes Belohnungssystem• Dysfunktionale Lernprozesse• Kognitive Kontrollstörungen• Gestörte motivationale Prozesse
Relevante Prozesse für die
Störungsentwicklung
6. Störungsbegriff
24
• Abhängigkeit : ICD-10, DSM-IV
Hintergrund: Vermeidung von Stigmatisierung
• Sucht : Vorschlag von DSM-V
Hintergrund:
• Integrierung von “Verhaltenssüchten (Glücksspielen)
• Differenzierung zwischen Abhängigkeit als “normale und
unproblematische Reaktion auf Medikation und Sucht als
“zwanghaftes Drogensuchverhalten”
(O’Brien, Volkow & Li, 2006)
� Nicht nur Semantik!
7. Substanzstörungen und andere abhängige Verhaltensweisen
25
7.1 Definitionen
• Definition: Exzessive, belohnende oder belohnungssuchende
Verhaltensweisen mit den Merkmalen einer psychischen Abhängigkeit
(z.B. Craving, Verlangen nach dem Verhalten, Steigerung der Häufigkeit, Intensität
und Dauer des Verhaltens, Psychische und physiologische Reaktionen auf
Abstinenz, Fortsetzung trotz negativer Folgen) (Grüsser et al., 2007)
• Beispiel: pathologisches Glücksspielen
• Andere Bespiele: pathologischer Computergebrauch, Computerspielen,
Einkaufen, Arbeiten, Sexualverhalten, Essstörungen
7. Substanzstörungen und andere abhängige Verhaltensweisen
26
7.2 Gemeinsamkeiten und Unterschiede am Beispiel pathologisches Glücksspielen
Untersuchte FaktorenGemeinsam-
keiten Unterschiede Beispiele/ offene Fragen
Genetik X X• Gemeinsamkeiten: z.B. dopaminerge Neurotransmission• Unterschiede: z.B. Alkoholverträglichkeit
Toleranzentwicklung und Entzugssymptome
X X• Gemeinsamkeiten: z.B. psychische Entzugserscheinungen• Unterschiede: z.B. physische Entzugserscheinungen • Gleiche Mechanismen?
Dysfunktionales Lernen
X• Gemeinsamkeiten: z.B. klassische Konditionierung• Gleiche Mechanismen? (geringere Dopaminausschüttung
bei Verhalten)
Kognitive Kontrolle X X
• Gemeinsamkeiten: z.B. Impulskontrolldefizite• Unterschiede: z.B. größere Defizite bei Glücksspielern in
Entscheidungsaufgaben• Fehlen von direkt vergleichenden Studien
Motivationale ProzesseX
• Gemeinsamkeiten: z.B. attentional bias, cue reactivity, incentive salience
• Fehlen von direkt vergleichenden Studien
8. Forschungsbedarf
27
• Integration von Substanzmissbrauch und –abhängigkeit in eine Störungsgruppe (Syndrom)?
• Bessere Differenzierung zwischen Merkmalen und Konsequenzen des Suchtsyndroms
• Modifizierung diagnostischer Konzepte, Kriterien und Instrumente:• (Dichotome) Messung des Suchtsyndroms• Kontinuierliche Skala für die Schwere der negativen
Konsequenzen
8. Forschungsbedarf (Forts.)
28
•Die Klärung von Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen Substanzabhängigkeit und “Verhaltenssüchten”
• z.B. Neuroadaptation?
•Erforschen der Evidenz, Relevanz und Konsequenzen der Unterscheidung zwischen Abhängigkeit und Sucht (nach O’Brien et al., 2006)
•Längsschnittanalysen zur ätiologischen Relevanz gestörter kognitiver Kontrolle und gestörter Lern- und Motivationsprozesse
9. Sind wir in den letzten 100 Jahren klüger geworden?
29
Ist das Glas halb voll oder
halb leer?