analyse erwartungswidriger bildungsaufstiege von frauen

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JOHANNES KEPLER

UNIVERSITÄT LINZ

Altenberger Straße 69

4040 Linz, Österreich

jku.at

Eingereicht von

Jessica Tax, BEd

Angefertigt am Institut

Linz School of Education

Beurteiler / Beurteilerin

Ass.-Prof. Dr. Roman

Langer

Monat Jahr

September 202

AUF DEN SPUREN VON

PIONIERINNEN –

ANALYSE

ERWARTUNGSWIDRIGER

BILDUNGSAUFSTIEGE

VON FRAUEN

Diplomarbeit

zur Erlangung des akademischen Grades

Magistra der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften

im Diplomstudium

Wirtschaftspädagogik

EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG

Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde

Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich

oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.

Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch.

Leonding, 06.09.2020

Tax Jessica

II

Inhaltsverzeichnis

Verwendete Abbildungen ............................................................................................................... IV

Verwendete Abkürzungen .............................................................................................................. IV

Vorwort............................................................................................................................................. V

1. Einleitung ................................................................................................................................... 1

2. Theoretischer Rahmen.............................................................................................................. 3

2.1. Bildung und das Bildungssystem als (Re-)Produzent von Bildungsungleichheit ............. 3

2.2. Faktoren erwartungswidriger Bildungsaufstiege ............................................................... 6

2.2.1. Gesamtgesellschaftliche Faktoren ......................................................................... 7

2.2.2. Soziales Kapital: Familie, Erziehung und Sozialisation ....................................... 12

2.2.3. Bildung und Bildungssystem ................................................................................ 15

2.2.4. Glück und Zufall ................................................................................................... 17

2.2.5. Soziales Kapital: Schulunabhängige Motivationen und Schlüsselerlebnisse ..... 17

2.2.6. Makro-Faktoren .................................................................................................... 20

2.2.7. Individuum-spezifische Faktoren ......................................................................... 26

2.3. Fazit ................................................................................................................................. 28

3. Faktorenanalyse erwartungswidriger Bildungsaufstiege von Frauen .................................... 31

3.1. Wissenschaftliche Relevanz der Diplomarbeit ................................................................ 31

3.2. Methodische Vorgehensweise ........................................................................................ 32

3.3. Begründung der Auswahl ................................................................................................ 33

3.4. Vorstellung der Frauen .................................................................................................... 34

3.4.1. Maria Theresia (1717-1780)................................................................................. 34

3.4.2. Olympe de Gouges (1748-1793) ......................................................................... 35

3.4.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata (1851-1923) ........................................................... 36

3.4.4. Cécile Vogt (1875-1962) ...................................................................................... 36

3.4.5. Lise Meitner (1878-1968) ..................................................................................... 37

3.4.6. Gudrun Ensslin (1940-1977) ................................................................................ 38

3.5. Lebensabschnitt I............................................................................................................. 38

3.5.1. Herkunft und frühe Bildung .................................................................................. 38

3.5.1.1. Maria Theresia ...................................................................................... 38

III

3.5.1.2. Olympe de Gouges ............................................................................... 39

3.5.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata ................................................................. 40

3.5.1.4. Cécile Vogt ............................................................................................ 42

3.5.1.5. Lise Meitner ........................................................................................... 43

3.5.1.6. Gudrun Ensslin ...................................................................................... 44

3.5.2. Faktorenanalyse ................................................................................................... 45

3.6. Lebensabschnitt II............................................................................................................ 48

3.6.1. Weiterführende Bildung und Studium .................................................................. 48

3.6.1.1. Maria Theresia ...................................................................................... 48

3.6.1.2. Olympe de Gouges ............................................................................... 49

3.6.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata ................................................................. 51

3.6.1.4. Cécile Vogt ............................................................................................ 54

3.6.1.5. Lise Meitner ........................................................................................... 55

3.6.1.6. Gudrun Ensslin ...................................................................................... 59

3.6.2. Faktorenanalyse ................................................................................................... 62

3.7. Lebensabschnitt III........................................................................................................... 67

3.7.1. Berufliche Karriere ................................................................................................ 67

3.7.1.1. Maria Theresia ...................................................................................... 67

3.7.1.2. Olympe de Gouges ............................................................................... 69

3.7.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata ................................................................. 73

3.7.1.4. Cécile Vogt ............................................................................................ 82

3.7.1.5. Lise Meitner ........................................................................................... 85

3.7.1.6. Gudrun Ensslin ...................................................................................... 97

3.7.2. Faktorenanalyse ................................................................................................. 102

4. Systematisierung der Ergebnisse ......................................................................................... 107

4.1. Verknüpfung und Ergänzung zur Theorie ..................................................................... 107

4.2. Abgeleitete Empfehlungen ............................................................................................ 110

5. Resümee ............................................................................................................................... 111

6. Verwendete Literatur ............................................................................................................. 113

IV

Verwendete Abbildungen

Abbildung 1: Anteil Abschluss nach Geschlecht und Alter (Statistik Austria, 2020) .......................9

Abbildung 2: Zeitungsbericht "Der erste weibliche Arzt in Oesterreich" (Freie Stimmen,1890, S. 6).

....................................................................................................................................................... 77

Verwendete Abkürzungen

bzw. beziehungsweise

EBA erwartungswidrige Bildungsaufsteigerin bzw. Bildungsaufsteigerinnen

et al. et alii = und andere

f folgende

ff fortfolgende

Hrsg. Herausgeber

KWG Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft

KWI Kaiser-Wilhelm-Institut

resp. respektive

S. Seite

sic! sīc erat scriptum = so stand es geschrieben

vgl. vergleiche

V

Vorwort

Viele Menschen haben mich bei der Umsetzung und dem Gelingen dieser Diplomarbeit fachlich

und persönlich unterstützt. Meinen ganz besonderen Dank möchte ich meinem ersten

Ansprechpartner Herrn Ass.-Prof. Dr. Roman Langer vom Institut Linz School of Education

aussprechen, der das Verfassen dieser Arbeit überhaupt erst ermöglichte, sowie für die bereitwillig

gewährte mannigfaltige Hilfe und Unterstützung bei Recherchen.

Herzlich bedanken möchte ich mich bei Andrea und Martin Müllner, sowohl für die langjährige

Unterstützung meiner Person und für die inspirierenden Gespräche, die letztlich in diese Arbeit

miteingeflossen sind, sowie für die überaus hilfreiche Durchsicht dieser Arbeit. Bei meiner Mama

Petra Tax und meiner langjährigen Freundin Eldijana Hofstetter möchte ich mich ebenfalls für die

hilfreiche Durchsicht der Arbeit bedanken. Sie alle haben sehr dazu beigetragen diese Arbeit zu

verbessern.

Viele andere Menschen haben mich auf dem Weg, nicht nur zur Diplomarbeit, sondern während

meines gesamten Bildungs- und Karrierewegs, unterstützt. Großer Dank gebührt meinen Eltern

für Ihre Liebe und Unterstützung auf meinem bisherigen Weg. Schließlich danke ich meinen

Freundinnen und engsten Vertrauten für die vielen gemeinsamen schönen Momente und

Erfahrungen in den vergangenen prägenden und bedeutenden Lebensabschnitten.

1

1. Einleitung

Zahlreiche Studien belegen, dass Bildungsungleichheit im österreichischen Bildungssystem

allgegenwärtig und ein extrem stabiles Phänomen ist (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 14; Langer,

2017, S. 131). Daher ist die Bildungsungleichheit in gegenwärtigen Debatten, im Rahmen der

Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit in unserem Bildungssystem, ein wesentliches

Thema. Der Hauptfokus dieser Debatten liegt dabei auf der Fragestellung, inwiefern zukünftige

Möglichkeiten nicht durch Leistung, sondern durch Ausgangsbedingungen beeinflusst werden, die

bereits vor Beginn der schulischen Laufbahn bestehen (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 11). Es ist

nicht ausreichend geklärt, welche Faktoren wie zur Kumulierung oder Kompensierung von

Bildungsungleichheiten im Bildungsverlauf beitragen, obwohl die Bedeutung von Übergängen im

Bildungssystem als Selektionsmechanismen immer wieder in der Bildungsforschung

hervorgehoben wird (vgl. Dombrowski & Solga, 2012, S. 80; Giesinger, 2009, S. 183, Fn. 3).

Infolgedessen stellt sich die Frage, welche Bedeutung sowohl die formale Bildung, vor allem auch

als Kompensator ungleicher Ausgangslagen, als auch entsprechende Bildungsabschlüsse für die

weiteren Berufs- und Lebenschancen haben. Etliche Studien beschäftigen sich mit den

Einflussfaktoren auf Bildungsverläufe, wobei bereits bekannt ist, dass einzelne Faktoren und

deren Kombination schulischen Erfolg tendenziell mehr begünstigen als andere. Obwohl

Einzelfaktoren allein beziehungsweise ein Bündel von Einzelfaktoren die Wahrscheinlichkeit für

eine gemeinhin erfolgreiche Bildungslaufbahn angeben können, misslingt dies jedoch bei einem

erwartungswidrigen Bildungsverlauf (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 11 f).

Einerseits galt es bei der Erstellung der Diplomarbeit die Theorie aufzuarbeiten und bereits

bekannte Faktoren für erwartungswidrige Bildungsaufstiege zu eruieren. Andererseits sollten im

Zuge der Bearbeitung der Biografien neue Erkenntnisse gewonnen werden. Versiert wurde dabei

die Beantwortung folgender Forschungsfrage:

Welche Faktoren beeinflussen erwartungswidrige Bildungsaufstiege von Frauen und welche

fördernden und präventiven Erkenntnisse können daraus für die aktuelle Bildungsforschung

abgeleitet werden?

Die vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich zunächst im Abschnitt 2.1. mit Bildung und

Bildungsungleichheit im Bildungssystem, gefolgt von den vorhandenen Forschungsergebnissen

zu einzelnen Faktoren erwartungswidriger Bildungsaufstiege im Abschnitt 2.2. Im 3. Kapitel wird

der Fokus auf erwartungswidrige und erfolgreiche Bindungsverläufe von Bildungsaufsteigerinnen

in der Zeitperiode vom 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert gelegt. Das Ziel ist, die

Schwierigkeiten und Hürden, aber auch die Ressourcen und Unterstützerinnen sowie Unterstützer

2

herauszufinden, welche die erwartungswidrigen Bildungsbiografien jener Frauen beeinflusst

haben. Diese Analyse erfolgt immer im Anschluss an die einzelnen Kapitel, welche in

Lebensabschnitte bzw. Bildungsabschnitte der Biografien gegliedert sind. Die daraus

gewonnenen Erkenntnisse sollen über die Zusammenhänge zwischen den einzelnen

Einflussfaktoren des Aufstiegs Aufschluss geben, um somit jene erklärenden Muster für fördernde

und präventive Maßnahmen zum Umgang mit Bildungsungleichheit zu nutzen. Abschließend

werden in Kapitel 4 die Ergebnisse der Biografie-Analysen zusammengefasst, mit den

Erkenntnissen aus der theoretischen Auseinandersetzung verglichen und gegebenenfalls

ergänzt. Schlussfolgerungen, im Sinne einer Empfehlung, werden dann im Abschnitt 4.2.

festgehalten. Im letzten Kapitel wird abschließend ein Resümee gezogen.

3

2. Theoretischer Rahmen

In diesem Kapitel werden zuerst die aktuellen Erkenntnisse zu Bildung und dem Bildungssystem

als (Re-)Produzent von Bildungs- und Chancenungleichheit diskutiert. Ferner wird der Stand der

Forschung für Einflussfaktoren auf Bildungs- und Karrierewege zusammengefasst, speziell in

Hinblick auf erwartungswidrige Bildungsaufstiege. Im abschließenden Fazit werden die aktuellen

Daten resümiert.

2.1. Bildung und das Bildungssystem als (Re-)Produzent von Bildungsungleichheit

Bildung wird als wesentlicher Faktor für Erfolg gesehen (vgl. Becker & Hadjar, 2009, S. 55). In

unserer Gesellschaft steht Bildung für Emanzipation und Partizipation. Mit Partizipation ist hier die

Teilhabe an sozialen, politischen und kulturellen Prozessen gemeint. Emanzipation bedeutet hier

Befreiung durch Bildung, als Faktor der Befähigung der freien Entfaltung der Persönlichkeit, zur

Entwicklung eigener Fähigkeiten und Interessen und zur Herausbildung von Selbstständigkeit für

individuelle Chancen im Leben und für beruflichen Erfolg (vgl. Dombrowski & Solga, 2012, S. 51;

Gerhartz-Reiter, 2013, S. 54; Giesinger, 2009, S. 175). Es gibt unterschiedliche Auffassungen von

Emanzipation. Hier ist jene Auffassung von Gerhartz-Reiter (2013) gemeint: Emanzipation als

„Befreiung von (sichtbarer und unsichtbarer) Unterdrückung und damit einhergehenden

eingeschränkten Chancen auf soziale, berufliche und private Selbstverwirklichung“ (S. 54).

Gesteht man Bildung diese emanzipatorische Funktion zu, soll sie Menschen zur autonomen und

selbstbewussten Auseinandersetzung mit dem Umfeld und den gegebenen gesellschaftlichen

Verhältnissen befähigen sowie eine Reflexion über und Kritik an eben dieser Gesellschaft

ermöglichen und allen zu gleichen Chancen verhelfen (vgl. Gerhartz-Reiter, 2013, S. 54). Das Ziel

der Chancengleichheit durch Bildung ist zwar richtungsweisend, dennoch ist es keineswegs der

Fall, dass alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Chancen haben bestimmte

Bildungslaufbahnen einzuschlagen und erfolgreich zu beenden. Zu bedenken ist, ob die formale

Bildung überhaupt zur Herstellung der Chancengleichheit beiträgt. Aktuelle Studien belegen, dass

die Schule eher als Faktor der (Re-)Produktion von Chancenungleichheit fungiert (vgl. Ditton,

2010, S. 252; Gerhartz-Reiter, 2013, S. 61; Ribolits, 2006, S. 84). Ditton (2010) nennt drei

Faktoren, die bei der Reproduktion von Bildungsungleichheit mitwirken: „mit der sozialen Herkunft

verbundene individuelle Faktoren, institutionelle Faktoren auf der Ebene des Unterrichts und der

einzelnen Schule, des Schulsystems sowie schließlich kontextuelle und regionale Bedingungen“

(S. 252).

Nach Langer (2017) führt das Erbe der Educational Governance-Forschung, nämlich die

permanente Nichtbeachtung von (Bildungs-)Ungleichheit, zu unterschiedlichen Zutritts- und

Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerungsgruppen. Jene ökonomisch starken, politisch

4

einflussreichen und selbstorganisierten Akteurinnen und Akteure, welche die äußerst

intransparenten Educational Governance Prozesse verstehen, können Einwände gegenüber

staatlichen Entscheidungen vorbringen. Große Akteure wie die EU-Kommission, die OECD und

die Weltbank entscheiden mit überlegenem Wissen über Politik, entziehen sich jedoch der

demokratischen Kontrolle. Die Educational Governance sollte die Macht- und

Bildungsungleichheitsverhältnisse sowie die Verteilung der Ressourcen untersuchen und

basierend auf den Erkenntnissen Handlungsimplikationen ableiten, da sonst eine Politik

unterstützt wird, welche die Interessen der Vermögenden und der Eigentümer in den

Finanzinstitutionen und Konzernen vertritt (vgl. Langer, 2017, S. 25 f). Schirlbauer kritisiert

ebenfalls in diesem Zusammenhang die von der EU geforderte Chancengleichheit aller

Menschen, da sie eben nicht auf gleiche Bildungschancen, sondern auf gleiche Humankapital-

Verwertungschancen bezogen sei. Es gehe nicht um selbstständiges und kritisches Denken,

sondern um Anpassung und der damit einhergehenden Unerwünschtheit von kritischer

Unangepasstheit (vgl. Schirlbauer, 2009, S. 155 f). Bünger und Pongratz sagen etwas Ähnliches.

Bei den Bildungsangeboten gehe es um Funktionalität und um die Sicherung von Bestehendem

durch Reproduktion und nicht um die Selbstständigkeit der Menschen. Emanzipatorische Bildung

ist hier nicht von Bedeutung, folglich kann Emanzipation durch Bildung auch nicht erreicht werden

(vgl. Bünger, 2009, S. 179 f; Pongratz, 2009, S. 111).

Einerseits qualifiziert das Bildungssystem Personen, um gesellschaftlich relevante Positionen

einzunehmen, gesellschaftlich benötigte oder erwartete Arbeit zu leisten und für die

Weiterentwicklung der Gesellschaft Sorge zu tragen. Andererseits restringiert das Bildungssystem

die Personen insofern, dass sie institutionen- und normkonform agieren und ihre Ziele nicht zu

stark vom gesellschaftlichen Status quo abweichen. Die hierarchisch angeordneten

gesellschaftlichen Positionen respektive Arbeiten verlangen quasi unterschiedlich ausgebildete

Personen, weswegen dem Bildungssystem die Aufgabe der gesellschaftlichen Selektierung

zukommt (vgl. Langer, 2017, S. 149 f). Dadurch findet eine permanente Reproduktion und

Legitimation von Bildungsungleichheit und bestehender ungleicher Machtverhältnisse statt. Dies

ist meist kein starrer, immer wiederkehrender Prozess, sondern ein flexibler, die Strukturen

modifizierender und den veränderten Umweltbedingungen angepasster Prozess (vgl. Gerhartz-

Reiter, 2017, S. 23; Langer, 2017, S. 149 f).

Das Bildungssystem unterstützt die Vermittlung grundlegender Fähigkeiten, welche die Teilhabe

an sozialen, politischen und kulturellen Prozessen sowie die Entwicklung individueller Fähigkeiten

und Interessen zur unabhängigen Lebensgestaltung und für berufliche Chancen ermöglicht (vgl.

Giesinger, 2009, S. 175; Dombrowski & Solga, 2012, S. 51; Gerhartz-Reiter, 2013, S. 54). Über

die Vermittlung grundlegender Fähigkeiten hinaus, können unterschiedlich gewertete Bildungstitel

erworben werden, die zu hierarchisch angeordneten sozialen und beruflichen Positionen führen.

5

Dies führt zu einer Konkurrenz zwischen den gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, was

bedeutet, dass von vornherein keiner benachteiligt oder ausgeschlossen werden darf, damit

gemäß der demokratischen Gleichheitsnorm alle gesellschaftlichen Gruppen dieselben Chancen

haben diese Konkurrenz zu gewinnen. Bildungsungleichheit besteht, wenn eben diese Gleichheit

auf Chancen für bestimmte Bevölkerungsgruppen erleichtert und für andere

Bevölkerungsgruppen erschwert ist, wodurch sich eine ungleiche Ressourcen- und

Chancenverteilung ergibt (vgl. Langer, 2017, S. 141 f). Im Umkehrschluss würde

Chancengleichheit respektive Bildungsgleichheit vorliegen, wenn alle die gleiche Chance für den

Zugang zu formaler Bildung und beruflichen sowie sozialen Positionen haben würden. Dazu

müsste dieser Zugang von leistungsfremden Kriterien wie beispielsweise Geschlecht oder soziale

Herkunft losgelöst sein. Zudem müsste die Leistungsbewertung in einem freien Wettbewerb

erfolgen, individuell und auf dem Leistungsprinzip basierend, also durch Intelligenz und

Anstrengung (vgl. Becker & Hadjar, 2009, S. 37, 42 und 44; Giesinger, 2009, S. 183, Fn. 3; Langer,

2017, S. 142). „Dass das Bildungssystem nach dem Leistungsprinzip funktionieren würde, ist eine

ideologische gesellschaftliche Selbstbeschreibung“ (Langer, 2017, S. 143).

Zukünftige Möglichkeiten werden nicht durch Leistung allein, sondern durch

Ausgangsbedingungen beeinflusst, die bereits vor Beginn der schulischen Laufbahn bestehen.

Es stellt sich jedoch die Frage, welche Bedeutung sowohl die formale Bildung, vor allem auch als

Kompensator ungleicher Ausgangslagen, als auch entsprechende Bildungsabschlüsse für die

weiteren Berufs- und Lebenschancen haben (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 11 f). Denn Bildungs-

bzw. Lernerfolge hängen unter anderem von der Qualität des Unterrichts und des Lehrpersonals

ab. Die Noten, die dann am Ende eines formalen Bildungsganges in Zeugnissen festgehalten

werden, führen dann zum Abschlusszertifikat eines Bildungslehrgangs, der wiederum mit der

Verleihung eines Bildungstitels verknüpft ist. Unter Bildungstitel fallen sowohl der

Pflichtschulabschluss als auch Matura, Bachelor, Master oder Doktor. Diese Verleihungen von

Noten, Zeugnissen und Bildungstiteln sind das Kommunikationsmedium des Bildungssystems

(vgl. Langer, 2017, S. 148 und 151). Das Bildungssystems kommuniziert mit seinen Medien,

sowohl intern als auch extern die erbrachten Leistungen der Schülerinnen und Schüler, „die es

als Lernerfolgs- und damit Leistungsbewertungen versteht, obwohl sie streng genommen

Vermittlungs(miss)erfolgsbescheinigungen sind“ (Langer, 2017, S. 148).

Die wenigen bisher erfolgten Versuche der Educational Governance, das Problem der

Bildungsungleichheit in den Griff zu bekommen, blieben aber eher erfolglos. Versuche seitens der

Politik konnten die Bildungsungleichheit auch nicht eindämmen. Weder die Bildungsexpansion

der 1960er und -70er Jahre, noch die Einführung neuer Steuerungsinstrumente, noch mehr

Wettbewerb ab den 1990er Jahren oder die PISA-, Bildungsstandards- und

Vergleichstestbewegung brachten eine Verbesserung (vgl. Langer, 2017, S. 131). Langer (2017)

6

beschäftigt sich dabei mit der Frage, warum Bildungsungleichheit überhaupt ein Problem ist. Eine

gerechte Verteilung von Bildung ist notwendig, da Bildung die Lebenschancen beeinflusst (vgl.

Giesinger, 2009, S. 175), wodurch dem Bildungssystem die wichtige Funktion als

„Verteilungsinstanz für soziale und berufliche Positionen“ (Becker & Hadjar, 2009, S. 37)

zukommt. Wenn der Konkurrenzkampf um Bildungstitel stärker wird, erhöhen sich auch die

Bildungsaspirationen der ganzen Bevölkerung, sodass sich laut Pollak (2010) die Chancen für

erwartungswidrige Bildungsaufstiege reduzieren (vgl. Pollak, 2010, S. 13–32).

Es ist nicht ausreichend geklärt, welche Faktoren wie zur Kumulation oder Kompensation von

Bildungsungleichheiten im Bildungsverlauf beitragen, obwohl die Bedeutung von Übergängen im

Bildungssystem als Selektionsmechanismus immer wieder in der Bildungsforschung

hervorgehoben wird (vgl. Dombrowski & Solga, 2012, S. 80; Giesinger, 2009, S. 183, Fn. 3).

Etliche Studien beschäftigen sich mit den Einflussfaktoren auf Bildungsverläufe, wobei bereits

bekannt ist, dass einzelne Faktoren und deren Kombination schulischen Erfolg tendenziell mehr

begünstigen als andere. Obwohl Einzelfaktoren allein als auch ein Bündel von Einzelfaktoren die

Wahrscheinlichkeit für eine gemeinhin erfolgreiche Bildungslaufbahn angeben können, misslingt

dies jedoch bei einem erwartungswidrigen Bildungsverlauf (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 11 f).

2.2. Faktoren erwartungswidriger Bildungsaufstiege

Als erwartungswidriger Bildungsaufstieg wird eine Bildungskarriere dann bezeichnet, „wenn

Personen, die unter Bedingungen aufwachsen, die normalerweise zu einer kurzen und erfolglosen

Bildungskarriere führen, trotz dieser Ausgangslage ein Studium absolvieren und gut bezahlte,

gesellschaftlich angesehene Berufspositionen erreichen“ (Langer, 2017, S. 153).

Erwartungswidrige Bildungsaufstiege sind selten und statistisch gesehen eher weniger

wahrscheinlich (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 313). Während sich die Bildungsforschung schon

lange mit dem Thema des Schulabbruchs beschäftigt, wurden unerwartete Bildungsaufstiege erst

im letzten Jahrzehnt thematisiert. 2016 war es beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft

für Empirische Bildungsforschung (GEBF) sogar das Hauptthema (vgl. Langer, 2017, S. 153 f).

Bildung wird als wesentlicher, aber nicht alleiniger Faktor zum Erfolg betrachtet. Die in der

Bildungslaufbahn erworbenen Bildungstitel haben einen Einfluss auf die beruflichen und sozialen

Positionen. Eine zentrale Rolle nimmt hierbei der ungleiche Zugang zu Bildung ein. Darüber

hinaus spielt die soziale Herkunft nach wie vor eine starke Rolle. Bildungschancen hängen stark

vom Elternhaus und der Familie ab. Zudem haben soziale Konflikte (z.B. Krieg) oder soziale

Bewegungen einen wesentlichen Einfluss (vgl. Becker & Hadjar, 2009, S. 55; Gerhartz-Reiter,

2017, S. 22; Grunert, 2012, S. 141; Langer, 2017, S. 153). Es kann nie nur ein Faktor isoliert und

unabhängig von den anderen auf die Bildungskarriere einwirken. Vielmehr handelt es sich um

7

komplexe „Wechsel-, Zusammen-, und Gegeneinander-Wirkungen“ (Langer, 2017, S. 154). Die

im Faktorenbündel wirkenden Faktoren unterscheiden sich hinsichtlich ihrer relativen

Wirkungsweise und hinsichtlich ihrer Wirkungsstärke auf jede individuelle Bildungskarriere (vgl.

Langer, 2017, S. 154). Sie wirken sich sowohl auf die objektive Ebene, also den Aufstiegsprozess

an sich aus, als auch auf die subjektive Ebene als Habitustransformation. Umfangreiche

Datenmengen belegen, dass nicht nur eine Schwelle oder eine Bildungsphase, ein Bildungsort

oder individuelle Defizite mit dem Bildungsaufstieg zusammenhängen, sondern vielmehr die

gesellschaftlichen Strukturen, die auf Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit gründen (vgl.

El-Mafaalani, 2012, S. 313).

Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, würde man versuchen, ein

theoretisches Erklärungsmodell der Wechselwirkungen einzelner Faktoren für erwartungswidrige

Bildungsaufstiege vorzunehmen. Es geht vielmehr um jene Faktoren, deren Wechselwirkung auf

die Biografien der für diese Arbeit ausgewählten Frauen Einfluss hatten. Die Abkürzung EBA wird

im Rest der Arbeit häufig benutzt und steht für ‚erwartungswidrige Bildungsaufsteigerin bzw.

erwartungswidrige Bildungsaufsteigerinnen’.

2.2.1. Gesamtgesellschaftliche Faktoren

Gesamtgesellschaftliche Faktoren wie das Geschlecht, die soziale und regionale Herkunft oder

die Religion werden dem Kind mit der Geburt in eine bestimmte Familie zugeschrieben. Solche

Gruppenzugehörigkeiten haben Einfluss auf den Bildungs- und Karriereweg durch Bevorzugung

oder Benachteiligung der jeweiligen Person. War „In den 1960er Jahren […] die ‚katholische

Arbeitertochter vom Lande‘ der Inbegriff kumulierter Benachteiligungen im Bildungssystem“ (Hopf,

2017, S. 26), so ist es zu Beginn dieses Jahrhunderts der Migrantensohn in der Großstadt (vgl.

Hopf, 2017, S. 26). Gesamtgesellschaftliche nicht-schulische Faktoren haben sich im Zuge der

Geschichte immer wieder verändert. Historisch gesehen fand eine Reduktion sozialer

Ungleichheitsmuster statt, vor allem in Bezug auf regionale und religionsbezogene Faktoren.

Andere Faktoren wie das Geschlecht haben sich verschoben oder teilweise sogar umgedreht.

Herkunftsbezogene Faktoren wie soziale und nationale Herkunft blieben hingegen hartnäckig

bestehen (vgl. Becker, 2012, S. 128; Gerhartz-Reiter, 2017, S. 65).

Regionale Unterschiede gibt es in Österreich zwischen städtischen und ländlichen Regionen.

Schülerinnen und Schüler aus städtischen Regionen besuchen eher eine AHS oder BHS als ihre

in ländlichen Regionen lebenden Gleichaltrigen, deren Chance hierfür eher geringer ist. Dieser

Trend zeichnet sich vor allem im Bereich der Sekundarstufe I ab. Nur ein Viertel der Schülerinnen

und Schüler in Wohnorten mit unter 20.000 Einwohnern besuchen eine AHS, in größeren

Wohnorten mit bis zu 100.000 Einwohnern besuchen immerhin 39 Prozent eine AHS. Dieser

Anteil erhöht sich mit 47 Prozent auf fast die Hälfte in städtischen Wohnorten mit mehr als 100.000

8

Einwohnern. Mitunter Grund dafür ist, dass die Bildungsbeteiligung und die Qualifikationsstruktur

der Bevölkerung in den Städten höher ist (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 66). Dieses Bild zeichnet

sich auch in Deutschland ab, wo ebenso weiterhin soziale und regionale Ungleichheiten bestehen,

jedoch mit gewissen Modifikationen. Der Zugang zu einem Gymnasium wurde in der

Nachkriegszeit zunächst einfacher für untere soziale Gruppen. Obwohl sich dies in neuerer Zeit

veränderte, da der Gymnasialzugang wieder sozial geschlossener wurde, kann zumindest in

Teilbereichen eine schrittweise Angleichung der Bildungsbeteiligungsquoten festgestellt werden

(vgl. Ditton, 2010, S. 251). Laut Wenzel (2010) kann keine umfassend intendierte Reduzierung

von Bildungsbarrieren festgestellt werden, folglich besteht weiterhin eine regionale Ungleichheit

in der Bildungsteilhabe an mittleren Bildungsgängen, auch aufgrund der sozialen Geschlossenheit

gymnasialer und universitärer Bildung (vgl. Wenzel, 2010, S. 65).

In der Literatur finden sich schon früh Hinweise über die benachteiligend wirkende Verschränkung

von sozialer Herkunft mit Region und Religion (vgl. Dierckx, Miethe & Soremski, 2017, S. 3). Ein

wesentlicher Punkt, auch im Hinblick auf die im nächsten Kapitel folgenden Biografien, sind die

schrecklichen Geschehnisse des zweiten Weltkrieges. Juden wurden als minderwertig gegenüber

den ‚arischen’, ‚germanischen’ Völkern angesehen. Überfälle und Benachteiligungen wie die

Degradierung zu Bürgern zweiter Klasse, der Ausschluss vom Beamtenberuf oder die

Beschränkungen für den Besuch von Schulen und Universitäten gehörten zum alltäglichen Leben.

Sie wurden schikaniert, ihres Vermögens beraubt, vertrieben, als Arbeitssklaven ausgenutzt oder

deportiert (vgl. Ballhausen, 2004, S. 242 und 527). Trotz der zentralen Rolle von Religion in

vormodernen Gesellschaften, änderte sich dies mit Anbruch der Moderne (vgl. Müller, 2012, S.

190). Denn der Einfluss der Religionszugehörigkeit auf die Bildungschancen ist seit den 1970er

Jahren rückläufig (vgl. Becker, 2012, S. 128).

Im deutschsprachigen Raum konnte in den letzten Jahren eine Trendwende betreffend den Faktor

Geschlecht beobachtet werden. Die ideologisch orientierte Mädchenbildung – also Küche, Kirche

und Kinder – hielt den Bildungsreformdebatten Ende der 1960er Jahre nicht statt. In der Phase

der rechtlichen Gleichstellung sollten durch Bildungsexpansion und Koedukation die

Bildungschancen der Mädchen an jene der Jungen angeglichen werden. Durch stärker werdende

feministische Strömungen folgte der rechtlichen Gleichstellungsphase eine ausgleichende und

geschlechterbewusste, reflexive Koedukationsdebatte (vgl. Wenzel, 2010, S. 62). Bis Ende des

19. Jahrhunderts war die höhere Mädchenbildung im Alter von ca. 14 Jahren abgeschlossen. Die

höhere Mädchenschule bezog sich demnach nicht auf die Dauer des Schulbesuchs, sondern auf

die soziale Herkunft der Schülerinnen. Eine weitere Abstufung gab es zwischen den privaten und

öffentlichen Mädchenschulen, denn die privaten Töchterschulen waren sozial höher gereiht. Die

Lehrplaninhalte der höheren Mädchenschulen differierten zudem sehr stark von den Inhalten der

Gymnasialbildung der Knaben. Die Erziehung und Ausbildung der Mädchen galt der Vorbereitung

9

auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter. Alte Sprachen, Naturwissenschaften oder Mathematik

wurden wenig unterrichtet. Geisteswissenschaftliche und ästhetische Tätigkeiten standen

dagegen im Vordergrund. Nach der Vollendung der Mädchenbildung im Alter von ca. 14 Jahren

konnten noch zwei Jahre Privatunterricht genommen werden, dies war allerdings aufgrund der

Kosten nur für finanziell gut situierte Eltern möglich. Eine Matura sah eine Mädchenbildung bis

Ende des 19. Jahrhunderts nicht vor und legitimierte somit den Ausschluss aus akademischen

Berufen. Als entscheidende Sozialisationsinstanz reproduzierte die Mädchenschule die

vorherrschenden und tradierten Geschlechterrollenbilder (vgl. Franzke, 2016, S. 38–40)

Ditton (2010) und Wenzel (2010) beschreiben, dass in Folge der Bildungsexpansion die

Bildungsbenachteiligung von Mädchen im allgemeinbildenden System abgeschafft und das

weibliche Geschlecht somit zum Gewinner der Bildungsexpansion wurde. Der Anteil der Mädchen

in höheren Schulen ist mittlerweile größer als jener der Jungen und zudem sind Mädchen

erfolgreicher in ihren schulischen Karrieren (vgl. Ditton, 2010, S. 251; Wenzel, 2010, S. 62 f).

Schülerinnen haben im Vergleich zu Schülern, welche die selbe soziale Herkunft haben, eine um

neun Prozent höhere Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialempfehlung zu erhalten (vgl. Gerhartz-

Reiter, 2017, S. 67). Dennoch setzt sich diese Bildungsqualifikation nicht immer in

entsprechenden zukunftsorientierten beruflichen Qualifikationen und Karrieren fort (vgl. Wenzel,

2010, S. 63).

Abbildung 1: Anteil Abschluss nach Geschlecht und Alter (Statistik Austria, 2020)

10

Die Zahlen der Abbildung 1 zeigen, dass infolge der Bildungsexpansion die traditionellen

geschlechtsspezifischen Unterschiede im Bildungsniveau abgebaut wurden. Im Zeitvergleich

(2007/08-2017/18) zeigen sich die merkbar steigenden Frauenanteile. 2017 verfügten 33,3% der

weiblichen und 27,3% der männlichen Bevölkerung im Alter zwischen 25 bis 64 Jahren über einen

mittleren oder höheren Schulabschluss. Mit 19,2% lag der Anteil der Frauen mit einem Hochschul-

oder Akademieabschluss über jenem der Männer, der bei 15,9% lag (vgl. Statistik Austria, 2020).

Obwohl die Mehrheit der Studienabschlüsse von weiblichen Studierenden absolviert wurden, liegt

der Frauenanteil bei Doktorratsabschlüssen bei 45,4%. Generell zeigt sich aber eine Steigerung

der Promotionen in den letzten Jahrzehnten, die zum größeren Teil auf weibliche Promovierungen

zurückgeht. Die Anzahl der weiblichen Doktorratsabschlüsse lag 1980/81 lediglich bei 13,5% (vgl.

Statistik Austria, 2019, S. 44). Obwohl Frauen eine wachsende Gruppe in akademischen

Laufbahnen sind, steigen viele nach der Promotion aus wissenschaftlichen und

forschungsintensiven Tätigkeiten an Universitäten aus. Karriereverläufe an Universitäten

bedürfen eines Wechsels der Universitäten, faktisch also Mobilität. Die Entscheidung der Frauen

für Kinder und deren Erziehung beeinflusst den weiteren Verlauf oder Abbruch der Karrieren

maßgeblich (vgl. Böhringer, 2017, S. 495). Betrachtet man die Zahl der belegten Studien zeigen

sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Studienwahl. Neben der

Veterinärmedizin (79,5%) weisen die Geisteswissenschaften (70,4%) den höchsten Anteil an

Frauen auf, in den Montanwissenschaften (23,4 %) und in der Technik (25,2 %) gibt es hingegen

den niedrigsten Frauenanteil (vgl. Statistik Austria, 2019, S. 34).

Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren Universitäten eine Männerdomäne (vgl. Franzke, 2016, S.

35). Betrachtet man die Geschichte des Frauenstudiums, zeigen sich beachtliche zeitliche

Unterschiede in der Zulassung von Frauen zu den Universitäten. Großen Einfluss darauf hatten

die Gleichberechtigungsbestrebungen und Frauenbewegungen (siehe dazu 2.2.6. Abschnitt über

Frauenbewegung und Feminismus). Die Züricher Universität ließ Frauen schon ab 1840 als

Gasthörerinnen zu (vgl. Domke, 2017, S. 279) und ermöglichte Frauen ab 1865 die Zulassung

zum Studium und den Studienabschluss. Viele der ersten Studentinnen waren Russinnen, die in

ihrem Land nicht studieren konnten und sich für ein Studium im Ausland entschlossen (vgl.

Neumann & Benz, 2018, S. 235). In den Vereinigten Staaten von Amerika studierten Frauen

bereits seit 1833 an einigen Universitäten oder Colleges, teilweise sogar koedukativ. Ab 1860

studierten und promovierten Frauen unter anderem in Frankreich (1863), England (1869/1870),

Schweden (1873), Dänemark (1875), Norwegen (1882), Belgien (1883) und Österreich (1897).

Einer der Vorreiter in der Hinsicht war Österreichs südliches Nachbarland Italien. Hier wurden

bereits Ende des 19. Jahrhunderts Doktortitel in Physik, Naturwissenschaften und Philologie

verliehen (vgl. Franzke, 2001, S. 173; Gerhard, 2007, S. 279 f). Vermutlich wurde das erste

Doktorat einer Frau aber schon 1678 von der Universität von Padua an Elena Lucrezia verliehen,

11

die demnach die erste Frau mit akademischem Abschluss war. Zurückzuführen war dieser Erfolg

vermutlich auf den Einfluss ihrer Familie, denn Bestrebungen anderer Frauen sich für ein Doktorat

zu immatrikulieren, wurden abgewiesen. Erst 50 Jahre später erhielt Laura Bassi als zweite Frau

ein Doktorat. Es gibt vereinzelte Fälle, die schon im 18. Jahrhundert auf ein Frauenstudium

hindeuten (vgl. di Simone, 1996, S. 243), der reguläre Zugang für Frauen zu Italiens

Universitätsstudien erfolgte aber erst 1876 (vgl. Franzke, 2001, S. 173). Eines der letzten

europäischen Länder, welches Frauen regulär und gesetzlich zur Universitätsausbildung zuließ,

war Deutschland. Die gesetzliche Verankerung der Zulassung von Frauen zum

Universitätsstudium erfolgte zuerst in Sachsen (1906), dann in Preußen (1908) und anschließend

in ganz Deutschland (vgl. Franzke, 2016, S. 37 und 88f; Gerhard, 2007, S. 279 und 291).

Auch die soziale Herkunft, darunter die Berufsposition und das Einkommen der Eltern, ist als

Faktor nicht außer Acht zu lassen, da die Bildung der Eltern erheblichen Einfluss auf die

Bildungslaufbahnen der Kinder nimmt (vgl. Statistik Austria, 2019, S. 36). Obwohl

herkunftsbedingte Ungleichheiten auf Bildungschancen beim Zugang zur Realschule aufgrund

sozialer Unterschiede durch die Bildungsexpansion abnahmen, hängen die Chancen für den

Zugang zu einem Gymnasium und die darauffolgenden Bildungschancen noch stark von der

Schichtzugehörigkeit und der sozialen Position des Elternhauses ab (vgl. Becker, 2010, S. 163 f;

Becker, 2011, S. 101; Grunert, 2012, S. 141). Häufig haben die Eltern erwartungswidriger

Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger innerhalb der Arbeiterklasse selber den Aufstieg

in höher gestellte Positionen, wie beispielsweise die eines Fach- oder Vorarbeiters bzw. die einer

Fach- oder Vorarbeiterin, geschafft. Sie zeigen eine hohe Arbeitsmotivation und gehen

gelegentlich auch Nebentätigkeiten nach, weswegen sie, im Vergleich mit anderen aus ihrer

Bevölkerungsgruppe, durch höhere Einkommen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben.

Dadurch können sie sich schichtuntypisch bessere Wohnbedingungen leisten, welche einen

positiven Effekt auf die Lebenssituation des Kindes haben. Zudem haben sie schichtuntypisch

mehr finanzielle Kapazitäten, um die Bildung ihrer Kinder zu unterstützen und zu fördern, wodurch

sich den Kindern mehr Bildungsmöglichkeiten eröffnen. In Relation zu anderen in ihrer

Sozialstruktur zählen die Eltern von EBA eher zu den Privilegierten (vgl. Langer, 2017, S. 155).

Eine Studie des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch das HIS-Institut für

Hochschulforschung, fand heraus, dass im Jahr 2009 77% der Akademiker-Kinder studierten und

im Vergleich dazu nur 23% der Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien (vgl. Middendorff,

Apolinarski, Poskowsky, Kandulla & Netz, 2013, S. 111). Dies beweist, wie stark der Bildungsweg

eines Kindes in Deutschland trotz der Reformen der letzten Jahrzehnte von der sozialen Herkunft

abhängt und noch stark geprägt ist (vgl. Domke, 2017, S. 293).

12

2.2.2. Soziales Kapital: Familie, Erziehung und Sozialisation

Ein wesentlicher Schlüsselfaktor für den Bildungsverlauf von Kindern ist die Qualität der sozialen

Beziehungen. Mit der Ressource Sozialkapital sind persönliche Beziehungen gemeint, die laut

Nairz-Wirth, Meschnig & Gitschthaler (2010) bei allen ihren Interviewten der Grund für positive

Entwicklungen waren (vgl. 2010, S. 66). Soziale Beziehungen beeinflussen die

Bildungsergebnisse des Kindes wesentlich (vgl. Schmitt, 2009, S. 729). Kompetente und stabile

Bezugspersonen wie Patinnen und Paten, Verwandte oder Bekannte sowie Lehrerinnen und

Lehrer oder auch Gleichaltrige (Peers) fungieren hier als Vorbilder und nehmen eine

unterstützende und problemreduzierende Funktion ein (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 74; Nairz-

Wirth et al., 2010, S. 66 f).

Familiäre ökonomische, soziale, kulturelle, finanzielle und auch zeitliche Ressourcen – also

Quantität und Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen – und auch der Erwerb von grundlegenden

Kompetenzen in der Familie vermitteln positive Beziehungserfahrungen und haben Einfluss auf

den späteren Bildungserfolg der Kinder (vgl. Grunert, 2012, S. 139 f; Schmitt, 2009, S. 728;

Schütte, 2013, S. 117 und 185 f). Positive Beziehungs- und Bindungserfahrungen die im frühen

Alter des Kindes stattfinden, also das Aufwachsen in einem familiären Klima, welches geprägt ist

von emotionaler Sicherheit, Unterstützung durch die Eltern und Zusammenhalt innerhalb der

Familie, stehen am Anfang des sozialen Aufstiegs (vgl. Schütte, 2013, S. 183 ff). Der Einfluss der

Familie verringert sich aber im Laufe der Schulkarriere, wenn der erworbene milieuspezifische

Habitus durch andere Faktoren (wie Schule, Peers, Mentorinnen und Mentoren) beeinflusst wird

(vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 74).

Die Bildungsaspirationen, also Erwartungen der Eltern an die Kinder und deren

Bildungslaufbahnen sowie deren Unterstützung in Schulfragen, bilden einen eigenständigen

Faktor für erwartungswidrige Bildungskarrieren. Die meist aufstiegsorientierten Eltern späterer

EBA zeigen großes Interesse an Bildung und dem schulischen Bildungsverlauf des Kindes, um

den Wunsch des sozialen Aufstiegs des Kindes wahr werden zu lassen (vgl. Langer, 2017, S.

159). Das Anregungs- und Anforderungspotential in der Familie ist ein förderlicher Faktor für den

Schulerfolg (vgl. Hurrelmann & Wolf, 1986, S. 25). Die elterliche Erwartungshaltung, im speziellen

die Erwartungshaltung der Mutter, ist eine zentrale Einflussgröße, die zu einem bestimmten

Schulabschluss verleitet (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 91 f). Die hohen elterlichen

Bildungsaspirationen enden nicht wenn das Kind die Matura erlangt, da die Eltern davon

ausgehen, dass das Kind danach ein Studium macht. Es gibt in der Literatur drei Gründe für ihre

schichtuntypisch hoch ausgeprägte Wertschätzung gegenüber Bildung. Verpasste Chancen und

der als eingeschränkt erlebte eigene Bildungsweg der Eltern sind der erste Grund. Eltern

übertragen also nicht erfüllte eigene Bildungsambitionen auf ihre Kinder. Als zweiten Grund

werden die eigenen begrenzten beruflichen Möglichkeiten sowie negative Erfahrungen in der

13

Arbeitswelt genannt. Sie wollen ihren Kindern nicht nur diese negativen Erfahrungen ersparen

(vgl. Langer, 2017, S. 159), sondern auch ein Leben in Armut, da sie wissen, dass mit dem

Bildungsstand auch das Einkommen steigt, wodurch ihre Kinder es später einmal besser haben

werden als sie. Der dritte Grund betrifft den Status und dessen Steigerung in der

Herkunftscommunity, also das Ansehen der Familie und den gesellschaftlichen Aufstieg (vgl.

Langer, 2017, S. 159; Schütte, 2013, S. 198).

Ein weiterer Faktor von Bildungskarrieren ist der schulbezogene elterliche Rückhalt für die

Kinder. Aufstiegsorientierte Eltern wollen ihren Kindern den Zugang zu Bildung ermöglichen und

verzichten dafür auch auf vieles. Dafür werden finanzielle Ängste in Kauf genommen und eigene

Wünsche hintenangestellt, mit dem Ziel im Hinterkopf, wie oben schon genannt, dass es ihre

Kinder später einmal besser haben als sie. Dieser Typ Eltern vermittelt ihren Kindern, dass sie

durch zielstrebiges Lernen und Arbeiten eine Chance auf gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg

haben (vgl. Schütte, 2013, S. 198 f). Das Risiko eines Scheiterns ihres Kindes nehmen sie eher

in Kauf als andere Eltern (vgl. Spiegler, 2015, S. 53). Sie bieten ihrem Kind Rückhalt und

Unterstützung in schulischen Dingen. Ihnen ist bewusst, dass sie ihren Kindern nicht immer helfen

können, aber jede erbrachte schulische Leistung wird wertgeschätzt und anerkannt. Außerdem

wird mit den Lehrern und Lehrerinnen über die Interessen des Kindes und die möglichen

Bildungswege gesprochen. Eventuell auch entgegen der Empfehlung mancher Lehrkräfte, wird

das Einschlagen höherer Bildungswege angestrebt (vgl. Langer, 2017, S. 160; Schütte, 2013, S.

199).

Über das spezifische Erziehungsverhalten der Eltern späterer EBA, welches mit der sozialen

Herkunft zusammenhängt, ist in der Literatur nur wenig zu finden. Die Studie von Hurrelmann und

Wolf (1986) kommt jedoch zu der Erkenntnis, dass dem elterlichen Erziehungsstil und der

Familienstruktur eine fördernde Wirkung auf die Schullaufbahn zugeschrieben werden können.

Umgekehrt können sich ungünstige Lernbedingungen auch negativ auf die schulischen

Leistungen auswirken (vgl. Hurrelmann & Wolf, 1986, S. 25). Erwähnt wird in der Literatur, dass

die gesetzten Regeln und Normen auch gegen die Wünsche der Kinder durchgesetzt werden

können, da die Eltern in Hinblick auf zukünftige Verpflichtungen in Schule und Arbeit diesen

Normen mehr Gewicht zuschreiben. Zusätzlich zu dieser strukturgebenden Atmosphäre wirkt sich

ein liebevolles Erziehungsverhalten positiv auf die Widerstandsfähigkeit des Kindes aus. Der

liebevolle und positive Umgang der Eltern mit ihren Kindern steht an oberster Stelle und sie sind

stets präsent, wenn diese Anliegen oder Kummer haben (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 74 f;

Langer, 2017, S. 157). Ohne Druck und mit einem Gefühl der Freiheit können die Kinder ihre

Fähigkeiten entdecken und entwickeln wodurch die Kompetenzaneignung gefördert wird (vgl.

Langer, 2017, S. 157; Schütte, 2013, S. 198). Zur Förderung sozialer und kognitiver Kompetenzen

der Jugendlichen erwies sich der autoritative Erziehungsstil als der Erfolgreichste. Dieser

14

Erziehungsstil unterstützt ohne Untergrabung der eigenen Autonomie oder Individualität des

Kindes auch disziplinierte Konformität. Regeln und etwaige Widersprüche werden besprochen.

Obwohl bei Disputen starke Kontrolle durch die Eltern erfolgt, werden die Kinder nicht durch

Einschränkungen eingeengt (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 75 und Fn. 16). Langer (2017)

vermutet, „dass die oben erwähnten interaktiv lebendigen und solidarischen Beziehungen auf der

einen Seite und die Inanspruchnahme sozialisierender Institutionen auf der anderen Seite an sich

erzieherische Wirkung entfalten, die scharf konturierte disziplinierende Akte selten werden lassen

und in ihrer Bedeutung relativieren“ (2017, S. 157).

Die von Langer (2017) beschriebene Nutzung sozialisierend wirkender Institutionen trägt zur

Entwicklung bildungsaufstiegsförderlicher kognitiver Kompetenzen bei (vgl. Langer, 2017, S. 158).

Laut Schütte (2013) führt das soziale Kapital dazu, dass Kinder im späteren Leben und auch im

Bildungsweg erfolgreicher sind als jene Kinder, die viel alleine sind. Dazu zählen

Freizeitaktivitäten, bei denen Kinder mit anderen Kindern und auch mit Erwachsenen zusammen

sind (vgl. Schütte, 2013, S. 151) sowie die Nutzung von Kindergärten und Vereinen zum Knüpfen

von Beziehungen. Oft sind die Eltern späterer erwartungswidriger Bildungsaufsteigerinnen

schichtuntypisch viel mehr in die sozialen Strukturen ihres Heimatortes eingebunden und

verschaffen ihren Kindern dadurch Zugang zu diesen beiden Typen von Bildungseinrichtungen.

Besonders der Besuch von Kindertagesstätten trägt zur Förderung kognitiver Kompetenzen bei,

die wiederum den Bildungsaufstieg fördern. Dies gelingt unter folgenden Prämissen: das Kind

besucht den Kindergarten regelmäßig, je früher desto besser, und Entwicklungsrückstände und

Lernschwierigkeiten werden im Kindergarten frühzeitig wahrgenommen und gezielt bearbeitet

(vgl. Langer, 2017, S. 158).

Oft kämpfen Kinder bereits vor Schulbeginn mit schul- und bildungsbezogenen Dispositionen.

Mit Dispositionen sind „emotionale und kognitive Muster inklusive Erwartungshaltungen,

Bewertungssysteme, Selbstbild und Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ (Langer, 2017, S. 161)

gemeint, die ihre Wirkung zu Schulbeginn entfalten. Bereits zu Schulbeginn sind Kinder selbst

bildungsorientiert, da ihre Familie respektive ihre Eltern ihnen den hohen Wert der Bildung bereits

vermittelt haben. Sie wollen lernen und leisten, um einerseits die Bildungserwartungen zu erfüllen

und andererseits ihren Drang nach positiver schulischer Anerkennung zu befriedigen. Ein

ausgeprägtes Verantwortungsgefühl für das eigene Handeln wird hierbei entwickelt. Durch die

erfahrene Selbstwirksamkeit und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Stärken und das

eigene Leistungsvermögen, welche durch die Eltern vermittelt wurden, sind sie tendenziell

überzeugt ihren Bildungs- und Karriereweg in ihrem Sinne beeinflussen und entscheiden zu

können. Der Umgang mit Belastungssituationen und Ablehnung gelingt ihnen aufgrund der

mitgebrachten Stressverarbeitungskompetenz bereits in der Schule sehr gut. Die schulische Logik

15

sowie deren Pflichten und Regeln werden, wenn auch zeitweise kritisch, angenommen (vgl.

Langer, 2017, S. 161).

2.2.3. Bildung und Bildungssystem

Das Bildungswesen hat einen erheblichen Einfluss auf einzelne Bildungskarrieren. Die

Dispositionen vor Schulbeginn, also quasi die zugeteilten Rollen, werden nur selten neu vergeben.

So schafft das Bildungssystem die Grundlage für die stetige Reproduktion der Ungleichheit und

festigt die soziale Herkunft weiter (vgl. Ribolits, 2006, S. 84). Es gibt bis dato wenig

Untersuchungen, die den Verlauf von Bildungskarrieren betreffend den Einflussfaktor Schule

erforschten, jedoch betonen neuere Studien den Einfluss der Schule, deren Organisation und die

sozialen Beziehungen in der Schule (vgl. Nairz-Wirth et al., 2010, S. 34). Die Studie von

Hurrelmann und Wolf (1986) ist die Erste, die sich mit der Biografie und dem schulischen Erfolg

sowie Misserfolg von Jugendlichen auseinandersetzt. Darin kommen die Autoren zu dem

Ergebnis, dass der Verlauf der Schullaufbahn bis ins Erwachsenenalter von hoher Relevanz ist

und sowohl eine biografische als auch identitätsbeeinflussende Wirkung hat (vgl. 1986, S. 162).

Die institutionellen Praktiken und Arbeitsbeziehung in der Schule spielen eine große Rolle im

Umgang mit den unterschiedlich vorgeprägten Schülern und Schülerinnen. Konkret geht es

hierbei laut der Literatur um drei Punkte, die den Grad der sozialen Sensibilität – wie Langer dies

bezeichnet – in der Schule in Hinblick auf die unterschiedlich vorgeprägten Schülerinnen und

Schüler betrifft (vgl. Langer, 2017, S. 162).

Der erste Punkt betrifft die Regeln, Erwartungen und Bewertungskriterien, die in der Schule

hinsichtlich Sozialleben, Aufgabenstellungen und Leistungsanforderungen gelten sowie deren

Kommunikation an die Schülerinnen und Schüler. Dies kann entweder dialogorientiert mit

eindeutigen Erklärungen stattfinden oder implizit, in dem die Regeln und Bewertungen einfach

vollzogen werden, unabhängig davon wie es den Schülern und Schülerinnen damit geht. Die erste

Variante berücksichtigt, hinsichtlich Leistungsanforderungen und Erwartungen, das Vorwissen

und die Aufnahmefähigkeit der Kinder. Außerdem wird im Zuge von ernsthaften Feedback-

Gesprächen geklärt, was richtig gemacht wurde und was nicht und vor allem wieso und wie

zukünftig effektiver gelernt werden kann. Die zweite Variante führt zur Desorientierung von

Schülern und Schülerinnen, da die Erwartungen an das Verhalten und die unterschiedlichen

Aufgabenstellungen wenig verständlich oder in widersprüchlicher Weise oder gar erst im

Nachhinein mitgeteilt werden. Zudem werden Leistungen gleichgültig hingenommen oder es wird

nur auf Defizite eingegangen (vgl. Langer, 2017, S. 162 f; Nairz-Wirth et al., 2010, S. 35).

Der zweite Punkt, mitunter einer der meistunterschätzten Punkte in der Diskussion um

Bildungsgleichheit, handelt vom Umgang zwischen den Lehrkräften und den Schülerinnen und

Schülern. Obwohl bekannt ist, dass soziale Beziehungen allgemein einen großen Einfluss auf die

16

Bildungswege haben, werden schulische Arbeitsbeziehungen selten thematisiert. Auch hier gibt

es zwei Varianten wie diese Arbeitsbeziehungen gestaltet sein können: entweder durch

persönliche Beziehungen auf Basis eines wertschätzenden und respektvollen Umgangs

miteinander oder ein Umgang geprägt von negativen Emotionen (vgl. Langer, 2017, S. 163 f).

Beim respektvollen Umgang miteinander spielen Lehrkräfte eine große Rolle als eine Art Mentorin

beziehungsweise Mentor. In privaten Gesprächen, eventuell auch mit den Eltern gemeinsam,

werden Lösungen entwickelt, um den Kindern zu helfen und das Vorankommen zu fördern. Die

Unterstützung ist ganz entscheidend für spätere Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger,

da vor allem Kinder mit nicht optimalen Ausgangsbedingungen die Aufmerksamkeit, Akzeptanz

und das Interesse benötigen (vgl. Langer, 2017, S. 164). Viele erfolgreiche Absolventinnen und

Absolventen nennen Lehrkräfte als maßgeblichen Einfluss für Ihr Interesse an einem Gebiet. Bei

bereits verstorbenen Absolventinnen und Absolventen können Widmungen in den Dissertationen

einen Hinweis auf Einflüsse geben. Tatsächlich werden oftmals Lehrkräfte genannt (vgl. Tobies,

1997, S. 33 f). Die Lehrperson ist auch oft Ansprechperson bei der Auswahl der weiterführenden

Bildungseinrichtung respektive des Studiums. Durch gute Beziehungen mit einer Lehrperson, die

als Vorbild fungiert, werden Schülerinnen und Schüler gerne zur Schule gehen. Wenn die Schule

als zweites Zuhause angesehen wird, kann der Einfluss des Elternhauses reduziert und durch

schulische Aktivitäten das Selbstbewusstsein des Kindes gestärkt werden. Dafür ist eine

entsprechende Schulung der Lehrpersonen nötig, um mit gezielter Förderung Leistungsdefizite

ausgleichen zu können. Außerdem müsse laut Gerhartz-Reiter (2017) an der sozialen und

unterrichtlichen Kompetenz von Lehrkräften gearbeitet werden (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 107

f und 113).

Ein Umgang geprägt von negativen Emotionen, wie Erniedrigung, böswillige Ungerechtigkeit und

Schikanierung, Ablehnung, Abneigung sowie Gleichgültigkeit und Gefühlslosigkeit wäre die

gegenteilige nicht zielführende Variante. Wird die Schulzeit nicht vorzeitig abgebrochen, endet sie

für viele Schüler völlig orientierungslos und mit illusionären Vorstellungen über mögliche Berufe

(vgl. Langer, 2017, S. 162–165; Nairz-Wirth et al., 2010, S. 72–74).

Der dritte Punkt ist die Behandlung von wahrgenommenem Absentismus vom Unterricht durch

die Schule. Variante eins ist der konstruktive Umgang und Variante zwei ist die Abwälzung von

Verantwortung, wofür es unterschiedliche Gründe gibt (vgl. Langer, 2017, S. 162). Langer (2017)

schreibt hierzu:

„Spätere Bildungsaufsteiger/innen scheinen entweder nicht in nennenswertem Maße dem

Unterricht fernzubleiben, oder es gilt im Nachhinein nicht mehr als wichtig, weil der

Bildungsweg ja zum Erfolge geführt hat. Es ist auch möglich, dass die Schulen der

17

späteren EBA nicht offensichtlich auf Absentismus reagieren mussten, weil ihre sonstige

soziale Sensibilität bereits prophylaktische Effekte hatten.“ (S. 166)

Laut Langer (2017) ist der Grad der sozialen Sensibilität dann stark ausgeprägt, wenn die Schule

die erstgenannten Varianten treffen. Das Treffen der zweiten Varianten produziere laut ihm

seltener überraschend erfolgreiche Schulkarrieren, sondern eher Schulabbrüche. Nur wenn

Praktiken schulweit umgesetzt werden, handelt es sich um institutionelle Praktiken, unabhängig

davon wie einzelne Lehrkräfte handeln oder Situationen gehandhabt werden (vgl. Langer, 2017,

S. 162).

Ein weiterer wichtiger Faktor ist die praktizierte Ungleichheit, die durch Schullaufbahn-

empfehlungen von Lehrkräften oft unbewusst und unabsichtlich diskriminierend einhergehen. Die

gegebenen Übertrittsempfehlungen sind oft zentral für die weiteren Bildungskarrieren der Kinder

(vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 110 f). Neben der sozialen Herkunft werden aber auch die

schulischen Leistungen und leistungsfremde, aber dennoch leistungsrelevante Merkmale, wie

Motivation, Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Ordnung, Interesse, Belastbarkeit und auch

Charaktereigenschaften wie Ehrlichkeit, Gehorsam und Höflichkeit, für die Laufbahn-

empfehlungen herangezogen (vgl. Ditton, 2010, S. 253; Gerhartz-Reiter, 2017, S. 110 f).

2.2.4. Glück und Zufall

Ein weiterer Faktor, der zu erwähnen ist, kann zwar nicht theoretisiert werden, wird aber in der

Literatur immer wieder, wenn auch manchmal indirekt, behandelt: Glück und Zufall. El-Mafaalani

(2012) verweist auf diese beiden Faktoren, da sie in seinen empirischen Analysen zu sozialen

Aufstiegsprozessen von den Interviewten genannt werden. Nebst einem Veränderungswunsch

spielen auch Glück oder Zufall und daraus sich ergebende Möglichkeiten und

Unterstützungsleistungen eine wesentliche Rolle (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 328–329 und 151-

280 (Interviews)). Im folgenden Abschnitt 2.2.5. ‚Soziales Kapital: Schulunabhängige

Motivationen‘ kommt der Faktor Zufall vor. Wenn nämlich schulexterne Mentorinnen und Mentoren

zufällig ins Leben des Kindes treten und eine wegweisende Position, eine Schlüsselposition, im

Leben zukünftiger Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger einnehmen (vgl. Langer, 2017,

S. 171).

2.2.5. Soziales Kapital: Schulunabhängige Motivationen und Schlüsselerlebnisse

Unabhängig von der Schule kann das Kind den Wunsch entwickeln, durch Bildung aufzusteigen.

Dies geschieht, wenn das Kind die schlechten und schwierigen Arbeitsbedingungen der Eltern

sieht und es für sich selbst Chancen zur eigenen Selbstverwirklichung ausmacht, was vor allem

durch Schlüsselerlebnisse hervorgerufen werden kann. Dies kann auch erst im späteren

18

Lebensverlauf eintreten. Häufigster Grund für solche Schlüsselerlebnisse ist die Orientierung an

Peers und Vorbildern (vgl. Langer, 2017, S. 167 f). Denn jede individuelle

Bildungswegentscheidung ist zwangsläufig von anderen Personen, wie Eltern, Peers oder

Lehrkräften, beeinflusst (vgl. Grunert, 2012, S. 121 und 132; Miethe, Soremski, Suderland,

Dierckx & Kleber, 2015, S. 36). Die Entwicklung von Interessen wird im Alter von sechs bis elf

Jahren stark von Gleichaltrigen beeinflusst. Dieser Einfluss übersteigt jenen der Familie und der

Schule merklich (vgl. Grunert, 2012, S. 132).

Peers, also Gleichaltrige, sind eine wichtige Ressource, wenn es um Motivation geht. Wichtig ist

mit welchen Peers sich das Kind umgibt, weswegen die Wahl der Schule hier bezüglich sozialer

Zusammensetzung von großer Relevanz ist (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 92 f). Denn der

familiale Einfluss reduziert sich im Laufe des Bildungsweges, wohingegen andere Faktoren wie

zum Beispiel Schule, Peers, Mentorinnen und Mentoren eine Vorbildfunktion übernehmen und an

Einfluss gewinnen (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 74; Grunert, 2012, S. 132; Nairz-Wirth et al.,

2010, S. 66 f). Peers spielen daher bei der Auswahl weiterführender Bildungseinrichtungen eine

große Rolle (vgl. Langer, 2017, S. 163–165). Wichtig ist, dass es keine (engen) Kontakte mehr zu

herkunftsähnlichen Peers gibt, außer diese schlagen auch solch einen Aufstiegsweg ein (vgl. El-

Mafaalani, 2012, S. 326). Nairz-Wirth, Meschnig & Gitschtaler berichten, dass die Peergruppe

einen immensen psychischen Druck ausübt, der von subtilen bis hin zu offenen Varianten reichen

kann (vgl. Nairz-Wirth et al., 2010, S. 82).

Spätere Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger vergleichen ihre Leistungen mit denen

der Mitschülerinnen und Mitschüler aus bildungsnahen Milieus, wodurch ein positives

Selbstbild über die eigene Leistungsfähigkeit ausgebildet wird. Der Kontakt zu diesen Peers nimmt

eine entscheidende Rolle ein. Der reflektierende Vergleich der eigenen Herkunftsfamilie mit dem

Freizeit-, Urlaubs- und Elternverhalten ihrer Peers erzeugt den Wunsch nach finanziellem,

kulturellem und sozialem Aufstieg. Je mehr die eigene Familie beziehungsweise das eigene Milieu

als beengend und demütigend erfahren wird, desto stärker wird der Wunsch sich von den

Herkunftsverhältnissen zu lösen. Normen, Überzeugungen und Handlungsweisen von Personen,

die Bildung höher wertschätzen als die Herkunftsgruppe, werden übernommen, vor allem in Bezug

auf die Verbesserung der schulischen Leistung. Dieses Engagement bringt positives Feedback

von Lehrkräften sowie Mitschülerinnen und Mitschülern, was unter anderem das

Durchhaltevermögen der EBA stärkt. Außerdem führt dies zu einem selbstverstärkenden,

persönlich-emotional stabilisierenden und kognitiv fördernden Prozess. Die Erwartungen an den

eigenen Bildungsweg verändern sich und der eigene Aufstieg erscheint realistisch umsetzbar.

Lehrkräfte bestärken das positive Sozialverhalten und die positiven Leistungen des Kindes und

auch die Mitschülerinnen und Mitschüler aus bildungsnahen Schichten akzeptieren großteils

19

künftige EBA. Rückblickend wird die Schulzeit als positive Erfahrung gewertet (vgl. Langer, 2017,

S. 167–169).

Diese einschneidenden Differenzerfahrungen zwischen dem Herkunftsmilieu und dem

Sozialkontext des bildungsnäheren Milieus verursachen Gefühle der Fremdheit, Irritationen und

Ängste. Im biografischen Abschnitt kommt es in der Jugend zu dieser Phase der Irritationen, in

welcher der eigene Handlungsspielraum als eingeschränkt erlebt wird. Diese Differenzerfahrung

kann dabei als akute biografische Krise oder als biografisch relevanter Wendepunkt verstanden

werden. Durch den Milieuwechsel, also den Wechsel des sozialen Umfelds, geschieht eine Um-

und Neukonstruktion der individuellen sozialen Identität. Dabei werden Verhaltensweisen, Denk-

und Deutungsgewohnheiten, die einem in die Wiege gelegt wurden, verändert. Es können dabei

zwei Typen unterschieden werden, welche die Habitustransformation rechtfertigen: einerseits der

empraktische Umgang, also die Normalisierung der Irritationen, indem sie situations- oder

themengebunden verarbeitet werden, andererseits der reflexive Umgang, der sich kritisch mit den

sozialen und habituellen Gegebenheiten auseinandersetzt. El-Mafaalani nennt den reflexiven

Umgang ‚Dramatisierung‘ (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 313–320 und 326–327; Langer, 2017, S.

171–173).

Auf die oben genannte Phase der Irritation folgt die Phase der Distanzierung. Neue soziale

Anschlussmöglichkeiten werden gesucht und neue Denk- und Handlungsweisen werden

ausgebildet. Der empraktische Typ setzt Herkunftsmilieu und das neue bildungsnähere Milieu in

Beziehung zueinander und bewältigt die Differenzen durch Ausbalancieren. Der reflexiv-kritische

Typ kann auch in einem biografischen Bruch, also in der Ablehnung des Herkunftsmilieus,

münden. Obwohl der Habitus, also die eigenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster,

einen hohen Kompatibilitätsgrad zum höheren Milieu aufweist, kann er doch nicht gänzlich von

seiner Sozialisationsgeschichte gelöst werden. Dennoch ist die Veränderung des Habitus ein

wichtiger Faktor für einen Bildungsaufstieg zum beruflich etablierten Akademiker oder zu einer

beruflich etablierten Akademikerin. Diese Entfremdungserfahrungen führen zu einem Balanceakt

zwischen Loyalität zum und der Abgrenzung vom Elternhaus, was oftmals als große Belastung

empfunden wird. Es gibt verschiedene Ausprägungen der Distanzierung und auch ein Mitnehmen

der Eltern stellt eine Form dar (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 313–320 und 326–327; Langer, 2017,

S. 171–173).

Spätere EBA können aber generell mit all dem bildungsorientiert umgehen. Grund dafür sind

mitunter die sozialen Anknüpfungen an Peers aus dem bildungsnäheren Milieu und die

Erkenntnis, dass Ehrgeiz, Fleiß und Anstrengung schlussendlich Früchte tragen. Der gesteigerte

Selbstwert und die positive Selbstwahrnehmung helfen eventuelle soziale Differenzen

auszuhalten und zu verarbeiten. In dieser Phase der Stabilisierung, wird das Verhältnis zum

20

Herkunftsmilieu geklärt (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 313–320 und 326–327; Langer, 2017, S. 171–

173).

Neben Peers können auch schulexterne Mentorinnen und Mentoren eine wegweisende

Position im Leben zukünftiger EBA einnehmen. Sie nehmen eine Vorbildfunktion ein, an der sich

das Kind orientieren kann, was voraussetzt, dass die Person einer bildungsnahen Gruppe

angehört. Diese Mentorinnen bzw. Mentoren können gemeinhin zufällig ins Leben des Kindes

treten und sind aus dem (oft entfernen) Verwandten-, Bekannten- oder Freundeskreis. Solch eine

Mentorin bzw. solch ein Mentor kann auch erst im späteren Leben auftauchen, also in der

Ausbildung oder Berufstätigkeit (vgl. Langer, 2017, S. 171).

2.2.6. Makro-Faktoren

Dieser Punkt behandelt ein Bündel an Faktoren, dessen Einfluss auf Individuen gar nicht oder

zumindest nicht in dessen historischen und prozesshaften Charakter analysiert wurde. Gemeint

sind Makro-Faktoren, also institutionelle, gesellschaftliche und wirtschaftspolitische

Rahmenbedingungen, welche die Chancen auf Bildungsaufstieg aber auch die Gefahr des

Bildungsabstiegs wesentlich erhöhen können. So oder so tangieren die gesamtgesellschaftlichen

und bildungspolitischen Gelegenheitsstrukturen jeden Bildungsweg und bestimmen dessen

Verlauf mit (vgl. Miethe, Soremski, Suderland, Dierckx & Kleber, 2015, S. 34 und 266).

Bereits Miethe, Soremski, Suderland, Dierckx und Kleber (2015) haben sich im Zuge ihrer Studie

zu Bildungsaufstiegen mit dem Ansatz von Sidney Tarrow (1991) auseinandergesetzt und einen

Zusammenhang hergestellt (vgl. Miethe et al., 2015, S. 34–37 und 46). Sidney Tarrow fokussierte

sich bei seiner Erforschung auf den historischen und politischen Kontext sozialer

Bewegungen, wie beispielsweise Friedensbewegungen. Der Ansatz der Konzeptualisierung

dynamischer Veränderungen historischer Phasen ist durchaus auch für den Zusammenhang von

Bildung und sozialer Ungleichheit nutzbringend. Er zielte zwar nicht auf Bildungsaufstiege ab, die

in dieser Arbeit behandelt werden, dennoch sind die in seiner Studie behandelten

Zusammenhänge von veränderlichen strukturellen Einflussfaktoren auf soziales Handeln auch für

diese Arbeit interessant. Tarrow (1991) bezeichnet politische Gelegenheitsstrukturen ebenfalls als

Einflussgröße zur Ermutigung oder Entmutigung sozialer oder politischer Akteure bzw. deren

unterschiedlich ausgeprägte Chancen auf Umsetzung ihrer Vorstellungen. Interessant für diese

Arbeit ist, wie solche ‚politischen Großwetterlagen‘ Einzelne zu individuellen

Bildungsentscheidungen und der Entstehung der Vorstellung von Bildungschancen ermutigen

oder entmutigen. Tarrow nennt vier Faktoren, die politische Richtungsänderungen ermöglichen

und so Einfluss auf viele Bildungswege haben: Neben dem Ausmaß der Offenheit oder der

Geschlossenheit politischer Institutionen zählt auch die Instabilität und Stabilität politischer

Beziehungen zu diesen Faktoren. Er berücksichtigt damit externe nationale sowie internationale

21

politische und ökonomische Faktoren. Darüber hinaus sind die An- oder Abwesenheit von

Unterstützerinnen und Unterstützern sowie Verbündeten und der Bruch innerhalb der Eliten und

deren (In-)Toleranz Faktoren für politische Richtungsänderungen (vgl. Miethe et al., 2015, S. 34–

37 und 46; Tarrow, 1991, S. 651 f).

Historische Ereignisse, wie die beiden Weltkriege, ermöglichten es Frauen in Positionen zu

gelangen, die sie sonst nicht hätten erreichen können. Der Grund waren die fehlenden Männer.

Andererseits bedeutete der Beginn der NS Diktatur 1933 für viele Frauen das Ende ihrer Karriere.

Die Politik gegen das ‚Doppelverdienertum‘ hatte das Ziel Frauen aus ihrem Beruf zu drängen.

Obwohl auch die Hochschulpolitik gegen Frauen gerichtet war, schafften dennoch einige ihre

Promovierung und Habilitierung. Zudem litten Frauen zu dieser Zeit wohl mehr unter

antisemitischen als antifeministischen Haltungen. Der zweite Weltkrieg brachte zumindest

teilweise für Wissenschaftlerinnen mehr Freiräume (vgl. Tobies, 1997, S. 49–51). Solche

historischen Ereignisse wie der zweite Weltkrieg und dessen Folgen sowie „die spezifische

Arbeitsmarktsituation und die damit verbundenen Chancen auf ausbildungsadäquate

Beschäftigung – genauso wie Generationen- und Elitenwechsel, parteipolitische Interessen oder

wissenschaftlich-technische Entwicklungen“ (Miethe et al., 2015, S. 36), führten mancherorts,

aber eben nicht überall dazu, die bestehenden Strukturen zu hinterfragen und einer kritischen

Bestandsaufnahme zu unterziehen und wirkten sich somit auch auf die Bildungspolitik und die

Teilhabe im Bildungssystem aus (vgl. Miethe et al., 2015, S. 36). Neben Raumerweiterung und

Einflussvergrößerung nennt Tarrow die Chancenverbesserung als Auswirkung von

Mobilisierungswellen (vgl. Tarrow, 1991, S. 648).

Relevant für diese Arbeit sind bildungswirksame Effekte der Mobilisierungswellen. Unter

Raumerweiterung könnte man hier die regionale oder lokale Verbesserung von

Bildungsangeboten verstehen. Zudem könnte man bei einer Übertragung auf den sozialen Raum,

bildungsschwächere und -fernere Schichten ansprechen, die sonst eher keine Chance auf

Bildungsaufstiege hätten. Durch die Einflussvergrößerung resp. Einflussnahme auf politische

Programme könnten bislang benachteiligte Schichten und deren Befindlichkeiten Beachtung

bekommen und es könnten ihnen neue Möglichkeiten eröffnet werden. Eine bildungswirksame

Verbesserung von Chancen würde zu geänderten Voraussetzungen für die Teilnahme an

Bildungsangeboten führen, also zur Erhöhung der Bildungsbeteiligungsquote. Dies könnte durch

die Änderung formaler Voraussetzungen geschehen beispielsweise durch Änderung von

Gesetzen, die es Mädchen dann erlauben zur Schule zu gehen oder eine Universität zu besuchen,

durch die Verbesserung der Bildungsinfrastruktur beispielsweise durch den Bau neuer und leichter

erreichbarer Bildungsinstitutionen oder durch den Abbau von finanziellen Hindernissen

beispielsweise durch den Wegfall von Studiengebühren oder durch monetäre Unterstützung im

Sinne einer Beihilfe (vgl. Langer, 2017, S. 174; Miethe et al., 2015, S. 36 f und 46).

22

Politische Gelegenheitsstrukturen können zur Bildungsmobilisierung einzelner Individuen

beitragen. Allerdings müssen die Auswirkungen der Makro-Meso-Strukturen auf den Einzelfall

individuell analysiert werden, da die Gelegenheitsstrukturen niemals statisch sind, sondern auf

unterschiedliche Einflüsse reagieren und sich dementsprechend verändern (vgl. Miethe et al.,

2015, S. 38 und 266). Mobilisierungswellen müssen nicht zwangsläufig einen politischen Ursprung

haben, sondern können auch durch makrostrukturelle Prozesse oder Entwicklungen ausgelöst

werden. Dies kann die Arbeitsmarktsituation sein oder der Generationenwechsel und damit

einhergehende Chancen für Karrieren. (vgl. Miethe et al., 2015, S. 38). Durch die Industrialisierung

veränderten sich die Perspektiven von Frauen aus dem Bürgertum in Bezug auf die Erwerbsarbeit.

Bestimmten vormals die Heirat oder das Vermögen der Herkunftsfamilie die soziale Position,

wurden Ausbildung und Bildung schließlich zu einem Faktor, der die soziale Selektion

mitbestimmte (vgl. Franzke, 2016, S. 35 f).

Gesellschaftliche Krisen oder Naturkatastrophen können einen Abstieg oder Aufstieg bewirken.

Wenn beispielsweise dringend Personal in gewissen Bereichen benötigt wird, dann gibt es die

Möglichkeit von vorgezogenen Abschlüssen oder gar Crashkurs-Studien. Andererseits können

Wirtschaftskrisen die schwache Entwicklung von Arbeitsmärkten zur Folge haben. Dies bewirkt

die Zunahme der Arbeitslosigkeit und eine Forderung der Arbeitgeber nach einer höheren

Qualifizierung. Dadurch haben auch akademisch ausgebildete Personen keine Garantie mehr für

einen ausbildungsadäquaten Arbeitsplatz (vgl. Miethe et al., 2015, S. 34–36 und 67). In einer

Gesellschaftsordnung in der sowohl ökonomische als auch politische und andere Einflusseliten

sich zunehmend sozial schließen und hohe Positionen dauerhaft besetzen und intern vererben,

wird es immer schwieriger, durch Bildungsaufstieg Zugang zu diesen Kreisen zu erhalten (vgl.

Langer, 2017, S. 173). Wenn dann parallel die Mittelschicht bei gleichbleibendem Lohn mehr

arbeiten muss und sichere Arbeitsplätze unsicher werden, dann wird der Konkurrenzkampf um

Bildungstitel stärker, die Bildungsaspirationen der ganzen Bevölkerung erhöhen sich, wodurch

sich laut Pollak (2010) die Chancen für erwartungswidrige Bildungsaufstiege reduzieren (vgl.

Pollak, 2010, S. 13–32).

Neben (bildungs-)politischen Maßnahmen oder makrostrukturellen Prozessen bzw.

Entwicklungen, ist der allgemeine öffentliche Diskurs über Bildung und die gesellschaftliche

‚Stimmungslage‘ ein wichtiger Ausgangspunkt für Bildungsaufstiege. Vorausgesetzt im Diskurs

wird die Relevanz der Förderung von Kindern aus nicht-akademischen Elternhäusern betont.

Zudem ist eine generelle Reformstimmung von Nöten, durch die auch Bildungsinstitutionen, und

die in ihnen handelnden Lehrenden, in die Verantwortung genommen werden. Neben der

gesellschaftlichen Ermutigung erfahren die Kinder bildungsferner Elternhäuser, dass sie aktiv an

ihrem Bildungsaufstieg arbeiten können und mitgestaltender Teil der kollektiven

23

Aufstiegsbewegung sind. Wichtig ist auch im Zuge des Diskurses Informationen über die

Möglichkeiten höherer und weiterführender Bildungswege zu vermitteln sowie über Ziele, Qualität

und Weiterführungsangebote der Schulen zu informieren, um so individuelle Bildungsaufstiege zu

ermöglichen (vgl. Langer, 2017, S. 174 f).

Zusätzlich bieten weltanschauliche Institutionen, unabhängig vom staatlichen Einfluss,

Bildungsgelegenheiten und -angebote. Mit weltanschaulichen Institutionen sind „Gewerkschaften,

Kirchen, Burschenschaften, Stipendiatengruppen, parteinahe Stiftungen, alternative

Bildungsinstitutionen etc.“ (Langer, 2017, S. 175) gemeint. Es wird jedoch vorausgesetzt, dass

die Lernenden die Interessen und Anschauungen der Institution teilen und dementsprechend

agieren und leben. Durch die abgesicherte finanzielle Förderung (z.B. durch Stipendien oder

Ähnliches) und die persönliche Förderung durch aktive Begleitung und Unterstützung des

Lernprozesses, wird eine Befreiung und Emanzipation erlebt und mit entsprechender Dankbarkeit

und Loyalität der Institution gegenüber honoriert (vgl. Langer, 2017, S. 175).

Ein ganz wesentlicher Faktor für die vorliegende Arbeit ist die Behandlung, Wertschätzung und

Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft. Ute Gerhard schreibt ausführlich über die zwei

Stichworte Frauenbewegung und Feminismus und deren gemeinsames Ziel. Das Ziel beider

ist, die Frau in allen Lebensbereichen mit gleichen Rechten, Freiheiten und Ressourcen

auszustatten. Im deutschen Sprachgebrauch unterliegen die Begriffe Frauenbewegung und

Feminismus unterschiedlichen Bedeutungen oder politischen Ansichten. Frauenbewegung soll

durch gemeinsames soziales Handeln einen sozialen Wandel herbeiführen. Obwohl Feminismus

auch in die Kategorie sozialer Bewegungen einzuordnen ist, verweist der Begriff auch auf eine

politische Theorie, die einen sozialen und symbolischen grundlegenden Wandel gesellschaftlicher

Verhältnisse verfolgt. Es gibt nicht die eine feministische Theorie oder den Feminismus, sondern

vielmehr gab es in den letzten 200 Jahren verschiedenste politische und soziale Bewegungen von

Frauen und die verschiedensten Richtungen (vgl. Gerhard, 2012, S. 6 f)

Bereits im Altertum gab es die Überzeugung, dass Weiblichkeit und Intelligenz unvereinbar seien.

Diese Meinung zog sich bis ins letzte Jahrhundert durch. Die Polarität von männlich und weiblich

war seit Aristoteles tief in der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau verwurzelt. Lange Zeit hielt

sie sich aufrecht (vgl. Daston, 1997, S. 69, 71 und 81). Doch Kritik an der Geschlechterordnung

gab es bereits in der Frührenaissance. Es war primär ein männlicher Diskurs, an dem aber auch

gelehrte Frauen beteiligt waren. Der Aufklärer François Poullain de la Barre schrieb 1763, ganz

im Sinne der Philosophie René Descartes, dass der Verstand kein Geschlecht habe und die

Geschlechter gleich sind. Mit den zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die

Physiologie des Menschen und der Feststellung, dass Sinneswahrnehmungen und Gefühle sehr

wohl Wissen und Denken beeinflussen, wurde die Begründung der Gleichheit der Geschlechter

24

nicht mehr akzeptiert. Einer der prägendsten Aufklärungsphilosophen, Jean-Jacques Rousseau,

der ausführlich über die geschlechtsbedingten Unterschiede schrieb, war der Auffassung, dass

die Anatomie der Frau ihre Schwäche und Passivität und so ihre Stellung in der Gesellschaft und

ihre Rechte begründe. Aus diesem Grund schloss er eine Gleichberechtigung der Frau

kategorisch aus (vgl. Gerhard, 2012, S. 11–13).

„Karl VI. war (notgedrungen) der erste Feminist in Österreich. Ziel seiner Politik war die

Anerkennung der Pragmatischen Sanktion, die es seiner Tochter Maria Theresia ermöglichte,

nach ihm in Österreich zu regieren“ (Steininger, 2000, S. 141). Der Terminus Feminismus wurde

das erste Mal in den 1880er Jahren von französischen Frauenrechtlerinnen aufgebracht, die den

Begriff als Pendant auf den vorherrschenden Maskulinismus verwendeten. Der Begriff verbreitete

sich von da an in der westlichen Welt und wurde sinngemäß mit Frauenbewegung genutzt (vgl.

Gerhard, 2012, S. 7 f). Die Ereignisse der Französischen Revolution kennzeichnen diese als

Zeitenwende in den Geschlechterbeziehungen. Die traditionellen Geschlechterbeziehungen

wurden grundlegend in Frage gestellt und es sollte eine neue Form des politischen Rahmens und

der Öffentlichkeit geschaffen werden, in der Frauen und Männer aus allen Schichten ihre Stimme

erheben und intervenieren konnten. Die ersten Massendemonstrationen, darunter der Marsch der

Pariserinnen am 5. Oktober 1789 nach Versailles, hatten mehr als den Kampf um das tägliche

Brot zum Ziel. Beim Marsch der Pariserinnen forderten die Frauen nicht nur das Recht auf

Teilnahme am öffentlichen Leben, sondern übten dieses Recht bereits aus (vgl. Gerhard, 2012,

S. 9 f). Während der Französischen Revolution wurden aus politischen Prinzipien Rechtsbegriffe,

die in konkrete Forderungen und einem politischen Programm mündeten, bei denen auch Frauen

mitwirkten (vgl. Gerhard, 2012, S. 13 f). Eine dieser Frauen war die geb. Marie Gouze, eine der

extravagantesten und bis heute in ihrer Bedeutung unterschätzten Mitstreiterinnen der

Französischen Revolution. Ihre Biografie wird im Abschnitt 3.4.2. Olympe de Gouges behandelt.

Der Marsch der Pariserinnen ging in die Geschichte ein. Er verzerrte jedoch das Bild der Frauen

hin zu vulgären und zügellosen Hyänen. Die Denunziation sämtlicher Mitwirkung von Frauen in

der Politik brannte sich in das historische Gedächtnis ein (vgl. Gerhard, 2012, S. 10 f). Die

Französische Revolution endete im Terror. 1793 wurden Frauenclubs und politische Beteiligungen

der Frauen untersagt und viele der neu gewonnenen Rechte wieder eingeschränkt. Die weiblichen

Tugenden wurden 1795 zur Einschränkung der Frauenrechte herangezogen und hielten sich in

Frankreich erschreckend lange, nämlich bis ins 20. Jahrhundert (vgl. Gerhard, 2012, S. 26 f).

In Österreich und Deutschland ist die 1848er Revolution ein wichtiges Datum der Geschichte der

Frauenbewegung. Um diese Zeit bildete sich zum ersten Mal eine soziale Bewegung, die eigene

frauenspezifische Interessen zur Sprache brachte. Beeinflusst durch die Ereignisse in Paris 1848

entstanden in vielen Städten in ganz Europa Volkserhebungen und Straßenkämpfe mit dem Ziel

einer demokratischen Verfassung, mehr Freiheiten, mehr Rechte und weniger Lohnkürzungen.

25

Frauen demonstrierten und konnten die bisherigen Geschlechtergrenzen überschreiten (vgl.

Dinter, 2006, S. 72; Gerhard, 2012, S. 28 f). Mit dem Medium der Frauen-Zeitung hatten Frauen

ein Sprachrohr. Zuerst für vereinzelte Schreiberinnen, dann für die breite Masse. Die Frauen-

Zeitung wurde zu einem Organ für Fraueninteressen und zum Medium der Mobilisierung. Zudem

wurden viele Frauenvereine gegründet, die an der Durchsetzung frauenspezifischer Anliegen

arbeiteten. Doch Frauen blieben auch nach der Revolution von gleichberechtigter Teilhabe und

neuen Bürgerrechten ausgeschlossen (vgl. Gerhard, 2012, S. 37 und 40). Die Forderungen der

Frauen wurden weniger und leiser (vgl. Dinter, 2006, S. 72). Ein reaktionärer Antifeminismus

verbreitete sich nach 1850 in der Politik und in den Wissenschaften (vgl. Gerhard, 2012, S. 48).

Auch in Amerika formierte sich 1848 eine ähnliche Bewegung, die allerdings schnellere

Fortschritte schaffte. Im Bundesstaat New York verfasste Elisabeth Cady Stanton eine Art

Frauenrechtserklärung, wie die von Olympe de Gouges. Bis zum amerikanischen Bürgerkrieg

1861 gelang es jährlich Frauenrechtskonferenzen abzuhalten, die von der Öffentlichkeit genau

beobachtet wurden. Nach und nach schlossen sich immer mehr Frauen an. Im Gegensatz zur

europäischen Situation unterstützten eine nicht unerhebliche Zahl prominenter Männer diese

Bestrebungen (vgl. Gerhard, 2012, S. 46–48). Über nationale Grenzen und auch über den Atlantik

hinweg finden sich von da an Spuren und Verbindungslinien eines neuen feministischen

Bewusstseins (vgl. Gerhard, 2012, S. 48 f).

Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Überzeugung, dass Weiblichkeit und Intelligenz

unvereinbar seien, zu bröckeln. Autoren behaupteten nicht länger, dass die intellektuelle

Gleichheit der beiden Geschlechter nicht möglich wäre. Wenngleich es sozial nicht überall

erwünscht war (vgl. Daston, 1997, S. 79). Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich

Frauen wieder energischer für ihre Rechte ein, vor allem für verbesserte Bildungs- und

Berufsmöglichkeiten (vgl. Dinter, 2006, S. 72 f). Im Gegensatz zu England oder Amerika, konnten

die Aktivitäten in Österreich keine Massenbasis erreichen, da die bürgerlich-liberalen und die

sozialdemokratischen Bewegungen unabhängig voneinander agierten. (vgl. Bader-Zaar, 2006, S.

1005). Das Frauenstimmrecht wurde erst sehr spät Teil der österreichischen Frauenbewegung.

Einerseits vermutlich aufgrund der katholischen Wurzeln der Bevölkerung, welche die

Lebensbereiche der Geschlechter regelten. Andererseits waren einige privilegierte Frauen,

aufgrund ihres Besitzes, bereits seit der bürgerlichen Revolution 1848 respektive seit März 1849

wahlrechtberechtigt. Die Frauen waren jedoch nicht direkt stimmberechtigt, durften sich jedoch

aufgrund ihrer Wahlberechtigung durch ihren Ehemann oder Vormund vertreten lassen. Ob dann

dem Wunsch der Frau entsprechend gewählt wurde, bleibt fraglich. Frauen hatten also de facto

keine politische Teilhabe und wurden aus dem öffentlich-rechtlichen Raum ausgeschlossen (vgl.

Bader-Zaar, 2006, S. 1007 und 1010; Dinter, 2006, S. 73).

26

Ab dem Übergang vom 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert verwendeten Gegner der

Frauenemanzipation den Begriff Feminismus abwertend und denunzierend. Bis heute haftet

Radikalität an diesem Begriff (vgl. Gerhard, 2012, S. 8). Den Frauenbewegungen der

internationalen Geschichte ist ein Paradoxon immanent: Je härter für die gleichen Rechte und

Freiheiten gekämpft wurde, desto länger warteten die weiblichen Bürger auf ihre rechtliche

Gleichberechtigung. In kleineren und peripheren Ländern erhielten Frauen diese Möglichkeiten

schneller und ohne große Aufstände. Bereits 1893 erhielten Frauen in Neuseeland das aktive

Wahlrecht. Erst neun Jahre später folgte Australien und weitere vier Jahre später, im Jahr 1906,

das erste europäische Land: Finnland. Es war zugleich das erste Land in dem den Frauen auch

das passive Wahlrecht, also die gänzlich gleichen parlamentarischen Rechte wie den Männern,

zugestanden wurde. Norwegen, Island und Dänemark folgten in den Jahren 1913 bis 1915. Doch

in vielen anderen Ländern mussten die Frauen bis zum Beginn der 1920er Jahre warten (vgl.

Sulkunen, 2006, S. 11 f). Zu Zeiten des Krieges stand Kriegshilfe im Mittelpunkt, wodurch die

Aktivitäten der Frauenbewegungen in den Hintergrund rückten (vgl. Bader-Zaar, 2006, S. 1025).

Im Jänner 1918 stellten mehrere Vereine und Organisationen ihre Ungleichheiten hinten an (vgl.

Bader-Zaar, 2006, S. 1027). Es war jenes Jahr in dem die Republik Deutsch-Österreich gegründet

und am 12. November das allgemeine Wahlrecht unabhängig vom Geschlecht eingeführt wurde

(vgl. StGBl Nr. 5/1918, o. J., S. Artikel 9). In Frankreich dauerte die Einführung des allgemeinen

Wahlrechts sogar bis nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Sulkunen, 2006, S. 12). Immerhin einige

Jahrzehnte vor der Schweiz, die das Frauenwahlrecht 1971 einführten und vor Liechtenstein, das

erst 1984 Frauen wählen ließen (vgl. Gamper, 2020, S. 6). Paradox, wenn man bedenkt, dass die

Züricher Universität eine der ersten Universitäten war, die Frauen zum Studium zuließ und das

bereits 1865 (vgl. Neumann & Benz, 2018, S. 235).

2.2.7. Individuum-spezifische Faktoren

Individuum-spezifische Faktoren beschreiben die Wesenszüge, Werthaltungen und Vorstellungen

eines jeden Menschen und deren erheblichen Einfluss auf Bildungs- und Karrierewege.

Unbestritten ist die Gemeinsamkeit der Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger über ein

hohes Maß an Disziplin und Fleiß zu verfügen. Einige der Biografien in El-Mafaalanis (2012)

empirischer Analyse zeigten, dass der Aufstieg allein durch ihre Eigenschaften begonnen werden

konnte. Diese Eigenschaften sind eine optimistische Grundhaltung und Zuversicht, eine

ausgeprägte Zielstrebigkeit, ein hohes Maß an Fleiß, sowie Disziplin und Durchhaltevermögen.

Sie zeichnen sich aus durch eine hohe Stresskompetenz, halten Unsicherheiten aus und können

flexibel und ausgleichend mit Rückschlägen umgehen. Kommunikationsfähigkeiten sowie

Anstrengungs- und Anpassungsbereitschaft sind weitere Merkmale von Bildungsaufsteigerinnen

und Bildungsaufsteigern, die ihnen auch helfen, sich in unbekannten Kontexten zurecht zu finden.

Ihr eigenverantwortliches Handeln ist geprägt von den Werten „Solidarität, Respekt, Leistung,

Ehrgeiz und – individuelle Verantwortung“ (vgl. Spiegler, 2015, S. 66). Die Veränderung des

27

Habitus und die Distanzierung zum Herkunftsmilieu, wie oben unter Punkt 2.2.5. beschrieben, ist

dennoch im späteren Bildungsverlauf notwendig (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 324 und 327;

Gerhartz-Reiter, 2017, S. 89; Langer, 2017, S. 175). Hilfreich für die Anpassungs-, Umstellungs-

und Stressbewältigungsmechanismen ist das Fähigkeitsselbstkonzept. Auswirkung auf das

Fähigkeitsselbstkonzept haben Leistungsgruppierungen und der Vergleich mit der Bezugsgruppe,

was sich wiederum auf die Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten auswirkt. Wichtig in

Bezug auf die eigenen Fähigkeiten, auf realistische Kontrollüberzeugungen und auf das

Selbstwirksamkeitsstreben ist das Selbstbewusstsein. Interessant wäre hier welches

Selbstkonzept spätere EBA haben und wie schulische Faktoren dieses (positiv) beeinflussen

können (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 89 f).

Die oberhalb erwähnte Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten und die zu erwartenden

Bildungserfolge prägen die eigenen Bildungsaspirationen, denn dementsprechend werden die

Ziele gesetzt oder eben nicht gesetzt (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 94). Alle Faktoren, die

Einfluss auf die eigenen Bildungsaspirationen haben, sind bedeutsam, da sich

Bildungsaspirationen positiv auf den Bildungserfolg auswirken. Nicht zu unterschätzen sind

zudem die eigenen Lernleistungen und die sozialen Einflüsse (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 91).

Soziale Einflüsse wurden bereits in den vorhergehenden Abschnitten behandelt, weswegen hier

auf Seite 12 Punkt 2.2.2. ‚Soziales Kapital: Familie, Erziehung und Sozialisation‘ und Seite 17

Punkt 2.2.5. ‚Soziales Kapital: Schulunabhängige Motivationen und Schlüsselerlebnisse‘

verwiesen wird. Der motivationale Einfluss unklarer oder aussichtsloser beruflicher Perspektiven

auf schulische Bildung darf nicht außer Acht gelassen werden. Wer den Wert von Bildung als

Investition in die berufliche Zukunft nicht sieht oder sich dessen nicht bewusst ist, verzichtet

infolgedessen darauf. Schulische Motivation sinkt, wenn Jugendliche mit schlechten oder wenig

Chancen auf dem Arbeitsmarkt rechnen. Sie passen daher ihre Ziele diesen Erwartungen an (vgl.

Gerhartz-Reiter, 2017, S. 94 f).

Faktoren, die für Frauen immer entscheidenden und wegweisenden Charakter haben, sind

Familie und Karriere. Lebens- und Karrierewünsche können sich durchaus sehr unterschiedlich

gestalten. Früher mehr als heute, bestand das Problem der Vereinbarkeit von Familie und

Karriere. Um 1900 wurden heftige Diskussionen über die akademische Frau geführt. Es gab nur

ein Entweder-oder. Tatsächlich zeigen sich mindestens drei Wege. Der erste Weg ist der Verzicht

der Frau auf eine Karriere im Interesse der Familie. Zumindest erlangten so einige Frauen als

mitwirkende Ehegattinnen Beachtung. Der zweite Weg ist gepflastert von einer gescheiterten Ehe.

Doch eine Ehe war oft Voraussetzung, um überhaupt studieren zu können, weswegen auch

Scheinehen eingegangen wurden. Und der dritte Weg, der Ausnahmefall, war die gelungene

Herstellung des Einklangs zwischen Familie und Karriere. Frauen, die diesen Weg bestritten

haben, berichten von besonderen Widerständen. Abgesehen von der Skepsis der

28

entscheidungstragenden Herren, war da noch das Hinundhergerissensein zwischen dem

beruflichen Ehrgeiz und dem familiären Verantwortungsgefühl (vgl. Tobies, 1997, S. 38–42).

Mittlerweile gibt es genug Unterstützung, die auch durch die Medienpolitik gefördert wurde. Unter

anderem helfen Kindertagesstätten Beruf und Familie zu vereinbaren (vgl. Tobies, 1997, S. 43).

Interessant und auch überraschend sind die Ergebnisse der empirischen Analyse von El-

Mafaalani, der herausgefunden hat, dass es kein gewöhnliches Aufstiegsmotiv, wie Geld oder

Macht, gibt. Solche zweckorientierten, instrumentellen oder extrinsischen Motive würden laut El-

Mafaalani nur begrenzt zum Bildungsaufstieg über höhere Bildungsinstitutionen verhelfen. Ein

gemeinsames Bedürfnis, nämlich ein Veränderungsbedürfnis, kann aber in allen seinen

analysierten Fällen erkannt werden. Sei es ein Bedürfnis nach „persönliche[r] Weiterentwicklung,

die Ausweitung von Denk- und Handlungsspielräumen, das Streben nach Wissen, ästhetischen

Erlebnissen oder moralischen Ansprüchen“ (El-Mafaalani, 2012, S. 325). Diese Motive erscheinen

erfolgsversprechend, bedenkt man den oft langjährigen Bildungsweg, indem immer wieder die

Fragen ‚Wozu lerne ich das?‘, ‚Wofür brauche ich das?‘ oder ‚Weswegen tue ich mir das an?‘

auftauchen. Dieses Veränderungsbedürfnis und die darauf gründenden Motive sind also demnach

das Geheimnis zum Erfolg. Durch die damit einhergehenden Veränderungen, wandelt sich

notwendiger- und verständlicherweise auch das Verhältnis zum Herkunftsmilieu. Das fehlende

Aufstiegsmotiv hat zur Folge, dass es keine Aufstiegs- oder Karrierepläne gibt. Zumal den

Aufsteigerinnen und Aufsteigern oft das Wissen über die Möglichkeiten oder das Vertrauen in sich

selbst, so einen Weg zu schaffen, fehlt. Erst im Laufe des Bildungswegs entwickeln sich die

Fähigkeiten und Interessen und das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten (vgl. El-Mafaalani, 2012,

S. 324–327). „Das fehlende Motiv und der fehlende Plan erscheinen – so paradox dies klingen

mag – als günstige (wenn nicht notwendige) Voraussetzungen für einen Aufstieg“ (El-Mafaalani,

2012, S. 326).

2.3. Fazit

In den vorangegangenen Abschnitten wurden wesentliche Ergebnisse zur vorhandenen und

aktuellen Forschung über Einflussfaktoren auf Bildungs- und Karrierewege aufgezeigt, die

teilweise in das Schul- bzw. Bildungssystem und teilweise in den außerschulischen Kontext

einzuordnen sind.

Eine theoretisch nennenswerte Erkenntnis ist, dass erwartungswidrige Bildungsaufstiege häufig

doch nicht so erwartungswidrig sind. Bildung stellt einen wesentlichen, wenn auch nicht alleinigen

Faktor für den Erfolg dar. Bildung ermöglicht die Teilhabe an sozialen, politischen und kulturellen

Prozessen und befähigt zur freien Persönlichkeitsentfaltung, zur Entwicklung eigener Fähigkeiten

und Interessen sowie zur Selbstständigkeit. All das ermöglicht individuelle Chancen im Leben und

29

in der Karriere. Doch wie aktuelle Ergebnisse zeigen, fungiert Schule eher als (Re-)Produzent von

Chancenungleichheit. Die Nichtbeachtung von (Bildungs-)Ungleichheiten führt zu

unterschiedlichen Zutritts- und Mitbestimmungsmöglichkeiten. Chancen- und Bildungsgleichheit

liegen nur dann vor, wenn alle die gleichen Möglichkeiten beim Zugang zu formaler Bildung und

beruflichen sowie sozialen Positionen haben und zwar unabhängig von leistungsfremden

Kriterien, wie beispielsweise soziale Herkunft, Region, Religion oder Geschlecht. Zudem müsste

die Leistungsbewertung individuell und auf dem Leistungsprinzip, also auf Intelligenz und

Anstrengung, in einem freien Wettbewerb basieren. Die Ausgangsbedingungen sind jedoch qua

Geburt in eine bestimmte Familie gegeben und beeinflussen die schulische Laufbahn bereits vor

deren Beginn. Im Zuge der Geschichte haben sich die gesamtgesellschaftlichen nicht-schulischen

Faktoren jedoch immer wieder verändert. Soziale Ungleichheitsmuster haben sich verringert, vor

allem jene in Bezug auf Region, Religion und Geschlecht. Eine weitere nennenswerte Erkenntnis

ist jene, dass der Faktor Geschlecht nicht nur weniger, sondern teilweise gänzlich umgekehrt

wurde und Mädchen zu Gewinnerinnen der Bildungsexpansion machte. Hingegen halten sich

soziale und nationale herkunftsbezogene Faktoren hartnäckig.

Früher wurden Mädchen höhere Schulen und Ausbildungen verweigert, mittlerweile ist der Anteil

von Mädchen in höheren Schuhen größer als jener der Jungen und zudem sind Mädchen

erfolgreicher in ihren schulischen Karrieren. Dies setzt sich jedoch nicht immer in entsprechenden

zukunftsorientierten beruflichen Qualifizierungen und Karrieren fort. Obwohl seit einigen

Jahrzehnten auch Universitäten für Frauen frei zugänglich sind und die Zahl der weiblichen

Promotionen zugenommen hat, beeinflussen die Faktoren Kinder und Kindererziehung aber nach

wie vor maßgeblich den Verlauf der Karriere einer Frau. Von Dispositionen und

Zugangsbeschränken abgesehen, hängt der schulische oder später universitäre Erfolg auch von

der Qualität des Unterrichts und des darin agierenden Lehrpersonals ab. Obwohl bekannt ist, dass

das soziale Kapital ein wesentlicher Schlüsselfaktor für den Bildungsverlauf von Kindern ist, wird

der Faktor Lehrperson durchaus unterschätzt. Wie bereits erwähnt nehmen neben Lehrpersonen

auch Peers, Freunde und die Familie eine wegweisende Rolle ein. Vor allem Personen die als

Mentorinnen und Mentoren auftreten beeinflussen die Entscheidungen, Chancen und Wege mit.

Die Unterstützung der Eltern, teilweise geprägt durch deren Bildungsaspirationen sowie deren

Rückhalt und Erziehungsverhalten, spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Deren

Bildungsabschlüsse, Berufspositionen und finanzielle Ressourcen sind ebenso zentral, wie die

Beziehung der Eltern zum Kind. Doch mit zunehmendem Alter nimmt dieser Einfluss ab und weicht

jenem der Peers, Freunde und Mentorinnen und Mentoren. Oft sind erwartungswidrige Aufstiege

von Zufällen und Glück geprägt, beispielsweise durch den Eintritt einer Mentorin oder eines

Mentors und daraus sich ergebende Möglichkeiten und Unterstützungsleistungen.

30

Eine weitere bemerkenswerte Einsicht betrifft das doch recht umfangreiche Gebiet der Makro-

Faktoren, also institutionelle, gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen.

Dazu zählen historische und politische Ereignisse, soziale Bewegungen wie die

Frauenbewegungen und deren Bestrebungen, aber auch die beiden Weltkriege bzw. die damals

herrschende Politik, die viele Karrieren beeinflussten. Nicht außer Acht zu lassen sind die

Konsequenzen solcher Ereignisse, die oftmals viele Veränderungen mit sich brachten, sowohl in

der Bildungspolitik als auch am Arbeitsmarkt und auch gesamtgesellschaftliche

Werteänderungen, wie die Wertvorstellung und das Rollenbild der Frau. Unbestritten ist auch der

Einfluss von Individuum-spezifischen Faktoren. In der Literatur ist beschrieben, dass die

Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger über ein hohes Maß an Fleiß und Disziplin

verfügen. Optimismus, Zielstrebigkeit, Anpassungs- und Anstrengungsbereitschaft zählen ebenso

dazu. Motivierend sind vor allem die eigenen Bildungsaspirationen und Ziele. Ein überraschender

Befund war, dass für den Aufstieg nicht immer ein konkretes Aufstiegsmotiv nötig ist.

Keine neue Erkenntnis ist, dass nicht ein Faktor allein entscheidet, sondern ein Bündel aus

Faktoren und deren Wechselwirkungen. Eine Berücksichtigung der bereits genannten Faktoren

wird im folgenden Kapitel für die individuellen Wege der EBA unternommen. Zusätzlich wird

versucht weitere Einflüsse, die bis jetzt nicht berücksichtigt wurden, zu finden und wenn möglich

zu theoretisieren.

31

3. Faktorenanalyse erwartungswidriger Bildungsaufstiege von Frauen

Überall und immer schon haben Frauen wichtige Beiträge in den unterschiedlichsten Bereichen

geleistet, darunter in den Naturwissenschaften, in der Medizin und auch in der Mathematik. Neben

den ungeregelten Umständen ihrer Ausbildung haben diese Frauen ihre historische Unsichtbarkeit

gemeinsam. Wissenschaftlerinnen waren stets weniger sichtbar als ihre männlichen Kollegen. Die

wenigen Frauen, die Zugang in die Wissenschaft fanden, wurden allem Anschein nach wiederum

als Argument verwendet, um anderen Frauen den Zugang zu akademischen Berufen zu

verweigern. Am Anfang dieses Jahrhunderts waren Frauen nach wie vor eine Randerscheinung

in der Wissenschaft (vgl. Sime, 2001, S. 7–9). In den letzten Jahrhunderten schafften Frauen es

aber immer mehr in Gebiete vorzudringen, die als Männerdomäne galten (vgl. Tobies, 1997, S.

17). Doch nicht nur Bereiche, die als Männerdomäne galten, sondern generell alle

erwartungswidrigen respektive außergewöhnlichen Bildungs- und Karrierewege sind im Interesse

dieser Arbeit.

In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, warum Frauen diesen Weg meisterten und

gewisse berufliche Gebiete eroberten. Analysiert wird der Bildungs- und Karriereweg der Frauen,

die in einer Zeit lebten, die von Männern bestimmt wurde und ob respektive welchen Einfluss dies

auf sie hatte. Untersucht werden aber auch jene Bildungs- und Karrierewege von Frauen, die in

einer Zeit lebten, die nicht mehr von Männern bestimmt wurde, um die maßgeblichen Faktoren

auf die Karrierewege jener Frauen festzustellen. Ziel ist es, daraus Faktoren für erwartungswidrige

Bildungs- und Karrierewege abzuleiten, welche die aktuell bekannten Daten der

Bildungsforschung bestätigen oder Faktoren zu eruieren, die in der aktuellen Bildungsforschung

noch keine Berücksichtigung fanden. Das folgende dritte Kapitel gliedert sich in sieben Abschnitte.

Im Ersten wird die wissenschaftliche Relevanz der vorliegenden Diplomarbeit erläutert, gefolgt

von der Beschreibung der methodischen Vorgehensweise im zweiten Abschnitt. Nach der

Begründung der Auswahl im dritten Abschnitt, folgt die Vorstellung der ausgewählten Biografien.

Die markantesten Eckpunkte aus jeder Biografie werden kurz beschrieben und es wird das

Erwartungswidrige der Karriere und die Pionierleistung hervorgehoben. Im Anschluss folgt die

Unterteilung der Biografien in drei Teile, die sich in ‚Herkunft und frühe Bildung‘, ‚Weiterführende

Bildung und Studium‘ und ‚Berufliche Karriere‘ gliedern. Nach jedem Teil folgt die

Faktorenanalyse. Abschließend werden die Ergebnisse systematisiert und fließen in die

Schlussbetrachtung im letzten Kapitel mit ein.

3.1. Wissenschaftliche Relevanz der Diplomarbeit

Nicht nur moralische Gründe, sondern auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Gründe sprechen

für die Auseinandersetzung mit diesem Thema. Gleiche Chancen auf ein hohes Bildungsniveau

32

führen zu hochwertigeren Kompetenzen der Frauen, die wiederum bessere Jobchancen und so

ein höheres Einkommen ermöglichen. Der wirtschaftliche Wohlstand eines Landes steigt durch

höhere Bildungserfolge. Kompensatorische Maßnahmen bei Bildungsabbrüchen sind hingegen

kostenintensiv. Vom wirtschaftlichen Wohlergehen abgesehen, ist auch der gesellschaftliche

Aspekt, also das menschliche Zusammensein, von hoher Relevanz. Doch nicht nur das, denn

eine fundierte Ausbildung ermöglicht Frauen, ihr Leben unabhängig von einem Mann frei zu

gestalten und selbst zu finanzieren.

Um mehr Menschen, vor allem Frauen einen Bildungsaufstieg zu ermöglichen, müssen die

Faktoren, welche zu erwartungswidrigen Bildungsaufstiegen führen, bekannt sein und gefördert

werden. Die in der Literaturrecherche gezeigten Faktoren für einen Aufstieg sollen auf ihr

Vorhandensein in den Lebensläufen der folgenden analysierten Bildungswege überprüft werden.

Zudem sollen weitere eventuell bisher unbekannte oder unbeachtete Faktoren in die

abschließende Betrachtung miteinbezogen werden, um der aktuellen Bildungsforschung so einen

Mehrwert zu bieten.

3.2. Methodische Vorgehensweise

Mit dem Ziel erwartungswidrige Bildungs- und Karrierewege von Frauen ab Mitte des 18.

Jahrhunderts bis hin zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf Faktoren zu analysieren, wurde zu Beginn

eine Forschungsfrage formuliert. Zur Beantwortung dieser Frage wurde zuerst ein Konzept erstellt

und eine Struktur im Sinne eines Basiskonstrukts aufgebaut. Nach den Überlegungen zur

zielführenden Vorgehensweise und dem Aufbau der Analyse, waren die Menge der

einzubeziehenden Biographien, sowie deren Einteilung und Darstellung im Blickpunkt der

Überlegungen. Um mit der Auseinandersetzung der Literatur zu starten, war es notwendig eine

Auswahl der Biografien zu treffen. Dabei war es wichtig festzusetzen, was das Kriterium der

Erwartungswidrigkeit oder der Pionierleistung erfüllt. Jede der ausgewählten Damen hat in ihrem

Bereich eine Pionierleistung erfüllt und konnte auf eine erwartungswidrige Karriere zurückblicken.

Bei der Begründung der Auswahl werden diese Kriterien näher definiert und bei der Vorstellung

der einzelnen Biografien hervorgehoben.

Nachdem die relevanten Kriterien feststanden, begann die umfangreiche Recherche zu den

Biografien der ausgewählten Frauen. Zur wahrheitsgemäßen Beantwortung der hier vorliegenden

Forschungsfrage musste vor allem bei den namhafteren Damen darauf geachtet werden, wo die

Faktenlage der Fiktion oder bloßen Annahmen wich. Zu diesem Zweck wurden die literarischen

Werke zuerst gesichtet. Danach wurden die Biografien in die drei Lebens- und Bildungsabschnitte

unterteilt. Der erste Lebens- und Bildungsabschnitt wird durch die Herkunft und frühe Bildung

abgedeckt, gefolgt von der weiterführenden Bildung und dem Studium. Zuletzt wurde die

33

berufliche Karriere beschrieben. Nach jedem dieser Abschnitte wurden die Lebensläufe der

Frauen auf Gemeinsamkeiten analysiert. Die dadurch gewonnen Erkenntnisse und identifizierten

Faktoren wurden im vorletzten Kapitel systematisiert (4. Kapitel: Systematisierung der

Ergebnisse) und mit jenen der aktuellen Forschung verglichen. Im abschließenden 5. Kapitel

erfolgte das Resümee.

3.3. Begründung der Auswahl

Wie bereits verdeutlicht, geht es um das Analysieren von Faktoren, welche auf die besonderen

Bildungswege und Karrieren von Frauen zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert einwirkten. Dazu

ist es notwendig festzulegen, was das Kriterium der Erwartungswidrigkeit und der Pionierleistung

meint.

Erwartungswidrig bedeutet nach OpenThesaurus.de auch ‚entgegen der Erwartungen‘,

‚unerwartet‘ oder ‚gegen alle Wahrscheinlichkeit‘. Weitere Synonyme dafür sind ‚erstaunlich‘,

‚überraschend‘ oder ‚verwunderlich‘ (vgl. OpenThesaurus.de, o. J.). Dadurch lässt sich eine

Auswahl bereits eingrenzen. Wenn die Karriere bzw. der vorherige Bildungsweg von Frauen

dieses Kriterium erfüllt, ist die Auswahl derjenigen Frau somit begründet. Ein weiterer Punkt, der

die Auswahl einer Biografie begründet, ist das Kriterium der Pionierleistung bzw. das Kriterium

Pionierin. Laut Dudenredaktion ist eine Pionierin bzw. ein Pionier „jemand, der auf einem

bestimmten Gebiet bahnbrechend ist“ (Dudenredaktion, o. J. a). Unter den Synonymen finden

sich unter anderem die Worte ‚Vorkämpferin‘, ‚Wegbereiterin‘ oder ‚Vorreiterin‘ (vgl.

Dudenredaktion, o. J. a). Pionierleistung bedeutet ‚wegbereitende, bahnbrechende Leistung‘ und

kann auch als ‚Durchbruch‘ oder ‚Errungenschaft‘ bezeichnet werden (vgl. Dudenredaktion, o. J.

b).

Basierend auf diesen Definitionen wurden passende Frauenbiografien ausgewählt. Wichtig war

es hierfür, Biografien aus möglichst unterschiedlichen Fachbereichen zu finden, um so

breitgefächerte Erkenntnisse zu erlangen. Außerdem wurde darauf geachtet, dass die

ausgewählte Frau die Erste in ihrem Fachbereich war oder eine Vorreiterin respektive

Wegbereiterin in ihrer Domäne darstellte. Unter den ausgewählten Biografien befindet sich mit

Maria Theresia eine jahrzehntelange Herrscherin des 18. Jahrhunderts sowie mit Olympe de

Gouges eine Vorreiterin der Frauenrechte, die in ihrer Bedeutung für die Französische Revolution

deutlich unterschätzt wurde. Ergänzt wird die Reihe durch Rose Kerschbaumer, die erste

praktizierende Ärztin in Österreich, durch die Hirnforscherin Cécile Vogt, welche sowohl Ehe,

Kinder und eine leitende Position am KWI für Hirnforschung unter einen Hut brachte, zu einer Zeit

in der Frauen an deutschen und österreichischen Universitäten noch nicht einmal studieren

durften. Komplettiert wird die Reihe durch eine der bedeutendsten und herausragendsten

34

Physikerinnen des 20. Jahrhunderts und Pionierin des Atomzeitalters: Lise Meitner und durch

Gudrun Ensslin, die erste deutsche Terroristin (eine bahnbrechende Leistung, der etwas anderen

Art).

3.4. Vorstellung der Frauen

Jede der folgenden Frauen hat eine außergewöhnliche Leistung vollbracht und verdient es, in der

folgenden Analyse berücksichtigt zu werden. Trotz schlechter Voraussetzungen oder Hürden für

einen erfolgreichen Bildungs- und Berufsweg, konnten sie sich durch ihre Pionierleistung

hervorheben.

Auf den folgenden Seiten werden die Frauen und ihre Pioniertaten beziehungsweise

erwartungswidrigen Karrieren kurz vorgestellt, die als Rechtfertigung für die Berücksichtigung in

der Analyse dienen. Die Reihung der Vorstellung steht in keinem Zusammenhang zur

Pionierleistung oder dem Bekanntheitsgrad, sondern erfolgt einfach mit aufsteigendem

Geburtsdatum. Im Anschluss folgt die Aufgliederung in die einzelnen Lebensabschnitte, die dann

auf bildungsaufstiegsfördernde Faktoren hin untersucht werden.

3.4.1. Maria Theresia (1717-1780)

Maria Theresia, die legendäre Herrscherin, war nicht nur Regentin sondern auch Mutter und

Ehefrau. Die Mutter von 16 Kindern reformierte das Staatswesen und vernetzte das Habsburger

Haus mit halb Europa. Dennoch hatte auch sie damit zu kämpfen Beruf, Ehe und Kinder zu

managen. Als ihr Vater völlig unvorhersehbar starb, war sie vor eine riesige Herausforderung

gestellt. Sie musste ein großes Reich mit leeren Staatskassen regieren und sich Beratern,

Fürstenhäusern und dem Volk beweisen. Sie wurde nie auf die Rolle der Thronfolgerin vorbereitet.

In weiser Voraussicht hat ihr Vater aber mit der ‚pragmatischen Sanktion‘ die Erbfolge geändert

und so seiner Tochter die Thronfolge ermöglicht. Die junge Königin belehrte alle eines Besseren.

Das Volk stand hinter ihr und jubelte ihr zu (vgl. Klima, 2019, S. 22 f). Die Prinzessin, junge Mutter

und Erbin befreite ihr heruntergekommenes Riesenreich von den missgünstigen alten Ratgebern

ihres Vaters und transformierte dieses in ihren vierzig Regierungsjahren mithilfe kluger Männer in

einen modernen Staat, der abgesehen von Russland, das größte europäische Reich war (vgl.

Birkenbihl, 2017, S. 7–20; Schmale, 2020, S. 24). Unter den nicht wenigen Herrscherinnen im 18.

Jahrhundert hatte Maria Theresia die längste Regierungszeit (vgl. Schmale, 2020, S. 28). Sie war

eine widersprüchliche Frauenfigur, doch sie handelte strategisch und setzte ihre Interessen durch.

Jede ihrer Rollen – die der Monarchin, Mutter und Ehefrau – erfüllte sie mit großer Leidenschaft

(vgl. Klima, 2019, S. 25). Die starke und entwicklungsfähige Regentin war anpassungsfähig,

weitsichtig, klug, beständig, innovativ und hatte schauspielerische Fähigkeiten, die ihr im Spiel,

aber auch in der Politik halfen. Sie war keine Aufklärerin, wie ihr Sohn Joseph, der als aufgeklärter

35

Reformer bezeichnet werden kann, sondern sicherte eher das Fortdauern der Monarchie. Die

religiöse Frau neigte zudem zu Fehleinschätzungen was ihre Kinder anging. Ihre Fähigkeit der

Selbstreflexion half ihr hingegen nicht nur über ihre Position zwischen den kulturellen

Geschlechtern hinweg, sondern auch dabei ihren Nutzen daraus zu ziehen (vgl. Schmale, 2020,

S. 19 und 24).

3.4.2. Olympe de Gouges (1748-1793)

Die Ehre, „die erste wirkliche universale Erklärung der Menschenrechte verfaßt [sic!] zu haben,

hat eine Frau: Olympe de Gouges“ (Schröder, 1995, S. 7). Die französische Schriftstellerin und

Kämpferin für die Rechte der Frauen zählte zu den schönsten Frauen von Paris (vgl. Doormann,

1993, S. 32). Ihre Person war von einer geheimnisvollen Aura umgeben, die sie selbst durch

mysteriöse Angaben und Verschleierungen zu ihrer Person und ihrer Herkunft unterstützte. Ein

Jahr vor ihrem Tod sagte sie von sich selbst, sie sei „ein Lebewesen ohnegleichen; […weder]

Mann noch Weib, [und] besitze allen Mut des einen und zuweilen die Schwächen des andern“

(Doormann, 1993, S. 7). Ihre emanzipatorischen Ansprüche und ihr Lebensstil passten nicht in

diese Zeit. Als Frau war es ihr nicht möglich, auf der Rednerbühne das Wort zu ergreifen. Doch

sie verschaffte sich durch Streitschriften, die sie in Paris plakatieren ließ, Gehör (vgl. Doormann,

1993, S. 7 und 20).

Ihrer Auffassung nach war die Erklärung der Menschenrechte von 1789 politisch illegitim, da es

sich um eine Deklaration von Männerinteressen, von und für Männer handelte. Sie war männlich

privilegierend und ansonsten inhuman, ungerecht sowie tyrannisch und wurde somit

fälschlicherweise als Menschenrecht tituliert. Obwohl ihre ‚Erklärung der Rechte der Frau und

Bürgerin‘ über Jahrhunderte totgeschwiegen wurde und sie schon zu Lebzeiten

legendenumwoben war, war sie dennoch nicht gänzlich eine namenlose Unbekannte. Bekannt

wurde die Feministin durch die Schwierigkeiten in den Jahren der ersten Französischen

Revolution, wie es in der Nouvelle Biographie Générale, Paris 1817, geschrieben wurde. Im Jahre

1972 wurde die Erklärung der Olympe de Gouges in der Pariser Bibliothek wiederentdeckt,

nachdem sie dort 181 Jahre quasi im Grabe lag. Die totgeschwiegene, radikaldemokratische

Deklaration der Pariser Dramatikerin und humanen Aufklärerin von 1791 beinhaltete die siebzehn

Artikel der Menschenrechte, umgeschrieben zu einer Proklamation der Gleichheit der

Geschlechter. Einer ihrer kühnsten Sätze darin lautete: „Die Frau hat das Recht, das Schafott zu

besteigen; gleichermaßen muß [sic!] ihr das Recht zugestanden werden, eine Rednerbühne zu

besteigen“ (Doormann, 1993, S. 16). Tatsächlich blieb es bei dem Recht auf das Schafott, das

Recht auf die Rednerbühne blieb Frauen noch weitere 150 Jahre verweigert (vgl. Doormann,

1993, S. 7 f, 19 und 106; Schröder, 1995, S. 7 f und 80 f).

36

Zu den Werken der ehrgeizigen Autodidaktin zählen über vierzig Theaterstücke, mehrere Romane

und unzählige Pamphlete. Früher als wahnsinnig, bizarr, bösartig und widersprüchlich abgetan,

gilt die mutige Autorin der Frauenrechtserklärung heute für viele als Heldin, die im Kampf für die

Frauenrechte als Opfer der Männerwelt fiel (vgl. Doormann, 1993, S. 8 und 20).

3.4.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata (1851-1923)

Der gebürtigen Russin gelang es 1890, durch eine kaiserliche Sondergenehmigung, die erste

praktizierende Ärztin in Österreich zu werden. In der Habsburgermonarchie wurden Frauen erst

zehn Jahre später zum Medizinstudium zugelassen. Sie gehörte zu den ersten Frauen, die in der

Schweiz Medizin studierten. Sie promovierte 1876. Rosa Kerschbaumer-Putjata war eine

außergewöhnliche Frau mit einem ungewöhnlichen Leben. Sie war zahlreichen

Benachteiligungen, Diskriminierungen und daher auch Einschränkungen ausgesetzt. Doch sie

war weder Opfer noch widerständige Heldin. Aufgrund der kaiserlichen Entschließung konnte sie

nach der Trennung von ihrem Mann die gemeinsam gegründete Augenheilanstalt alleine leiten.

Wichtig war ihr die Verbesserung der Rechte der Frau. Vor allem in Österreich war sie in

spezifische Frauenkulturen und -netzwerke eingebunden und bezog Stellung zu so manchen

Frauenfragen. Wiederholt forderte sie die Zulassung ihrer Geschlechtsgenossinnen zum

Medizinstudium in Österreich. Nachdem sie nach Russland zurückgekehrt war, leitete sie eine

Wanderklinik und hielt Vorträge über Augenheilkunde für Ärztinnen und Ärzte. Bevor sie nach

Wien ging, war sie Leiterin einer Augenklinik in Tiflis, Georgien. Von Wien aus zog sie nach

Amerika, um auch dort als Ärztin zu arbeiten. Die Pionierin der Augenheilkunde praktizierte,

forschte, publizierte, lehrte und trug wesentlich zur Weiterentwicklung der Augenheilkunde bei

(vgl. Seebacher, 2008; Veits-Falk, 2008).

3.4.4. Cécile Vogt (1875-1962)

Der Karriereweg von Cécile Vogt kann durchaus als Ausnahme bezeichnet werden. Als es an

deutschen und österreichischen Universitäten noch nicht möglich war, als Frau zu studieren,

konnte sie das in Frankreich tun. Der Hirnforscherin gelang es, eine Ehe, das Aufziehen zweier

Töchter und einen Beruf unter einen Hut zu bringen. Viele der ‚Pionierinnen‘ dieser frühen Zeit

verzichteten zu Gunsten der Karriere auf Familie und Ehe oder verzichteten zugunsten der Familie

auf eine Karriere. Nach dem Vorbild der Curies forschte und publizierte das Forscher-Ehepaar

Vogt gemeinsam. Ihre Ergebnisse wurden als Leistung beider veröffentlicht, weswegen die

Leistungen der Französin auch später nicht streitig gemacht werden konnten (vgl. Vogt, 1997, S.

212), wenngleich viele ihrer Leistungen wieder vergessen wurden. Ihr Mann ist hingegen bis

heute, aufgrund der Untersuchung des Gehirns von Lenin, berühmt-berüchtigt. Dennoch erhielt

die Wissenschaftlerin zu einer Zeit, in der Frauen weder studieren noch einer besseren

Erwerbstätigkeit nachgehen durften (vgl. Satzinger, 1996, S. 79), sogar eine Anstellung als

37

stellvertretende Institutsdirektorin und Abteilungsleiterin am Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für

Hirnforschung. Außerdem wurde sie zum Wissenschaftlichen Mitglied der Kaiser-Wilhelm-

Gesellschaft (KWG) gewählt (vgl. Vogt, 1997, S. 212). Cécile Vogt legte 1927 dar, warum man

Frauen zum damaligen Stand der Hirnforschung, von keinem Beruf ausschließen konnte (vgl. von

Zahn-Harnack, 1928, S. 153–155). Leider kämpften auch die Vogts mit den frauenfeindlichen

Bedingungen in Berlin und erlebten durch den Nationalsozialismus einen gravierenden Einbruch

in ihrem Forscherleben (vgl. Vogt, 1997, S. 212 f).

3.4.5. Lise Meitner (1878-1968)

Die Meinungen zu Lise Meitner, einer der bedeutendsten und herausragendsten Physikerinnen

des 20. Jahrhunderts, sind entzweit. Albert Einstein bezeichnete sie als ‚unsere Madame Curie‘

oder ‚deutsche Madame Curie‘ (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 8 f; Klima, 2019, S. 12;

Rennert & Traxler, 2018, S. 79; Vogt, 1997, S. 210 f). Andere, spätere Meinungen sahen sie nur

als Mitarbeiterin von Otto Hahn. Der Physikprofessor Max Planck, der nur in Ausnahmefällen

Frauen förderte, setzte sich für Lise ein. Nachdem sie zwei Jahre als Assistentin an der Universität

Berlin gearbeitet hatte, wurde sie Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-

Wilhelm-Instituts (KWI) für Chemie. Außerdem war sie als erste Frau wissenschaftliches Mitglied

der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG). Fünf Jahre danach wurde ihr der Professoren-Titel vom

Wissenschaftsministerium verliehen. Außerdem wurde ihr aufgrund ihrer herausragenden

Leistungen bei ihrer Habilitierung der Probevortrag und das Kolloquium von den

Kommissionsmitgliedern erlassen. Elf Jahre nach ihrer Habilitation wurde ihr von der

nationalsozialistischen, antisemitischen Politik die Lehrberechtigung wieder aberkannt. Sie durfte

vorerst am Institut bleiben, floh aber einige Jahre später nach dem Anschluss Österreichs nach

Schweden da ihr Leben bedroht war. In Stockholm angekommen, erhielt die Emigrantin nun nur

mehr untergeordnete Stellungen und wurde so zur Mitarbeiterin Otto Hahns degradiert (vgl. Vogt,

1997, S. 210 f). Die Krönung ihrer Laufbahn mit dem Nobelpreis blieb der genialen

Strahlungsforscherin versagt. Lise Meitners Beiträge gehören dennoch zu den grundlegendsten

Erkenntnissen der Atomphysik (vgl. Klima, 2019, S. 11). Ihre Beteiligung an der Erforschung der

Alpha-und Beta-Strahlung war bedeutend. Außerdem leistete sie einen wesentlichen Beitrag zur

Entdeckung der Kernspaltung (vgl. Vogt, 1997, S. 212). Lise Meitner war eine Pionierin des

Atomzeitalters (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 3). Otto Hahn, Chemiker und Nobelpreisträger,

beschrieb die kleine Frau mit dem großen Intellekt als sehr zurückhaltend, fast scheu und als

‚Tochter aus gutem Hause‘. In seinen Memoiren wurden ihre revolutionären Beiträge zur Physik

stets anerkannt. Obwohl sie besser war als viele ihrer männlichen Kollegen, war dies das

klassische Schicksal einer Frau, die in einer Männerdomäne arbeitete (vgl. Klima, 2019, S. 11).

Die Analytikerin Meitner und der intuitive Otto Hahn waren das ideale Forscherpaar. Gemeinsam

veröffentlichten sie zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten (vgl. Klima, 2019, S. 12). Mit den Folgen

einer ihrer größten wissenschaftlichen Leistungen haderte Lise Meitner jedoch ihr Leben lang. Sie

38

bedauerte ihren theoretischen Beitrag zur Vernichtung hunderttausender Menschen, die ihr in

Amerika den Namen als ‚Mutter der Atombombe‘ brachte (vgl. Klima, 2019, S. 14; Rennert &

Traxler, 2018, S. 143–154, 166 und 179). Nach Kriegsende engagierte sich Meitner weltweit für

eine friedliche Nutzung der Kernenergie und trug mit ihrer experimentellen physikalischen

Grundlagenforschung maßgeblich zur Erschließung neuer Wissenschaftsgebiete bei (vgl.

Cholodnicki, 2014). Bis zum Ende ihres Lebens blieb sie eine Pionierin (vgl. Rife, 1990, S. 331).

3.4.6. Gudrun Ensslin (1940-1977)

Die Biografie von Gudrun Ensslin, die später zur ersten deutschen Terroristin wurde, entspricht

nicht dem typischen Bildungsweg. Der besondere Radikalisierungsprozess der ursprünglichen

freundlichen und disziplinierten Pfarrerstochter, dann engagierten Studentin und Doktorandin und

späteren Terroristin Gudrun Ensslin beschäftigte schon viele Autoren. Ihre in kurzer Zeit massive

Radikalisierung hebt ihre Biografie unter den Extremistenbiografien der zweiten Hälfte des 20.

Jahrhunderts hervor. Wie kam es dazu, dass die disziplinierte, intelligente und unscheinbare

Gudrun Ensslin später Gründungsmitglied der Roten Armee Fraktion und zu einer kalten RAF-

Logistikerin wurde? Viele Anschläge und Tote gehen auf das Konto der RAF (vgl. Aßmann, 2018,

S. 12; Ensslin, Ensslin & Ensslin, 2005, S. 190–195; Gleichauf, 2017, S. 45, 62 und 96).

3.5. Lebensabschnitt I

Dieser Lebensabschnitt umfasst die Herkunft und frühe Bildung. Unter früher Bildung wird hierbei

die Primarstufe und Sekundarstufe I verstanden. Da aber in den vergangenen Jahrhunderten die

schulische Bildung nicht immer bis zur Sekundarstufe vorgesehen war, überhaupt keine

schulische Bildung stattfand oder die Mädchen oftmals zuhause unterrichtet wurden, umfasst

dieser Abschnitt einfach jene Bildung, die in diesem Alter erfolgte. Wenn keine Bildung stattfand,

wird auf die frühe Herkunft und die Gründe für die fehlende Bildung eingegangen.

3.5.1. Herkunft und frühe Bildung

3.5.1.1. Maria Theresia

Die älteste Tochter Kaiser Karls VI. wurde am 13. Mai 1717 in der Wiener Hofburg geboren. Ihre

beiden Schwestern kamen 1718 und 1724 zur Welt. Die drei Schwestern hatten zudem einen

Bruder, der kurz vor Maria Theresias Geburt starb (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 7). Den Eltern der

Mädchen waren Erziehung und Bildung sehr wichtig (vgl. Schmale, 2020, S. 27). Die Erziehung

Maria Theresias wurde von Jesuiten beaufsichtigt, war aber der einer kaiserlichen oder

königlichen Prinzessin gleich. Der Unterricht in den Fächern Zeichnen, Malen, Musik und Tanzen

sollte sie auf die Rolle der Gemahlin eines Regenten vorbereiten, nicht aber auf die einer Regentin

(vgl. Birkenbihl, 2017, S. 8). Neben Deutsch, das sie mit wienerischem Akzent sprach, lernte sie

39

auch Latein, Spanisch, Französisch und Italienisch (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 8; Klima, 2019, S.

22). Große Freude bereitete ihr auch die Teilnahme an vom Kaiser dirigierten Opern. Gesang und

Bogenschießen gehörten ebenfalls zu den Freizeitbeschäftigungen der jungen Maria Theresia.

Sie wurde als ernstes und zurückhaltendes Kind beschrieben (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 8). Klima

(2019) schreibt ebenso über die Sprachbegabung der jungen Erwachsenen Maria Theresia,

beschreibt diese aber als impulsiv und lebenslustig. Neben der Musik und dem nächtelangen

Tanzen auf Bällen gehörte auch das Glücksspiel zu ihren Leidenschaften (vgl. Klima, 2019, S.

22).

3.5.1.2. Olympe de Gouges

Geboren wurde Olympe de Gouges als Marie Gouze am 07. Mai 1748 im Süden Frankreichs in

Montauban, Languedoc. Sie stammte aus einer Metzgerfamilie. Ihre Eltern Anne-Olympe Mouiset

und (offiziell) Pierre Gouze hatten drei weitere Kinder. Sie selbst gab vor, die leibliche Tochter des

Marquis Jean-Jaques Le Franc de Pompignan, Feudalherr des Ortes und berühmten Literaten,

zu sein. Dieser erkannte sie gesetzlich aber nie an und kam weder für Bildung noch für die Mitgift

auf, was die Prämisse für eine ‚gute‘ Heirat gewesen wäre (vgl. Doormann, 1993, S. 20 f;

Schröder, 1995, S. 81). Diese Verleugnung durch ihren leiblichen Vater verarbeitete Olympe de

Gouges literarisch und rechtsphilosophisch in ihrem Erstlingswerk. Darin rechnete sie mit ihrem

angeblich leiblichen Vater und dessen alteingesessener und mächtiger Aristokratenfamilie ab. Die

Großeltern mütterlicherseits von Olympe de Gouges waren den Pompignans in treuen Diensten

ergeben. Nach dem Tod des Marquis veröffentlichte sie unter einem Pseudonym einen

autobiografischen Familienroman, in dem sie die Liebesgeschichte ihrer Mutter mit dem Marquis

enthüllte. Weniger ihr eigenes Schicksal als das ihrer Mutter betrübte sie. Denn die musste unter

den Augen dieser Familie in schrecklichstem Elend leben. Der Roman erregte trotz des

Pseudonyms Aufsehen. Darin erzählte sie, wie der Marquis nach dem Tod von Pierre Gouze bei

seiner Geliebten erschien und nicht mehr von der Seite seiner Tochter wich und auch öffentlich

zu ihr stand. Allem Anschein nach wollte der Adelige zwar die väterliche Fürsorge übernehmen,

aber seine Liebe zur Bürgerlichen nicht legalisieren (vgl. Doormann, 1993, S. 21–24; Schröder,

1995, S. 81). Später in den Revolutionsjahren gab es sogar immer wieder das gefährliche Gerücht,

Olympe sei die uneheliche Tochter des französischen Königs Ludwig XV. (vgl. Doormann, 1993,

S. 23).

Unbekannt ist, wo und wie sie Lesen und Schreiben lernte (vgl. Schröder, 1995, S. 81) oder ob

überhaupt. Man behauptete nämlich, dass sie ungebildet wäre und weder lesen noch schreiben

konnte (vgl. Doormann, 1993, S. 20). Die Tatsache, dass generell selbst der geringste Unterricht

für Mädchen verhindert wurde, erklärt, warum die meisten Frauen Analphabetinnen waren.

Olympe de Gouges beklagte immer wieder im Laufe ihres Lebens ihre mangelnde Ausbildung.

Der zweite Faktor, der ihr später in den ersten Jahren in Paris große Mühen abverlangte, war die

40

sprachliche Barriere. Denn in der Provinz, in der sie geboren wurde, sprach man Okzitanisch, das

sich stark vom Französisch des Nordens unterschied (vgl. Doormann, 1993, S. 26; Schröder,

1995, S. 81).

3.5.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata

Rosa Kerschbaumer wurde als Raissa Wassilijewna Schlykowa (oder Slikova) am 22. August (vgl.

Veits-Falk, 2008, S. 15) oder am 21. April (vgl. Seebacher, 2008, S. 50, 2006, S. 560) 1851 in

Moskau geboren. Da in Russland der westliche gregorianische Kalender erst 1918 eingeführt

wurde, ist nach diesem der 4. September ihr Geburtstag. In den meisten österreichischen Quellen

ist 1854 als Geburtsjahr angegeben, was vermutlich auf einen Fehler im Matrikel-Buch der Berner

Universität zurückgeht. Jedoch änderte Rosa nicht nur ihr Geburtsdatum, sondern auch

persönliche Daten mehrmals während ihres Lebens, wenn es für sie von Vorteil war. Raissas

Familie war sehr wohlhabend. Ihr Vater Wassilij Dmitrijewitsch Schlykow (oder Schlikow) stammte

aus einer landadeligen Familie. Der rechtswissenschaftliche Absolvent der Universität Moskau

trat in die Kanzlei des Moskauer Generalgouverneurs ein. 1856 wurde er zudem zum ‚wirklichen

Staatsrat‘ ernannt (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-Falk, 2008, S. 15). Ihre Mutter, Adelaida

Alexejewna Ogarjowa, die Tochter der Fürstin Uchotomskij, war die Urenkelin des berühmten

Architekten Dmitrij Uchotomskij, der am Umbau des Moskauer Kreml beteiligt war. Die Familie

Uchotomskij zählte zum russischen Hochadel. Raissas Großvater war ein despotischer

Großgrundbesitzer (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 15 f). Raissas Eltern heirateten 1850 in Moskau und

bezogen eine Acht-Zimmer-Wohnung in einem zweistöckigen Haus mit Garten und Stallungen in

Moskau. Im Jahr darauf kam Raissa zur Welt und zwei Jahre später ihre Schwester Virginija. Die

beiden Schwestern hatten auch einen Bruder, der aber 1859 im Alter von zwei Jahren an einer

Lungenentzündung starb (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-Falk, 2008, S. 16).

Raissa und Virginija erhielten eine westlich orientierte Erziehung und Sozialisation. Dies war in

den adeligen Kreisen der Moskauer Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts üblich (vgl. Veits-

Falk, 2008, S. 16). Die Mädchen wurden primär von Ammen, Kindermädchen sowie von

französischen und englischen Gouvernanten gepflegt und betreut. Dies war in adeligen

russischen Familien weit verbreitet. Neben den staatlichen Mädchengymnasien, die allen

zugänglich waren, gab es für adelige Mädchen hauptsächlich französische Pensionate oder

Institute. Da die Eltern die Töchter aber nicht wegschicken wollten, wurden sie zuhause von

russischen Hauslehrern und den Gouvernanten unterrichtet (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-

Falk, 2008, S. 18). Im Alter von zehn Jahren betreute sie eine Britin, die ihnen Manieren und

Anstand vermittelte. Ein französischer Gymnasiallehrer unterrichtete sie in Französisch. Russisch

und andere Fächer, darunter Geschichte und Literatur, übernahm der Student und später

einflussreiche Staatsanwalt Anatolij Fjodorowitsch Koni. Raissa und Virginija beschrieb er als

kluge, fähige und empfängliche Mädchen, die zu zwei jungen und eleganten Frauen

41

heranwuchsen. Der Hauslehrer unterrichtete die beiden aufgrund ihres großen Interesses zudem

in Chemie, Zoologie, Botanik und Physik. Religion sowie die Kultur und Geschichte Russlands

unterrichteten die gläubigen Eltern hingegen selbst. Primär zielten Erziehung, Bildung und

Sozialisation auf die Vorbereitung der weiblichen Bestimmung als Ehefrau und Mutter ab. Die

Eltern sorgten aber auch für die Ausbildung zu weltgewandten höheren Töchtern und balancierten

dabei zwischen traditionellem Frauenbild und traditioneller Erziehung sowie einem modernen

Bildungsangebot, wie beispielsweise dem Unterricht in Naturwissenschaften (vgl. Veits-Falk,

2008, S. 18 f). Der für das 19. Jahrhundert typische Widerstreit zwischen ‚Westlern‘ und

‚Slawophilen‘ betraf auch die Familie Schlykow. Der Vater war als hoher Beamter des

Generalgouverneurs hofverpflichtet und übernahm bei offiziellen Veranstaltungen bestimmte

Funktionen. Er war Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche und war als guter Patriot gegen das

Westliche und den Gebrauch der französischen Sprache in der Gesellschaft. Er sah den Westen

jedoch nicht als kulturell schädlich für Russland. Die westlich ausgerichtete Erziehung und Bildung

der Töchter sowie viele Bereiche der Familienalltagskultur gingen wohl auf die Mutter, die in einem

französischen Pensionat erzogen wurde, zurück. Neben der Stadtwohnung bewohnte die Familie

im Sommer ein Landgut in Dubki, welches die Mutter Adelaida geerbt hatte. Dort tauschten die

Damen des Hauses die weiten Kleider gegen lose, fußfreie Kleider. Die Mädchen verbrachten viel

Zeit im Freien. Die lebhafte Raissa hatte stets alles im Blick (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 19–21).

Die 16-jährige Raissa bekam von ihrer Mutter eine Kurländerin gestellt, um ihre

Deutschkenntnisse zu verbessern. Das Kurland, heute die westlichste historische Landschaft

Lettlands, kam 1795 als ‚deutsche Provinz‘ an Russland. Zudem begann zu diesem Zeitpunkt

auch die aktive Rolle der Mutter. Es war die Übergangsphase vom Kind zur Erwachsenen, in der

die Mutter der Tochter ‚soziale Kompetenz‘ ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechend

beibrachte und Eheanbahnungen vorbereitete. Mit drei befreundeten Familien veranstaltet die

Mutter einen Tanzkurs. Die Mädchen, zwischen 14 und 16 Jahre alt, tanzten mit Burschen, welche

die oberen Gymnasialklassen besuchten. Da ein Tanzpartner fehlte, sprang der Student Wladimir

Putjata ein. Ein Jahr darauf wurde Raissa offiziell in die Gesellschaft eingeführt und durfte die

Eltern zu Konzerten, Bällen und festliche Veranstaltungen begleiten. Nur wenige Männer

widerstanden den Blicken der hübschen, temperamentvollen und koketten Raissa, die stets von

Männern umgeben war. Bei den von der Familie Schlykow veranstalteten Abendgesellschaften

mit Tanz, Musik und Gesellschaftsspielen wurden auch Ausschnitte aus bekannten

Bühnenstücken aufgeführt. Raissa und der Sprachen- und Geschichtsstudent Wladimir Putjata

stellten die Liebesszenen auf der Bühne so überzeugend dar, dass sich daraus tatsächlich Liebe

entwickelte (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-Falk, 2008, S. 24 f). Die sonst lebhafte und

mitteilsame Raissa veränderte sich ab da und war meist in Gedanken versunken, still und

bedrückt. Sie vertraute ihrer Schwester die Heiratspläne mit Wladimir an. Das Problem war, dass

sie noch keine 18 Jahre alt war und somit nicht heiraten durfte. Obwohl Wladimir eigentlich keine

42

so ‚gute Partie‘ war, stimmten die Eltern der Verliebten den Heiratsplänen schließlich widerwillig

zu, unter der Bedingung, dass die beiden bis zum Abschluss von Wladimirs Studium im Hause

der Schlykows wohnten. Die Hochzeit der beiden fand am 20. August in Dubki statt. Das Jahr der

Hochzeit ist laut Veits-Falk nicht bekannt, da die Memoiren der Schwester, auf denen Veits-Falk

aufbaut, widersprüchlich sind. Einerseits betont sie immer wieder den 18. Geburtstag ihrer

Schwester, was aber bedeuten würde, dass Raissa bei der Hochzeit im siebten Monat schwanger

war. Andererseits datiert sie die Geburt von Raissas Sohn ein Jahr nach der Hochzeit (vgl. Veits-

Falk, 2008, S. 25–28). Die Autorin Seebacher hingegen datiert die Hochzeit mit dem Jahr 1868,

demnach wäre Raissa 17 Jahre alt gewesen (vgl. Seebacher, 2008, S. 50). Bekannt ist, dass die

herrschaftliche Trauung in der russisch-orthodoxen Kirche mit der Krönung des Brautpaares

beendet wurde und anschließend mit den Dorfbewohnern gefeiert wurde. Raissas Sohn

Wsewolod Wladimirowitsch, auch genannt Lodja, kam am 2. Oktober 1869 zur Welt. Mit der

Geburt des zweiten Sohnes Boris im Jahr 1870 zog das Ehepaar Putjata samt Söhnen in ein

eigenes Haus (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-Falk, 2008, S. 28 f).

Um seine Familie zu ernähren, nahm Wladimir im Oktober 1870 eine Stellung als Beamter des

Moskauer Hauptpostamtes an und brach sein Studium ab. Raissas Mutter unterstützte die Tochter

bei ihren mütterlichen Pflichten. Als es Probleme mit dem Personal gab, bedauerte Raissa den

Rat der Mutter, sich für den Haushalt zu interessieren, nicht befolgt zu haben (vgl. Veits-Falk,

2008, S. 29 f). Als ihr dritter Sohn Kolja im Jahr 1872 geboren wurde (vgl. Seebacher, 2008, S.

50), zogen die Putjatas wieder in Raissas Elternhaus zurück. Wladimir bereute indes den Abbruch

seines Studiums und ärgerte sich über seine Arbeit. Trotz der Bitten von Raissas Familie

entschloss er sich, seine Arbeit aufzugeben, verließ seine Frau und die Kinder, um sich einer

herumziehenden Schauspieltruppe anzuschließen. Diese Zesur nutzte Raissa als Chance, um ihr

Leben als angepasste Ehefrau und Mutter aufzugeben. Sie ging nach Zürich, um dort wie ihre

jüngere Schwester zu studieren. Die Eltern, welche die frühe Hochzeit genehmigt hatten, sahen

eine Teilschuld an der Miesere ihrer Tochter und unterstützen den Neuanfang (vgl. Veits-Falk,

2008, S. 31 f). Raissa inskribierte im Wintersemester 1872 an der Züricher Universität (vgl.

Seebacher, 2008, S. 51).

3.5.1.4. Cécile Vogt

Geboren wurde Cécile Vogt am 27. März 1875 in Annecy (Savoyen), im Osten Frankreichs als

Cécile Mugnier (vgl. Düweke, 2001, S. 118; Rürup & Schüring, 2008, S. 339; Satzinger, 1996, S.

77). Ihr Vater Pierre Louis M., ein französischer Offizier, starb als sie erst zwei Jahre alt war. Ihre

streng katholische Tante gab von da an den Ton in der Familie an. Dank der Unterstützung ihrer

Mutter, einer ‚unabhängigen Denkerin‘, die aus der katholischen Kirche ausgetreten war, konnte

Cécile eine Töchterschule absolvieren (vgl. Düweke, 2001, S. 118; Wolff, 2009, S. 21).

43

3.5.1.5. Lise Meitner

Elise Meitner, die später nur noch als Lise durchs Leben ging, wurde am 17. November 1878 in

Wien geboren. Obwohl dieses Datum im Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Wien steht, ist

in all ihren Dokumenten der 7. November angeführt, was vermutlich auf das Versehen eines

Beamten zurückzuführen ist, dem die Eins vor der Sieben abhandenkam. Tatsächlich feierte Lise

später ihren Geburtstag immer am 7. November. Sie war das dritte von acht Kindern einer

liberalen jüdischen Familie (vgl. Klima, 2019, S. 11; Rennert & Traxler, 2018, S. 15; Sime, 2001,

S. 17). Ihre Eltern, der in Mähren geborene Vater Philipp und die aus der Slowakei stammende

Mutter Hedwig sowie ihre Geschwister, blieben für Lise immer ein wichtiger Anker, vor allem ihr

jüngster Bruder Waltl (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 16). Der Idealismus der Eltern beeinflusste

die Grundlage jener besonderen geistigen Atmosphäre im Elternhaus (vgl. Sime, 2001, S. 23 f).

Für den progressiven Freidenker Philipp Meitner, der in Wien zum Doktor der

Rechtswissenschaften promovierte, zählten Bildung und Kultur zu den höchsten Gütern (vgl.

Rennert & Traxler, 2018, S. 17). Die stille Lise liebte es zu lesen und verschlang Bücher statt im

Haushalt zu helfen, was ihre Mutter oft zu Jähzorn und Schlägen verleitete (vgl. Rennert & Traxler,

2018, S. 19). Bereits früh zeigte sich ihr Interesse an Naturwissenschaften (vgl. Klima, 2019, S.

11; Rennert & Traxler, 2018, S. 19; Sime, 2001, S. 22). Ihre wissenschaftliche Neugierde

entwickelte sie, als sie die schönen Farben einer Öllache in einer Wasserpfütze sah (vgl. Rife,

1990, S. 21; Sime, 2001, S. 22). Die Volksschule, welche sie 1884 bis 1889 besuchte konnte den

Wissensdurst nicht stillen. Lise mochte ihre Lehrerin nicht. Den Eltern bereitete sie teilweise

Kummer und Hoffnungslosigkeit. Sie bemühten sich, ihre Kinder nach Kräften zu fördern und

verbrachten viel Zeit mit ihnen. Von der Mutter lernten sie Lesen und Schreiben, sowie soziales

Gewissen und vom Vater die Sprachen Latein, Hebräisch, Französisch und Englisch. Außerdem

nahm sie der an Turnieren teilnehmende Schachspieler mit in die Oper, ins Theater, in Museen,

zu Konzerten und zu Pferderennen. Die Schachpartner von Lises Vater gehörten zu den höchsten

gesellschaftlichen Kreisen. Womöglich hatte sie ihr analytisches Denken und ihre später bekannte

und beliebte Bescheidenheit von ihm. Die Meitner-Töchter lernten alle Klavier, da zuhause viel

musiziert wurde. Die Eltern bereiteten ihren Kindern eine kulturell anregende Umgebung. 1951

schrieb Lise, wie dankbar sie ihren Eltern für all diese schönen und guten Erfahrungen war (vgl.

Rennert & Traxler, 2018, S. 19–21; Rife, 1990, S. 17 f). Nach der Volksschule durfte Lise auf eine

dreijährige Bürgerschule gehen, die eine über das Lehrziel der Volksschule hinausgehende

Bildung gewährleisten sollte. Der Rahmen war jedoch für Mädchen stark begrenzt. Ihr erstes

Zeugnis 1890 zeigte ihre Begabungen und Interessen in allen Wissensfächern und ihre lediglich

genügenden Leistungen in Weiblichen Handarbeiten, Schönschreiben und Freihandzeichnen,

sowie ihre Note ‚Befriedigend‘ in ‚Fleiß‘ und ‚Sittliches Betragen‘, was möglicherweise auf ihre

gelegentliche Langeweile in der Schule zurückzuführen ist. Das Endzeugnis im Juli 1892 weist in

allen Fächern ein ‚Gut‘ oder sogar ‚Sehr gut‘ auf, sogar im ‚Sittlichen Betragen‘. Ihre schlechteste

Note ist ein ‚Befriedigend‘ in ‚Fleiß‘ (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 20 f; Sime, 2001, S. 24).

44

3.5.1.6. Gudrun Ensslin

Geboren wurde Gudrun Ensslin am 15. August 1940 im Süden Deutschlands, im Dorf Bartholomä

als viertes von sieben Kindern (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 185; Gleichauf, 2017, S. 23). Über ihre

Kindheit gibt es nur dürftige Fakten. Der Sohn sowie die Geschwister wollen nichts erzählen, die

Eltern sind bereits verstorben. Ihr Vater Helmut Ensslin, Pfarrer von 1936 bis 1948 in der

evangelischen Kirchengemeinde von Bartholomä und ihre Mutter, Ilse Ensslin, die sich um den

Pfarrhaushalt und die Kinder kümmerte, boten den Kindern im Pfarrhaus und im Garten viel Platz

zum Spielen. Das gesamte Bild der angesehenen Familie wirkte harmonisch. Helmut Ensslin, der

Theologieabsolvent der Eberhard-Karls-Universität, galt als klug, offen, originell und kreativ. Seine

Reden waren intellektuell herausragend. Sein Denken und Handeln waren aber oft

unvorhersehbar. Als der 27-jährige Helmut zum Pfarrer berufen wurde, musste er sich politisch

positionieren. Der eigenwillige Helmut lehnte die Angriffe der Nationalsozialisten ab und wurde

später sogar vom Kirchengemeinderat aufgefordert, seine Propagandareden zu unterlassen.

Trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber Hitler zog er 1942 in den Krieg. Seine Frau und das

Haus- und Kindermädchen kümmerten sich um die Kinder und den Haushalt. Nach dem Krieg

nahm Helmut wieder seine Pastorenrolle ein, seine Rolle im Familienalltag ist unbekannt. Über

die unauffällige Gattin des Pastors weiß man nur wenig, außer, dass sie wohl verschlossen,

naturverbunden und familiär war (vgl. Gleichauf, 2017, S. 23–30). Gudrun, die als fröhliches und

freundliches Kind beschrieben wird, wächst in ihren ersten acht Jahren trotz Weltkrieg umgeben

von idyllischer Natur einigermaßen behütet auf. Die Mutter versuchte Normalität aufrecht zu

erhalten, wenn auch der Vater einige Jahre abwesend war. In der Schule herrschten eine

zeitübliche Strenge und Ordnung. Mehr ist leider nicht bekannt (vgl. Gleichauf, 2017, S. 29 und

32 f). Im Jahr 1948 zieht die Familie relativ schnell in die Kleinstadt Tuttlingen um, da Gudruns

Vater eine neue Pfarrstelle erhielt. Dort waren die Folgen des Krieges nach wie vor präsent (vgl.

Gleichauf, 2017, S. 37 f).

Auf befremdliche Weise beschreibt Ilse Ensslin ihre Tochter als „totalitären Charakter gegenüber

den andern Geschwistern“ (Overath, 2005, zit. nach Gleichauf, 2017, S. 38). Offensichtlich suchte

sie rückblickend verbittert nach Gründen für den Werdegang ihrer Tochter und machte gewisse

Charaktereigenschaften, die sie angeblich bereits als Kind hatte, für die Entwicklung Gudruns

verantwortlich. Tatsächlich beschrieben alle Schulfreundinnen und -freunde Gudrun weder als

bevormundend noch als drangsalierend, sondern im Gegenteil als heiter, offen, vital und das

fröhlichste Kind der Ensslin-Geschwister (vgl. Gleichauf, 2017, S. 38–41). Mit einer Freundin

besuchte Gudrun die Jungschar. Sie war eine gute, wissbegierige und äußerst

konzentrationsfähige Schülerin und schwärmte über die sehr freundliche Lehrerin in der Tuttlinger

Grundschule. Ihr Vater engagierte sich sehr in der Schule, in der sie die Oberstufe besuchte und

wurde sogar zum Elternbeirat gewählt. Gudrun, die als diszipliniert, intelligent und leistungsstark

beschrieben wurde, erhielt drei Jahre in Folge Belobigungen und Preise für ihre schulischen

45

Leistungen. Dennoch war das hübsche und beliebte Mädchen keine Streberin. Zudem war sie

sportlich und spielte Geige. Die gesamte Familie Ensslin war musikalisch sehr begabt und

musizierte oft gemeinsam. Ihre Kindheit und Jugend war geprägt durch unzählige

Freizeitaktivitäten (vgl. Gleichauf, 2017, S. 42–47).

Obwohl Gudrun nicht der Typ für ein intensiv religiös ausgerichtetes Leben war, leitete sie im Alter

von 16/17 Jahren die Jugendgruppe des Evangelischen Mädchenwerks. Sie wurde von ihren

Schützlingen, mit denen sie viel Spaß hatte, verehrt (vgl. Gleichauf, 2017, S. 48). In der 8. Klasse

der Oberstufe beschäftigte sich Gudrun intensiv mit gesellschaftsrelevanter Literatur und

extremen Charakteren. Sie erweiterte ihren Horizont mit Stefan Andres‘ ‚El Greco malt den

Großinquisitor‘, mit Friedrich Hebbels ‚Maria Magdalena‘, mit Werken von Friedrich Schiller,

Wilhelm Raabe, Theodor Storm und anderen berühmten Schriftstellern. Sie erforschte die

Möglichkeiten der Literatur und entwickelte Ideen, die über die Literatur hinausgingen (vgl.

Gleichauf, 2017, S. 49). 1958/1959 verbrachte sie ein Jahr als Austauschschülerin an der Warren

Highschool in Pennsylvania. Sie schrieb einen kleinen Bericht für die Schülerzeitung, in dem sie

über ihre Erfahrungen und Eindrücke berichtete. Fasziniert schilderte sie das gastfreundliche

Land. Dem Sport und den sozialen Netzwerken mit all den Clubs und Komitees sowie der eigenen

Popularität wurde ihrer Meinung nach zu viel Beachtung geschenkt. Außerdem beschrieb sie den

schier aussichtslosen Zwang zur Perfektion. Das deutsche Schulsystem sei logischer und

vielfältiger aufgebaut. Beeindruckt war sie, wie die Amerikaner ihre Religion auslebten und in das

tägliche Leben integrierten. Nach ihrer Rückkehr bemerkten ihre Freundinnen Veränderungen an

ihr – eine neue, freche Frisur, Schminke und modische Kleidung. Trotz ihrer brieflich geäußerten

Skepsis, bezüglich des ‚schön Machens‘ schien sie dem nachgegeben zu haben. Über ihr Privates

erzählte sie wenig (vgl. Gleichauf, 2017, S. 51–54).

3.5.2. Faktorenanalyse

Die dargelegten Details über die Herkunft und frühe Bildung zeigen, dass sich innerhalb der 223

Jahre der Zugang zu Bildung verändert hat. Im 18. Jahrhundert war Bildung und Schule für

Mädchen nicht nur nicht möglich, sondern wurde sogar verhindert. Darunter Olympe de Gouges,

geboren 1748, die Zeit ihres Lebens unter der fehlenden Bildung litt. Ihre Familie, eine

Metzgerfamilie, konnte ihr in Sachen Bildung, auch aufgrund der finanziellen Situation, nicht

helfen. Der vermeintliche leibliche Vater, der aus einer reichen und angesehenen

Aristokratenfamilie stammte, hätte Olympe die gewünschte Bildung ermöglichen können. Doch

die Verleugnung seiner Vaterschaft führte zu einer zusätzlichen Belastung und Prägung der

jungen Olympe. Wo und wie genau die spätere Autodidaktin letztlich Schreiben und Lesen lernte

ist unbekannt. Der zweite Lebensabschnitt enthält dazu Hinweise.

46

Wohlhabende, vor allem adelige Eltern, ermöglichten ihren Kindern eine umfangreiche Bildung.

Sowohl Maria Theresia als auch Rosa Kerschbaumer erhielten Unterricht. Maria Theresia, Tochter

des Kaisers, erhielt eine Erziehung durch Jesuiten. Bildung war ihrem Vater sehr wichtig. Sie

wurde in kreativen Fächern unterrichtet, lernte viele Sprachen und wurde auf die Rolle der Ehefrau

vorbereitet. Auf die Rolle als Regentin wurde sie nicht vorbereitet, da dies nicht der beabsichtigte

Weg für sie war. Obwohl zwischen der Geburt Maria Theresias in Wien 1717 und der in Moskau

1854 geborenen Rosa Kerschbaumer 137 Jahre liegen und nicht ganz zwei tausend Kilometer,

erhielten sie beide eine ähnliche Bildung. Rosa erhielt ebenso Unterricht in Sprachen, aber auch

in naturwissenschaftlichen Fächern. Generell waren die Erziehung, Bildung und Sozialisation als

Vorbereitung auf die weibliche Bestimmung als Ehefrau und Mutter gedacht, aber auch um zu

einer weltgewandten höheren Frau zu werden. Die westlich ausgerichtete Erziehung und Bildung

der Tochter sowie viele Bereiche der Familienalltagskultur, gingen wohl auf die Mutter von Rosa

zurück. Zwei Jahrzehnte nach Rosa Kerschbaumer wurde Cécile Vogt in Frankreich geboren. Bei

beiden Biografien sticht die prägende Rolle der Mutter hervor. Schließlich ermöglichte Céciles

Mutter, die eine unabhängige Denkerin war, ihrer Tochter den Besuch einer Töchterschule. Auch

den Eltern von Lise Meitner und Gudrun Ensslin war Bildung und Kultur wichtig. Ende des 19.

Jahrhunderts wurde Lise Meitner in eine liberale jüdische Familie hineingeboren. Der Vater, ein

progressiver Freidenker und Jurist, verkehrte in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Der

Idealismus der Eltern bereitete Lise eine besondere geistige und kulturell anregende Umgebung.

Sie entwickelte früh eine wissenschaftliche Neugierde. Der Vater unterrichtete sie in Sprachen.

Die Mutter lehrte sie Lesen und Schreiben, sowie soziales Gewissen. Obwohl Lise im Haushalt

helfen sollte, verschlang sie lieber Bücher. Festzustellen ist, dass bis auf Olympe de Gouges,

allen Eltern Bildung und Erziehung wichtig war und sie sich die höhere Bildung ihrer Kinder leisten

konnten.

Die evangelische Pfarrerstochter Gudrun Ensslin wurde aufgrund der Abwesenheit ihres Vaters,

von der Mutter und einem Kindermädchen großgezogen. Ihr Vater befand sich im Krieg. Trotz der

Bemühungen die Normalität aufrecht zu erhalten, muss der Krieg für die 1940 geborene Gudrun

eine belastende Situation gewesen sein. Obwohl ihr Vater Pfarrer war, war Gudrun selbst nicht

intensiv religiös, wenngleich sie mit 16/17 Jahren die Jungschar leitete. Sie besuchte die

Volksschule, in der eine zeitübliche Strenge und Ordnung herrschte. Im Gegensatz zu Lise,

schwärmte sie über die freundliche Lehrerin in der Grundschule. In der Oberstufe verbrachte

Gudrun ein Auslandsjahr in Amerika. In dieser Zeit setzte sie sich mit der für sie neuen Kultur

auseinander und begann sich selbst intensiv mit gesellschaftsrelevanter Literatur und extremen

Charakteren zu beschäftigen. Sie erforschte die Möglichkeiten der Literatur und entwickelt Ideen,

die über die Literatur hinausgingen. Auch Lise Meitner entwickelte auf Basis eines fundierten

Allgemeinwissens ihre eigenen Interessen. Obwohl Lises Familie oft umzog, schien dies für sie

kein Problem darzustellen.

47

Einschneidende oder belastende Ereignisse in der Kindheit gab es vor allem für Olympe de

Gouges durch die fehlende Bildung, die Verleugnung durch den Vater und die Vernachlässigung

in ihrer Kindheit. Auch für Cécile Vogt gab es einschneidende oder belastende Ereignisse: der

Tod ihres Vaters und die Einschränkungen durch ihre strenge, katholische Tante. Krieg, die

Abwesenheit des in den Krieg gezogenen Vaters und mehrmalige Umzüge (nähere Informationen

dazu im Abschnitt 3.6.1. Weiterführende Bildung und Studium) schienen für Gudrun keine

Belastung dargestellt zu haben. Weder der Orts- noch der Schulwechsel bereiteten ihr Probleme,

sie war auch in der neuen Klasse wieder beliebt. Bekannt ist darüber explizit nichts, aber

womöglich waren der Jähzorn und die Schläge, die Lise Meitner von ihrer Mutter erhielt, wenn sie

nicht im Haushalt half, ein negativer Aspekt in der sonst so kulturell anregenden und

erfahrungsreichen Umgebung. Trotz einschneidender und belastender Ereignisse in allen

Biografien, ist kein negativer Einfluss auf die Karrieren erkennbar. Die Pionierinnen weisen

demnach eine erhöhte Resilienz auf.

Die meisten der Frauen hatten als junge Mädchen die Möglichkeit kulturelle und sportliche

Freizeitaktivitäten zu genießen, da den Eltern dies wichtig war. Dies trifft auf Maria Theresia, Rosa

Kerschbaumer, Lise Meitner und Gudrun Ensslin zu. Bei Olympe de Gouges und Cécile Vogt fand

sich darüber nichts in der Literatur. Aufgrund der Familienverhältnisse ist aber bei Olympe de

Gouges davon auszugehen, dass sie keine Teilhabe an Kultur, Musik und Sport hatte.

Soweit bekannt, zeigen sich bei den charakterlichen Eigenschaften der Mädchen Parallelen. Nicht

nur Maria Theresia war eine Strategin, auch Lise Meitner war bereits in der Kindheit eine

analytische Denkerin. Das Merkmal Intelligenz trifft nicht nur auf diese beiden Frauen zu, sondern

auch auf Rosa Kerschbaumer und Gudrun Ensslin. Für Olympe de Gouges und Cécile Vogt finden

sich für diesen Lebensabschnitt keine Merkmalsbeschreibungen. Als fähiges und empfängliches

Mädchen wurde Rosa Kerschbaumer bezeichnet, ähnlich dazu wurden Lise Meitner und Gudrun

Ensslin als leistungsstark, diszipliniert und wissbegierig charakterisiert. Ihre beliebte

Bescheidenheit hat Lise Meitner mit Maria Theresia gemein. Die als zurückhaltend und ernst

beschriebene Regentin, entwickelte sich zu einer impulsiven und lebenslustigen jungen

Erwachsenen. Auch Gudrun Ensslin wurde als fröhliches, offenes und freundliches Kind, sogar

als das Fröhlichste der Ensslin Kinder, hervorgehoben, was im Kontrast zu den Aussagen ihrer

Mutter über den totalitären Charakter von Gudrun steht. Allesamt zeichnen die Merkmale

Intelligenz und Ehrgeiz bereits im Kindesalter aus.

48

3.6. Lebensabschnitt II

Dieser Abschnitt umfasst die Bildungsperiode von der Sekundarstufe I bis hin zur Matura sowie

die Zeit des Studiums. Da nicht alle einen institutionellen Bildungsweg beschreiten konnten, rückt

auch hier anstelle des Bildungswegs jener Abschnitt vom Alter der Sekundarstufe I bis zum

Ausüben des Berufs in das Blickfeld. Dieser Abschnitt umfasst demnach jene Lernphase, welche

die Basis für die späteren Erfolge bildet.

3.6.1. Weiterführende Bildung und Studium

3.6.1.1. Maria Theresia

Im Alter von 19 Jahren durfte sie ihre Jugendliebe Franz Stephan von Lothringen, einen entfernten

Cousin, heiraten (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 9; Klima, 2019, S. 23 f; Telesko, 2020, S. 161). Die

Vereinigung der beiden konnte die Macht des Habsburger Hauses nicht in Gefahr bringen, da das

Haus Lothringen nicht bedeutend genug war (vgl. Klima, 2019, S. 23 f). Während der

Regierungszeit von Maria Theresia war er offiziell Mitregent. Sie selbst bestimmte ihn dazu, um

ihm bei der anstehenden Kaiserwahl als König von Böhmen ein Stimmrecht zu geben. Sie

übertrug ihm die Verwaltung der Finanzen und er beschränkte sich auf sein wirtschaftliches Talent

und kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten des Hauses Habsburg. Maria Theresia

traf alle großen Entscheidungen alleine. Wenn er eine andere Meinung als sie vertrat, warf sie ihn

sogar aus den Ratssitzungen (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 11; Klima, 2019, S. 23 f).

Als ihr Vater Karl VI. im Oktober 1740 völlig unvorhersehbar verstarb, übernahm sie die

Regierungsgeschäfte. Möglich war dies, da ihr Vater 1713 mit der ‚pragmatischen Sanktion‘ die

Unteilbarkeit der Territorien des Hauses Habsburg festgelegt und die Erbfolge geändert hatte (vgl.

Birkenbihl, 2017, S. 9 f; Klima, 2019, S. 22). Ihr Vater hoffte jedoch bis zum Schluss auf einen

männlichen Erben und verlangte von Maria Theresia bei ihrer Hochzeit 1736 einen Verzicht zu

leisten und von ihren Ansprüchen zurückzutreten, falls doch noch ein männlicher Nachkomme

geboren werde (vgl. Telesko, 2020, S. 161). Die Berater, Fürstenhäuser und auch das Volk

begegneten Maria Theresia sehr skeptisch. Ihr Vater hatte sie nie zu seinen geschäftlichen Treffen

mitgenommen oder sie in irgendeiner Weise explizit auf die Rolle der Thronfolgerin vorbereitet

(vgl. Birkenbihl, 2017, S. 10; Klima, 2019, S. 22). Hingegen schreibt Schmale (vgl. 2020, S. 27),

dass Maria Theresia ab dem Alter von vierzehn Jahren ihren Vater zu Ratssitzungen begleiten

durfte. Ohne oder zumindest mit wenigen Kenntnissen stand sie vor der Aufgabe, ein riesiges

Reich zu regieren und übernahm den Vorsitz der Regierung noch am Todestag ihres Vaters. Zu

diesem Zeitpunkt war sie gerade einmal 23 Jahre alt und zum dritten Mal schwanger. Ihr erstes

Kind hatte sie kurz davor begraben müssen (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 10; Klima, 2019, S. 22;

Schmale, 2020, S. 27). Die Erbhuldigung fand am 22. November 1740 statt, noch während der

sechswöchigen großen Landestrauer. Die schwangere Maria Theresia wurde während des

49

gesamten Zuges von der Hofburg zum feierlichen Gottesdienst im Stephansdom auf einer Sänfte

getragen. Dies brachte eine Änderung der traditionellen Ordnung der Erbhuldigung (vgl. Hertel,

2020, S. 47 f).

Mit Übernahme der Macht musste Maria Theresia an allen Fronten schnell handeln. Anstatt sich

der Absicherung der Finanzen und dem Ausbau der Armee zu widmen, hatte sich Karl VI. nur um

die Absicherung der Erbfolge gekümmert und hinterließ seiner Tochter, auch aufgrund der letzten

beiden Kriege, leere Staatskassen. Österreichs Nachbarländer versuchten, die Unterzeichnung

der Pragmatischen Sanktion zu umgehen und erhoben Ansprüche auf beträchtliche Teile der

Habsburgischen Besitzungen (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 9–12). Weil das Volk Hunger litt, ordnete

Maria Theresia bei ihrem Amtsantritt die Öffnung der Kornkammern der Klöster an. Den Tod von

Karl VI. nutzte der preußische König Friedrich II., um im Dezember 1740 anzugreifen. Als sich die

verzweifelte Mutter mit dem neugeborenen Sohn dem gesamten ungarischen Adel präsentierte

und diesen um sich versammelte, gelang ihr die Wende. Die Fürsten, beeindruckt von der jungen

mutigen Frau, stellten ihr 20.000 Soldaten zur Verfügung. Sie wurde im Juni 1741 zum ‚König von

Ungarn‘ (eine weibliche Bezeichnung war nicht vorgesehen) gekrönt. Zuvor hatte sie Reitstunden

genommen und inszenierte die Krönung sorgfältig, in dem sie sich als fleischgewordene Hungaria

stilisierte. Weiblichkeit wurde durch staatsrechtliche Männlichkeit ausgeglichen. Sie trug ein

Schwert und die Farben der ungarischen Flagge. Der Erbfolgekrieg endete 1748 einerseits mit

dem Verlust des wohlhabenden Schlesiens und anderen Territorien, andererseits mit

Friedensverträgen, die ihre Herrschaft und auch das Erbe sicherten (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 16;

Klima, 2019, S. 22 f; Lau, 2020, S. 41). Die ‚wilde Reiterin‘ nahm offizielle Termine auch zu Pferd

wahr. Damit zog sie sich den Unwillen der Fürsten zu, löste aber auch einen Reit-Boom unter

Wiens Damen aus. Da die Königin dies tat, konnten die Herren es schlecht den Damen verbieten.

Im Gegensatz zu ihren Vorgängern ließ Maria Theresia sich öffentlich blicken und stellte sich dem

Volk. Sie erlaubte es sogar, dass man ihr Bittgesuche in die Kutsche warf. Zuvor von vielen

kritisiert, wurde die Frau am Thron nun bejubelt (vgl. Klima, 2019, S. 22 f).

3.6.1.2. Olympe de Gouges

Bereits mit 17 Jahren wurde Olympe de Gouges gegen ihren Willen an den Gastwirt Louis-Yves

Aubry zwangsverheiratet. Sie schrieb in einem ihrer Briefe, dass er ein Mann sei, der weder

wohlhabend war noch guter Herkunft und sie diesen Mann nicht liebte. Sie betrachtete diese

Heirat als grundlose Opferung ihrer Person. Im Jahr 1766 gab es zwei einschneidende Ereignisse

in ihrem Leben: Sie brachte ihren Sohn Pierre auf die Welt und ihr Mann starb, was sie als 18-

jährige zur Witwe machte. Den Namen des ihr verhassten Mannes wollte sie nicht mehr tragen

und nannte sich von da an Olympe de Gouges. Das bescheidene finanzielle Erbe nahm sie 1768

mit nach Paris, wo sie zu ihrer Schwester und deren Mann zog. Ungeklärt ist, ob sie ihren Sohn

mitnahm. Dort führte sie, wie sie selbst sagte, ein geregeltes, zurückgezogenes Leben, wie es

50

sich für eine Frau, die etwas auf sich hielt, gehörte. Eine weitere Heirat lehnte sie aufgrund ihrer

negativen Erfahrung zuerst für sich selbst und später generell auch politisch ab. Es wird vermutet,

dass sie einige Jahre zuerst in Montauban und später in Paris eine freie Verbindung zu Jacques

Biétrix de Roziére hatte. Er war der Sohn eines reichen Transportunternehmers beim königlichen

Militär (vgl. Schröder, 1995, S. 81 f). Wahrscheinlich kam sie in dieser Zeit sogar auf den

Gedanken, gegenseitige Rechte und Pflichten vertraglich festzuhalten. Sie formulierte ihre

Gedanken über die Neugestaltung der Ehe, im Konkreten die Regelung der Zukunft einer Ehe

durch einen ‚Contract social‘, in einer Denkschrift (vgl. Opitz, 1985, S. 302; Schröder, 1995, S.

82). Die Verbindung, die 20 Jahre anhielt, ermöglichte ihr ein finanziell weitestgehend gesichertes

Leben (vgl. Doormann, 1993, S. 31).

Erst im Alter von 37 Jahren erschien sie öffentlich als Autorin Olympe de Gouges. Die ersten

siebzehn Jahre in Paris nutzte sie wahrscheinlich für ein intensives Selbststudium. Sie lernte

Französisch, „mündlich durch Konversation im kleinen Kreis, wo sie ihr rhetorisches und

ironisches Talent entfalten konnte, durch Lektüre literarischer und politischer Schriften und

schriftlich durch vielfältige Vorübungen“ (Schröder, 1995, S. 82). In dieser Zeit gab es viele

literarische Versuche: kleine und große Dialoge, Dramen und Komödien sowie eine Selbstbildung

zur Theaterautorin durch das Besuchen und Studieren von etlichen Theateraufführungen. Gewiss

ist, dass ihre Zielstrebigkeit ihre intellektuelle Entwicklung vorantrieb und ihr half, ihrem Ziel, eine

seriöse und erfolgreiche Autorin zu werden, näher zu kommen. Sie klagte, wie viele andere

autodidaktische Autorinnen, immer wieder über die Vernachlässigung in ihrer Kindheit und die ihr

fehlende Ausbildung. In der Zeit, in der sie lebte, mussten Autorinnen mutig sein. Es war Frauen

verboten, Geist und Vernunft zu demonstrieren, da sonst die Gefahr bestünde, dass das ‚inferiore‘

die Herrschaft des ‚superioren‘ Geschlechts stürzen würde (vgl. Schröder, 1995, S. 82 f). In ihrem

Briefroman (1786) veröffentlichte sie einen Brief. Laut Doormann (1993) ist es der Brief ihres

leiblichen Vaters an sie, laut Schröder (1995) der eines Autorenkollegen. Er wünschte sich, dass

Frauen keine Doktortitel erhalten, da gelehrte Frauen lächerlich seien und sie nur

anbetungswürdig wären, wenn sie laut Doormann (1993) kein öffentliches Verantwortungs-

bewusstsein bzw. laut Schröder (1995) keinen gesunden Menschenverstand hätten. Frauen

könnten gerne schreiben, aber zum Wohle der Welt ohne Ansprüche. Noch strikter galt dieses

Verbot für die literarischen Gattungen Drama und Komödie sowie das Theater und vor allem für

politisch brisante Themen. Es wurde als weibliche Vermessenheit bezeichnet, wenn Frauen nach

dem Unerreichbaren griffen und dieses exklusive und heilige Privileg antasten wollten (vgl.

Doormann, 1993, S. 38; Schröder, 1995, S. 82 f).

Während dieser Zeit des Theaterkonflikts lernte sie allem Anschein nach Louis Sébastian de

Mercier kennen, der die gleichen literarischen und politischen Interessen wie sie hatte. Später

pflegten sie eine enge berufliche und freundschaftliche Beziehung. Angeblich war er auch ihr

51

Geliebter und überarbeitete ab 1785 ihre Schriften, doch in welchem Umfang, ist unbekannt. Er

gehörte zur Frondeur-Opposition, die literarisch tätige Frauen tolerierte und in der Gunst

königlicher Prinzen stand, die in Opposition zum Hof standen, darunter auch der Neffe Ludwig

des XVI., Prinz Louis-Philippe, auch genannt Philippe Égalité. Anfang der siebziger Jahre soll sie

eine der vielen Mätressen des Prinzen gewesen sein. Als Enklave war das Palais Royal einer der

Treffpunkte der Fronde, in dem sich Oppositionelle aller Stände und beider Geschlechter trafen.

Eventuell bekam Olympe de Gouges durch Louis Sébastian de Mercier Zugang zu diesem Kreis

(vgl. Doormann, 1993, S. 35 f und 42; Schröder, 1995, S. 83 f). Es schien so, als hätte die

uneheliche Tochter des Marquis auch ohne diesen den Aufstieg in die allerhöchsten

Gesellschaftskreise geschafft. Dennoch war sie unglücklich, da sie nicht jene gesellschaftliche

Anerkennung bekam, nach der sie sich sehnte: die Anerkennung als gleichberechtigtes Subjekt.

Als Mätresse lebten Frauen von ihrer Schönheit, wurden aber nicht ernst genommen und teilweise

sogar verleumdet. Im Alter von dreißig Jahren im Jahr 1778 kehrt sie der Galanterie den Rücken

zu. Ihr Geliebter Jaques Biétrix unterstützt die temperamentvolle Schönheit weiterhin finanziell

(vgl. Doormann, 1993, S. 35 f).

3.6.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata

Raissa entschied sich für ein Medizinstudium, wie die meisten der ersten Studentinnen. Die Motive

dafür waren einerseits angestoßen durch die Menschen, mit denen die beiden Schwestern

verkehrten und die Lektüren über die junge russische Intelligenz und die Emanzipations-

bestrebungen. Dies ging einher mit dem Bedürfnis nach höherer Bildung, der wirtschaftlichen

Unabhängigkeit, dem Ausbruch aus der traditionellen Frauenrolle und aus der Autorität der Eltern

oder des Ehemannes. Das Mitwirken an gesellschaftlichen Veränderungen war ihr erklärtes Ziel.

Einerseits war die Studienwahl konform mit den ‚weiblichen Bestimmungen‘ zu hegen und zu

pflegen, andererseits wollten die jungen, idealistischen Russinnen reformierend wirken und

Zugang zum ‚einfachen Volk‘ bekommen. Ihr früherer Hauslehrer Koni erzählte, dass sie bereits

früher studieren wollte, die Eltern dies jedoch mit einer List verhinderten und die Beziehung mit

dem jungen Mann arrangierten, den sie dann heiratete (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 33–35). Rosa

selbst behauptete später in einer autobiografischen Skizze, sie hätte sich bereits im 13.

Lebensjahr für das Medizinstudium entschieden. Es hätte harte Kämpfe gegeben, bis sie

entgegen dem Willen ihrer Eltern doch studieren gehen durfte (vgl. Kerschbaumer, 1896, S. 45).

Vorbild war die Russin Nadezda Suslova, die am 14. Dezember 1867 als erste Studentin an der

anerkannten Züricher Universität in Medizin promoviert hatte (vgl. Bonner, 1988, S. 464) und so

„wissensdurstigen Frauen den Weg gewiesen“ (Kerschbaumer, 1895, Separatabdruck, 2) hat.

Fraglich ist jedoch, ob sich Rosa tatsächlich so gegen ihre Eltern auflehnen musste, da sie ohne

deren Unterstützung bestimmt kein Universitätsstudium absolvieren hätte können. Mutig und auch

ein wenig naiv immatrikulierte Raissa ohne fachliche Vorbereitung im Oktober 1872. Virginija half

52

ihrer Schwester beim Lernen. Voller Eifer gelang es Raissa, mit ihrem raschen

Auffassungsvermögen und einem ausgezeichneten Gedächtnis die fehlenden Kenntnisse zu

erlangen und den Vorlesungen zu folgen. Sie stürzte sich in ihr Studium und gab sich große Mühe,

sich der neuen Umgebung anzupassen und dem alten Leben zu entfliehen (vgl. Veits-Falk, 2008,

S. 35 f). Die Eltern sorgten für Raissas Kinder und verbrachten sogar den Winter in Zürich. Laut

Virginija sprach Raissa wenig über ihre Söhne, meist nur wenn Briefe eintrafen. Wenn ihr dann

mal beim Lesen eines Briefes Tränen in die Augen stiegen, schämte sie sich der

Schwächeanwandlung. Die Erziehung und Pflege der Knaben hatte sie ihrer Mutter überlassen

(vgl. Seebacher, 2008, S. 51; Veits-Falk, 2008, S. 36 f). Sie hatte ihr versprochen, dass sie dies

übernehmen dürfe, solange sie studiere. Virginija hingegen ließ ihre Schwester als ‚Rabenmutter‘

erscheinen, die sich nicht um ihre drei Kinder kümmerte. Darauf angesprochen, argumentierte

Raissa, dass sie keine Zeit habe und sich auf ihr Studium konzentriere. Gemeinsam mit ihrer

Schwester nahm sie Nachhilfeunterricht in Naturwissenschaften und Deutsch (vgl. Veits-Falk,

2008, S. 36 f).

Im Frühling 1873 zogen die Schwestern in eine der größten und besten Pensionen in Zürich. Unter

den anderen Bewohnerinnen befanden sich auch die ersten Vorkämpferinnen des

Frauenstudiums. In ihrer Freizeit beschäftigten sich die Schwestern mit Berichten über die

aktuellen Diskussionen in Politik, Literatur und Kunst. Unter anderem hielt ihr Nachhilfelehrer

Friedrich Erismann sie dazu am Laufenden, da die Frauen viele Veranstaltungen und Lokalitäten

nicht besuchen durften (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 39–41). Der russische Zar setzte dem Züricher

Studium der russischen Studentinnen im Sommer 1873 ein abruptes Ende. Er hatte die politischen

Aktivitäten der Studentinnen beobachtet und bezichtigte die Frauen der Praktizierung schamloser

Liebe sowie der Nutzung der medizinischen Kenntnisse zur Vertuschung der Folgen. Er befahl

allen Russinnen per 1. Jänner 1874 die Universität Zürich zu verlassen und drohte, dass sie in

Russland weder geprüft, noch in staatlichen Einrichtungen beschäftigt werden würden. Obwohl

die meisten Studentinnen in ihre Heimat zurückkehrten, bemühten sich Raissa und ihre Schwester

an anderen Universitäten, darunter Prag und Leipzig, um eine Weiterführung ihres Studiums.

Schließlich durften sie im Oktober 1873 an der Universität Bern immatrikulieren. Raissas Eltern

kamen mit ihren Kindern und einer Gouvernante wieder über den Winter in die Schweiz (vgl. Veits-

Falk, 2008, S. 41–43).

Obwohl die medizinische Fakultät eher schlecht ausgestattet war, begannen nun die klinischen

Semester. Bei den Rundgängen im Krankenhaus mit dem jeweiligen Professor fanden die

klinischen Vorträge statt und die Studentinnen und Studenten konnten den jeweiligen Fall

diagnostizieren. Im Gegensatz zu Zürich war in Bern auch das Verhältnis zu den männlichen

Kollegen kameradschaftlicher und gegenseitige Vorbehalte wurden abgebaut. Auch die

Bevölkerung reagierte positiv auf die ‚Jungfer Doctor’ und man bat Raissa am Ende ihres

53

Praktikums wieder eine ‚Jungfer Doctor’ anstelle eines ‚Herrn Doctor’ zu schicken (vgl. Veits-Falk,

2008, S. 44 f).

Als Raissa und ihre Schwester im August 1875 die Nachricht des Todes ihres Vaters erhielten,

reisten sie sofort nach Russland zu ihrer trauernden Mutter zurück, die mit Raissas Söhnen auf

das Landgut in Dubki übersiedelt war (vgl. Seebacher, 2008, S. 51; Veits-Falk, 2008, S. 45). Auf

ihrem Landgut angekommen, übernahmen sie anstelle ihres Vaters die medizinische Behandlung

der Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner sowie die Verabreichung von Medikamenten. Da die

Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner sich aber nicht vor ihnen ausziehen wollten,

diagnostizierten sie anhand deren Schilderungen. Bevor sie wieder nach Bern reisten,

verbrachten die Schwestern einige Tage in Moskau bei ihrem Onkel. Virginija wurde zu diesem

Zeitpunkt von der Geheimpolizei festgenommen, konnte aber von einem einflussreichen

Verwandten wieder aus dem Gefängnis geholt werden. Doch nicht nur Virginija sondern auch

Raissa wurde von der Geheimpolizei gesucht und sollte festgenommen werden. Zudem wurde sie

mehrmals beschattet. Aus einem Geheimdienstbericht geht hervor, dass die Studentin Raissa

Putjata, die wegen Revolutionspropaganda verurteilt war, unter anderem im Frühjahr 1876 in

Dubki observiert wurde, als sie dort an ihrer Dissertation schrieb. Bei den Einreisen nach Russland

wurden sie entweder festgenommen oder lange an der Grenze zurückgehalten. Im Juli 1876

wurde Raissas Gepäck auf erniedrigende Art und Weise durchsucht. Da sie Studentinnen waren,

wurden sie von vornherein verdächtigt. Viele ihre Mitstudentinnen waren Teil der revolutionären

russischen Bewegung. Obwohl die Schwestern manche der Forderungen und revolutionären

Ideen begrüßten, gehörten sie nicht zu den radikalen Studentinnen (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 46–

48).

Mit Virginijas Heirat im Oktober 1876 enden ihre Memoiren. Den letzten Passagen ihrer Memoiren

und dem Briefkontakt mit ihrer Mutter kann man entnehmen, dass es ein massives Zerwürfnis

zwischen den Schwestern gegeben hatte und sie später keinerlei Kontakt mehr hatten (vgl. Veits-

Falk, 2008, S. 49). Am 7. Juli 1876 schloss Raissa ihr Medizinstudium mit dem Doktorexamen ab

(vgl. Seebacher, 2006, S. 560; Veits-Falk, 2008, S. 50) und approbierte im Jahr 1877 mit ihrer

Dissertation ‚Ueber Sarcom der Lymphdrüsen‘ unter dem Namen ‚Raissa Putiata von Schlikoff‘.

Im August zuvor war sie nach Russland zurückgekehrt, hatte dort ihre Kinder und ihre Mutter

besucht und sich von Wladimir scheiden lassen. Die spätere Rosa Kerschbaumer hob die

Bedeutung ihres Studiums in Bern für den weiteren beruflichen und persönlichen Werdegang

hervor (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 49 f). Sie entschied sich für das Fachgebiet der Augenheilkunde.

Sie beschrieb es als außerordentliches Glücksgefühl, den Patienten zu helfen, und hob zu dem

ihre spezielle Befähigung als Augenärztin hervor: ihre, im Vergleich mit Männern, kleinen, zarten

und leichten Hände (vgl. Kerschbaumer, 1889, S. 11).

54

Angeregt durch ihr fachspezifisches Interesse und von Personen aus ihrem persönlichen Umfeld,

wie beispielsweise den auf Augenheilkunde spezialisierten Friedrich Erismann, ging sie nach

Wien, um sich dort fachlich weiterzubilden. Wie die Ausbildung in Wien genau ablief ist nicht

bekannt. Der jeweilige Professor entschied, ob die Studentin an Übungen und Vorlesungen

teilnehmen durfte. In Österreich war es Frauen bis 1900 nicht möglich ‚offiziell‘ als Ärztinnen zu

praktizieren. 1896 erreichten zahlreiche Petitionen die Anrechnung im Ausland erworbener

Diplome von Frauen. Ab 1900 durften Frauen auch in Österreich Medizin studieren. Im

Wintersemester 1876 war Raissa vermutlich eine Hospitantin, also eine unbezahlte Gastärztin,

die so möglichst viel Fachwissen erwerben konnte. Ein für Raissa unvergesslicher Freund und

Lehrer war ihr Unterstützer Ferdinand von Arlt. Zu seinem 70. Geburtstag erhielt er ein Album mit

Fotos seiner wichtigsten Schüler, darunter eine einzige Frau: seine Schülerin Raissa mit ihrem

späteren Namen Rosa Kerschbaumer. Unter seiner Anleitung eignete sie sich ihre

Spezialkenntnisse in Augenheilkunde an und wurde zu einer angesehenen Operateurin. Sie selbst

sagte, dass er ihre zarten und kleinen Frauenhände als vorteilhaft für die feinen und heiklen

Augenoperationen hielt. Er beherrschte die Techniken und neuesten Entwicklungen der

Augenheilkunde der Zeit beispiellos. Um die Kenntnisse in Chirurgie zu schärfen, besuchte Raissa

zudem Kurse beim berühmten Chirurgen Theodor Billroth. Als sie den klugen, aber nicht sehr

arbeitsamen Operateur Billroths und zeitgleich Assistenten Arlts Friedrich Kerschbaumer, Sohn

eines Gerbermeisters, kennenlernte, kam sie diesem näher und heiratete ihn noch 1877. Von da

an nannte sie sich Rosa. Veits-Falk bezweifelt, dass es die große Liebe war. Sachlich betrachtet

war die Ehe für beide von Vorteil. Da ihr Schweizer Doktordiplom in Österreich nicht anerkannt

wurde, hatte sie keine Möglichkeit zu arbeiten. Friedrich hatte nur geringe Chancen auf eine

Karriere an der Universität und konnte nun durch die Heirat, mit dem Geld und der Arbeitskraft

seiner Frau, eine Privatklinik gründen. Dies eröffnete Rosa die Möglichkeit an seiner Seite zu

arbeiten und die rechtlichen Bestimmungen zu umgehen. Dank Professor Arlts Tipp und seiner

Unterstützung konnte Rosa unter Kerschbaumers Namen eine Augenheilanstalt in Österreich

gründen und trotz der Ungunst der Wiener Professoren gegen ihre Zulassung, ihren Wunsch als

Ärztin zu praktizieren, verwirklichen (vgl. Seebacher, 2006, S. 560; Veits-Falk, 2008, S. 52–57

und 60–62).

3.6.1.4. Cécile Vogt

Nach der Töchterschule wurde Cécile von Privatlehrern im benachbarten Chambéry unterrichtet.

Sie konnte so ihr philologisches Abitur (Baccalauréat ès Lettres) im Alter von 17 Jahren ablegen.

Im Alter von 18 Jahren folgte das ‚Baccalauréat ès Sciences‘, das naturwissenschaftliche Abitur.

Dieses legte sie an einer Knabenschule ab, da diese Examen dem männlichen Geschlecht

vorbehalten waren. Dennoch durfte Cécile an einem separaten Tisch an den Examen teilnehmen

(vgl. Wolff, 2009, S. 21 f). Mit selbstständigem Denken gleich ihrer Mutter und steigendem

Selbstbewusstsein begann sich die junge Cécile gegen den streng katholischen Ton ihrer Tante

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aufzulehnen. Diese bestrafte dieses Verhalten mit der Enterbung (vgl. Düweke, 2001, S. 118;

Wolff, 2009, S. 21).

Die weiblichen Familienmitglieder ihres Vaters hatten den Wunsch, dass Cécile nach ihrem Abitur

in ein Kloster eintrete. Cécile entschied sich jedoch für eine berufliche Laufbahn als Medizinerin.

Gleich nach ihrem Schulabschluss inskribierte sie 1893 für das Medizinstudium an der Pariser

Universität, an der seit 1867 auch Frauen zugelassen waren (vgl. Düweke, 2001, S. 118; Rürup

& Schüring, 2008, S. 339; Wolff, 2009, S. 22). Dort wurde Cécile im Jahr 1896 laut Wolff die

Schülerin und laut Düweke die Assistentin des Neurologen Pierre Marie. Dieser leitete die

psychiatrische Männerklinik Bicêtre und bildete Cécile in lokalisatorischer Hirnanatomie und

klinischen Untersuchungsmethoden aus (vgl. Düweke, 2001, S. 118; Satzinger, 1996, S. 77; Wolff,

2009, S. 22). Ihr Medizinstudium beendete sie im Winter 1898/99. Ihre Dissertation war eine

vergleichende, neuroanatomische Studie und gilt als bedeutend für die moderne

Thalamusforschung. Sie promovierte 1900 bei Pierre Marie. Im Jahr zuvor hatte sie den

deutschen Nervenarzt Oskar Vogt in Paris kennengelernt und heiratete diesen im Jahr ihrer

Promovierung in Berlin, wohin sie dann auch zog (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 339; Satzinger,

1996, S. 77). Bis 1922 wurde der Französin ihre Approbation als Ärztin in Deutschland

vorenthalten (vgl. Wolff, 2009, S. 22). Neben 30 Gehirnpräparaten, die sie von Pierre Marie zur

Hochzeit geschenkt bekam (vgl. Wolff, 2009, S. 5), brachte Cécile auch eine uneheliche Tochter

namens Claire (mehr ist über sie nicht bekannt) mit ein in die Ehe. Oskar adoptierte sie (vgl. Rürup

& Schüring, 2008, S. 339). Gemeinsam bekamen sie zwei weitere Töchter. 1903 wurde Marthe

geboren und zehn Jahre später Marguerite. Beide Töchter wurden angesehene

Naturwissenschaftlerinnen (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 339).

3.6.1.5. Lise Meitner

Lise erinnerte sich: „Ich war seit meinem 13. Jahr von dem Wunsch besessen, mich zur Gymnasial

Matura vorzubereiten, um Mathematik und Physik zu studieren, was nicht die Zustimmung meiner

Eltern fand, vermutlich weil sie nicht an die Ernsthaftigkeit meines Wunsches glaubten “ (L.M. an

E. zu Salm-Salm, 22.9.1961, MTNR zit. n. Sexl & Hardy, 2002, S. 18). Der Ehemann ihrer

Schwester Frieda berichtete, dass Lises Vater sie für zu fragil hielt. Er wollte sie nicht studieren

lassen, denn sie sollte Pianistin werden. Trotz strenger Kontrollen gelang es der lernbegierigen

und einfallsreichen Lise monatelang unbemerkt mit ihren Büchern unter einem Teppich und einer

elektrischen Birne an einer langen Schnur zu lernen (vgl. L. Frischauer an O.R. Frisch, 17.3.1969,

MTNR zit.n. Sexl & Hardy, 2002, S. 18). Lise konnte ihren Vater doch noch von der Ernsthaftigkeit

ihres Wunsches zu studieren, überzeugen (vgl. Sexl & Hardy, 2002, S. 18). Mädchen durften zu

dieser Zeit noch kein Gymnasium besuchen. Dies war erst mit Eröffnung des ersten

Privatgymnasiums ab 1892 möglich, wobei der Abschluss nicht von den Universitäten anerkannt

wurde. Lise machte 1901 die Externistenmatura an einem Knabengymnasium, worauf sie sich

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selber vorbereiten musste. Die Externistenprüfung für Mädchen war umfangreicher als jene der

Knaben. Dies ermöglichte ihr aber zu studieren (vgl. Klima, 2019, S. 12; Rennert & Traxler, 2018,

S. 22).

Ihr Vater, der durch seine Tätigkeit als Rechtsanwalt wohlhabend war, förderte die Interessen und

Ambitionen seiner Kinder (vgl. Klima, 2019, S. 12; Sime, 2001, S. 22). Er hatte jedoch den

Wunsch, dass Lise vorab eine Ausbildung zur Französischlehrerin absolvierte, um notfalls selbst

ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Danach begann sie mit der zweijährigen Vorbereitung für die

Externistenmatura, die den Stoff aus acht Jahren Gymnasium beinhaltete. Sie nutzte jede freie

Minute zum Lernen und erhielt beim jungen theoretischen Physiker Arthur Szarvassy

Privatstunden in Mathematik und Physik. Als sie 1901 zur Matura am akademischen Gymnasium

am Wiener Beethoven Platz antrat, war sie eine der vier erfolgreichen Maturantinnen von den

insgesamt 14 angetretenen Mädchen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 22 f; Rife, 1990, S. 22–

24).

Lise inskribierte im Jahr 1901 als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität Physik und

Mathematik und zählt somit zu den Pionierinnen des Frauenstudiums. Notwendigerweise belegte

sie auch Philosophie, da der physikalische Fachbereich der Philosophischen Fakultät zugeordnet

war. Zudem studierte sie Botanik. Zunächst hatte sie überlegt, diese Fächer nur nebenbei zu

studieren und als Hauptfach Medizin zu wählen, wovon ihr aber ihr Vater abriet. Die 23-jährige

Lise war die erste Frau in einer Physikvorlesung. Als erst zweite Frau dissertierte sie in Physik bei

Professor Ludwig Boltzmann (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 8; Klima, 2019, S. 12; Rennert

& Traxler, 2018, S. 26; Rife, 1990, S. 24 f). Wie viele andere junge Studentinnen und Studenten

begann sie voller Enthusiasmus ihr Studium und besuchte viele Vorlesungen (vgl. Rennert &

Traxler, 2018, S. 26; Sime, 2001, S. 29). Wie ihre Professoren zum Frauenstudium standen ist

unbekannt. Im Laufe des zweiten Semesters fand ein für Lise einschneidendes Ereignis statt,

welches ihr klar machte, dass sie Physikerin und nicht Mathematikerin werden wollte. Ihr

Mathematikdozent Leopold Gegenbauer gab ihr die Arbeit eines italienischen Physikers, die einen

Fehler enthielt. Meitner fand diesen mit der Hilfe von Gegenbauer, lehnte es jedoch ab, diese

Ergebnisse zu veröffentlichen, da es nicht ihre alleinige Erkenntnis war. Dieses Ereignis zeigt ihre

Bescheidenheit und Zurückhaltung, die sich durch ihre ganze Karriere zogen. Dies beweist, dass

für Lise die wissenschaftliche Arbeit selbst und nicht der akademische Vorteil und der persönliche

Geltungsdrang im Mittelpunkt stand (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 28 f; Sime, 2001, S. 29).

In ihrem ersten Studienjahr war der Lehrstuhl für theoretische Physik unbesetzt, weswegen Lise

der Physik noch nicht nachgehen konnte. Der Lehrstuhl wurde jedoch 1902 wieder mit dem

bekanntesten Physiker Österreichs Ludwig Boltzmann besetzt, der den Lehrstuhl auch zuvor

schon innehatte, aber dann einem Ruf nach Leipzig gefolgt war. Von 1902 bis 1905 konnte Lise

57

Boltzmanns berühmten Vorlesungszyklus folgen und berichtete später noch voller Begeisterung

über ihren Professor. Sie sah in ihm einen Mentor. Sein Einfluss auf sie darf nicht unterschätzt

werden. Jahre später reflektierte sie jedoch über die Inhalte der Vorlesungen, vor allem über jene

Inhalte und Physiker, die fehlten, wie beispielsweise Einstein. Da Boltzmanns Gemüts- und

Gesundheitszustand labil war, konnte er womöglich den schnellen Entwicklungen der Physik nicht

nachkommen. Da Lise auch privaten Kontakt mit ihm pflegte, wusste sie um seinen Zustand

Bescheid (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 29 und 31 f; Rife, 1990, S. 29 f und 36).

Meitner verfasste ihre Dissertation über die ‚Wärmeleitung in inhomogenen Körpern‘ in wenigen

Monaten, wie zu dieser Zeit üblich. Die zweite Frau die im Hauptfach Physik promovierte bestand

ihr Rigorosum am 11. Dezember 1905 ‚mit Auszeichnung‘. Im darauf folgenden Jahr wurde ihre

Dissertation in den Sitzungsberichten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien

veröffentlicht und fand Anerkennung am Physikalischen Institut sowie bei Boltzmanns Mitarbeitern

(vgl. Meitner, 2005, S. 84; Rennert & Traxler, 2018, S. 33 f; Rife, 1990, S. 38; Sime, 2001, S. 35).

Da sich Lise unsicher war, ob sie das Zeug zur Wissenschaftlerin hat, entschloss sie sich die

Lehramtsprüfung in Physik und Mathematik abzulegen. Dessen ungeachtet trieb sie auch ihre

wissenschaftliche Ausbildung voran (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 33 f). Stefan Meyer,

Boltzmanns Nachfolger, und Egon von Schweidler führten sie zu dieser Zeit in das Gebiet der

Radioaktivität ein. Meitner war Meyer Zeit ihres Lebens für seine Anregung dankbar, sich mit

Radioaktivität zu beschäftigen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 34; Rife, 1990, S. 38 f; Vogt, 1997,

S. 210).

Obwohl es nie ihre Intention war, sich auf diesem Gebiet zu spezialisieren, begann sie eine

experimentelle Arbeit über radioaktive Strahlen (vgl. Meitner, 2005, S. 85). Im September 1906

veröffentlichte die Physikalische Zeitschrift Meitners Publikation ‚Über die Absorption der Alpha-

und Beta- Strahlen‘ (vgl. Meitner, 1906a) und im Jahr darauf ihre zweite Publikation ‚Über die

Streuung der Alpha-Strahlen‘ (vgl. Meitner, 1907). Großen Einfluss auf die Weiterentwicklung ihrer

wissenschaftlichen Fähigkeiten hatte auch ihr Physikerkollege Paul Ehrenfest. Sie bezeichnete

ihn als anregenden und ausgezeichneten Lehrer, der mit den theoretischen Problemen weit mehr

vertraut war als sie. Er lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die optischen Arbeiten von Lord Rayleigh.

Nachdem sie sich viel mit diesem Thema beschäftigt hatte, verfasste sie schließlich ihre erste

unabhängige wissenschaftliche Arbeit: ‚Über einige Folgerungen, die sich den Fresnel’schen

Reflexionsformeln ergeben‘ die wieder in den Sitzungsberichten der kaiserlichen Akademie der

Wissenschaften veröffentlicht wurde. Diese Arbeiten bildeten den Grundstein von Meitners

wissenschaftlichem Selbstbewusstsein (vgl. Meitner, 1906b; Rennert & Traxler, 2018, S. 34 f; Rife,

1990, S. 40). Besonders interessierte sie der Forscher Albert Einstein, dessen Vortrag sie 1909

in Salzburg mit Spannung verfolgte. Er referierte über die Zusammenhänge von Strahlung und

träger Masse (vgl. Klima, 2019, S. 12). Einige Jahre später lernte sie Einstein persönlich kennen,

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als ihr Experimentalphysikprofessor Anton Lampa sie einander vorstellte. Zudem verhalf ihr

Lampa indirekt zu einer wesentlich besseren Stellung am Beginn ihrer akademischen Karriere

(vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 32 f).

Da Lise in Österreich eher schlechte Aussichten für sich sah, bewarb sie sich für eine

Assistentenstelle in Gießen. Angeblich wollte sie auch an der Sorbonne in Paris studieren, doch

ihr Gesuch wurde von Marie Curie abgelehnt, weil es keine freie Stelle gab, was Lise später als

Glück bezeichnete. Die damals 29-jährige bewarb sich daraufhin im Herbst 1907 an der Friedrich-

Wilhelm-Universität in Berlin. Da sie ihre Eltern auch finanziell noch unterstützten, bat sie um

Erlaubnis, Österreich zu verlassen. Warum sie sich für Berlin entschied, ob eine verflossene Liebe

oder einer ihrer Mentoren dafür ausschlaggebend war, ist nicht geklärt. Fakt ist, dass die am

Beginn ihrer Karriere stehende Wissenschaftlerin im Herbst 1907 in Berlin ankam und aus dem

ursprünglich geplanten einjährigen Aufenthalt 31 Jahre wurden (vgl. Klima, 2019, S. 12; Rennert

& Traxler, 2018, S. 35 und 45; Rife, 1990, S. 42 f; Sime, 2001, S. 37 und 40 f). Im Königreich

Preußen war es Frauen erst ab 1908 erlaubt ein Studium zu beginnen, davor war es Frauen nur

möglich mit individueller Erlaubnis und unter Einschränkungen zu studieren, weswegen einer der

ersten Wege Lises sie zum Ordinarius für theoretische Physik führte (vgl. Rennert & Traxler, 2018,

S. 46 f). Max Planck hatte zu dieser Zeit keine sehr hohe Meinung von Studentinnen (vgl. Meitner,

1964, S. 4). Der berühmte Berliner Physikprofessor unterstützte Frauen nur in Ausnahmefällen,

jedoch sah er Lise als solch eine Ausnahme und setzte sich für sie ein (vgl. Vogt, 1997, S. 210).

1907 war sie die einzige Frau unter 20 Studenten in Plancks Vorlesungen. Nicht nur

wissenschaftlich, sondern auch privat war sie Teil von Plancks engerem Kreis, der in seinem Haus

zusammenkam. Trotz ihrer Schüchternheit fand sie schnell Anschluss an die Berliner

Physikergruppe. Ihre Freundschaft mit Planck, ihre Forschung und ihre Teilnahme am

Physikalischen Kolloquium eröffneten ihr diesen Kreis. Bereits im Dezember wurde sie in die

physikalische Gesellschaft aufgenommen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 48 f; Rife, 1990, S. 51

und 92). Mit Plancks Töchtern und dessen erster Frau verband sie eine enge Freundschaft (vgl.

Rife, 1990, S. 64). Im September zuvor lernte sie durch den Ordinarius für Experimentalphysik,

Heinrich Rubens, den Chemiker Otto Hahn kennen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 50; Sime,

2001, S. 46). Bereits beim ersten Treffen merkt Lise, dass sie sich in Gegenwart von Hahn, der

eine sehr angenehme und informelle Art hatte, wohl fühlte. Sie konnte ihre Schüchternheit ein

wenig ablegen und ganz offen und direkt wissenschaftliche Fragen stellen (vgl. Meitner, 1964, S.

5). Angesprochen durch ihre gutbürgerliche Herkunft, ihre höfliche Art und ihre Kenntnisse in der

Physik, offerierte er ihr eine Zusammenarbeit. Sein Angebot mit ihm an Experimenten im Bereich

der Radioaktivität zu arbeiten, nahm Lise 1907 an. Ohne es zu wissen, begann – wenn auch mit

temporären Unterbrechungen – eine jahrzehntelange Zusammenarbeit (vgl. Rennert & Traxler,

59

2018, S. 50). Von 1908 bis 1938 forschten die Physikerin Meitner und der Chemiker Hahn

gemeinsam (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 12).

3.6.1.6. Gudrun Ensslin

Ihr letztes Schuljahr absolvierte Gudrun in Stuttgart, nachdem sich ihr Vater dorthin hatte

versetzen lassen. Auch in ihrer neuen Klasse war sie sehr beliebt. Weder der Ortswechsel noch

der Schulwechsel bereiteten ihr Probleme, obwohl ihr missfiel, dass sie von da an in einer

Mädchenschule war. Sie hielt den Briefkontakt mit Scott Mohr aufrecht, mit dem sie wahrscheinlich

in Amerika eine Liaison hatte. Die disziplinierte und sozial aktive Schülerin engagierte sich in der

Schülermitverwaltung, besuchte in Geschichte und Philosophie Arbeitsgemeinschaften, spielte im

Orchester und formte allmählich ein Berufsziel. Sie wollte Lehrerin werden, um ihr Wissen

weiterzugeben (vgl. Gleichauf, 2017, S. 54–57).

Im März 1960 machte sie ihr Abitur (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 185). Gudrun Ensslin erhielt ein

gutes Abiturzeugnis und durfte, wie ihr Bruder Ulrich, studieren. Dies war ein Privileg, da sich die

Familie finanziell am Limit bewegte. Sie wurde für eine Förderung bei der Studienstiftung des

deutschen Volkes vorgeschlagen. Der Schulleiter und vier Lehrkräfte beschrieben in ihrer

Stellungnahme die Doppelbegabung zur Sprache, ihr soziales Engagement und ihr großes

Interesse an Bildung und am Lernen. Sie wurde in höchsten Tönen gelobt. Aus ihrem Lebenslauf

und ihrer Bewerbung ging ihr Berufswunsch, Lehrerin zu werden, hervor. Es war ein starker

pädagogischer Impuls und die Leidenschaft für wissenschaftliches Arbeiten erkennbar. Am 4. Mai

1960 schrieb sie sich an der Universität Tübingen für Anglistik und Germanistik ein. Die ersten

zwei Studienjahre wohnte sie aus finanziellen Gründen bei ihrer strengen und wachsamen Tante

in deren winzigen Dienstwohnung. Das Pensum der Studentin Ensslin war enorm: sie besuchte

eine Einführung in die neuere Philologie und philosophische Lehrveranstaltungen zu

Shakespeare, Nitzsche und Herder. Sie beschäftigte sich mit deutschen Novellen, englischer

Phonetik und zeitgenössischer deutscher Literatur (vgl. Gleichauf, 2017, S. 57 und 64).

Im April 1961 erhielt sie die Benachrichtigung, dass ihre Förderung abgelehnt wurde und sie sich

in zwei Semestern erneut bewerben könne. Man könnte nachvollziehen, wenn dieser harte Schlag

sie zutiefst verunsichert hätte. Doch ihre Energie blieb aufrecht. Sie war für alle literarischen

Genres offen und spielte sogar in einer Studententheatergruppe mit. Im Wintersemester 1961/62

besuchte sie Lehrveranstaltungen zur Existenzphilosophie und eine zur Kriminalpsychologie.

Ende 1961 bewarb sie sich erneut für die Förderung. Ein Gutachter schrieb, dass sie über dem

Durchschnitt der Studenten liege, auch aufgrund ihrer wissenschaftlichen Fähigkeiten und ihrer

Fähigkeit zur sachlichen und unprätentiösen Selbstkritik. Ihre generelle Aufgeschlossenheit für

auch vom Studium unabhängige Themen wäre bemerkenswert und dies trotz der belastenden

Umstände Zuhause. Ihr Bruder Ulrich wurde nämlich wegen einer starken psychischen

60

Erkrankung in eine Heilanstalt eingewiesen. Dennoch wurde der Förderantrag abermals

abgelehnt (vgl. Gleichauf, 2017, S. 67–71).

Anfang 1962 lernte Gudrun den Studenten Bernward Vesper kennen. Nicht nur die Studienwahl

der beiden war eine Parallele, auch die finanzielle Situation. Gudrun arbeitete in den Ferien, um

ihr Budget aufzustocken (vgl. Gleichauf, 2017, S. 72–73). Sie erkannte recht schnell, dass

Bernward viele Probleme mit sich trug. Doch sein imposantes literarisches Wissen und sein

unangepasstes Verhalten beeindruckten sie. Die Anziehungskraft zwischen den beiden war groß

und das, obwohl er bereits mit Gudruns Freundin Dörte ein Verhältnis hatte. Etwas musste in

ihrem bisherigen Leben gefehlt haben, denn er entsprach nicht unbedingt dem Bild eines netten

und anständigen Mannes. Er hielt das Verhältnis mit beiden Frauen aufrecht. Seine

Tagebucheinträge klingen nach exzessiven sexuellen Erfahrungen. Unklar ist, ob die 22-jährige

bis zur Begegnung mit Vesper überhaupt schon sexuelle Erfahrungen gemacht hatte. Er glaubte

nicht an die Liebe und sah diese als Mittel zum Zweck. Andererseits beschrieb er die Liebe zu

Gudrun und auch zu Dörte als romantisch und illusionär. Doch diese Liebe war weder das eine

noch das andere. Es gab Regeln für die Liebe zwischen den Geschlechtern und

Rollenzuschreibungen. Die Rolle der Frau: Selbstaufgabe für den Geliebten. Nicht nur Gudruns

Leben, geprägt von Regeln und Systemen, sondern auch die Liebe richtete sich nun nach Regeln.

Gerade in dieser heiklen Phase hätte Gudrun Rückhalt gebraucht, doch niemand war da. Im

Sommer 1962 verbrachte Gudrun mit Vesper zwei Monate in Spanien. Dort trafen sie auch Dörte

mit ihrem neuen Freund Scott Mohr, Ensslins ehemaligen Freund aus Amerika. Während dieser

Zeit schrieb sie ihrem Bruder Gottfried und berichtet über die Abenteuer und schwärmte von Land

und Leuten. Nach wie vor bestand also der Draht nach Hause, trotz ihres Freiheitsdrangs und den

nunmehr unterschiedlichen Auffassungen zu Gott und dem Leben im Allgemeinen (vgl. Gleichauf,

2017, S. 77–85).

Zurück aus Spanien überlegte das Paar einen Verlag zu gründen. Vesper hatte viele Ideen,

fantastische Schnellschüsse und dennoch konnte er andere dazu begeistern. Noch bevor sie

einen Verlag gründeten, setzte Vesper sein Versprechen an seinen Vater um, dessen zweifelhafte

Nazi-Dichtungen und Texte erneut zu veröffentlichen. Ein österreichischer Verleger half ihm dabei,

aber den größten Teil des finanziellen Risikos und des Vertriebs mussten Vesper und Ensslin

übernehmen. Gudruns Vater musste dies übel aufgestoßen sein. Aber Gudrun ließ sich von ihrem

Partner blenden und manövrierte sich in eine Abhängigkeit (vgl. Gleichauf, 2017, S. 87–90).

Im Frühjahr 1963 wechselt sie an die Pädagogische Hochschule in Schwäbisch Gmünd, doch

weder das Städtchen noch die Hochschule sagten ihr zu. Sie wusste, dass sie schnell ihren

Abschluss machen musste. Seit dem Sommer arbeiteten Vesper und Ensslin an der Gründung

eines Kleinverlags. Für den ersten erschienen Band schrieb die rationale, klar strukturiert

61

arbeitende Ensslin namhafte Autorinnen und Autoren an und bat sie um einen Beitrag. Die Anzahl

der literarischen Stimmen in diesem Band war beeindruckend. Trotz mangelndem Interesse am

Lehramtsstudium, bewarb sich Gudrun erneut bei der Studienstiftung. Viel lieber wollte sie im

Verlagswesen arbeiten (vgl. Gleichauf, 2017, S. 91–96 und 114 f). Im Jahr 1964 gründete sie mit

Vesper den Verlag ‚Studio Neue Literatur‘. Im selben Jahr gaben sie ihren ersten Band ‚Gegen

den Tod – Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe‘ und ‚Gedichte‘ von Gerardo

Diego heraus (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 185).

Im März 1964 legte sie ihre erste Dienstprüfung für das Lehramt an Volksschulen ab und bekam

im selben Monat, beim dritten Anlauf, die Zusage für die Förderung der Stiftung (vgl. Ensslin et

al., 2005, S. 186; Gleichauf, 2017, S. 95 f). Im April erhielt sie „den Zulassungsbescheid für ein

Promotionsstudium an der TU Berlin. [….] Eine Zukunft im Dienste der Wissenschaft erscheint ihr

möglich“ (Gleichauf, 2017, S. 96). In Berlin angekommen, wohnte sie zuerst bei Freunden von

Freunden und bezog dann eine eigene Wohnung, in die später auch Vesper einzog. Die Großstadt

Berlin war eine immense Herausforderung. Sie wollte sich zuhause fühlen. Verstärkt trat ihr

Hunger nach praller Wirklichkeit hervor. Obwohl der Kontakt zu ihren Eltern bestand, hatte sie

eine Distanz zu Glaube und Kirche sowie zu ihrer Kindheit und Jugend hergestellt. Sie probierte

viel und setzte sich mit der eigenen Zeit und persönlichen Konflikten auseinander, jedoch war

weder in weltanschaulicher noch in politischer Hinsicht eine Spur von Radikalisierung

wahrzunehmen. Die Doktorandin belegte Ferienkurse in Italien und Frankreich und schrieb einen

Bericht darüber an die Stiftung. Der Bericht zeigte deutlich ihre Begabung für das Schreiben, denn

sie schaffte es, mit wenigen Sätzen den Leser in eine bestimmte Atmosphäre zu versetzen.

Literarisch versuchte sie sich zudem an Gedichten und übermittelte diese Günter Eich, einem

Dichter hohem Niveaus (vgl. Gleichauf, 2017, S. 102–103 und 107–110). Auch privat gab es

Entwicklungen. Im Frühjahr 1965 verlobte sie sich mit dem chronischen Fremdgeher Vesper, aber

auch sie hatte eine Affäre mit dem aufstrebenden Schriftsteller und Lektor Roehler Klaus. Sie

selbst beschrieb dies als ein Doppelleben (vgl. Gleichauf, 2017, S. 111–113).

Im Juni 1965 traten Ensslin und Vesper dem Wahlkontor bei, Ensslin war eine von zwei Frauen.

Roehler Klaus beschrieb die Aufgaben des Wahlkontors: die Formulierung des SPD-Programms

sowie Slogans, das Aufbauen von Willy Brandt, die Bearbeitung der Wahlreden und das Sammeln

von Unterschriften bekannter Leute. Auch das ‚Schlechtmachen‘ der CDU und die wortreichen

Gegenreaktionen auf deren Reden wurden von ihnen verfasst. Obwohl Gudrun eine äußerst

talentierte Schreiberin war, fungierte sie lediglich als Sekretärin der kreativen Herren. Es wirkte,

als ob Ensslin nur peripher von den Personen in ihrem engeren Umkreis wahrgenommen wurde

(vgl. Gleichauf, 2017, S. 118–120 und 122).

62

Im darauffolgenden Sommer belastete der Selbstmordversuch von Ulrich, Gudruns Bruder, die

gesamte Familie schwer. Da die endgültige Aufnahme in die Studienstiftung noch ausstand,

musste Ensslin sich trotz aller Probleme weiterhin auf ihr Studium und ihre Doktorarbeit

fokussieren. Ein Jahr darauf, im Oktober 1966 erfolgte nach vier langen Jahren voll Gutachten,

Beobachtungen und Rechtfertigungen endlich die endgültige Aufnahme. Ende Februar 1967

erhielt sie auch die Zusage eines Professors, ihre Dissertation zu betreuen, die sie im Frühjahr

1968 abgeben wollte. Doch das Leben kam dazwischen. Im Mai 1967 wurde ihr Sohn Felix etwas

zu früh und zu klein geboren. Außerdem nahm sie aktiv, inklusive Vorbereitung und Auswertung,

an etlichen politischen Ereignissen und Demonstrationen an der Universität und in Westberlin teil

(vgl. Gleichauf, 2017, S. 125 f).

Bei einem der Treffen funkte es zwischen ihr und Andreas Baader, dem bücherfernen Anti-

Studenten und Anti-Familienmenschen, der dennoch keinesfalls dumm war. Er wohnte bei seiner

Freundin und der gemeinsamen Tochter. Als Gudrun Baader kennenlernte, war sie nicht mehr die

freundliche und schüchterne Pfarrerstochter. Die junge Frau war kritisch, scharf analysierend und

dennoch sensibel für Ungerechtigkeiten wie dem Mord am unschuldigen Benno Ohnesorg durch

einen Polizisten während einer Demonstration im Juni 1967. Gleichauf (2017, S. 134) nannte dies

den „Auslöser für das dringende Bedürfnis, sich handelnd einzubringen in die Gesellschaft“. Für

eine Hinwendung zu Gewalt oder Terrorismus gab es noch keine Spur. Ebenfalls 1967 spielte sie

in einem 12 Minuten dauernden Experimentalfilm eine Rolle, die ihr theatralisches Talent und ihre

Wandlungsfähigkeit bewiesen. Zudem arbeitete sie im Sommer weiter an ihrer Dissertation,

während ihre 12-jährige Schwester Ruth auf den kleinen Felix aufpasste. Die Beziehung zu

Vesper war zu Ende. Er fantasierte sich eine Wirklichkeit und entglitt sich selbst. Im Januar 1968

zog Gudrun aus der gemeinsamen Wohnung aus (vgl. Gleichauf, 2017, S. 127, 130 f, 134–138).

Sie verweilte bei ihren Eltern und zog anschließend mit Andreas Baader zusammen. Sohn Felix

brachte sie nebenan bei einem Paar unter. Bernward äußerte sich Gudruns Vater gegenüber

besorgt über ihre Entwicklung und ihre erneute Abhängigkeit von einem Mann (vgl. Gleichauf,

2017, S. 141 f). Einem Mann, der das absolute Gegenbild zu Helmut Ensslin darstellte. Sowohl

Gudrun als auch Andreas waren hochintelligente, emotionale und widersprüchliche Personen.

Wer hier von wem abhängig war, ließ sich noch nicht ausmachen. Zwei Menschen, die mit dem

Zustand der Gesellschaft haderten, verzweifelt waren und die Welt retten wollten. Das erste Mal

in ihrem Leben ging es um handlungsorientiertes Denken (vgl. Gleichauf, 2017, S. 145 f und 153).

3.6.2. Faktorenanalyse

Die Analyse des zweiten Lebensabschnitts von der Sekundarstufe II über die Matura bis hin zum

Ende des Studiums – oder bei jenen, die keinen formalen Weg bestritten haben, die Zeitspanne

vom 14. Lebensjahr bis hin zum Beginn der Karriere – zeigt, dass alle auf die Unterstützung oder

Hilfe von jemandem bauen konnten, wenn auch in den unterschiedlichsten Ausprägungen und

63

Varianten. Der Faktor soziales Kapital nimmt also, wie auch in der Literatur beschrieben, einen

maßgeblichen Einfluss auf den Bildungs- und anschließende Karriereweg.

Maria Theresias Vater hatte sie nie als Thronfolgerin vorgesehen und verlangte bei ihrer Hochzeit,

auf ihre Ansprüche zu verzichten, falls doch noch ein männlicher Nachfolger geboren werden

würde. Zur Aufrechterhaltung seines Reiches nach seinem Tod, hatte er jedoch die pragmatische

Sanktion eingeführt, die es Maria Theresia ermöglichte zu herrschen und das Reich ihres Vaters

zu übernehmen. Bedauerlicherweise hatte er sie nie zu seinen geschäftlichen Treffen

mitgenommen oder sie explizit auf die Rolle der Regentin vorbereitet.

Auch Personen die nicht aus dem direkten Umfeld der Pionierinnen stammten, spielten eine Rolle.

Rosa Kerschbaumer hatte schon früh den Wunsch zu studieren. Vorbild war die Russin Nadezda

Suslova, die erste Medizinpromovendin an der Züricher Universität. Eltern und deren

Unterstützung spielten bei vielen Biografien in diesem Abschnitt eine wesentliche Rolle. Rosas

Eltern bezahlten die Hauslehrer, die sie in den unterschiedlichsten Fächern unterrichteten. Rosa

selber schrieb in einer autobiografischen Skizze, dass es harte Kämpfe gegeben hätte, bis sie

entgegen dem Willen ihrer Eltern doch studieren durfte. Doch ohne die Hilfe ihrer Eltern wäre ein

Studium nicht machbar gewesen. Nach dem Scheitern der Ehe, unterstützten sie Rosa bei ihrem

Neuanfang in Zürich. Sie kamen finanziell für alles auf und kümmerten sich um Rosas Söhne. Ein

Mentor, unvergesslicher Freund und Lehrer war ihr Unterstützer Ferdinand von Arlt. Er

ermöglichte ihr, sich ihre Spezialkenntnisse in Augenheilkunde anzueignen und zu einer

angesehenen Operateurin zu werden.

Auch bei Cécile Vogt und Lise Meitner spielt der Faktor soziales Kapital, unter anderem die Eltern

aber auch Vorbilder und Mentoren, eine wesentliche Rolle. Céciles Mutter ermöglichte ihrer

Tochter den Besuch einer Töchterschule. Ihre unabhängige, freidenkerische Art färbte auf Cécile

ab, die sich zum Unmut der übrigen Familienmitglieder für eine berufliche Laufbahn als

Medizinerin entschied. Privatlehrer unterrichteten sie und bereiteten sie auf ihr Abitur vor. Mit

steigendem Selbstbewusstsein begann Cécile sich gegen den strengen katholischen Ton ihrer

Tante aufzulehnen. Ein Unterstützer und Freund während ihres Studiums war Pierre Marie, bei

dem sie an der Pariser Universität promovierte. Auch später standen sie und ihr Mann mit ihm in

engem beruflichen Kontakt.

Wie Cécile, hatte auch Lise Meitner Unterstützer. Nicht nur in der Schulzeit waren es ihre Eltern,

die ihr halfen. Lise hatte schon im Alter von 13 Jahren den Wunsch zu studieren, doch ihre Eltern

glaubten entweder nicht an die Ernsthaftigkeit ihres Wunsches oder ihr Vater hielt sie tatsächlich

für zu ‚fragil‘ für ein Studium, weswegen er sich eine Karriere als Pianistin für sie vorgestellt hatte.

Der lernbegierigen und einfallsreichen jungen Frau wurde es anscheinend verboten ihren

64

Wissensdurst zu stillen respektive ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. Trotz

zurückhaltender und bescheidener Art gelang es ihr, eine ihrem Wunsch entsprechende

Ausbildung durch- und umzusetzen. Lise konnte ihre Eltern überzeugen und erfüllte ihrem Vater

den Wunsch, zuerst eine Ausbildung zur Französischlehrerin zu absolvieren. Danach folgte die

Vorbereitung auf die Externistenmatura. Die Privatstunden in Mathematik und Physik bezahlten

ihre Eltern und sie konnte schließlich erfolgreich ihre Matura absolvieren. Der wohlhabende Vater

förderte auch weiterhin die Interessen und Ambitionen seiner Tochter. Da sie sich unsicher war,

ob sie eine gute Wissenschaftlerin werden würde, legte sie zusätzlich die Lehramtsprüfung in

Physik und Mathematik ab, parallel trieb sie ihre wissenschaftliche Arbeit voran. Dabei stand ihr

ein ausgezeichneter Lehrer und späterer Physikerkollege namens Paul Ehrenfest bei, der großen

Einfluss an der Weiterentwicklung ihrer wissenschaftlichen Fähigkeiten hatte. Auch Ludwig

Boltzmann beeinflusste Lise wesentlich. Sie war begeistert von ihrem Professor und Mentor, mit

dem sie auch privat Kontakt hatte. Am Beginn ihrer Karriere verhalf ihr außerdem ihr

Experimentalphysikprofessor Anton Lampa zu einer wesentlich besseren Stellung. Generell ist

aber unbekannt, wie ihre Dozenten zum Frauenstudium standen. Außer bei Max Planck, bei dem

man wusste, dass er von Studentinnen nicht viel hielt. Er sah Lise jedoch als Ausnahme und

setzte sich für sie ein. Dies ermöglichte ihr unter anderem den Zutritt zu seinem privaten Umfeld.

Mehr als die anderen Frauen in dieser Analyse, wurde Gudrun Ensslin von Personen in ihrem

Umfeld beeinflusst. Am Beginn ihres Bildungswegs förderten sie Eltern und Lehrkräfte, aber

später begegnete sie Personen, die nicht nur guten Einfluss auf sie hatten. Ihre Eltern

unterstützten die disziplinierte und sozial aktive Schülerin. Ihre Lehrerinnen und Lehrer hoben ihre

Doppelbegabung zur Sprache, ihr soziales Engagement und ihr großes Interesse an Bildung und

am Lernen hervor. Sie konnte trotz der angespannten finanziellen Situation studieren, benötigte

aber eine Förderung. Die reflektierende Gudrun setzte sich mit der eigenen Zeit und persönlichen

Konflikten auseinander und probierte viel aus. Sie war kritisch und scharf analysierend und

dennoch sensibel für Ungerechtigkeiten. Ihr Pensum an der Universität war enorm. Zu diesem

Zeitpunkt war noch keine Spur der Radikalisierung erkennbar. Obwohl sie hochintelligent war,

dauerte es dennoch vier lange Jahre mit mehreren Absagen bis sie nach etlichen Gutachten,

Beobachtungen und Rechtfertigungen endlich die Zusage für ein Stipendium erhielt. Die

vorhergehenden Absagen schienen sie in keiner Weise verunsichert zu haben, denn ihre

Entschlossenheit und Ausdauer blieben aufrecht. Während des Studiums traf sie zwei Männer,

die ihren Werdegang und ihr weiteres Leben entscheidend beeinflussten: der eher unzuverlässige

und sprunghafte Vesper und danach der bücherferne, aber intelligente Anti-Student Baader.

Olympe de Gouges hatte keine Unterstützung, um einen angemessenen Beruf zu erlernen. Durch

ihre Zwangsheirat nahm sie die Rolle der Frau ein und ihr Mann sorgte für den Unterhalt.

Allerdings verstarb er bereits nach einem Jahr, wodurch sie ihren weiteren Lebensweg selbst

65

bestimmen konnte. Das bescheidene finanzielle Erbe verwendete sie für einen Neustart in Paris,

wo sie die ersten siebzehn Jahre für ein intensives Selbststudium nutzte. Da sie nur Okzitanisch

sprach, erlernte sie nun die französische Sprache in Wort und Schrift. Die freie Verbindung zu

Jacques Biétrix de Roziére, die 20 Jahre anhielt, ermöglichte ihr ein finanziell abgesichertes

Leben. Ein weiterer sozialer Kontakt, der ihr Leben beeinflusste, war der zu Louis Sébastian de

Mercier. Die enge berufliche und freundschaftliche Beziehung – angeblich auch Liebesbeziehung

– verhalf ihr zum Aufstieg in die allerhöchsten Gesellschaftskreise.

Vor allem Eltern spielten bei allen, mit Ausnahme von Olympe de Gouges, eine wegebnende

Rolle. Es zeigten sich die unterschiedlichsten Gründe und Ausprägungen der

Unterstützungsleistungen. Ohne die Unterstützung der Eltern, in welcher Form auch immer, wäre

das Leben dieser Frauen vermutlich anders verlaufen. In der Analyse wurden Hinweise auf den

Einfluss von Lehrkräften oder Professoren (nur die männlich Form, weil keine weiblichen

Professorinnen, die als Mentorinnen fungierten, vorhanden waren) festgestellt. Aufgrund der

mageren Datenlage bzw. des informellen Weges bei Maria Theresia und Olympe de Gouges,

kann dieser Punkt nur vermutet werden. Vor allem bei Lise Meitner, bei Cécile Vogt und Rosa

Kerschbaumer gab es während des Studiums mehrere Professoren, die als Unterstützer und

Mentoren fungierten. Trotz der positiven und lobenden Stellungnahmen für Gudrun Ensslin, ist

kein direkter Einfluss von Lehrkräften oder Professoren auf sie feststellbar.

In der Literatur und auch im vorangegangenen Abschnitt wurde die zentrale Rolle von

Charaktereigenschaften bereits hervorgehoben. Mit dem plötzlichen Tod ihres Vaters musste sich

Maria Theresia selbst durchkämpfen und das Beibehalten ihrer Stellung hart erarbeiten. Sie war

eine Strategin, die mit schauspielerischem Talent viel zu erreichen wusste. Beispielsweise

inszenierte sie ihre Krönung sorgfältig und glich ihre Weiblichkeit durch staatsrechtliche

Männlichkeit aus. Vor Kriegen oder der Konfrontation mit Fürsten schreckte sie nicht zurück. Als

‚wilde Reiterin‘ pflegte sie, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den öffentlichen Kontakt mit dem

Volk. Die Herrscherin erarbeitete sich den ihr gebührenden Respekt und die Zustimmung der

Bevölkerung war ihr damit sicher.

Der fehlende Respekt und die Anerkennung als gleichberechtigtes Subjekt machten vor allem

Olympe de Gouges zu schaffen. Schöne Frauen wie sie wurden zu ihrer Zeit nicht ernst

genommen und durften nicht klug, also auch nicht literarisch tätig sein. Doch ihre Zielstrebigkeit

trieb sie und ihre intellektuelle Entwicklung voran, das Ziel immer im Blick, eine seriöse und

erfolgreiche Autorin zu werden. Um ihrem alten Leben zu entfliehen, stürzte sich auch Rosa

Kerschbaumer, mutig und auch ein wenig naiv, ohne fachliche Vorbereitung in ihr Studium. Sie

bemühte sich, sich an die neue Umgebung anzupassen. Sie war eifrig, hatte ein rasches

Auffassungsvermögen und ein ausgezeichnetes Gedächtnis.

66

Eine weitere Gemeinsamkeit der Frauen, neben den Unterstützerinnen und Unterstützern, sind

demnach ihre Eigenschaften. Es zeichnen sich gleich mehrere Parallelen ab. Gemeinsam haben

sie ihre Intelligenz und Zielstrebigkeit, aber auch ihre Durchsetzungskraft und ihr

Durchhaltevermögen, die ihnen beim Verfolgen und Umsetzen ihrer Pläne und Ziele halfen. Aber

auch die Eigenschaft ‚mutig‘ trifft auf viele der Pionierinnen zu. Einige von ihnen brachten sogar

Opfer für die Bildung und die Karriere. Sie steckten Schmerz und Belastungen weg und

fokussierten sich auf ihre Ziele. Ehrgeiz und Ausdauer halfen ihnen beim Meistern von

Hindernissen. Viele wären bereits an der notwendigen Qualifikation und Voraussetzung für ein

Studium, die Matura beziehungsweise das Abitur, gescheitert. Und auch die Zulassung zum

Studium oder zum späteren Beruf stellte eine große Hürde dar. Manche verließen ihre Heimat

und zogen in ein fremdes Land, um sich dort frei entfalten zu können. Doch auch dies war kein

Garant für eine Ausbildung oder einen Job. Vor allem im Studium konnten die männlichen

Professoren bestimmen, ob sie weibliche Studentinnen teilnehmen ließen. Selbst mit einem

Doktortitel mussten die Frauen viel mehr kämpfen, um die gleichen Chancen und Möglichkeiten

zu erhalten wie ihre männlichen Kollegen. Aufgrund der bestehenden Strukturen hatten Frauen

es damals viel schwieriger als heute. Dies hebt die Bedeutung der Übergänge bei den

Ausbildungen und deren Selektionsmechanismen für die heutige Bildungsforschung hervor. Alle

ausgewählten Frauen zeigen eine ausgeprägte Bildungsaspiration. Sie verbindet der große

Wunsch nach Bildung und tiefergehenden Kenntnissen in ihrem jeweiligen Fachgebiet. Sie waren

fasziniert von ihrem Fachgebiet und forderten die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie ihre

männlichen Kollegen. Ohne stark ausgeprägte Bildungswünsche, hätte die Willenskraft nicht

gereicht, um sich gegen die vorherrschenden Strukturen durchzusetzen.

Mit den vorherrschenden Strukturen und politischen Hindernissen kämpfte Rosa Kerschbaumer

nicht nur während ihres Studiums, sondern auch später immer wieder. Dem Zaren waren die

unerwünschten politischen Aktivitäten der Studentinnen ein Dorn im Auge, weswegen er die

Züricher Studien für russische Studentinnen mit fadenscheinigen Gründen untersagte. Rosa

musste an eine andere Universität wechseln und obwohl sie und ihre Schwester nicht zum

radikalen Flügel gehörten, waren sie den wiederholten Repressalien des Zarenregimes

ausgesetzt. Die Universität Bern ermöglichte eine Immatrikulation und das Fortsetzen des

Studiums. Zudem war das Verhältnis zu den männlichen Kollegen an der Universität Bern

kameradschaftlicher und gegenseitige Vorbehalte wurden abgebaut. Rosa hob später die

Bedeutung ihres Studiums in Bern für den weiteren beruflichen und persönlichen Werdegang

hervor. In Wien konnte die promovierte Rosa sich schließlich ihren fachspezifischen Interessen

widmen. Bekannt ist, dass der jeweilige Professor entschied ob die Studentin an Übungen und

Vorlesungen teilnehmen durfte. Denn in Österreich war es Frauen bis 1900 nicht möglich ‚offiziell‘

als Ärztin zu arbeiten. Folglich war Rosa vermutlich eine unbezahlte Gastärztin. Als Hospitantin

konnte sie aber zumindest viel Fachwissen erwerben. Politische Hindernisse musst auch Cécile

67

Vogt überwinden, als sie mit ihrem Mann nach Berlin kam. Der französischen Ärztin wurde bis

1922 die Approbation durch die deutsche Regierung vorenthalten.

Mit politischen Hindernissen war Gudrun Ensslin nie konfrontiert. Sie beteiligte sich aktiv bei der

SPD, durfte aber nur Hilfsarbeiten leisten. Ihr Freiheitsdrang stieg stetig an. Trotz Kontakt nach

Hause, distanzierte sich aber von Glaube und Kirche und von ihrer Kindheit und Jugend. Ihre

Auffassung vom Leben im Allgemeinen differierte mittlerweile stark zu jener ihrer Eltern. Bestimmt

war der Selbstmordversuch ihres Bruders ein belastendes Ereignis, allerdings dürfte erst der Mord

an dem unschuldigen Benno Ohnesorg durch einen Polizisten ein Umdenken bei Gudrun Ensslin

ausgelöst haben. Sie haderte mit dem Zustand der Gesellschaft, dennoch waren bei ihr noch

keine Anzeichen für Gewalt oder Terror zu erkennen. Auch Rosa und Lise hatten schmerzhafte

Ereignisse während ihres Studiums oder kurz danach. Bei beiden Pionierinnen verstarb der Vater

in dieser Zeit. Zusätzlich kam es bei Rosa zu einem Zerwürfnis mit ihrer Schwester, welches zu

einem Kontaktabbruch führte. Inwiefern Rosa dies beeinflusste, ist aber leider nicht bekannt.

3.7. Lebensabschnitt III

Im letzten Lebensabschnitt wird die Zeitspanne vom Beginn der Berufsausübung bis zum

Lebensende behandelt. Mit Beginn der beruflichen Karrieren erreichten alle der ausgewählten

Frauen unerwartete Erfolge, kämpften aber auch dann noch mit verschiedensten Hindernissen

auf ihrem weiteren Weg. Nicht allen wurde die ihnen zustehende Anerkennung entgegengebracht.

3.7.1. Berufliche Karriere

3.7.1.1. Maria Theresia

Die unerschütterliche Herrscherin, zugleich aber auch schutzbedürftige Frau, hatte kein leichtes

Leben. Maria Theresia brachte 16 Kinder zur Welt, doch nur zehn von ihnen erreichten das

Erwachsenenalter. Sie ließ sich sogar eine spezielle Sänfte anfertigen, um auch als

Hochschwangere an allen Ratssitzungen teilnehmen zu können (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 9; Klima,

2019, S. 23; Lau, 2020, S. 42). An ihrer Seite war die wichtigste und langjährige Beraterin die

Amme und Erzieherin Gräfin Karoline von Fuchs-Mollard. ‚Die Füchsin‘ war von großer Bedeutung

für die Kaiserin. Sie wurde als einzige Nicht-Habsburgerin in der Kapuzinergruft bestattet. Maria

Theresia plante die Erziehung und Zukunft all ihrer Kinder, die meisten fielen ihrer harten

Heiratspolitik zum Opfer. Die berühmteste ist Maria Antonia, besser bekannt als Marie Antoinette,

die als 15-jährige an den späteren französischen König Ludwig XVI. verheiratet wurde. Lediglich

Maria Theresias Lieblingstochter Maria Elisabeth durfte sich ihren Mann aussuchen. Alle anderen

Kinder, sowohl Töchter als auch Söhne, wurden entgegen ihren Wünschen verheiratet (vgl. Klima,

2019, S. 23–25). Maria Theresias Erziehungsstil war zweifellos autoritär, aber durch viel Zwang

und Disziplin sehr effektiv. Sie machte die Familie zu einem Handlungs- und Ermöglichungsraum

68

(vgl. Schmale, 2020, S. 28). Der Kinderreichtum Maria Theresias visualisiert die optimistische

Einstellung, das Weiterexistieren der Dynastie über Jahrhunderte zu sichern (vgl. Telesko, 2020,

S. 165).

Einer ihrer größten Erfolge war die Krönung ihres Gatten Franz Stephan zum Kaiser. Sie holte mit

ihren Interventionen die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches 1745 wieder in das Haus

Habsburg zurück und platzierte diese auf dem Haupt ihres Ehemannes und später auf dem ihres

Sohnes Joseph II. Obwohl sie es abgelehnt hatte, dass man sie zur Kaiserin krönte, nannte das

Volk und auch sie sich selbst von da an so. Über die Gründe für diese Ablehnung spekuliert man

bis heute. Einer könnte das belastete Verhältnis zum Reich respektive zu zahlreichen

Reichsfürsten gewesen sein. Eine andere Deutung verweist auf die geringe Wertschätzung des

Titels und Ranges durch Maria Theresia hin, da der Titel der Kaiserin im alten Reich eine

abgeleitete Würde sei, die sie nicht aus eigenem Recht erworben habe und erwerben könnte. Am

wahrscheinlichsten scheint eine strategische Entscheidung als Begründung. Durch die rituelle

‚Aufführung des Reiches‘ hätte sie sich Kaiser, Kurfürsten und Reich untergeordnet und so ihr seit

1740 legitimiertes Erbe der habsburgischen Herrschaft und ihre Position gefährdet (vgl. Keller,

2020, S. 59 f und 68; Klima, 2019, S. 24).

Durch die berühmten Reformen der Monarchin wurde das Erzherzogtum Österreich zu einem

einheitlichen Verwaltungs- und Beamtenstaat mit zentralistisch ausgerichteter Regierung. Sie

besetzte hohe, verantwortungsvolle Ämter mit Staatsdienern, deren Fähigkeiten sie unschwer

erkannt hatte. Diese Männer waren auch ihre Ratgeber. Die ‚Theresianische Staatsform‘

beinhaltete eine Haus-, Hof- und Staatskanzlei. Es gab eine allgemeine Steuerpflicht, die erstmals

auch Adel und Klerus betraf, wodurch sich die Staatseinnahmen verdoppelten. Um ein großes

Wirtschaftsgebiet zu schaffen, war eine Reformmaßnahme die Aufhebung von Binnenzöllen. Ihre

Wirtschaftspolitik hatte das Ziel, die Ernährung und Beschäftigung der Bevölkerung zu sichern.

Um Einblick in die innere Struktur des Landes zu erhalten, ließ sie erste Volkszählungen

durchführen und Statistiken dazu anfertigen. Neben der Schaffung eines Höchstgerichtes,

verordnete Maria Theresia auch die ‚Constitutio Criminalis Theresiana‘, das erste einheitliche

Strafrecht in der Monarchie und kodifizierte das zivile Recht mit dem ‚Codex Theresianus‘. Sie

reformierte und modernisierte das Heereswesen grundlegend, verdoppelte die Stärke der Armee

und gründete die ‚Theresianische Militärakademie‘. Vor allem Graf Haugwitz und Graf Kaunitz-

Rietberg, der 1753 Staatskanzler wurde, halfen ihr bei diesen Vorhaben (vgl. Birkenbihl, 2017, S.

17–20; Klima, 2019, S. 24). Die Bauherrin von Schloss Schönbrunn sowie Schloss Laxenburg war

auch die Begründerin der Mailänder ‚Scala‘. Eine ihrer berühmtesten Reformen ist 1760 die

Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Zu den unterrichteten Fächern gehörten neben Lesen,

Schreiben und Rechnen auch Rechtschaffenheit, Wirtschaft und Religion. Der Katholizismus war

Staatsreligion und Maria Theresia war berüchtigt für ihre religiöse Intoleranz. Juden und auch

69

Protestanten wurden verfolgt und vertrieben. Mit der von ihr geschaffenen Keuschheitskomission

kontrollierte die Monarchin das sittliche Leben der Menschen. Ehebruch wurde bei Frauen härter

als bei Männern bestraft. Prostituierte und Kriminelle wurden Donau abwärts in entlegene

Gegenden verschifft (vgl. Klima, 2019, S. 24).

Aus Briefen der Kaiserin geht hervor, dass die Ehe zwischen Franz Stephan und ihr bis zuletzt

glücklich verlief. Im Gegensatz zu den meisten anderen Regentenpaaren teilten sie sich nicht nur

lebenslang das Bett, sondern auch den Doppelsarg in ihrer letzten Ruhestätte. Franz Stephan

hatte einige Affären, von denen die Königin jedoch wusste. Ihrer Logik nach war er ihr aber

deswegen umso mehr zugetan (vgl. Klima, 2019, S. 23 f; Schmale, 2020, S. 26). Mit dem Tod

ihres geliebten Gatten und Freund, im Jahr 1765, verlor sie den einzigen Gegenstand ihrer Liebe.

Von da an trug sie nur noch schwarz. Ihre religiöse Intoleranz verstärkte sich zunehmend. Sie ließ

sich ihre Haare abschneiden und ihre Gemächer mit grauer Seide aushängen. Ihr Sohn, Joseph

II. wurde zum Mitregenten. Er wiedersetzte sich jedoch oftmals ihren intoleranten Maßnahmen,

was zu heftigen Konflikten führte und zur Folge hatte, dass die beiden zeitweise nicht am selben

Tisch dinierten (vgl. Klima, 2019, S. 25). Als sie 1780 starb, trug sie den Morgenmantel ihres

geliebten Ehemannes (vgl. Klima, 2019, S. 22–25).

3.7.1.2. Olympe de Gouges

„Ideenreichtum, lebhafte Phantasie, Fähigkeit und Mut zur Ironie, vor allem aber soziales und

politisches Engagement sind die Quellen ihre außergewöhnlichen Produktivität“ (Schröder, 1995,

S. 84). Aufgrund ihres natürlichen Talents – wie sie es selbst nannte – hatte sie spontane Einfälle

und schnelle Eingebungen und konnte in kurzer Zeit ganze Theaterstücke produzieren. Diese

diktierte sie Schreibern, was zu Beginn ihrer literarischen Arbeit notwendig war. Doch tatsächlich

mietete sich jeder Schreiber sogar Gelehrte. Viele Antifeministen behaupteten, dies sei ein Beweis

für Analphabetismus oder gar literarische Unfähigkeit der Autorinnen und dass diese ihre Werke

nicht selbst schrieben. Doch die mündliche Literaturproduktion, also die primäre Form literarischer

Produktion, ist unabhängig von Schreibkenntnissen (vgl. Schröder, 1995, S. 84).

Die mutige, stolze und brennend ehrgeizige Olympe de Gouges nahm mit ihrem Drama ‚Zamor

und Mirza‘, das die Sklaverei behandelte, jahrelange (1783-1789) Feindschaften und Gefahren

auf sich und kam sogar dafür in die Bastille, aus der sie aber auf wundersame Weise wieder frei

kam (vgl. Doormann, 1993, S. 47; vgl. Schröder, 1995, S. 83). Ihr erster Briefroman ‚Denkschrift

der Madame de Valmont‘ erschien 1786. Er ist gekennzeichnet durch einen komplexen Aufbau

und wechselnde Erzählperspektiven. Sie sprach über Themen ihres Interesses und kritisierte im

1788 ergänzten Vorwort alle Rousseau-Anhänger und die allgemein gültige (männliche) Meinung,

dass Frauen nur für das Hauswesen zu gebrauchen seien und all jene, die sich der Literatur und

dem Geiste widmen für die Gesellschaft untragbar seien. Doch der Hauptfokus lag auf dem

70

Verhältnis leiblicher Väter zu ihren ‚Bastard‘-Kindern. Sie verknüpfte das Menschenrecht dieser

Recht- und Schutzlosen mit dem Menschenrecht ihrer rechtlosen Mütter, die von gesetzlich

begünstigten Männern im Stich gelassen wurden und verlangte, dass diese gleiche

Rechtssubjekte werden müssten. Diese radikal neue Philosophie war eine feministische

Neudefinition des patriarchalen Naturrechts-Ideologems. Das zweite, nicht weniger brisante

Thema, in dem sie die Verantwortungslosigkeit der Verführer kritisierte, die sich all ihrer

Vaterpflichten entziehen, hängt ursächlich mit dem vorangegangenen Thema zusammen (vgl.

Schröder, 1995, S. 84–87).

Im Vorwort zu ‚L’Homme généreux‘ 1786 brachte sie ihre grundsätzliche Sozialkritik an der feudal-

patriarchalen Ordnung zum Ausdruck. Sie beklagte die Vorteile der Männer, die trotz niederer

Herkunft ein Vermögen machen können, wohingegen tugendhafte Frauen im Elend bleiben und

von Wissenschaft und Macht gänzlich ausgeschlossen werden (vgl. Schröder, 1995, S. 87). 1788

verfasste sie ihr erstes politisches Pamphlet ‚Brief an das Volk oder Plan einer patriotischen

Klasse‘, veröffentlichte es aber anonym ‚von einer Bürgerin‘. Es erschien jedoch als erste

politische Propagandaschrift von Madame de Gouges im ‚Journal Général de France‘ (vgl.

Doormann, 1993, S. 62; Schröder, 1995, S. 87). Aus ihren Schriften geht hervor, dass sie

Verteidigerin der Monarchie war und keinesfalls ‚Republikanerin der ersten Stunde’. Die zu

königstreuen, frauenfeindlichen oder egozentrisch-eitel klingenden Passagen oder ganze Seiten

wurden aus ihrem Werk gestrichen, da sie nicht zum Bild einer Revolutionärin passten. Dadurch

entstand ein gänzlich falscher Eindruck ihrer Intentionen (vgl. Doormann, 1993, S. 66).

Paradox war, dass sie ihre Meinung in Hinblick auf Rousseau innerhalb kürzester Zeit änderte.

1788 ergänzte sie ihr Vorwort in ihrem Briefroman von 1786, wo sie energisch Rousseau-

Anhänger kritisierte und die allgemein gültige (männliche) Meinung (vgl. Schröder, 1995, S. 84 f).

Im Jahr darauf war ihr ‚Aufschrei’ hingegen voll von Rousseauschem Geist. Die künftige ‚Ahnfrau

des Feminismus’ distanzierte sich nicht nur von Forderungen ihrer Geschlechtsgenossinnen nach

politischer Gleichberechtigung, im Gegenteil, sie warf ihren Geschlechtsgenossinnen vor, ihre

natürlichen Aufgaben als Hausfrau vernachlässigt zu haben (vgl. Doormann, 1993, S. 69–70).

„Erstaunlich ist nur, daß [sic!] die glühende Anhängerin Rousseaus sich so wenig an der

untergeordneten Stellung störte, die dieser den Frauen zugedacht hatte“ (Doormann, 1993, S.

71).

Obwohl Autorinnen keine eigene Zeitung hatten, verfasste sie ab 1789 Vorschläge und Kritik über

unzählige soziale und politische Tagesgeschehnisse und publizierte diese in Druckschriften und

offenen Briefen, adressiert an die Nationalversammlung oder als Plakat an den Pariser Mauern.

Sie verlangte eine öffentlich zugängliche Ausbildung für Hebammen sowie ein Theater für

Autorinnen und setzt sich für die Ehescheidung ein (vgl. Schröder, 1995, S. 87). Bereits 1790 aber

71

hielt sie sich mit ihren politischen Schriften deutlich zurück und konzentrierte sich auf neue

Theaterproduktionen. Sie war davon überzeugt, dass ihre nützlichen politischen Projekte lediglich

aufgrund ihres Geschlechts nicht berücksichtigt wurden. Zweifelsfrei hatten es Frauen zu dieser

Zeit schwer, sich in der Öffentlichkeit durchzusetzen, besonders aber eine Frau wie Olympe, die

wiederholt ihre Unwissenheit und Inkompetenz hervorhob (vgl. Doormann, 1993, S. 95). „Ihr

provozierender Geltungsdrang und ihre Selbsteinschätzung als Naturgenie, die zu einer überaus

oberflächlichen Arbeitsweise führten, schadeten ihren teilweise interessanten Ideen vielleicht

mehr, als es ihr Frausein vermochte“ (Doormann, 1993, S. 95). 1790 verfasste sie ein Kloster-

Drama, welches ihr bis dahin größter Erfolg wurde. Außerdem arbeitete sie schon längere Zeit an

ihrem Roman ‚Le Prince Philosophe’. Im Rahmen einer romantischen Handlung philosophierte sie

über Staatsformen und äußerte radikal-universale Gleichheitsvorstellungen. Erst 1792 wurde der

Roman publiziert. Sie behauptete dann, nur fünf Tage daran geschrieben zu haben. Im April 1791

starb nach kurzer Krankheit ihr väterlicher Mentor Mirabeau, der immer freundlich und

anerkennend auf ihre Schriften reagiert hatte (vgl. Doormann, 1993, S. 97 f; Schröder, 1995, S.

87) und laut Doormann (1993) einmal über sie sagte: „Viele gute Werke verdanken wir einer

Ungebildeten“ (S. 98).

Im September 1791, als Frankreich nach der Verabschiedung der Verfassung eine konstitutionelle

Monarchie wurde, veröffentlichte Olympe de Gouges in royalistischem Überschwang ihre, der

Königin Marie Antoinette gewidmete Fassung der Menschenrechte. Ihre feministische

Gleichheitsproklamation der Ideengeschichte ‚Die Rechte der Frau – an die Königin’ sollte ihren

Namen unsterblich machen. Indes eskalierte die politische Lage im Land. In den Jahren der

Französischen Revolution äußerte sie immer ihre Ideen und Meinungen zum politischen

Geschehen. Im neugewählten Nationalkonvent gab es keine Royalisten mehr. Allem Anschein

nach war es Olympe nicht schwer gefallen, eine Republikanerin zu werden. Während der

französischen Revolution war Olympe de Gouges die einzige Autorin, die ausdrücklich um

Frauenrechte kämpfte. Bereits zu Beginn des Terrors und der Diktatur prangerte sie den Zustand

im Land an, lange bevor die mächtigen Männer es wagten. Zu dieser Zeit wurden Frauen nicht

nur massakriert, sondern samt ihren Kindern auch getötet. Olympe de Gouges vermutete, dass

auch sie dem politischen Terror zum Opfer fallen werde und schrieb ihr ‚Testament politique’ im

Juni 1793. Darin vermachte sie ihrem Sohn die armseligen Überbleibsel eines ansehnlichen

Vermögens und ihr immaterielles Vermögen, wie ihr Herz, dem Vaterland. Im Monat darauf wurde

sie verhaftet. Vorwand dafür war ein Plakat, auf dem sie eine direkte ‚Volksabstimmung’ zur

Herstellung des innenpolitischen Friedens vorschlug. Sie sprach nicht von Frauenwahlrecht,

sondern von einem gänzlich ‚republikanischen‘ Vorschlag, der dem ‚Souveränitäts‘-Ideologem

entsprang. Dieser ‚Volkssouverän‘ war grundsätzlich illegitim, tyrannisch und schloss das

weibliche Volk von ‚republikanischer Souveränität‘ aus. Diese Plakat wurde, wie auch der

öffentliche Ankläger in ihrem Prozess später bestätigte, nicht veröffentlicht. Nachdem sie eine

72

Woche im Rathaus festgehalten worden war, verlegt man sie in ein Gefängnis, in dem die

Zustände katastrophal waren. Man verlegte sie krank und verzweifelt in ein anderes Gefängnis

und wenig später dann wieder in ein anderes, aber besseres Gefängnis. In diesem konnte sie sich

erholen und für viel Geld Erleichterungen erhalten (vgl. Doormann, 1993, S. 16, 100, 103 f, 114,

131 und 151; Schröder, 1995, S. 88–90 und 98).

Nachdem im September das ‚Gesetz über die Verdächtigen’ in Kraft getreten war, machte man

ihr am 1. November den Prozess. Dieses Gesetz ermöglichte systematische politische Morde an

‚Verdächtigen‘ mit dem Schein von Legalität, erbarmungslose Schauprozesse und

Massenhinrichtungen. Gnadenlos wurden Frauen, die nie ein Amt innehatten, als politisch

gefährlich verdächtigt oder einfach anstelle ihrer Männer zum Tode verurteilt. Verdacht allein

genügte, um am Schafott zu sterben. In der Anklageschrift stand, dass die Schriften de Gouges‘

nur als Angriff auf die Volkssouveränität gesehen werden können und die Schriften voll von

Provokation zum Bürgerkrieg aufstacheln. Sie wurde des Verrats an der einen und unteilbaren

Republik beschuldigt. Viele der Schriften, auf die man sich in der Anklageschrift bezog, waren laut

Schröder (1995) unveröffentlicht oder nicht vorhanden. In ihrem letzten Brief schrieb sie über ihre

Unschuld und dass man ihr keine einzige Tat gegen die Revolution zur Last legen konnte. Der

Brief war an ihren Sohn adressiert, den Bürger Degouges, Offizier in der Rheinarmee. Sie wusste

nicht einmal, ob er noch am Leben war, da sie lange keine Nachricht mehr von ihm erhalten hatte

(vgl. Doormann, 1993, S. 12–14; vgl. Schröder, 1995, S. 90–95).

Obwohl es im Gesetz geschrieben stand, hatte sie nicht die Möglichkeit, die Geschworenen zu

wählen und musste geschwächt und krank früh morgens ohne Verteidiger, da dieser es abgelehnt

hatte sie zu verteidigen, vor das Tribunal treten, um sich dann ohne Anwalt und juridisch unkundig

selbst zu verteidigen. Als sie einen anderen Anwalt verlangte, entgegnete der Richter dem de

Gouges Weib, wie er sie nannte, dass sie geistreich genug sei, sich selbst zu verteidigen. In ihrem

letzten Brief schrieb sie, dass sie zweifellos geistreich genug wäre, doch ein Verteidiger hätte ihre

Dienste und Wohltaten, die sie dem Volk gegenüber erwiesen hatte, nachdrücklicher vorbringen

können. Zuerst wurde sie zu ihren Personalien befragt, woraufhin sie angab 38 Jahre alt zu sein.

Bereits einige Jahre lang gab sie sich sieben Jahre jünger aus und korrigierte sogar das

Geburtsdatum in ihren Pässen. Man befragte sie dann zu ihren Schriften und Plakaten und

hinsichtlich ihrer Gefühle gegenüber den Repräsentanten des Volkes. „Während des Resümees

des öffentlichen Anklägers habe die Angeklagte nie aufgehört, über die Tatsachen, die ihr zu Last

gelegt wurden, hämisch zu schmunzeln“ (Schröder, 1995, S. 98). Sie schien den Ernst der Lage

nicht zu verstehen. Sie glaubte nicht, dass man sie verurteilen würde. Sie hatte die Hinrichtung

der Marie-Antoinette am 16. Oktober anscheinend nicht mitbekommen und wohl auch nicht die

Verbote sämtlicher Frauenversammlungen und -clubs. Völlig machtlos musste sie mit ansehen,

wie sie, trotz ihrer Beweise für ihre Unschuld, einstimmig wegen ‚Verletzung der

73

Volkssouveränität’ zum Tode verurteilt wurde und ihre Werke zum Eigentum der Republik wurden.

Sie starb am 3. November 1793 durch die Guillotine (vgl. Doormann, 1993, S. 10–15 und 18; vgl.

Schröder, 1995, S. 90–99). Aufgrund eines Kommentars zu ihrem Tod wenige Tage danach

schlussfolgert Opitz (1985, S. 305): „Nicht die politische Intrige also konnte Frauen den Kopf

kosten, sondern die ‚Überschreitung der Grenze des weiblichen Geschlechts‘…“.

3.7.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata

Das Ehepaar Kerschbaumer eröffnet im November 1877 in Salzburg eine Praxis für

Augenheilkunde. Salzburg hatte eine auffallend hohe Blindenquote, mitunter auch aufgrund der

mangelnden ärztlichen Versorgung. Zu Beginn behandelten sie Augenkranke ambulant in ihrer

eigenen Wohnung im Faberhaus. Anfang 1878 nahmen sie Patientinnen und Patienten auch

stationär auf. Zunächst hatten sie jedoch nur ein Bett, erweiterten auf sieben weitere und später

auf noch mehr. Friedrich kümmerte sich um die notwendigen bürokratischen Angelegenheiten

(vgl. Veits-Falk, 2008, S. 65–68 und 71).

Der Bedarf an Betten stieg kontinuierlich, was zu Platzmangel führte. Das Ehepaar Kerschbaumer

bezog neben der Anstalt gelegene Zimmer samt Nebenräumen, um mehr Betten und Platz zu

schaffen. Sie sorgten rigoros für die Einhaltung hygienischer Standards. Schlechte Belüftung,

Platzmangel und schlechte Lichtverhältnisse wirkten sich nachteilig auf den Heilungsverlauf aus,

was allgemein bekannt war durch das 1859 erschienene Buch ‚Notes on Hospital‘ von Florence

Nightingale. Nachdem das Ehepaar in den Folgejahren abermals mit Platzmangel zu kämpfen

hatte, übersiedelten sie im März 1881 mit ihrer Augenheilanstalt in eine großzügige

Gründerzeitvilla mit Garten, den die Patienteninnen und Patienten für ihre Erholung nutzen

konnten. Drei Stockwerke wurden nach damals modernen Standards als Augenklinik adaptiert.

Zudem befand sich dort auch die Bibliothek und die Privatwohnung des Ehepaares. Beiden

gehörte dieses Haus jeweils zur Hälfte. Sie finanzierten alles aus Eigenmitteln. In

autobiografischen Angaben schrieb Rosa, dass es gänzlich mit ihrem Privatvermögen finanziert

wurde. Obwohl sie bisweilen Schönfärberei betrieb, kann auch aufgrund der Herkunft der beiden

davon ausgegangen werden, dass tatsächlich der größere Teil von Rosa stammte. Die finanzielle

Staffelung der Pensionsbedingungen in der Klinik, also die Deckung der Kosten, erwies sich als

großes Problem. Viele Arme konnten sich trotz unentgeltlicher Behandlung die

Verpflegungsgebühr bei einem stationären Aufenthalt nicht leisten. Aus humanitären Gründen

waren von 1872 bis 1882 fast die Hälfte der medizinischen Behandlungen und zwei Drittel der

gesamten ärztlichen Leistungen im Ambulatorium für die Patienteninnen und Patienten kostenlos.

Dies führte zu finanziellen Problemen beim Ehepaar Kerschbaumer, worüber Friedrich auch in

der Publikation ‚Die Blinden des Herzogthums Salzburg‘ schrieb. Er plädierte für eine öffentliche

Augenklink, obwohl diese doch die Existenz ‚seiner‘ Augenheilanstalt gefährden würde (vgl. Veits-

Falk, 2008, S. 73–78). Ab dem Jänner 1888 wurden, nach Vertragsabschluss und der Einigung

74

über die Verpflegungstaxe, auch augenkranke Patienteninnen und Patienten des St.-Johanns-

Spital übernommen. Dieser markante Punkt in der Geschichte der Klinik führte zu einer

Neuaufteilung der Räume und zu einer Erhöhung der Bettenanzahl. Der zeitungslesenden

Öffentlichkeit war die Aufgabenverteilung in der Klinik bekannt. Friedrich hielt lediglich die

Nachmittagsvisite ab und die Ordination der Privat-(ambulatorischen) Praxis. Die ärztliche Leitung

der Klinik, operative Tätigkeiten und instrumentelle Untersuchungen, aber auch

Nachbehandlungen übernahm Rosa. Der Autor des Zeitungsartikels unterschlug hierbei jedoch

Rosas Doktortitel und schrieb, dass beide ein selbstständiges Arbeitsfeld übernahmen (vgl. Veits-

Falk, 2008, S. 80–82).

Friedrich war zudem von 1887 bis 1891 Mitglied im Landessanitätsrat und beim ‚Ärztlichen Verein

im Herzogthume Salzburg‘. Rosa war kein Mitglied, durfte aber bei bestimmten Veranstaltungen

als Friedrichs Gattin teilnehmen. Friedrich war zudem Mitglied bei der angesehenen ‚Heidelberger

Ophthalmologischen Gesellschaft‘, bei der Frauen ab 1911 Mitglied werden konnten. Bereits im

Jahr 1881 begleitete Rosa ihren Mann zu einer Sitzung der Gesellschaft und war so die erste

Teilnehmerin der Gesellschaft (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 91 f). Von Beginn an und bis 1882

publizierte das Ehepaar Jahresberichte ihrer Klinik, die beide als Verfasser nannten. Rosa wurde

dabei immer an erster Stelle genannt, was einerseits auf ihre Arbeit in der Klinik hinweist und

andererseits Ausdruck ihres Selbstbewusstseins war. Da sie formal unter der Leitung ihres

Ehemannes arbeitete, wäre es auch ‚normal‘ gewesen, wenn ihr Name nicht erschienen wäre.

Nach außen hin vertrat Friedrich die Klinik bei allen mühsamen und zeitaufwendigen

Verhandlungen über Kostenbegleichungen mit den Gemeinden und auch mit dem Spital. Zudem

übernahm er die Verwaltung der Augenheilanstalt. Rosa hingegen fokussierte sich auf die

medizinische Behandlung, die fast ausschließlich sie übernahm. Ärztliche Mitarbeiter assistierten

der ausgezeichneten Operateurin (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 82–84).

Weiters setzte sie sich mit der Kurzsichtigkeit auseinander und fand heraus, dass 58 Prozent der

‚gebildeten‘ Personen, also jene mit Mittel- und Hochschulabschluss oder einem Lehrberuf, der

eine anstrengende Augenarbeit erforderte, kurzsichtig waren. Obwohl von den ‚Ungebildeten‘ nur

42 Prozent betroffen waren, also jene die zur Arbeits- und Bauernbevölkerung gehörten und nur

eine Volksschule besucht hatten, war deren Kurzsichtigkeit hochgradiger. Auf ihren Ergebnissen

aufbauend, appellierte sie, die Ursachen und die Verbreitung nicht nur auf den schädlichen

Einfluss der modernen Schulen zurückzuführen, sondern auch außerhalb zu forschen (vgl. Veits-

Falk, 2008, S. 87 f). In den Jahren 1883 und 1886 erschienen Publikationen unter dem Namen

von Friedrich Kerschbaumer. Obwohl er als Autor genannt ist, ist in den Schriften häufig die Rede

von ‚den Verfassern‘. Ein bekannter Salzburger Arzt und Historiker Franz Valentin Zillner kündigte

bereits 1881 die Veröffentlichung einer Schrift von den Doktoren Rosa und Friedrich

Kerschbaumer über ‚Die Blinden des Herzogthums Salzburg‘ an. Eine Nennung beider durch eine

75

lokale Autorität wie Zillner war, angesichts der vorherrschenden Skepsis und ablehnenden

Haltung gegenüber wissenschaftlich-medizinischen Leistungen des weiblichen Geschlechts, nicht

zu unterschätzen. Rosas Anteil am Zustandekommen der Publikation muss maßgeblich gewesen

sein, andernfalls hätte Zillner sie nicht als Co-Autorin genannt (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 66–67).

Spannend ist auch, dass das Salzburger Volksblatt am 14. September 1887 über die bedeutende

touristische Leistung der Frau Dr. Kerschbaumer berichtete, die den 3313 Meter hohen Piz Buin,

die höchste Spitze der Vorarlberger Alpenkette, auf einer sechzehnstündigen Tour bestiegen

hatte. Der Führer Lerch bestätigte, dass Frau Dr. Kerschbaumer die erste Dame seit 30 Jahren

war, die er auf den Piz Buin geführt hatte (vgl. Besteigung des Piz Buin, 1887, S. 3). Rosa

beschrieb „den Anblick, den man vom Piz Buin aus genießt, als einen überaus prachtvollen…“

(Besteigung des Piz Buin, 1887, S. 3).

Die Wahlsalzburgerin Rosa verfolgte aufmerksam aktuelle Debatten über die ‚Frauenfrage‘. Sie

engagierte sich aktiv in einem 1888 gegründeten ‚Verein für erweiterte Frauenbildung in Wien‘,

der sich für staatliche höhere Mädchenbildung und das Universitätsstudium von Frauen einsetzte.

Rosa hielt am 2. April 1889 den ersten Vortrag für den Verein, welcher den Titel ‚Die ärztliche

Berufsausbildung und Praxis der Frauen‘ trug. In Wien berichtete sie über historische

Entwicklungen, leitete dann über zu den aktuellen Entwicklungen auf der ganzen Welt und

berichtete über heilkundige Frauen. Die steigende Zahl der Ärztinnen sei ihres Erachtens Beweis

für das dringende Bedürfnis nach Ärztinnen und betonte speziell die Bedeutung von

Frauenärztinnen und Kinderärztinnen aufgrund des angeborenen und anerzogenen Zart- und

Schamgefühls. Wie viele Vertreterinnen und Vertreter der Frauenbewegung hob sie den

moralisch-sittlichen Aspekt hervor (vgl. Kerschbaumer, 1889, S. 9 f; Seebacher, 2006, S. 560;

Veits-Falk, 2008, S. 95–97). Sie stützte sich zudem auf das ‚Konzept der Mütterlichkeit‘ wie auch

andere Ärztinnen und Ärzte sowie Vertreterinnen und Vertreter der bürgerlichen

Frauenbewegung. Das Konzept stützte sich auf die besondere Neigung zur medizinischen

Versorgung von Frauen und Kindern durch Frauen (vgl. Arias-Lukas, 2004, S. 79 f;

Kerschbaumer, 1889, S. 9 f). An dieser Stelle ging sie auch auf das Österreichische Allgemeine

Bürgerliche Gesetzbuch vom Jahre 1811 ein, konkret auf den Paragraphen 141, indem die Pflege

des Körpers und der Gesundheit der Kinder hauptsächlich als Aufgabe der Mutter beschrieben

wird. Außerdem betonte sie in ihrem Vortrag die Vorteile kleiner und leichter Frauenhände und

deren bessere Feinmotorik in Bezug auf die besondere Eignung für die Augenheilkunde. In ihrem

Vortrag entkräftete sie die häufigsten Einwände gegen das Medizinstudium und die ärztliche

Praxis von Frauen. Sie ging auch auf die Vereinbarkeit des Berufs der Ärztin und etwaige

Mutterpflichten ein und argumentierte, dass ohnehin nur ein Bruchteil verheiratet sei und durch

die Berufsausübung und Selbstständigkeit, auch ohne Mann, glücklich sei. Sie verwies aber auch

auf weibliche Kolleginnen, die mit Ärzten verheiratet waren und sich gegenseitig förderten. Als

Beispiel zog sie sich selbst heran. Sie beendete ihren Vortrag mit den emanzipatorischen und

76

energievollen Worten über die Sprengung tausendjähriger Fesseln und der Forderung nach der

vollen Gleichberechtigung mit Männern auf allen Gebieten der Wissenschaft (vgl. Kerschbaumer,

1889, S. 11–16). Rosas Worten über Gleichberechtigung folgten im Februar 1890 Taten. Um als

Ärztin praktizieren zu dürfen und auch um die Augenheilanstalt leiten zu dürfen, stellte sie ein

Ansuchen für eine Sondergenehmigung bei Kaiser Franz Joseph. Dies war aufgrund der

österreichischen Rechtslage die einzige Möglichkeit für sie, um offiziell die Berechtigung zur

Ausübung ihres Berufs zu erhalten (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 99 f).

Eventuell spielte für dieses Ansuchen auch Friedrichs Zustand eine Rolle. Aus einem Brief von

Rosas Mutter an Virginija im Jahr 1886 geht hervor, dass dieser wohl an einer psychischen

Krankheit litt. Weder Rosa noch Friedrich wollten, dass dies bekannt werde. Aber Patientinnen

und Patienten der beiden hatten sein lärmendes Verhalten als störend und beängstigend erlebt.

Womöglich war dies auch mitunter ein Grund, warum Rosa allein in der Klinik operierte, da

Friedrich dies unter diesen Umständen gar nicht mehr konnte. Inwieweit die Krankheit zum

Zeitpunkt des Briefwechsels bereits fortgeschritten war und wer davon wusste, ist unbekannt.

Jedoch wurde die Publikation über die Salzburger Blinden zu dieser Zeit veröffentlicht und zwei

Jahre danach handelte Friedrich den Vertrag mit dem St.-Johanns-Spital aus. Dennoch musste

diese Situation für Rosa sehr schwierig gewesen sein. Sie machte den Hauptanteil der

medizinischen Arbeit in der Klinik, die ihr zur Hälfte gehörte, die aber von ihrem kranken und

vielleicht auch deswegen unberechenbaren Mann geleitet wurde. Nachdem Rosa ihr Ansuchen

gestellt hatte, wurde es an das Innenministerium weitergeleitet. Dieses ließ sich vom Salzburger

Bürgermeister, der selbst Arzt war, die Erfolge der Ärztin Kerschbaumer bestätigen. Außerdem

wurde die Augenheilanstalt vom Landessanitäts-Referenten besichtigt, der die Aufgabenteilung

der Doktoren Kerschbaumer begutachtete. Dieser bekräftigte Rosas Kenntnisse und Fertigkeiten

sowie deren Sicherheit in allen Behandlungs- und Operationsmethoden. Er schrieb

bemerkenswerterweise, dass die bereits mehrjährige Leitung durch sie erfolgreich verlief und

somit die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit als auch die selbstständige Leitung als berechtigt

erklärt werden müsse. Sämtliche Informationen und Gutachten wurden Kaiser Franz Joseph vom

Innenminister vorgelegt (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 100–103).

Der Kaiser erteilte am 23. März 1890 die Berechtigung, die sich ohnehin auf die Stadt Salzburg

beschränkte und machte Rosa Kerschbaumer zur ersten offiziell zugelassenen praktizierenden

Ärztin und Leiterin einer Klink in der Habsburgermonarchie (vgl. Seebacher, 2006, S. 560; Veits-

Falk, 2008, S. 103 f). Bereits am 8. Juni übernahm sie offiziell die alleinige Leitung der

Augenheilanstalt und kaufte Friedrichs Eigentumsrechte an seiner Hälfte des Hauses samt

Einrichtungsgegenständen und beweglichen Gütern um 24.000 Gulden (vgl. Veits-Falk, 2008, S.

107), was heute laut historischem Währungsrechner einem Kaufpreis von 330.228 Euro

entsprechen würde (vgl. Oesterreichische Nationalbank, o. J.).

77

Abbildung 2: Zeitungsbericht "Der erste weibliche Arzt in Oesterreich" (Freie Stimmen,1890, S. 6).

Die Leitung eines Unternehmens durch eine Frau war nicht so ungewöhnlich, wie man vermuten

würde. Im 19. Jahrhundert waren Frauen rechtlich gezwungen, nach dem Tod ihres Mannes das

Unternehmen zur Existenzsicherung weiterzuführen bis ein neuer Mann das Gewerbe übernahm

oder es verkauft wurde. Wurde kein neuer Mann gefunden, so konnten die Frauen ihre Fähigkeiten

unter Beweis stellen und sich in männlichen Strukturen behaupten. Es gibt einige sehr erfolgreiche

Frauen, denen dies gelang (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 109). Neben den Eigentumsrechten und der

Leitung der Klinik regelte der Vertrag der Kerschbaumers auch die Trennung, laut Veits-Falk aber

nicht die Scheidung des Ehepaares. Solch eine Regelung war in bürgerlich-intellektuellen Kreisen

durchaus üblich. Die Quellen bezüglich der Scheidung differieren in diesem Punkt jedoch. Laut

Seebacher wurden die beiden auch gleich geschieden (vgl. Seebacher, 2008, S. 51; Veits-Falk,

2008, S. 107). Rosa erzählte ihrem früheren Lehrer Koni, dass sie zu unterschiedliche Charaktere

waren und ihre Meinungen über das Leben zu sehr differierten. Friedrich zog nach Wien, wo er

nach längerem Leiden im 59. Lebensjahr verstarb (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 107).

Rosa leitete weiterhin die Klinik. In den letzten Monaten des Jahres 1892 endete der Vertrag mit

dem St.-Johanns-Spital. Das Spital hatte indes selber eine Augenabteilung samt Primararztstelle

geschaffen und überstellte im Dezember die von Rosa betreuten Patientinnen und Patienten in

das Krankenhaus. Da Rosa in ihrem kaiserlichen Ansuchen um die Leitung einer Augenabteilung

oder Augenheilanstalt bat, kann davon ausgegangen werden, dass sie gerne die Primaria der

Augenabteilung geworden wäre. Dies war aber zu diesem Zeitpunkt unrealistisch. Mit Ende des

78

Vertrages mit dem Spital entfielen wesentliche Einnahmen und bedrohten die Existenz von Rosas

privater Klinik. Sie beschäftigte sich mit der Weiterführung der Klinik und forschte weiterhin an den

Ursachen und Folgen der Kurzsichtigkeit. Im März des Folgejahres hielt sie darüber einen Vortrag

in Linz. Sie wies auf die Gefahren schlechter Beleuchtung beim Lesen, schlecht gedruckter

Bücher oder schlechter Brillen hin. Sie riet zudem, vor der Verwendung einer Brille einen

Augenarzt aufzusuchen (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 112–114). Die Pionierin der Augenheilkunde

schrieb etliche wissenschaftliche Arbeiten, die auch in angesehenen Fachzeitschriften

veröffentlicht wurden. Eines ihrer bekanntesten Werke ‚Das Sarkom des Auges‘ ist vermutlich das

erste von einer weiblichen Verfasserin publizierte wissenschaftliche Werk zur Augenheilkunde.

Ihre 1900 erschiene Abhandlung zeugt von Rosas länderübergreifender Forschungstätigkeit und

fand große Beachtung in Fachkreisen (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 114 und 116).

Sie nahm außerdem Stellung zu der vom Chirurgen Eduard Albert veröffentlichten Schrift ‚Die

Frauen und das Studium der Medicin‘. In seiner selbstherrlichen und misogynen Schrift schrieb er

über eine Abwertung des Ärztestandes aufgrund einer Verweiblichung und über die Bedrohung

von Wertvorstellungen. Mit falschen Daten und Zahlen versuchte er dem Experiment

Frauenstudium den Garaus zu machen und überschritt dabei die Grenze zwischen Wissenschaft

und Ideologie. Bereits vor Rosa hatten sich zahlreiche Gegner mit den haltlosen chauvinistischen

Behauptungen und den logischen Widersprüchen beschäftigt, weswegen sie nicht mehr darauf

eingehen wollte. Sie sah den Artikel durchaus als positiv an. Einerseits wurden Frauenrechte in

Österreich mehr diskutiert und andererseits zeigte der Artikel, dass auch der berühmte Professor

keine logischen Argumente gegen das Frauenstudium finden konnte. Sie belegte mit genauen

Quellenangaben die Entwicklung medizinischer Schulen in Russland und die Tätigkeiten

russischer Ärztinnen. Sie kam zu dem Schluss, Österreich könne die positiven Erfahrungen der

anderen Länder mit Ärztinnen nicht länger ignorieren. Das Frauenstudium tangierte nicht nur

ökonomische und soziale Aspekte, sondern auch rechtliche. Der Verfassungsrechtler Edmund

Bernatzki versuchte bereits dies als einen Verfassungsbruch des modernen Rechtsstaates zu

beweisen. Im Paragraph 18 des Staatsgrundgesetzes wurde eindeutig das Recht auf

Bildungsfreiheit für ‚jedermann‘ beschrieben. Die Redaktion der Wiener Literaturzeitung ‚Neue

Revue‘ publizierte Rosas Stellungnahme ‚Professor Albert und die weiblichen Aerzte‘ und

vermerkte ihre Stellungnahme als sehr interessant, da sie die einzige praktizierende Ärztin in

Österreich sei. Rosa wünschte sich, dass österreichische Ärztinnen zukünftig die Möglichkeit

hätten ihre Fähigkeiten erfolgreich unter Beweis zu stellen (vgl. Kerschbaumer, 1895; Seebacher,

2008, S. 52, 2006, S. 562 f; Veits-Falk, 2008, S. 120–123). Rosa Kerschbaumer setzte als

selbstbewusste Vertreterin der ersten Generation von Ärztinnen das Ziel der Gestaltung eines

neuen weiblichen Vorbilds in Gesellschaft und Wissenschaft. Sie hinterfragte offen das von der

Mittelschicht erwartete Geschlechterbild und die patriarchalische Familienstruktur (vgl. Arias,

2000, S. 56).

79

Rosa übernahm eine führende Stelle in der Frauenemanzipationsbewegung, die sich für die

Zulassung von Frauen zum Medizin- und Philosophiestudium einsetzte. Sie forderte die

Möglichkeit für die Ausübung ärztlicher Tätigkeiten für Frauen- und Kinderärztinnen sowie für

Lehrerinnen für höhere Lehranstalten für Mädchen. Demnach ist es wenig verwunderlich, dass

sie öffentlich für die gestellten Forderungen auftrat und jungen Ärztinnen die Möglichkeit bot, als

Assistentinnen in Salzburg zu arbeiten (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 117 und 126). Im November 1893

war Rosa nach wie vor die einzige Frau in Österreich, die eine ärztliche Praxis ausüben durfte,

obwohl in vielen anderen Ländern bereits ausgezeichnete Erfahrungen mit Ärztinnen gemacht

wurden (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 119). Mit dem radikalen Flügel der bürgerlichen

Frauenbewegung konnte sie sich nie identifizieren. Sie galt als Vorbild und ihr persönliches

Engagement trug wesentlich zur Öffnung der Universitäten für Frauen bei (vgl. Seebacher, 2008,

S. 53; Veits-Falk, 2008, S. 125). Rosa Kerschbaumer engagierte sich zudem sozial. Sie

behandelte hunderte Augenkranke kostenlos und beschenkte bedürftige Kinder mit Kleidung,

Schuhen und Lebensmitteln (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 127).

1895 starb Rosas Mutter, mit der sie, trotz der großen Entfernung, eine gute Beziehung hatte. Sie

behandelte ihre Mutter sogar einmal in Russland, als sie an Sehstörungen und Lidschlaffheit

infolge einer Hirnhautentzündung litt (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 132). Im November 1895 gab es

die erste Meldung, dass Rosa Kerschbaumer Österreich verlassen und nach St. Petersburg gehen

würde. Die ‚Österreichische Zeitschrift für Pharmacie‘ (1895) schrieb am 20. November: „Die

einzige österreichische Augenärztin, Frau Dr. Rosa Kerschbaumer in Salzburg, verlässt, wie

verlautet, demnächst Oesterreich“ (Die einzige österreichische Augenärztin, S. 815). Und auch

die ‚Wiener Medizinische Wochenschrift‘ (1895) veröffentlichte am 09. November ähnliche Zeilen:

„Frau Dr. Rosa Kerschbaumer in Salzburg, die erste und bisher einzige, zur Ausübung der

ärztlichen […] Praxis in Oesterreich berechtigte Dame, verlässt, wie wir erfahren,

demnächst Oesterreich. Sie kehrt in ihre Heimat nach Russland zurück, um in Petersburg

an der neu begründeten medizinischen Frauenakademie eine Lehrkanzel zu

übernehmen.“ (Frau Dr. Rosa Kerschbaumer in Salzburg, S. 1963)

Durch die rückgängigen Patientinnen- und Patientenzahlen und der Ablösezahlung an Friedrich

kämpfte Rosa sicherlich mit finanziellen Schwierigkeiten. Die 45-jährige Ärztin löste im Februar

1896 die Augenklinik auf und kehrte nach Russland zurück (vgl. Seebacher, 2008, S. 53; Veits-

Falk, 2008, S. 130–132). Der Wunsch nach Russland zurückzukehren wurde von der Nachricht

der Neuorganisation des medizinischen Instituts für Frauen in St. Petersburg geweckt. Die

Enttäuschung war groß, als sie feststellen musste, dass sie als ausländische Ärztin in Russland

erst arbeiten konnte, wenn sie nochmals die Prüfungen in Allgemeinmedizin ablegen würde. Die

Augenspezialistin mit 20-jähriger Berufserfahrung suchte bei Koni, der mittlerweile einflussreicher

80

Jurist und kurz zuvor als Beratungsmitglied im Medizinalrat des Innenministeriums tätig war, um

Rat. Mit der Überprüfung ihrer wissenschaftlichen Publikationen gelang es ihr, eine

Arbeitserlaubnis als Ärztin zu erhalten (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 135). An dem 1897 wieder

eröffneten medizinischen Institut für Frauen, wo Rosa eine Lehrkanzel übernehmen wollte, durften

jedoch keine Frauen unterrichten. Daher arbeitete Rosa an einer Klinik in St. Petersburg als

Augenärztin. Ab 1899 war sie zudem Vortragende in Fortbildungskursen für Ärztinnen und Ärzte

in Augenheilkunde (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 135 f).

Im Auftrag der russischen Regierung reiste sie von 1897 bis 1903 entlang der Transsibirischen

Eisenbahn. Über ihren Einsatz und ihre Leitung der ‚mobilen Augenheiltruppe‘ berichteten

ophthalmologische Fachzeitschriften. Kerschbaumers Wanderklinik, darunter mehrere

Augenärzte, Feldschererinnen und Feldscherer sowie Krankenschwestern, behandelte die in

Massen heraneilenden Augenkranken. Überdies zählten die Erforschung der Ursachen der stark

verbreiteten Augenkrankheiten, der Unterricht einheimischer Ärzte in der Augenheilkunde sowie

die Errichtung fortwährender Augenabteilungen zu den Aufgaben der Expedition (vgl. Seebacher,

2008, S. 53; Veits-Falk, 2008, S. 136–138). Ab 1899 war sie zudem als Wissenschaftlerin höchst

erfolgreich und leitete am IX. Internationalen Ophthalmologischen Kongress in Utrecht eine

Sektion. Bei der ‚Ophthalmologischen Gesellschaft’ in St. Petersburg hielt sie einen Vortrag über

ihre Untersuchungen über das Augensarkom, deren Ergebnisse sie 1900 veröffentlichte. Ihre

1901 eingebrachte Bewerbung als Leiterin eines Instituts an der Universitätsklinik in Warschau

wurde abgewiesen und als unverschämt aufgefasst, da sie als Frau kein Recht hätte sich um

diese Stelle zu bewerben. Im Jahr darauf nahm sie am VIII. Kongress der russischen Ärzte in

Moskau teil, wo sie einen Vortrag hielt ‚Über die Behandlung des Trachoms und der Kampf mit

dieser Krankheit in Russland’. Zur selben Zeit fand die Sitzung der ‚Gesellschaft der Augenärzte’

in Moskau statt, an der sie auch teilnahm (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 138 f).

Von 1903 bis 1906 übernahm sie als Direktorin die Leitung der Augenklinik der Zarin Maria in

Tiflis, in Georgien. Obwohl in der Klinik eine Ärztin und ein Arzt fix angestellt und eine zweite Ärztin

außerbudgetär angestellt waren, untersuchte Rosa, die in der Früh als erste zur Arbeit kam und

erst als Letzte wieder ging, alle Patientinnen und Patienten zuerst selbst, bevor sie diese von den

anderen behandeln ließ. Eine dort tätige OP-Schwester beschrieb Rosa als ordentliche,

energische und strenge Direktorin. Die zudem gut aussehende Doktorin war sehr lebhaft und

flexibel (vgl. Seebacher, 2008, S. 53; Veits-Falk, 2008, S. 140). In Österreich wurde auch nach

über einem Jahrzehnt seit Rosas Rückkehr nach Russland über die Augenärztin mit

ausgezeichnetem internationalem Ruf berichtet. 1906 schrieb die ‚Salzburger Chronik für Stadt

und Land’, dass Rosa „vor einigen Jahren die Leitung der Augenheilanstalt der Kaiserin Maria in

Tiflis übernahm und heute noch als Direktorin die gleiche Stellung bekleidet“ (Richtigstellung, S.

3). Am 17. Jänner 1907 berichtete die ‚Salzburger Zeitung’, dass „die bekannte Augenärztin Dr.

81

Putiata-Kerschbaumer, […] zurzeit am persischen Hof in Teheran [weilt], um an einer kranken

Prinzessin eine schwierige Augenoperation auszuführen“ (Salzburger Zeitung, 1907, S. 2, zit. n.

Veits-Falk, 2008, S. 140 f).

Über den Vorderen Orient kehrte sie wieder nach Österreich zurück und wohnte ab September

1907 in Wien. Obwohl sie die Eröffnung einer Praxis für Augenheilkunde plante, wollte sie, oder

vermutlich musste sie aus finanziellen Gründen vorerst in Karlsbad als Ärztin arbeiten. Der k. k.

Oberbezirksrat in Karlsbad gestattete ihr dies jedoch nicht, da ihre kaiserliche Entschließung nur

für Salzburg galt. Sie stellte erneut ein Ansuchen und legte sämtliche Referenzen und Zeugnisse

vor. Acht Jahre nachdem Frauen auch in Österreich Medizin studieren durften, erforderte es noch

immer einen Gnadenakt, um als Ärztin arbeiten zu dürfen. Auch dieses Ansuchen bewilligte Kaiser

Franz Joseph am 7. August 1908, wodurch sie die Erlaubnis hatte zur Praktizierung der

Augenheilkunde in ganz Österreich (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 141 f). Von 1907-1911 arbeitete

Rosa wieder als Ärztin in Wien (vgl. Seebacher, 2008, S. 53). Eines ihrer Anliegen war ‚Die

Hygiene des Auges in der Schule’, wie auch der gleichlautende Artikel heißt, der in der Zeitschrift

‚Der Bund’ 1909 veröffentlicht wurde. In diesem Artikel schrieb sie, dass die Schulhygiene trotz

der wichtigen Bedeutung in Österreich noch immer im Argen liege. Sie forderte die Verbreitung

der Grundprinzipien der Hygiene über alle Gesellschaftsschichten hinweg und das frühzeitige

Vermitteln elementarer Kenntnisse der Hygiene in der Schule (vgl. Kerschbaumer, 1909, S. 8 f).

Im Jahr darauf bezog sie zudem Stellung zum brisanten und tabuisierten Thema der Prostitution

in Österreich. Sie begrüßte die sanitäre Kontrolle der Frauen, die durch neue Regelungen die

bisherige polizeiliche Kontrolle ablöste. Als Ärztin empfahl sie für die medizinische Untersuchung

der Prostituierten Ärztinnen heranzuziehen. Ganz im Sinne der Sozialdemokratie forderte sie eine

bessere Entlohnung von Frauen und gleichen Lohn bei gleicher Arbeit. Denn nur wenn Frauen

eine ehrliche und gute Erwerbsmöglichkeit hätten, würde Armut bekämpft und Prostitution

rückgängig werden (vgl. Kerschbaumer, 1910, S. 5).

Ob es nun der unerfüllte Wunsch einer eigenen Klinik in Wien war oder der eventuell bestehende

Kontakt zu Selina Bloom, ihrer ehemaligen Assistenzärztin, die nun in New York lebte oder ein

anderer Grund sei dahingestellt. Rosa verließ Wien wieder. Vorerst im Zuge einer Studienreise

nach Amerika im Sommer 1911, woraus dann eine endgültige Auswanderung werden sollte (vgl.

Veits-Falk, 2008, S. 143 f). Im Alter von sechzig Jahren zog sie nach Seattle und später nach Los

Angeles, um dort zu praktizieren (vgl. Seebacher, 2008, S. 53). 1914 erhielt sie eine Lizenz, um

in Nevada und Kalifornien arbeiten zu können. Außerdem war sie Mitglied der ‚Medical Society of

the State of California’. Im Jahr darauf übersiedelte sie nach Los Angeles und operierte im ‚Good

Samaritan Hospital‘, worüber die ‚Washington Post‘ sogar berichtete. Interessanterweise wurde

sie in Amerika als Dr. Kerschbaumer aus Salzburg, Österreich bezeichnet und nicht als russische

Ärztin. Die Daten der 1920 erhobenen Volkszählung zeigen, dass ‚Rose P. Kershbaumer‘ ihre

82

Daten so angab, wie es für sie von Vorteil war. Ihr Geburtsdatum war mit 1867 datiert, also ganze

sechzehn Jahre different zum tatsächlichen Geburtsdatum, wodurch sie vermutlich leichter eine

Berufsberechtigung erhielt (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 144 f).

Das außergewöhnliche Leben der Augenärztin und ersten Ärztin Österreichs Rosa

Kerschbaumer, über deren letzte Lebensjahre man nur Eckdaten weiß, endete am 27. Juli 1923

in Los Angeles (vgl. Universität Zürich, o. J.). Anders Veits-Falk, die den 27. Juni 1923 als

Sterbedatum angibt, sich aber ebenso auf die Matrikeledition der Züricher Universität bezieht (vgl.

Veits-Falk, 2008, S. 145). Seit 2007 erinnern die im Salzburger Stadtteil Itzling benannte Straße,

die Rosa-Kerschbaumer-Straße und eine Gedenktafel am Haus der ehemaligen Augenklinik an

der Schwarzstraße, an die Pionierin der Augenheilkunde und die erste in Österreich praktizierende

Ärztin (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 167).

3.7.1.4. Cécile Vogt

Hätte Oskar eine Universitätskarriere angestrebt, dann wäre es für Cécile nur möglich gewesen,

quasi unsichtbar, als privat mitarbeitende Ehefrau tätig zu sein (vgl. Düweke, 2001, S. 119). Denn

um die Jahrhundertwende, als das das Ehepaar versuchte gemeinsam zu forschen, herrschten

frauenfeindlichen Bedingungen in Berlin. Die medizinische Fakultät war zu diesem Zeitpunkt eine

Hochburg von Gegnern des Frauenstudiums. Sogar die Teilnahme an einer Sitzung der Berliner

Gesellschaft für Nervenkrankheiten und Psychiatrie, bei der sie mit ihrem Mann einen Vortrag

angemeldet hatte, wurde Cécile untersagt. Oskar gelang es jedoch genügend Geldmittel zu

organisieren. Er gründete 1902 ein Neurobiologisches Laboratorium, indem die beiden ihr

Forschungsprogramm umsetzen konnten. Die finanzielle und politische Unterstützung Friedrich

Alfred Krupps, eines der mächtigsten und reichsten Männer Deutschlands, bot den beiden

vielfältige Ressourcen und Möglichkeiten und war essenziell für die Etablierung ihrer

universitätsunabhängigen Forschungseinrichtung. Cécile gab ihrem Mann zusätzliche

wissenschaftliche Unterstützung, wodurch er seine Handlungsmöglichkeiten erweitern konnte.

Eine unverzichtbare Grundlage der Vogt‘schen Hirnforschung waren die Hirnschnittserien und

deren Abbildungen, die von Cécile und von den von ihr ausgebildeten Mitarbeiterinnen hergestellt

wurden. Dies war eine wissenschaftliche Feinarbeit, die ausschließlich von Frauen angefertigt

wurde, die weder ein Recht auf ein Studium, geschweige denn auf wissenschaftliche Arbeit und

deren Anerkennung hatten. Das Ehepaar Vogt hielt engen beruflichen Kontakt mit dem

Neurologen Pierre Marie, bei dem Cécile promoviert hatte. Dies ermöglichte eine Verknüpfung mit

der französischen Neurologie und der dort betriebenen Hirnforschung (vgl. Rürup & Schüring,

2008, S. 341; Satzinger, 1996, S. 78 f; Vogt, 1997, S. 212). Nachdem die Forschung der beiden

internationale Anerkennung erlangt hatte, beschloss die KWG 1914 die Gründung eines Instituts

für Hirnforschung. Oskar wurde Direktor dieses Instituts (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 341),

Cécile erhielt eine Anstellung als Wissenschaftlerin. Sie wurde 1919 als zweite Frau, fünf Jahre

83

nach Lise Meitner, zum Wissenschaftlichen Mitglied der KWG gewählt, war stellvertretende

Institutsdirektorin und leitete die Abteilung für Hirnforschung ab 1919 (vgl. Rürup & Schüring,

2008, S. 341; Vogt, 1997, S. 212, 2003, S. 174). Die Angaben, bis wann sie die Abteilung leitete,

sind unterschiedlich. Kompisch schreibt bis 1935/1936 und Vogt gibt die Pensionierung 1937 an

(vgl. Kompisch, 2008, S. 151; Vogt, 2003, S. 169).

Nachdem das Institut jahrelang, aufgrund der wirtschaftlichen Probleme nach dem ersten

Weltkrieg, ein Provisorium geblieben war, wurde der Neubau des Instituts schließlich 1931

eröffnet. Zum damaligen Zeitpunkt war es das größte Hirnforschungsinstitut der Welt und wurde

zu einer nationalen und internationalen Vorzeigeeinrichtung der KWG. Cécile leitete die

anatomische Abteilung und ihre Tochter Marthe die chemische Abteilung. Obwohl Oskar dem

Institut vorstand, war bekannt, dass das Ehepaar wichtige Programmentscheidungen und

wissenschaftliche Lenkungsaufgaben gemeinsam besprach und bewältigte (vgl. Rürup &

Schüring, 2008, S. 341 f). Die Ergebnisse ihrer Forschungen publizierte das Forscher-Ehepaar

immer unter dem Namen beider, weswegen man Céciles Anteil nicht verschweigen oder

schmälern konnte. Sie war eine gleichberechtigte Partnerin und hatte auch oft eine führende Rolle.

Cécile publizierte aufsehenerregende Resultate ihrer Hirnregion-Forschungen, wie die Ursachen

von Bewegungsstörungen (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 341 f; Vogt, 1997, S. 212). Die

Forschungsgebiete der Vogts waren sehr umfangreich. Untersucht wurden neben der

„lokalisatorischen Hirnforschung auch [die Gebiete der] Psychologie, Psychotherapie,

Evolutionsbiologie, Insektensystematik und Genetik [und viele weitere Gebiete] die in den

verschiedenen Abteilungen des KWI für Hirnforschung zwischen 1930 und 1933 bearbeitet

wurden“ (Satzinger, 1996, S. 76).

Cécile legte unter anderem 1927 dar, warum man Frauen zum damaligen Stand der Hirnforschung

von keinem Beruf ausschließen konnte (vgl. von Zahn-Harnack, 1928, S. 153–155). Möbius‘

Behauptung der geistigen Inferiorität der Frau, aufgrund des leichten Gehirns und der minderen

Furchungen, dementierte die Hirnforscherin. Sie argumentierte, dass die architektonische

Felderung der Großhirnrinde ausschlaggebend sei für die Leistungsfähigkeit des Gehirns,

unabhängig von der Größe des Gehirns oder der Furchungen (vgl. Satzinger, 1996, S. 77). Zu

diesem Zeitpunkt hatte die 51-jährige eine Position mit dem formalen und finanziellen Status einer

außerordentlichen Professur (vgl. Satzinger, 1996, S. 76). Cécile Vogt wurde außerdem 1932

Mitglied in der Leopoldina, sechs Jahre nach Lise Meitner und einen Monat vor Marie Curie (vgl.

Vogt, 2003, S. 170). Die Vogts hatten das Ziel wirksame biochemische-pharmakologische

Eingriffsmöglichkeiten in das Gehirn zu finden, um sozial nützliches Verhalten zu fördern und

schlechte Eigenschaften zu hemmen. Im Sinne der Eugenik plädierten sie kurzzeitig für die

Höherzüchtigung des geistigen Menschen (vgl. Satzinger, 1996, S. 76). Bereits 1925 entgegnete

Cécile dem Plädoyer für ‚Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens’, dass psychiatrische

84

Krankheiten physikalisch oder chemisch therapiert und somit strukturell im Gehirn verändert

werden könnten (vgl. Düweke, 2001, S. 123).

Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, bedeutete dies für die Vogts einen gravierenden

Einbruch in ihr Forscherleben am Institut. 1933 wurde das KWI für Hirnforschung massiv von den

Nazis angegriffen und überfallen (vgl. Vogt, 1997, S. 213). Die herausragenden Wissenschaftler

galten als politische Außenseiter, Pazifisten und ‚Franzosenfreunde‘. Bereits im Ersten Weltkrieg

distanzierten sie sich von der Kriegsbegeisterung und dem radikalen Nationalismus. Das Ehepaar

befürwortete die demokratisch-parlamentarische Republik und die soziale Neuordnung von

1918/19. Cécile bekannte sich zudem öffentlich zu den Zielen der bürgerlichen Frauenbewegung

(vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 342) und zweifelte, wie alle Frauen der bürgerlichen

Frauenbewegung, an der Objektivität naturwissenschaftlicher Aussagen (vgl. Satzinger, 1996, S.

79). Die Vogts mussten sich gegen das ‚Doppelverdienertum’ wehren. Oskar Vogt tat dies indem

er verlautbarte, dass seine Frau von 1899 bis April 1919 ohne Erhalt von Entgelt am Aufbau des

Instituts mitgearbeitet hatte. Das Gehalt, das sie letztlich nach Beschlagnahmung, Versailler

Vertrag und Geldentwertung bezogen hatte, reichte lediglich zur Deckung der privaten Ausgaben.

Von einer Einnahme konnte man hier nicht sprechen (vgl. Vogt, 1997, S. 213).

Nach vielen Auseinandersetzungen und Angriffen wurde Oskar, trotz Vertrag auf eine lebenslange

Anstellung, 1934 entlassen. Als Begründung wurde Emeritierung angegeben. Er war noch bis

1937 als kommissarischer Direktor tätig, dann verließen Cécile und Oskar, mittlerweile 62 und 67

Jahre alt mit der jüngeren Tochter Marguerite 1937 das Institut. Doch dies war nicht das Ende

ihrer Forschungstätigkeit. In Neustadt im Schwarzwald baute sich die Familie Vogt ein neues

privates ‚Institut für Hirnforschung und Allgemeine Biologie’ auf. Die Mittel dafür hatten sie aus

einer für sie geschaffenen privaten Stiftung. Die von ihnen aufgebaute Sammlung von Gehirnen

und Hirnschnitten konnte das Forscherehepaar in ihr neues Institut mitnehmen. Einige

wissenschaftliche Mitarbeiter begleiteten sie. Bis ins hohe Alter arbeiteten und lebten sie dort für

die Hirnforschung (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 342 f; Vogt, 1997, S. 213). 1950 wurde die

Wissenschaftlerin zusammen mit ihrem Ehemann und Kollegen zum Ehrenmitglied der Berliner

Akademie der Wissenschaften in (Ost-)Berlin ernannt und 1955 erhielten sie beide die

Ehrendoktorwürde der Universitäten Freiburg und Jena (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 344 f;

Vogt, 2003, S. 174). Als eine von wenigen wurde die Hirnforscherin mit einer Briefmarke der

Bundespost geehrt (vgl. Vogt, 1997, S. 214).

Im höheren Alter widmete sich Cécile anderen Pflichten und Aufgaben, darunter der Betreuung

des Archivs der Krankenakten, unüberschaubaren Schnittseriensammlung sowie der

Überwachung des Labors. Auch die Betreuung der Mitarbeiter und der Gäste, die zu Besuch oder

zu Studienaufenthalten am Institut waren, übernahm sie. Außerdem zeichnete sie die Symbole

85

von Windungen und Furchen auf den Aufnahmen von zuvor mikroskopisch zerlegten Gehirnen

ein. Nicht nur wissenschaftliches, sondern auch persönliches hielt sie schriftlich fest (vgl. Vogt,

1997, S. 213 f).

Nachdem ihr Mann Oskar im Juli 1959 starb, zog sich Cécile aus der wissenschaftlichen Arbeit

zurück und zog nach Cambridge zu ihrer Tochter Marthe. Das Forscherehepaar hatte sechs

Jahrzehnte gemeinsam wissenschaftlich gearbeitet. In Neustadt gab es zu viele Erinnerungen an

ihr Forscherdasein mit ihrem Mann. Am 3. Mai 1962 starb sie in Cambridge (vgl. Rürup &

Schüring, 2008, S. 101 und 344; Vogt, 1997, S. 214). Der Biograf der Vogts, Webb Haymaker,

schrieb über Céciles „ausgewogenes Gemüt, ihre Aufmerksamkeitsgabe, ihre Schlagfertigkeit

sowie über ihre Logik und das Lächeln, die keine wirksame Widerlegung ihres Standpunktes

tolerierten, eine seltene Liebenswürdigkeit, die alle dazu brachte, ihr zu Vertrauen“ (Haymaker,

1970, zit. nach Bhattacharyya, 2011, S. 413 f). Igor Klatzo, ein Kollege von Cécile, beschrieb die

liberale Frau mit den humanistischen Idealen als jemanden, der wusste wie man das Leben

verstand und genoss. Er bezeichnete die Frau, die ihn und seine Entwicklung nicht nur

wissenschaftlich beeinflusst hatte, als die intelligenteste Person, die er je kennen gelernt hatte

(vgl. Bhattacharyya, 2011, S. 414).

3.7.1.5. Lise Meitner

An der Universität Berlin grüßten die Mitglieder des Instituts morgens immer ‚Herrn Hahn’ (vgl.

Meitner, 1964, S. 5), nicht aber das ‚Fräulein Doktor’. Anfangs hatte Lise demnach eine

untergeordnete, eher geduldete Position. Die ihr zustehende Anerkennung und der Respekt

blieben ihr am Anfang ihrer Karriere verwehrt. Zu Beginn arbeiteten Meitner und Hahn in einem

improvisierten Labor, einer Holz-Werkstatt im Keller am Institut des Chemikers Emil Fischer.

Dieser gab den beiden die Erlaubnis, dass Lise auch im Labor mitarbeiten und unbezahlt forschen

durfte. Gleichwohl unter der Prämisse, dass sie den Hintereingang des Instituts nahm und sonst

keine Räumlichkeiten im Gebäude betrat, weswegen sie auch die Toilette eines nahe gelegenen

Gasthauses benutzen musste. Diese Einschränkung fiel als Frauen 1908 zum Universitätsstudium

zugelassen wurden. Bis dahin schlich sie sich heimlich in Vorlesungen. Zunehmend, auch

aufgrund der Erfolge des Forscher-Duos, fiel die Skepsis gegenüber Lise Meitner, die bis dahin

oft ignoriert wurde (vgl. Klima, 2019, S. 12; Meitner, 1964, S. 5; Rennert & Traxler, 2018, S. 52 f;

Rife, 1990, S. 62; Vogt, 1997, S. 210). Die beiden entdecken neue radioaktive Substanzen und

entwickelten, in Zusammenarbeit mit Otto von Bayer, das erste magnetische Betaspektrometer

zur Erforschung der Energiespektren der Betastrahlung – für viele Jahre das Hauptarbeitsgebiet

von Lise. Obwohl die beiden eng und viel miteinander im Labor arbeiteten, ist ihr privates

Verhältnis dennoch die ersten zehn Jahre distanziert und formell. Nicht einmal den Schmerz über

den Tod ihres geliebten Vaters im Dezember 1910 teilte sie mit ihm. Es war ein schwerer Schlag

für sie, den sie dennoch für sich behielt (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 54 f).

86

Dankend erinnerte sich Lise später an die außerordentlich stimulierende, intellektuelle

Atmosphäre, die in ihrem Elternhaus immer geherrscht hatte. Über Politik und Weltanschauung

wurde offen diskutiert und eigene Meinungen waren explizit erwünscht. Nicht nur Lise, sondern

auch sechs ihrer sieben Geschwister absolvierten eine höhere Ausbildung in den

unterschiedlichsten Fachbereichen. Religion spielte keine große Rolle in der aufgeklärten Familie.

Lise und vier oder sechs ihrer Geschwister traten später sogar aus der Israelitischen

Kultusgemeinde (IKG) aus. Am 29. September 1908, der Tag ihres Austritts aus der IKG, ließ sich

Lise, im Alter von 29 Jahren, in der evangelischen Pfarrgemeinde in Wien protestantisch taufen.

Die Gründe dafür sind nicht bekannt, könnten aber aufgrund der zeitlichen Abfolge mit dem Suizid

des 9 Jahre jüngeren Bruders Max Anfang 1908 in Zusammenhang stehen. In den Wochen bzw.

Monaten nach seinem Tod, dessen Motive ebenso nicht bekannt sind, traten zumindest drei

weitere Geschwister aus (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 23–25).

Lises privates Leben in Berlin ist generell ein sehr ruhiges. Ernsthafte Liebesbeziehungen sind

nicht bekannt (vgl. Sime, 2001, S. 9). Es gab weder amouröse Affären (vgl. Rennert & Traxler,

2018, S. 55), noch hatte sie ihr „Unverheiratetsein jemals ernsthaft bereut“ (Lemmerich, 2010, S.

71 zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 56). Ihrer Schwester Gisela schrieb sie: „Ich wusste zu

genau, dass ich ein großes Talent hatte, in einer Ehe unglücklich zu werden“ (Lemmerich, 2010,

S. 71 zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 56). Da sie in den ersten Jahren in Berlin ohne eigenem

Einkommen, sondern nur durch die finanzielle Unterstützung der Eltern auskommen musste, lebte

sie sehr bescheiden. Das Geld reichte für das Notwendigste und ganz wichtig für Zigaretten. Mit

dem Tod ihres Vaters wurde die finanzielle Unterstützung ungewiss (vgl. Lemmerich, 2003, S. 27;

Rennert & Traxler, 2018, S. 56). Zudem fühlte sie sich manchmal sehr einsam. Sie schrieb ihrer

langjährigen Freundin Elisabeth Schiemann über ihre sich wiederholenden Sorgen, über ihre

Gefühl ihrer Ausnahmestellung und dem Egoismus ihrer Lebensweise, da sie niemandem nützte

und vogelfrei war (vgl. Lemmerich, 2003, S. 31). Dieses Gefühl verminderte sich durch den

beruflichen Erfolg 1912 (vgl. Lemmerich, 2010, S. 22 zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 57). Sie

publizierte etliche Arbeiten mit Otto Hahn, aber auch mit anderen wie beispielsweise 1911 mit

James Franck. Alleine in den Jahren 1912 und 1913 verfasste sie mit Hahn sieben Arbeiten (vgl.

Rife, 1990, S. 94 f).

Die Assistentenstelle bei Max Planck war ein wichtiger Wendepunkt und Schritt in Meitners

Karriere. 1912 wurde sie nicht nur seine erste Assistentin, sondern generell die erste Frau in solch

einer Stellung an der preußischen Universität. Zudem wurde sie nun finanziell für ihre Arbeit

entlohnt (vgl. Meitner, 1964, S. 4; Rennert & Traxler, 2018, S. 56; Sime, 2001, S. 68; Vogt, 1997,

S. 210). Otto Hahn erhielt im KWI für Chemie, welches im Oktober 1912 eröffnet wurde, eine

kleine Abteilung. Lise forschte dort vorerst als unbezahlter Gast, bis sie 1913 zum Mitglied ernannt

87

wurde. Formal stand sie dadurch mit Hahn auf einer Stufe, wenngleich sie weniger verdiente.

Neben ihrer Forschungstätigkeit übernahm sie auch Verwaltungsaufgaben. Die Abteilung für

Radioaktivität wurde zum Laboratorium Hahn-Meitner (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 57 f; Rife,

1990, S. 98–100 und 106). Als Lises ehemaliger Praktikumsbetreuer Anton Lampa ihr eine

Dozentinnenstelle an der Prager Universität anbot, mit Aussicht auf eine Professur, zog sie dies

ernsthaft in Erwägung. Durch diese Anerkennung ihrer Leistungen beschloss Fischer, eventuell

auf Anraten von Max Planck, Meitners Gehalt anzuheben. Ihre befristete Anstellung wurde mit der

von Otto Hahn auf unbegrenzte Zeit verlängert und sie wurde zum vollbezahlten

wissenschaftlichen Mitglied (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 59 f; Rife, 1990, S. 109; Sime, 2001,

S. 76).

Privat hatte sich Lise in Berlin einen beachtlichen Freundeskreis, unter anderem bestehend aus

zahlreichen bedeutenden Physikern und Chemikern, aufgebaut. Darunter die

Wissenschaftlerinnen Elisabeth Schiemann, die am Botanischen Institut arbeitete und sogar

Vorlesungen in Biologie hielt und die schwedische Wissenschaftlerin Eva von Bahr-Bergius. Ihr

Lebensmittelpunkt war von da an Berlin, dennoch blieb ihre Bindung zu Österreich stark. Die

Aufenthalte in ihrer Heimat nutzte sie für lange Spaziergänge oder Bergtouren. Im Frühjahr 1913

war sie zu Besuch in Wien und verbrachte viel Zeit mit ihrem achtjährigen Neffen Otto Robert

Frisch. Was keiner zu diesem Zeitpunkt ahnte: er wurde später ein herausragender

Wissenschaftler. Mit ihm gemeinsam gelang ihr ihre wichtigste wissenschaftliche Entdeckung (vgl.

Rennert & Traxler, 2018, S. 60 f; Rife, 1990, S. 106).

Als 1914 der erste Weltkrieg begann und die Welt ins Wanken geriet, veränderte sich auch Lises

Leben grundlegend. Von den politischen Umbrüchen erwartete sie sich eine Verbündung

Österreichs mit Deutschland. Sie berichtete Schiemann über die Österreicher, die voller

Begeisterung in den Krieg zogen, über ein großes Vertrauen in die deutschen Kampfgenossen

und über ihre Freude darüber, weil sie mit einem Teil ihres Herzens schon zu den deutschen

gehörte (vgl. Lemmerich, 2010, S. 33 f zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 63). In einem Brief an

eine befreundete schwedische Physikerin schrieb sie über die Erhabenheit und den Aufstieg der

deutschen Rasse (vgl. Lemmerich, 2010, S. 37 zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 65). Doch genau

diese menschenverachtenden, rassistischen Aussagen brachten sie zwanzig Jahre später fast

um alles. Dreißig Jahre nach diesen Aussagen verändert sie ihre Ansicht ins vollkommene

Gegenteil. Die Universitäten wurden teilweise in den Dienst des Krieges gestellt. Lise wollte

helfen, erhielt jedoch nur Absagen. Da auch Otto Hahn in den Krieg zog, führte Lise die

wissenschaftliche Arbeit alleine weiter. In ihren Briefen berichtete sie ihm über ihre Experimente.

Sie stellte Ende 1914 mit Otto von Baeyer eine Arbeit über Betastrahlen und eine über Radiothor

fertig (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 62–66). Außerdem wurde sie 1914 Leiterin der

physikalisch-radioaktiven Abteilung und war ab 1914 als erste Frau wissenschaftliches Mitglied

88

der KWG (vgl. Vogt, 1997, S. 210, 2003, S. 174). Dort nahm sie eine herausragende Stellung ein

(vgl. Vogt, 1997, S. 212).

Im Sommer 1915 erhielt sie dann doch noch die Möglichkeit, ihren Beitrag zum Krieg zu leisten

und trat ihren Dienst als Röntgenschwester in der österreichischen Armee an. Bevor das

Röntgenzimmer genutzt werden konnte, half sie im Operationssaal. Freie Zeit blieb ihr keine in

Lemberg, heute Lvov in der Ukraine. Von früh bis spät operierte sie und legte Verbände an (vgl.

Rennert & Traxler, 2018, S. 71; Sime, 2001, S. 84). „Der Anblick der vielen Schwerstverletzten [...

ließ] ihre Kriegseuphorie schon innerhalb weniger Tage schwinden“ (Rennert & Traxler, 2018, S.

71). Als sie Ende August/Anfang September zu Besuch in Wien war und das Radiuminstitut betrat,

bekam sie Sehnsucht nach der Physik. Lise fertigte über 200 Röntgenaufnahmen an (vgl. Rennert

& Traxler, 2018, S. 72). Nachdem ihr immer mehr Zweifel über die Bedeutung ihrer Arbeit in

Lemberg aufkamen und der Direktor des KWI den Tätigkeitsbericht 1914/15 für ihr Labor forderte,

suchte sie im Januar 1916 um ihre Entlassung aus der Armee an. Dennoch wollte sie weiter als

Röntgenschwester arbeiten, jedoch an einem Ort, wo es mehr Arbeit für sie gab. Nach

monatelangem Warten wurde sie am 5. Juni nach Trient und am 1. Juli nach Lublin geschickt, um

dort als Röntgenschwester tätig zu sein. An beiden Orten waren die Situationen, wie in Lemberg,

unbefriedigend für sie, sie hatte wenig Arbeit und fühlt sich nicht nützlich (vgl. Rennert & Traxler,

2018, S. 74 f).

Anfang Oktober kehrte sie nach Dahlem an ihr Institut zurück und kämpfte darum, nicht mit der

chemischen Abteilung zusammen gelegt zu werden. Langsam macht sich eine zunehmende

Ablehnung des Kriegs bei Lise bemerkbar (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 75; Sime, 2001, S.

88). Wie viele andere Frauen profitierte aber auch Meitner vom Krieg. Von Männern verlassene

Arbeitsplätze wurden von Frauen übernommen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 76). 1917 wurde

sie vom Verwaltungsrat des KWI für Chemie mit der Einrichtung der physikalischen Abteilung

betraut (vgl. Vogt, 1997, S. 211). Für diese Möglichkeit war sie Max Planck Jahre später sehr

dankbar (vgl. Meitner, 1964, S. 5). Durch die Aufspaltung des Labors Hahn-Meitner erhielt sie ihre

eigene Abteilung, das Labor Meitner. Neben einer stärkeren Position brachte dies auch mehr

Gehalt (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 76; Sime, 2001, S. 90). Während der Kriegszeit kam es

öfter vor, dass Lise mehrere Wochen nichts von Hahn hörte, woraufhin sie ihm deswegen

vorwurfsvoll schrieb. Durch Hahns Stellung beim Militär konnte er seine periodischen Urlaube von

der Front mit Lises dienstfreien Zeiten in den Jahren 1915 bis 1917 abstimmen, um an

radiochemischen-radiophysikalischen Versuchen am KWI in Dahlem zu arbeiten (vgl. Meitner,

1964, S. 6; Rennert & Traxler, 2018, S. 76 f). Sie führte ihre gemeinsame Arbeit, die Suche nach

der Muttersubstanz des Actiniums, weiter und weihte den Chemiker Friedrich Giesel ein. Hilfe

erhielt sie zudem von Stefan Meyer aus Wien, der ihr Material besorgte, den sie jedoch nicht

einweihte. Nach fünf Jahren gelang es Meitner endlich das Element mit der Ordnungszahl 91

89

aufzuspüren (vgl. Meitner, 1964, S. 6; Rennert & Traxler, 2018, S. 77; Sime, 2001, S. 90 und 93).

Am 16. März 1918 erscheint die Arbeit über ‚Die Muttersubstanz des Actiniums, ein neues

radioaktives Element von langer Lebensdauer’ in der Physikalischen Zeitschrift mit Otto Hahn als

Erstautor, obwohl Meitner die Arbeit fast gänzlich allein durchgeführt hatte (vgl. Hahn & Meitner,

1918; Sime, 2001, S. 96). Zur gleichen Zeit gelang Soddy und Cranston in Glasgow ebenso die

Isolation der Muttersubstanz von Actinium. Da Meitner und Hahns Arbeit aber detaillierter war und

sie mehr isoliert hatten, wurde ihnen die Entdeckung zugeschrieben. Sie nannten das chemische

Element Nr. 91 ‚Protactinium’. Eine Benennung nach sich selbst lehnte Meitner ab. International

wurde ihr Andenken von der Forschergemeinschaft hochgehalten, indem zu ihren Ehren postum

im Jahr 1997, das chemische Element mit der Ordnungszahl 109 als ‚Mt‘ für Meitnerium benannt

wurde (vgl. Klima, 2019, S. 14; Rennert & Traxler, 2018, S. 77 f; Rife, 1990, S. 130).

Mit 1918 war der Erste Weltkrieg für Österreich und Deutschland verloren. Im Herbst erzählt Lise

ihrer Freundin Schiemann über mehrere anregende wissenschaftliche Gespräche mit Einstein,

der ihr eine Zusammenarbeit angeboten hatte. Da er mit seiner Annahme jedoch daneben lag,

war die Zusammenarbeit vorbei, bevor sie wirklich beginnen konnte (vgl. Rennert & Traxler, 2018,

S. 79; Rife, 1990, S. 128). Die Wertschätzung und Bewunderung von Meitner und Einstein beruhte

auf Gegenseitigkeit. Albert Einstein bezeichnete sie als ‚unsere Madame Curie’ oder ‚deutsche

Madame Curie’ (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 8 f; Klima, 2019, S. 12; Rennert & Traxler,

2018, S. 79; Vogt, 1997, S. 210 f). Durch die Weimarer Republik schafften es immer mehr Frauen

in höhere akademische Positionen. Dank eines Antrags von Planck und Nernst erhielt auch Lise

endlich die ihr gebührende Anerkennung für ihre wissenschaftliche Leistungen. Am 31. Juli 1919

wurde ihr als eine der ersten Frauen in Deutschland und als erste Frau in Berlin der

Professorentitel vom Wissenschaftsministerium verliehen (vgl. Klima, 2019, S. 12; Rennert &

Traxler, 2018, S. 81 f; Vogt, 1997, S. 211). Der Professorentitel war jedoch an keine

Lehrberechtigung geknüpft, diese erhielt sie erst drei Jahre später (vgl. Rennert & Traxler, 2018,

S. 82). 1922 war sie die erste Frau, die in Berlin habilitieren durfte (vgl. Klima, 2019, S. 12) und

die erste habilitierte Physikerin Deutschlands (vgl. Cholodnicki, 2014). Dank der

Überzeugungskraft ihres Kollegen und Freundes Max von Laue, musste Lise keine

Habilitationsschrift anfertigen (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 11). Das Thema ihrer Arbeiten

für ihre Habilitation war ‚Entstehung der Beta-Strahl-Spektren radioaktiver Substanzen’. Aufgrund

ihrer herausragenden Leistungen wurden ihr bei ihrer Habilitierung die Probevorlesung und das

Kolloquium von den Kommissionsmitgliedern erlassen (vgl. Vogt, 1997, S. 210 f). Sie musste

lediglich im Sommer 1922 eine öffentliche Antrittsvorlesung halten. Der Titel ‚Bedeutung der

Radioaktivität für kosmische Prozesse’ wird von einem Journalisten als ‚kosmetische Prozesse’

veröffentlicht, worüber sich Lise noch Jahre später amüsierte. Die ‚Venia legendi’ verpflichtete

Meitner zur Abhaltung einer Vorlesung in jedem Semester. Dies tat sie 10 Jahre lang voller

Enthusiasmus (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 82; Rife, 1990, S. 141 f). Um neue Erkenntnisse

90

über den Aufbau der Atome zu erlangen, beschäftigte sich Meitner mit dem Beta- und

Gammazerfall. Diese Arbeiten sicherten ihr einen Platz im erlesenen Kreis von Vordenkern der

neuen Physik. Doch der Antisemitismus warf einen Schatten über die Erfolge der deutschen

Forscherinnen und Forscher. Vor allem Einstein kämpfte mit antisemitischen Anfeindungen (vgl.

Rennert & Traxler, 2018, S. 83–85).

Allmählich stieg Meitners Bekanntheitsgrad auch international. Der Einladung vom schwedischen

Physiker Siegbahn folgend, hielt sie ab April 1921 einen Monat lang in Lund eine Vorlesung und

gab ein Praktikum über Radioaktivität. Immer häufiger gelang es ihr, aufgrund der steigenden

Anerkennung durch ihre Fachkollegen, ihre Schüchternheit zu überwinden. Zu Siegbahns

Assistenten Coster und dessen Frau baute sie eine herzliche Beziehung auf, die eineinhalb

Jahrzehnte später eine lebensentscheidende Rolle für sie spielte. Ihre Reise führte sie im Sommer

weiter nach Kopenhagen, wo sie von Niels Bohr eingeladen wurde, einen Vortrag über Beta- und

Gammastrahlung zu halten. Dort kultivierte sie eine Jahrzehnte währende Freundschaft mit Niels

und Margarete Bohr. Zwischenzeitlich war sie zurück in Berlin und begann im Mai, die in Lund

gewonnenen Einsichten für ihre Betastrahlen-Analysen einzusetzen. Sie versuchte zu beweisen,

dass Gammastrahlen aus Betastrahlen resultieren. Die englischen Kollegen Chadwick und Ellis

waren gegenteiliger Ansicht und wendeten sich an Hahn, als wäre Meitner nach wie vor seine

Mitarbeiterin. Lise beklagte sich bei Hahn, da die englischen Kollegen ihre Arbeit offensichtlich

nicht einmal eingehend gelesen hatten, was sie auf ihr Geschlecht zurückführte. Letztlich hatten

sowohl Ellis als auch Meitner teilweise recht (vgl. Meitner, 1964, S. 7; Rennert & Traxler, 2018, S.

86 f; Rife, 1990, S. 134–136).

Im Oktober 1925 reichte Meitner ihren Artikel über ‚Die γ-Strahlung der Actiniumreihe und der

Nachweis, daß [sic!] die γ-Strahlen erst nach erfolgtem Atomzerfall emittiert werden‘ ein (vgl.

Meitner, 1925). Ellis kam zu ähnlichen Ergebnissen und bestätigte Meitners Resultate. Sie

eroberte sich damit einen Platz unter den führenden Experimentalphysikern ihrer Zeit (vgl. Sime,

2001, S. 124 f). Für ihre Beiträge zum Betaspektrum erhielt Meitner 1924 die Silberne (zweiter

Platz) Leibniz-Medaille der Preußischen Akademie der Wissenschaften und 1925 den Ignaz-

Lieben-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (vgl. Rife, 1990, S. 155; vgl.

Sexl & Hardy, 2002, S. 68–70; Sime, 2001, S. 145). Zudem wurde Meitner von 1924 bis 1965

ganze 48 Mal für den Nobelpreis in Physik und Chemie nominiert, unter anderem von ihrem

Langzeitkonkurrent Fajans, der sie 1925 gemeinsam mit Hahn für den Chemie-Nobelpreis

vorschlägt (vgl. NobelPrize.org, 2020b). Da Nominierungen erst nach 50 Jahren enthüllt werden,

wusste Meitner vermutlich nichts davon (vgl. NobelPrize.org, 2020a). Als sie 1926 zur ersten

nichtbeamteten außerordentlichen Professorin für Physik an der Berliner Universität berufen

wurde, hielt sie Vorlesungen über ausgewählte Fragen der Radioaktivität und der Atomphysik (vgl.

Cholodnicki, 2014; Vogt, 1997, S. 210 f) und wurde zum Vorbild, sowohl für Studentinnen und

91

Studenten an der Universität, als auch am KWI (vgl. Rife, 1990, S. 143). Lehrstuhl erhielt sie

keinen. Die Beschränkungen, die sie aufgrund ihres Geschlechts hatte, nahm sie einfach hin und

konzentrierte all ihre Energie in ihre wissenschaftliche Arbeit (vgl. Klima, 2019, S. 12). Von 1922

bis 1925 fasste sie ihre Ergebnisse über Radioaktivität und Atomkonstitution in sechzehn Arbeiten

zusammen (vgl. Rife, 1990, S. 142 f). 1926 wurde sie zudem Mitglied in der Leopoldina, sechs

Jahre vor Cécile Vogt und Marie Curie (vgl. Vogt, 2003, S. 170).

Obwohl sie lange Zeit eine sichtbare Ausnahmeerscheinung der Wissenschaftlerinnen war und

sie über die raue Wirklichkeit trotz zunehmender Liberalisierungsbestrebungen für Frauen wusste

(vgl. Rife, 1990, S. 153), stand auch sie Frauen in der Wissenschaft kritisch gegenüber. Meitners

Ansichten über weibliche Schülerinnen beziehungsweise Mitarbeiterinnen änderten sich jedoch

im Laufe der Zeit. Aus einem Brief, den sie 1930 an Otto Hahn schrieb, geht hervor, dass sie

Bedenken hätte eine weibliche Schülerin von Schonland aus Capetown für zwei Jahre bei sich

arbeiten zu lassen. Sie schrieb, sie hätte allerhand Bedenken gegenüber der weiblichen Schülerin,

da diese vermutlich ohnehin nichts von Radioaktivität verstünde. Andererseits verteidigte sie 1933

eine Mitarbeiterin gegenüber einem Kollegen. Aus weiblichem Klassengefühl heraus fragte sie

den Kollegen, ob dieser nicht etwas ungerecht handle. Auch von diesem Ereignis berichtete sie

Otto Hahn in einem Brief (vgl. Vogt, 1997, S. 210 f). In ihren Fünfzigern entwickelt sie ein, wie sie

es selbst bezeichnet, ‚weibliches Klassengefühl’. Sie selbst war in Deutschland zu Beginn ihrer

Karriere mit einer ablehnenden Stimmung gegenüber Frauen in akademischen Berufen

konfrontiert. Frauenfeindliche Schriften zu widerlegen, kam ihr jedoch nicht in den Sinn, da sie

diese gar nicht ernst nahm. Diesen Irrtum erkannte sie später und entwickelte besonders im

schwedischen Exil ein Gefühl der Solidarität. Ihr entwickeltes feministisches Bewusstsein ließ sie

sogar als Vortragende bei Veranstaltungen von Frauenorganisationen auftreten. Die Leistungen

der Frauenbewegung, die auch Einfluss auf sie hatten, honorierte sie sehr offen (vgl. Rennert &

Traxler, 2018, S. 190 f).

Abseits der Wissenschaft gab es für Lise in den 1920er Jahren einige Veränderungen. Das

Verhältnis zwischen Meitner und Hahn wurde immer persönlicher, sie wurde sogar die Patin von

Hahns Sohn. Das ‚Sie’ wurde durch das ‚Du’ ersetzt und in Briefen nannte sie Hahn häufig ‚Liebes

Hähnchen’. Wirtschaftlich kämpft die Weimarer Republik mit einer Hyperinflation. Lise fuhr öfter

und länger nach Wien, hauptsächlich aufgrund des schlechter werdenden Gesundheitszustandes

ihrer Mutter Hedwig, die letztlich im Dezember 1922 an den Folgen von Krebs starb. Ab 1927

arbeitete ihr Neffe Otto Robert Frisch ebenso in Berlin. Wie seine Tante hatte er an der Wiener

Universität Physik studiert. Die beiden aßen abends oft gemeinsam, besuchten Konzerte oder

spielten Klavier. Ihre berufliche Stellung und ihren Einfluss konnte sie kontinuierlich verbessern.

Nach einer beträchtlichen Gehaltserhöhung konnte sie sich schließlich 1931 eine geräumige

Wohnung in der Direktorenvilla des KWI leisten und ihre Zeit als Untermieterin in kleinen

92

Apartments beenden. Die Hausarbeiten und das Kochen übernahm eine Haushaltshilfe, die ihr

besonders wichtig war. Obwohl Lise immer geselliger wurde, genoss sie auch zeitweiliges

Alleinsein (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 89–93; Rife, 1990, S. 152 f und 159). Die Zeit ihres

Lebens als zurückhaltend geltende Frau hatte dennoch auch selbstsichere und lockere

Augenblicke, vor allem im Kreis ihrer Kollegen, wo sie sich wohl fühlte. Sie war Teil dieser

Wissenschaftlergeneration. Ihre Arbeiten brachten ihr Anerkennung und Ruhm (vgl. Rife, 1990,

S. 146 f). Immer öfter kümmerte sie sich auch um die persönlichen und nicht mehr nur um die

wissenschaftlichen Probleme ihre Kollegen und Mitarbeiter (vgl. Rife, 1990, S. 159). Die Arbeit am

Institut beschrieb Lise, umgeben von Doktoranden und Mitarbeitern, als eine höchst anregende

Zeit. Keiner wollte die persönliche und berufliche Gemeinschaft durch unterschiedliche politische

Ansichten zerstört wissen (vgl. Klima, 2019, S. 12).

Dem ‚Schwarzen Freitag’ im Oktober 1929, der die Weltwirtschaftskrise einleitete, folgten

Arbeitslosigkeit, politische Krisen und Hoffnungslosigkeit. Als Adolf Hitler 1933 die Macht ergriff,

wurde ihr von der nationalsozialistischen antisemitischen Politik der Titel und die

Lehrberechtigung aberkannt. Begründung dafür war das sogenannte ‚Gesetz zur

Wiederherstellung des Berufsbeamtentums’ (vgl. Klima, 2019, S. 13; Rife, 1990, S. 187; Vogt,

1997, S. 211). Plötzlich galt Lise als Jüdin aus Österreich, deren wissenschaftliche Reputation sie

nicht mehr schützte vor den „Sturmwolken der Nazis [, die] das Leben in Berlin verdunkelten“ wie

Rife (1990, S. 167) schrieb (vgl. Rife, 1990, S. 167). Aufgrund der Tatsache, dass sie

Österreicherin war und sich sowohl Otto Hahn als auch Max Planck persönlich für sie einsetzten,

durfte sie am Institut bleiben und weiterarbeiten (vgl. Klima, 2019, S. 13; Rennert & Traxler, 2018,

S. 104 f; Rife, 1990, S. 187–190; Vogt, 1997, S. 211). Sie durfte jedoch weder öffentliche Vorträge

halten noch das wöchentliche physikalische Kolloquium besuchen. Sie versuchte sich, soweit es

ging, von den politischen Entwicklungen abzuschirmen und fokussierte sich auf ihre Arbeit. Nach

einer Entdeckung des italienischen Physikers Enrico Fermi nahmen Hahn und Meitner ihre seit

mehreren Jahren unterbrochene direkte Zusammenarbeit 1934 wieder auf, um sich dem von

Fermi aufgeworfenen Problem der Transurane zu widmen. Dem Team Meitner-Hahn schloss sich

nach einiger Zeit Fritz Straßmann an. Gemeinsam veröffentlichten sie in den Jahren 1935 und

1936 acht Arbeiten zu ihrer Transuranforschung (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 107 f; Rife, 1990,

S. 212 und 221). Außerdem verfasste sie ihr erstes und einziges Buch mit ihrem Assistenten Max

Delbrück als Koautor. ‚Der Aufbau der Atomkerne, natürliche und künstliche Kernumwandlungen’

wurde 1935 veröffentlicht (vgl. Meitner & Delbrück, 1935).

Um sie zu schützen, schlugen Forscherkollegen sie 1936 abermals für einen Nobelpreis vor.

Leider ohne Erfolg. Im März 1938 durch den ‚Anschluss‘ Österreichs wurde Lise Meitner plötzlich

zur ‚Deutschen’. Als Jüdin war ihr Leben bedroht (vgl. Klima, 2019, S. 13; Vogt, 1997, S. 211).

Viele ihrer Kollegen und Freunde schickten Einladungen zu wissenschaftlichen Veranstaltungen,

93

die ihr einen unverdächtigen Grund für die Ausreise bieten sollten und bemühten sich vergebens,

sie zur Emigration zu bewegen. Erst im Mai, nachdem die Lage für sie immer prekärer wurde und

ihr keine andere Wahl mehr blieb, fasste sie den Entschluss, das Land zu verlassen. Da ihr

österreichischer Reisepass durch den ‚Anschluss’ wertlos geworden war, verweigerte ihr

Dänemark die Einreise (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 119 f; Sime, 2001, S. 240 f und 244 f).

Die Situation spitzte sich zu. Sie war Teil der wissenschaftlichen Elite und konnte nicht glauben,

dass es in Berlin keine Zukunft für sie gab. Rückblickend bereute sie, Deutschland nicht früher

verlassen zu haben. Mehrere Kollegen und Freunde planten ihre Ausreise, allen voran Coster.

Zudem waren Hahn, Laue, Bohr, Fokker, Rosbaud und Debye involviert. Damit niemand Verdacht

schöpfte, arbeitete Meitner am 12. Juli noch bis acht Uhr abends am KWI (vgl. Rennert & Traxler,

2018, S. 124–129; Sime, 2001, S. 250–261). Danach hatte die 60-jährige neunzig Minuten Zeit,

um ihren Koffer zu packen und zu fliehen. Otto Hahn gab Lise den Brillantring seiner verstorbenen

Mutter für Notfälle mit. Freunde und Kollegen halfen ihr bei ihrer Flucht über die Niederlande und

Dänemark, wo sie bei Coster Unterschlupf fand und auf das Einreisevisum nach Schweden

wartete (vgl. Klima, 2019, S. 13; Rennert & Traxler, 2018, S. 124–126; Rife, 1990, S. 249; Vogt,

1997, S. 211). Ende Juli erhielt Meitner das Einreisevisum nach Schweden. Mithilfe ihrer Freunde

und Kollegen bekam sie am Nobelinstitut für Physik in Stockholm ab Herbst eine Stelle bei Manne

Siegbahn (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 129; Sime, 2001, S. 265).

Doch Lise, nun Emigrantin, erhielt bis 1946 nur untergeordnete Stellungen und wurde so

ungerechtfertigterweise zur Mitarbeiterin Otto Hahns degradiert. In einem Brief an ihren Freund

Hahn protestierte sie gegen diese Degradierung. Nachdem sie 21 Jahre das Institut geleitet hatte,

war sie nun bloß Mitarbeiterin eines Kollegen. Es war nicht fair, dass man ihr ihre

wissenschaftliche Vergangenheit nahm (vgl. Vogt, 1997, S. 211). Sie litt schwer darunter, von den

ihr so wichtigen Forschungen abgeschnitten zu sein (vgl. Klima, 2019, S. 13). Auch ihr Neffe Otto

Robert Frisch hatte schon Jahre zuvor seine Koffer gepackt und arbeitete ab 1934 in Kopenhagen

bei Nils Bohr (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 100 f). Doch Lise war auch um ihre Geschwister

besorgt, von denen drei Schwestern noch mit ihren Ehemännern in Wien waren. Eine Schwester

und ein Bruder verließen Österreich Anfang und Mitte 1938 (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 133

f). Auch die Arbeit am Nobelinstitut für Physik konnte sie nicht großartig ablenken. Sie war

enttäuscht über die Forschungsbedingungen, die unvergleichlich schlechter als in Berlin waren.

Es gab kaum Apparate oder Literatur und Lise erhielt lediglich ein Durchgangszimmer. Hahn

schickte ihr regelmäßig die neuesten Ergebnisse ihrer Forschung, die er mit Straßmann indes

weiterführte. Dringender als je zuvor hätte sie die erfüllende Arbeit gebraucht. Für sie war es nur

schwer erträglich, so fern vom wissenschaftlichen Geschehen zu sein. Auch Meitners Sozialleben

war zu Anfang gehemmt, nicht aufgrund ihrer Schüchternheit, sondern aufgrund der sprachlichen

Barriere. Mit dem Theoretiker und Physiker Oskar Klein und dessen Frau Gerda konnte sie im

Laufe der Zeit eine enge Freundschaft aufbauen. Anlässlich Lises sechzigstem Geburtstag

94

organisierte ihr Neffe Otto Robert Frisch mit dem Ehepaar Klein einen Geburtstagstee mit

Bekannten, worüber sich Lise, obwohl sie nicht feiern wollte, dennoch freute. Glückwünsche aus

aller Welt trafen ein (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 137–139).

In einem Brief vom Dezember 1938 berichtet Hahn über die unverständlichen Ergebnisse eines

Experiments. Besorgt über die Resultate diskutierte Lise diese mit ihrem Neffen bei einem

Spaziergang. Da kam ihr plötzlich Einsteins Energieformel von 1905 in den Sinn, wodurch sie die

Erklärung für das Experiment und dessen Ausgang hatte. Sie berichtet Hahn über den

wissenschaftlichen Durchbruch, der jedoch ihre komplette Arbeit der letzten Jahre in Berlin zu den

Transuranen zunichtemachte. Während der Veröffentlichung kam es zwischen Hahn und Meitner

zu Missverständnissen, die sich als Schatten über ihre Freundschaft legten. Der Atomphysiker

Frisch unterbreitete Meitners Hypothese, dass die ‚verlorengegangene’ Masse bei der

Uranspaltung die freigesetzte Energie sei, seinem Professor Niels Bohr in Kopenhagen. Frisch

bestätigte die Annahme von Lise experimentell. In der am 18. Februar 1939 in der Zeitschrift

‚Nature’ publizierten Arbeit von Meitner und Frisch verwendeten sie den Terminus Kernspaltung,

der auf Frisch zurückgeht. Mit den Folgen dieser Erkenntnis haderte Lise später. Frisch nahm

dieses neue Forschungsergebnis mit nach Amerika, das vielen Menschen zum Verhängnis wurde.

Otto Robert Frisch war unmittelbar am Bau der Atombombe beteiligt, während seine Tante Lise

es ausgeschlagen hatte, beim Bau der Bomben, die im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki

abgeworfen wurden, mitzuarbeiten. Trotzdem erreichte Lise Meitner in Amerika und der ganzen

Welt einen hohen Bekanntheitsgrad, aber auch den zweifelhaften Ruf als ‚Mutter der Atombombe’.

Für den Rest ihres Lebens bedauerte sie ihren theoretischen Beitrag zur Vernichtung

hunderttausender Menschen und hoffte auf eine friedliche Nutzung der Atomenergie (vgl. Frisch,

1939; Klima, 2019, S. 14; Meitner & Frisch, 1939; Rennert & Traxler, 2018, S. 143–154 und 166;

Rife, 1990, S. 267–276 und 319). 1944 bekam Otto Hahn den Nobelpreis für Chemie "for his

discovery of the fission of heavy nuclei" (NobelPrize.org, 2020c).

Im Frühjahr 1939 konnte Lise aufatmen. Alle nahen Familienmitglieder waren der Bedrohung

durch die Nationalsozialisten in Deutschland entkommen. Ihre Schwester Gusti und deren

Ehemann Jutz, die Eltern von Otto Robert Frisch, erhielten gültige Papiere für die Einreise nach

Schweden. Sie zogen gemeinsam mit Lise in eine geräumige Wohnung. Im Mai erhielt Lise

schließlich einen Großteil ihres Eigentums, der von den Behörden in Deutschland zur Ausfuhr

freigegeben wurde. Dennoch war die Enttäuschung groß, da trotz der Bemühungen von

Schiemann und Hahn etliche Gegenstände entweder beschädigt waren oder gar fehlten (vgl.

Rennert & Traxler, 2018, S. 158 f). Der Herbst 1939 brachte mit dem Beginn des zweiten

Weltkriegs abermals Sorgen für Lise und ihre Geschwister. Meitner wurde immer öfter persönlich

um Hilfe gebeten. Sie fungierte als Verbindungsperson und half direkt bei der Rettung von

95

Menschenleben. Lichtblicke boten ihr 1943 die Besuche von Max von der Laue und Otto Hahn im

Zuge von Vortragsreisen nach Schweden (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 162 f).

Im Wintersemester 1945/46 folgte sie freudig einer Einladung des österreichischen Physikers Karl

Herzfeld, vermittelt durch ihren Schwager Rudolf Allers, der sie als Gastprofessorin an die

katholische Universität von Washington D. C. einlud. Abgesehen davon hielt sie in den sechs

Monaten in Amerika auch an vielen anderen Universitäten Vorlesungen, darunter Harvard,

Princeton und dem MIT. Dadurch hatte sie die Gelegenheit, Freundinnen und Freunde sowie

Verwandte wieder zu treffen, die sie teilweise seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte. Im Zuge

dessen ernannte sie der Women’s National Press Club zur ‚Woman of the Year’. Eine Hollywood-

Verfilmung über ihr Leben lehnte sie voller Entsetzen ab. Eine Einladung von Präsident Truman

zum feierlichen Bankett im Weißen Haus nahm sie gerne an. Während ihres Aufenthalts in

Amerika beschloss sie, die schwedische Staatsbürgerschaft zu beantragen, da sie festgestellt

hatte, dass das Leben in Schweden durchaus positive Aspekte bot, unter anderem die vielen

Freundschaften (vgl. Klima, 2019, S. 14; Rennert & Traxler, 2018, S. 179; Rife, 1990, S. 319–

324).

Auch sieben Jahre nach ihrer Flucht strebte sie Anerkennung und eine angemessene Stellung an.

Dadurch stellte die international renommierte Kernphysikerin eine Bedrohung für ihren

Vorgesetzten Siegbahn dar. Es gelang ihr, in Schweden ein neues Netzwerk aufzubauen, zu dem

Wissenschaftler wie Klein und Pettersson gehörten, die Siegbahns Dominanz in Schweden

kritisierten. Bohr und Klein bemühten sich, Meitners Beitrag zur Entdeckung der Kernspaltung

offen zu legen. Meitner wurde wieder etliche Male für den Nobelpreis nominiert, jedoch ohne

Erfolg. Siegbahn war bis 1957 Vorsitzender des Nobelkomitees für Physik und wollte vermutlich

den kometenhaften Aufstieg Meitners durch einen Nobelpreis verhindern. 1947 bekam Meitner

eine kleine Forschungseinheit für Kernphysik an der Königlich Technischen Hochschule

Stockholm und konnte so die belastenden Jahre unter Siegbahn hinter sich lassen (vgl. Rennert

& Traxler, 2018, S. 179–183; Sime, 2001, S. 372 und 448). Ende 1947 hatte Meitner die

Möglichkeit die Leitung des Max-Planck-Instituts für Chemie zu übernehmen, lehnte das Angebot

von Straßmann jedoch aufgrund ihrer Bedenken gegenüber der geistigen Mentalität in

Deutschland ab (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 185). In Deutschland wollte sie nicht mehr

arbeiten, akzeptierte aber den Verdienstorden der Bundesrepublik (vgl. Klima, 2019, S. 14).

Nach dem Krieg wurden ihr in Österreich und Deutschland viele Auszeichnungen und Ehrungen

zu Teil: 1949 erhielt sie, gemeinsam mit Hahn, die Max-Planck-Medaille und 1955 war sie die

erste Frau, die den Otto-Hahn-Preis überreicht bekam. Es folgten 1960 die Wilhelm-Exner-

Medaille und zwei Jahre darauf Dorothea-Schlözer-Medaille der Stadt Göttingen (Sime, 2001, S.

473). Über die Ernennung zum auswärtigen Mitglied der Royal Society in London 1951 freute sich

96

Meitner sehr. In Österreich erhält sie 1947 den Preis der Stadt Wien für Kunst, Wissenschaft und

Volksbildung sowie mehrere Ehrendoktorate und wurde Mitglied etlicher Gelehrtengesellschaften,

unter anderem wurde sie 1948 als erste Frau korrespondierendes Mitglied der Akademie der

Wissenschaften. Jedoch setzte sich niemand dafür ein, die Strahlenforscherin zum Heimkehren

zu bewegen. Als sie 1963 für einen Vortrag eingeladen wurde, dufte sie diesen nicht einmal an

der Universität halten, sondern lediglich in einem Volksbildungshaus. Dennoch hielt sie an ihrer

österreichischen Staatsbürgerschaft fest und nahm die schwedische Staatsbürgerschaft nach

mehrfachen Angeboten erst 1950 an, als gewiss war, dass sie beide Staatsangehörigkeiten haben

konnte. Der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky, mit dem sie regelmäßig und herzlich in Kontakt

stand, war ihr dabei behilflich (vgl. Klima, 2019, S. 14; Rennert & Traxler, 2018, S. 186; Sime,

2001, S. 473). Bruno Kreisky förderte und würdigte Frauen. Mit ihm als Bundeskanzler erhöhte

sich die Zahl der Frauen in der Regierung und es begann, entgegen dem Trend dieser Zeit, die

Institutionalisierung der Frauenpolitik in Österreich (vgl. Steininger, 2000, S. 149 f).

Nachdem klar war, dass ihr von der Max-Planck-Gesellschaft ein Anrecht auf Pensionsbezüge

zugestanden wurde, löste sie ihre Kernphysikabteilung an der Königlich Technischen Hochschule

Stockholm auf und bezog ein ‚Altersstüberl’ am Institut von Sigvard Eklund (vgl. Meitner, 1964, S.

7; Rennert & Traxler, 2018, S. 186 f; Sime, 2001, S. 467). Nach ihrem Ruhestand im Jahr 1953

besuchte sie weiterhin Vorlesungen und Seminare und betreute Studenten und Doktoranden (vgl.

Rife, 1990, S. 329). Mit zunehmendem Alter reiste Lise immer öfter nach London zu ihrer Familie,

bis sie schließlich im Jahr 1960 dorthin umzog. Ihr Bruder Walter, dessen Frau, Lises Neffe Otto

Robert Frisch, dessen Frau und Kinder hatten sie dazu überredet. Neben der Physik verbrachte

Lise viel Zeit mit Auslandsreisen und Wanderungen. 1963 war sie das letzte Mal in Wien, wo sie

im Saal der Wiener Urania, einen Vortrag, der später publiziert wurde, über ihr Leben hielt. Das

große Interesse der Zuhörer rührte sie sehr. Der Gesundheitszustand von Lise verschlechterte

sich zunehmend. Die jahrzehntelange Kettenraucherin verbrachte Anfang 1965 nach einem

Herzinfarkt eine Woche in einem Sanatorium in Cambridge. Zwei große Ehrungen wurden ihr zu

Lebzeiten noch zu Teil. 1966 erhielt sie gemeinsam mit Otto Hahn und Fritz Straßmann den

renommierten Enrico-Fermi-Preis der US-Atomenergiekommission. Ihre Freude darüber war

durch die Folgen der Atombombe etwas getrübt. Als erste Frau erhielt sie 1967 die höchste

Auszeichnung für wissenschaftliche Leistungen der Republik Österreich: das Ehrenzeichen für

Wissenschaft und Kunst (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 192–194).

Die bescheidene und geniale Forscherin verbrachte ihre letzten Tage in Cambridge (vgl. Klima,

2019, S. 14). Kurz vor ihrem 90. Geburtstag, wenige Wochen nachdem Otto Hahn verstorben war,

was Lise jedoch nicht mehr erfahren hatte, verstarb auch sie am 27. Oktober 1968 (vgl. Klima,

2019, S. 14; Rennert & Traxler, 2018, S. 192–194; Rife, 1990, S. 330 f). Eine Inschrift auf ihrem

97

Grabstein, den ihr Neffe ausgewählt hat, hebt ihre Menschlichkeit hervor: „A physicist who never

lost her humanity” (Klima, 2019, S. 14; Sime, 2001, S. 493).

3.7.1.6. Gudrun Ensslin

Im März 1968 übergab Gudrun Sohn Felix in Vespers Obhut und machte sich mit Baader und

Thorwald Proll, einem 27-jährigen Kunststudenten und Kommune-1-Sympathisanten, auf den

Weg nach München. Trotz der kurzen Bekanntschaft vertrauten sie sich und schmiedeten Pläne

für eine gemeinsame Aktion. Ein Kommunenleben wäre nichts für Gudrun. Sie brauchte eine

ernsthafte Beziehung und Leidenschaft. Indes kämpfte Vesper vergeblich um Gudrun. Sie ließ ihn

nicht mehr an sich ran. Sie blickte nach vorne in eine Zukunft mit neuen Regeln und einer neuen

Gesellschaft. In München angekommen, besuchten sie das Action Theater, da Baader den Leiter

Horst Söhnlein kannte. Dieser schloss sich der Gruppe an. Nachdem sie einige Tage in

Oberbayern verbracht und dort ihre Zeit miteinander genossen hatten, machten sie sich auf den

Weg nach Frankfurt. Am Weg stoppten sie in Cannstatt bei Gudruns Eltern, die später erzählten,

dass sie keinen Verdacht geschöpft hätten (vgl. Gleichauf, 2017, S. 142–149).

In Frankfurt angekommen, übernachteten sie bei einer Freundin Prolls. In Frankfurt setzten sie

ihren Plan um. Am 2. April 1968 explodierten im dritten Stock eines Kaufhauses zwei Brandsätze

und wenige Minuten darauf loderte zwei Stockwerke darunter ein weiteres Feuer. Wieder einige

Minuten später brannte es auch im Kaufhof, zuerst in der Bettenabteilung und dann in der

Spielzeugabteilung. Der Deutschen Presseagentur gegenüber erklärte eine weibliche Stimme,

dass diese Brandstiftungen ein politischer Racheakt seien. Ein vertraulicher Hinweis am 4. April

führte zu der raschen Verhaftung der vier Verdächtigen. Im Auto von Gudrun fand man die

restlichen Teile des Materials, die für die Brandsätze benutzt wurden. Mehrere Zeugen

bestätigten, das junge Paar am 2. April im Kaufhaus gesehen zu haben. Sie fielen den Zeugen

aufgrund ihrer Anti-Haltung auf, weil sie sich nicht wie die Menschen, die in den Warenhäusern

einkauften, kleideten. Die Kolumnistin der Zeitschrift ‚konkret’ Ulrike Meinhof, berichtete zeitnah

über die Brandstiftung. Sie sah die Brandstiftung nicht als revolutionär. Immerhin profitierten die

Konsumgüterproduzenten von der Vernichtung ihrer Produkte. Die Versicherung bezahlte diese

und so wurde die Produktion abermals angekurbelt. Meinhof nannte es eine systemerhaltende

Tat (vgl. Gleichauf, 2017, S. 149–157). Nach Gleichauf (2017) „bewegt[e] sie sich bereits auf die

Gruppe um Baader und Ensslin zu, indem sie theoretisch zu legitimieren sucht[e], dass es

womöglich der gesetzesbrecherischen Tat bedarf, um ein Bewusstsein für Unrecht in der

Gesellschaft zu schaffen“ (S. 157).

Am 6. April schrieb die in der Frauenhaftanstalt Frankfurt-Preungesheim untergebrachte Gudrun

einen Brief an Vesper und erkundigte sich nach dem gemeinsamen Sohn Felix. Sie wollte diesen

gerne bei ihrer Cousine untergebracht wissen, welche aber ablehnte. Außerdem bat Gudrun

98

Vesper um Besorgungen: Zigaretten und Feuerzeug, Schokolade, Zeitungen und Bücher. Eine

Woche später schrieb sie erneut einen Brief und bat wieder um Besorgungen. Es findet sich nichts

über das Attentat auf Rudi Dutschke in diesem Brief, obwohl er doch der Patenonkel von Felix

war. Während des Prozesses besuchte Meinhof die Angeklagte Ensslin. Man weiß leider nicht,

wie das Gespräch der beiden abgelaufen ist, alles was darüber kursiert ist Hörensagen. Erneut

bat sie Vesper um ‚kluge’ Literatur, da sie sich manchmal leer und hohl fühle. Der Job in der

Gefängnisnäherei reiche für ihr Hirn nicht. Sie schrieb über ihre planenden und abwägenden

Gedankengänge. Vor allem über die Situation ihres Sohnes machte sie sich Sorgen. Neben

Büchern und Zeitschriften ersuchte sie Vesper auch um Kosmetika. Aus den Briefen an Vesper

erkennt man, dass die Untersuchungshaft für sie ein gewaltiger innerer Kampf war (vgl. Gleichauf,

2017, S. 158–159 und 163–169).

Während der Untersuchungshaft legte keiner der vier Angeklagten ein Geständnis ab. Nach sechs

Monaten begann der Prozess. Gudrun wahrte als einzige die Form des Prozesses, während ihre

Mitangeklagten sich selbst inszenierten und herumalberten. Am dritten Prozesstag legte Gudrun

ein Geständnis ab und sagte, dass Proll und Söhnlein nichts von der Brandlegung im Kaufhaus

wussten. Die Anklage auf ‚Versuchte menschengefährdende Brandstiftung’ sei nicht richtig, denn

man habe keine Menschen gefährden, sondern lediglich auf den Völkermord in Vietnam

aufmerksam machen wollen. Im Zuge des Prozesses legten auch die anderen Angeklagten

Teilgeständnisse ab. Die Kaufhof-Brandstiftung konnte ihnen nicht nachgewiesen werden. Am 31.

Oktober wurden alle vier Angeklagten wegen versuchter menschengefährdender Brandstiftung zu

jeweils drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Bis zur Entscheidung der beantragten Revision mussten

die Angeklagten wegen Fluchtgefahr wieder ins Gefängnis. Die Zeit des Bandstifterprozesses

zeigte, dass Ensslin diszipliniert und hart daran arbeitete ihre Gedanken handlungsorientiert

umzusetzen. Das Schlusswort verweigerte Gudrun, da sie dem Gericht nicht die Gelegenheit

geben wollte, so zu tun, als würde es ihr zuhören. Erst in der Panorama-Sendung vom 11.

November äußerte sie sich ausführlich und ermöglichte einen Eindruck in ihr politisches Weltbild.

In ihren Schlussworten betonte sie, dass die Tat, wie sie geschehen war, ein Irrtum gewesen war.

Aber sie hätte eben etwas aufzeigen wollen. Eine Freundin aus der Schulzeit besuchte Gudrun

einmal im Gefängnis. Es blieb bei diesem einen Mal, da Gudrun ihr nach diesem Treffen schrieb,

nicht mehr wiederzukommen, da sie nur mit Menschen kommunizieren möchte, die ihre

Gesinnung teilten. Man kann zweifelsfrei feststellen, dass Gudrun mit ihrer Vergangenheit

abschloss. Sie kämpfte mit Schuldgefühlen sowohl Felix gegenüber, als auch Vesper. Sie

beschäftigte sich mit sich selbst und ihren Gedanken und las sehr viel. Im Briefwechsel mit Vesper

erkennt man ihre zunehmende Abgrenzung zu denen ‚draußen‘ (vgl. Gleichauf, 2017, S. 172–

184).

99

Die Art, wie die Briefe an Vesper und Baader verfasst sind, zeigt ihre doppelgesichtige Existenz.

Im Juni 1969 feierten die vier Angeklagten ihre Entlassung aus der Haftanstalt, da die Fluchtgefahr

mittlerweile als gering geschätzt wurde (vgl. Gleichauf, 2017, S. 188 f). Die vier engagierten sich

ab der Entlassung in der Staffelberg-Kampagne zur Verbesserung der Lebenssituation von

Heimzöglingen. Sie sahen sich jedoch nicht als Sozialarbeiter. Es ging vielmehr darum ein

revolutionäres ‚wir’ aufzubauen (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 188; Gleichauf, 2017, S. 191 und 193).

Als die Revision im November als unbegründet zurückgewiesen wurde und die vier Angeklagten

aufgrund der Rechtskräftigkeit des Urteils zurück in Haft mussten, flohen Baader, Proll und Ensslin

nach Paris (vgl. Gleichauf, 2017, S. 195 und 199). Gudrun hatte bereits im März einen Vertrag mit

einem Verlag unterschrieben und plante, an ihrem Buch über die Erfahrungen aus der Haftzeit zu

schreiben. Doch Andreas Tatendurst stand dem gegenüber. Astrid Proll, Thorwalds Schwester,

schloss sich den dreien an. Paris war eine Zeit der Vergnügungen und des Konsumierens, das

sie eigentlich anprangerten. Thorwald Proll verließ das Quartett, da er sich durch seine Schwester

ersetzt fühlte. Astrid brachte neben Geld auch gefälschte Pässe mit und so begab sich die Gruppe

im Dezember nach Rom, wo sie bei Freunden unterkam. Baaders Anwalt Horst Mahler stieß zu

der Gruppe und erzählte von seinen Ideen: der Gründung einer Untergrundorganisation in Berlin.

Die Ideen fielen auf fruchtbaren Boden und so fuhr Mahler zurück nach Berlin und bereitete die

Rückkehr des Trios vor. Dieses blieb noch eine Weile in Rom und reiste dann ganz in den Süden

(vgl. Gleichauf, 2017, S. 199–204).

Im Februar erfuhren sie, dass das Gnadengesuch abgelehnt worden war. Das Trio begab sich auf

die Heimreise, Astrid Proll nach Frankfurt und Baader und Ensslin trotz des Risikos nach Berlin,

wo ihnen Ulrike Meinhof vorerst Unterschlupf gewährte. Dort besuchte sie auch Horst Mahler, der

eine Wohnung für sie angemietet hatte, in die sie dann umzogen. Am 4. April 1970 wurde Andreas

verhaftet, nachdem er bei einer Polizeikontrolle nicht wiedergeben konnte, was in seinem

gefälschten Ausweis stand. Der wieder inhaftierte Andreas wurde damit zur Hauptfigur der

Gruppe. Sie planten seine Befreiung und fingierten ein Buchprojekt, für das Ulrike Meinhof und

auch Ensslin, verkleidet als Dr. Gretel Weitemeier, ihn mehrmals im Gefängnis besuchten.

Meinhof erwirkte einen einmaligen Freigang Baaders in das deutsche Zentralinstitut. Dort, am 14.

Mai 1970, erfolgte die Befreiungsaktion Baaders. Ab diesem Zeitpunkt konnte sich Ulrike Meinhof

nicht mehr frei bewegen. Die Rote-Armee-Fraktion war geboren. Ein versehentlich abgegebener

Schuss, der fast einem Menschen das Leben kostete, bewirkte die quasi Selbstisolation der

Gruppe, da die linke Szene insgesamt auf Abstand ging (vgl. Gleichauf, 2017, S. 205–211).

Im darauffolgenden Monat flog das Trio nach Jordanien in ein palästinensisches Militärlager. Dort

trafen sie Horst Mahler und mehrere Personen aus dem Umkreis der RAF. Was tatsächlich in

Jordanien geschah, weiß niemand genau. Bekannt ist jedoch, dass sich Gudrun zu

Guerillakämpferin ausbilden ließ (vgl. Gleichauf, 2017, S. 216 und 219). Im August kehrte die

100

Gruppe wieder zurück nach Berlin. In der Öffentlichkeit veränderten die Mitglieder der Gruppe

immer wieder ihr Äußeres. In der Literatur zur Aktion Dreierschlag, es handelte sich um

Banküberfälle, tauchte Ensslins Name so gut wie nicht auf. Sie schien unsichtbar und merkwürdig

stumm geworden zu sein. Meinhof hingegen blieb auch im Untergrund sichtbar und fassbar,

weshalb sich in der Öffentlichkeit der Name Baader-Meinhof-Gruppe etablierte. Die Gruppe

Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe zog Mitte Dezember nach Stuttgart und dann Anfang 1971

nach Heidelberg um, nachdem in Berlin einige Genossen nach dem Dreierschlag festgenommen

worden waren. In Heidelberg planten und setzten sie zwei neue Banküberfälle um und

veröffentlichten im April einen Text in dem die Ziele der Gruppe bekannt gegeben wurden (vgl.

Gleichauf, 2017, S. 223–230). Ulrike Meinhof war das Sprachrohr und die Vermittlerin der Theorie

der Gruppe. Baader war die Energiemaschine und die fast unsichtbare Ensslin verwaltete im

Hintergrund die Finanzen und wirkte ausgleichend und harmonisierend innerhalb der Gruppe (vgl.

Gleichauf, 2017, S. 233). Im Sommer 1971 eskalierte der Kampf zwischen RAF und Staat,

nachdem ein RAF Mitglied und zwei Polizisten ums Leben gekommen waren. Wo Gudrun steckte

und wie sie auf diese Eskalation reagierte, ist unbekannt (vgl. Gleichauf, 2017, S. 236). Gleichauf

(2017) fasst dies ziemlich gut zusammen: „In diesen Jahren von 1970 bis zur Gefangennahme im

Juni 1972 über Gudrun Ensslin schreiben heißt über die RAF schreiben“ (S. 239).

Die Entscheidungsprozesse innerhalb der Gruppe waren nicht durchschaubar. In der Mai-

Offensive 1972 explodierten drei Bomben im Frankfurter Hauptquartier des V. Armee-Corps,

einen Tag darauf zwei weitere in der Augsburger Polizeidirektion und eine auf einem Parkplatz

des Landeskriminalamts in München. Drei Tage später explodierte ein Sprengsatz unter dem

Beifahrersitz des Autos von Gerta Buddenberg, der Frau von Bundesrichter Wolfgang

Buddenberg. Ganz zufällig ließ sich dieser an jenem Tag nicht von seiner Frau chauffieren. Sie

selbst konnte sich schwer verletzt aus dem Auto retten. Weitere vier Tage danach, am 19. Mai,

explodierte im Axel-Springer-Verlag in Hamburg eine Bombe. In der Erklärung vom 20. Mai

wurden die Gründe für die Anschläge erläutert, federführend dürfte Meinhof gewesen sein. Vier

Tage danach gingen zwei Autobomben am Europa-Hauptquartier der US-Armee in Heidelberg

hoch. Die Erklärung dafür folgte am Tag danach. Am 1. Juni wurden Baader, Meins und Raspe

nach einer wilden Schießerei verhaftet. Acht Tage vor der Verhaftung Meinhofs, wurde Gudrun

am 7. Juni in einer Boutique in Hamburg festgenommen. Die Ladenbesitzerin wollte Gudruns

Jacke auf die Seite legen und vermutete eine Pistole darin, weswegen sie die Polizei verständigte.

Diese Unvorsichtigkeit war untypisch für Gudrun. Das Foto der Festnahme zeigt eine Frau mit

erloschenen Augen (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 191 f; Gleichauf, 2017, S. 244–250).

Die Mitglieder der Baader Meinhof Gruppe wurden in unterschiedlichen Gefängnissen

untergebracht. Zur Unterbindung eines Ausbruchs oder einer Befreiungsbefreiungsaktion gab es

besondere Regelungen. Nachdem sich ihr Leben in den Jahren zuvor immer mehr um das

101

Handeln drehte, war Ensslin nun komplett handlungsunfähig. Das Subjekt Gudrun, welches im

Subjekt RAF aufgegangen und zu einem ‚Wir’ geworden war, durfte nur von ihren

Familienangehörigen besucht werden. Allerdings war dies eine Verbindung, die sie lange schon

abgebrochen hatte (vgl. Gleichauf, 2017, S. 255 f). Mit diesem Kontaktminimum wollten die

Behörden den Bruch der RAF-Gefangenen mit der eigenen Vergangenheit rückgängig machen

(vgl. Ensslin et al., 2005, S. 7).

Mit ihrer Schwester Christiane sprach Gudrun kontrovers und erregt über Politik (vgl. Gleichauf,

2017, S. 257). Zudem wechselten sich die Themen in ihren Briefen zwischen Privatem,

Intellektuellem und Analyse. Sie wünschte sich Kosmetikartikel und Bücher, wie auch in ihrer Haft

zuvor (vgl. Gleichauf, 2017, S. 262). Für ihre Eltern hatte Gudrun kein einziges, freundliches Wort

übrig (vgl. Gleichauf, 2017, S. 275). Diese Briefe sind der Beweis dafür, dass Gudrun sowohl mit

sich selbst und auch mit der Gesellschaft hart am Ringen war (vgl. Gleichauf, 2017, S. 264). Ihre

Haft erlebte sie als grausam und eine Form der Folter (vgl. Gleichauf, 2017, S. 257). Über ihre

Anwälte kommunizierten die Gefangenen ab Anfang 1973 miteinander und bauten ein

Kommunikationssystem namens ‚Info‘ auf. Es diente dem internen Zusammenhalt der RAF und

der Solidarität unter den Gefangenen. Gudrun versuchte sich in verschiedenen Textsorten und

fühlte sich ganz zu Hause, denn das Schreiben war ihr immer ein vertrautes Medium. Sie prägte

die Linie des ‚Info‘ entscheidend und konnte in dieser Hinsicht als Kopf der RAF bezeichnet

werden. Die öffentlichen Texte schrieb nach wie vor Meinhof. Sie organisierten mehrere

Hungerstreiks und verlangten die Gleichstellung der politischen Gefangenen mit allen anderen

Gefangenen. In der Einzelhaft kam Ensslins „Zukunftsvision, die Schaffung eines »neuen«

Menschen und einer neuen Welt“ (Gleichauf, 2017, S. 269), ihr eigenes Denken nun geprägt durch

die Erfahrung der Handlungsfähigkeit eines Kollektivs, wieder zum Vorschein (vgl. Gleichauf,

2017, S. 265–269).

Von Februar bis April 1974 war Gudrun im selben ‚Toten Trakt’ der Frauenpsychiatrie wie Ulrike

und durfte diese täglich 2 Stunden sehen (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 196; Gleichauf, 2017, S.

272). Die zwei Jahre, die sie nun schon in Haft war, wirkten sich merklich auf ihren Körper und

Geist aus. Sie verlor den Bezug zur Welt und entwickelte eine Theoriefeindlichkeit. Sie kämpfte

mit dem Problem, mit dem Geist nicht völlig in eine Leere abzudriften. Sie schaffte es, in dem sie

sich dem Zweck der Weltveränderung unterwarf. Ihre Rolle als Frau reflektierte sie wenig. Und

obwohl sie im Denken und Sprechen eigenständig blieb, brauchte sie den Mann als Motor für ihr

Handeln (vgl. Gleichauf, 2017, S. 272 und 275). Ein Vollzugsbeamter beschrieb sie als häufig

verlegen und manchmal unsicher. Ende April 1974 wurden die RAF-Angeklagten in ein neues

Gefängnis gebracht. Ulrike und Gudrun durften täglich 4 Stunden miteinander verbringen, jedoch

wurde der Kontakt zu anderen Gefangenen unterbunden. Im September desselben Jahres wurde

der erneute Hungerstreik bei Gudrun durch eine Zwangsernährung gestoppt. Sie leistete keinen

102

Widerstand, was ihren geschwächten Zustand, sowohl gesundheitlich als auch mental, beweist.

Im Oktober 1974 erhob der Generalbundesanwalt offiziell Anklage gegen die inhaftierten RAF

Mitglieder (vgl. Gleichauf, 2017, S. 284–286).

Am 21. Mai 1975 begann der Prozess. Ein unabhängiges Gutachten und zwei Internisten kamen

zu dem Schluss, dass die Angeklagten nicht voll verhandlungsfähig seien und sowohl mit

Kreislauf- als auch Wahrnehmungs-, Konzentrations- und Artikulationsstörungen zu kämpfen

hätten. Gudruns zuvor im ‚Info‘ veröffentlichte Texte bestätigen dies zusätzlich, da ihre

Gedankensprünge den Text teilweise unverständlich machten. Aufgrund eines neuen Gesetzes

konnte der Prozess auch ohne die Angeklagten fortgeführt werden, wenn diese ihren Zustand

selbst herbeigeführt hatten – wovon die Richter hier überzeugt waren. Der Psychiater Professor

Rasch plädierte schon zu Beginn des Prozesses für eine Aussetzung desselben und für bessere

Haftbedingungen. Nach dem Selbstmord Ulrike Meinhofs betonte er in einem Interview Ende Mai

1976 wieder, dass bessere Haftbedingungen, darunter die Aufhebung der strengen Isolation, nötig

seien. Er beschrieb die Situation in Stammheim als selbstmordfördernd. Während des Prozesses

wurden mehrere Anschläge und Morde im Namen von RAF-Mitgliedern durchgeführt. Eines der

Opfer war der Generalbundesanwalt. In Abwesenheit der Angeklagten Baader, Raspe und Ensslin

wurden sie am 28. April 1977 in allen Punkten schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft

verurteilt. Im Anschluss an das Urteil wurden die Haftbedingungen verbessert bzw. die Isolation

verringert (vgl. Gleichauf, 2017, S. 291–313). Dennoch konnte Gudrun ihre Worte und Gedanken

nicht mehr in einen Zusammenhang und zur Sprache bringen. Ihr waren während der Zeit der

Inhaftierung die Worte ausgegangen. Von drinnen konnte sie die Welt draußen nicht verändern.

Im Laufe ihres Lebens wurde aus einem ‚Ich‘ immer mehr ein ‚Wir‘. Immer mehr verlor sie ihre

eigene Persönlichkeit. Am 18. Oktober 1977 erhängte sie sich in ihrer Zelle (vgl. Gleichauf, 2017,

S. 320). Am gleichen Tag erschoss sich Baader in seiner Zelle und auch Jan-Carl Raspe starb im

Krankenhaus an den Folgen einer Kopfschussverletzung (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 196).

3.7.2. Faktorenanalyse

Abermals zeigen die dargelegten Rahmenbedingungen des letzten Lebensabschnitts, dass das

soziale Kapital ein wesentlicher Faktor ist. Die Mentorinnen resp. Mentoren oder

Unterstützerinnen resp. Unterstützer wandelten sich jedoch im Verlauf der Zeit. Kam die

Unterstützung im zweiten behandelten Lebensabschnitt noch mehr von den Eltern, den

Lehrkräften sowie von den Professoren und Dozenten, waren es in diesem Abschnitt die Kollegen,

Vorgesetzten oder Freunde. Aufgrund der Darlegung der Fakten wird auf das geschlechtsneutrale

Schreiben hier bewusst verzichtet, da die Frauen soweit bekannt, mit einer Ausnahme, eigentlich

nur von Männern unterstützt wurden. Die Schüler/Schülerinnen-Lehrer/Lehrerinnen-Beziehungen

wurden durch Beziehungen auf Augenhöhe, gegenseitige Anerkennung und gegenseitigen

Respekt ersetzt. Die Personen, welche die Frauen unterstützten, offerierten ihnen durch das

103

bestehende Netzwerk oder die gegebenen fachlichen, rechtlichen und auch finanziellen

Bedingungen, unterschiedliche Möglichkeiten.

Maria Theresia baute bei ihren Vorhaben auf die Unterstützung der Grafen Haugwitz und Kaunitz-

Rietberg. Ihr Ehemann konnte ihr die Monarchie nicht streitig machen und versuchte dies auch

nie. Er begnügte sich mit der Verwaltung der Finanzen. Sämtliche große Entscheidungen traf sie

alleine, auch gegen seine Meinung. Im Gegensatz zu allen anderen Pionierinnen hatte die

Kaiserin auch in einer Frau, nämlich der Gräfin Karoline von Fuchs-Mollard, eine wichtige

Vertraute und Unterstützerin.

Olympe de Gouges hatte ihre freie Verbindung zu Jacques Biétrix de Roziére, die ihr eine

finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte und Louis Sébastian de Mercier, der ihr bei ihren Schriften

half. Rosa Kerschbaumer wurde von Professor Arlt unterstützt, der sie auch auf die Vorteile einer

Ehe mit Dr. Kerschbaumer hinwies. Dieser war wohl nicht ihre große Liebe, aber die Verbindung

brachte für beide Ehepartner Vorteile. Er hatte wenig berufliche Chancen und keine finanziellen

Mittel, aber ein anerkanntes Diplom. Sie hingegen hatte die finanziellen Mittel und die

fachspezifischen Kenntnisse, durfte aber mit ihrem Schweizer Diplom aufgrund der rechtlichen

Regelungen nicht in Österreich arbeiten. Die Gründung der Privatklinik war eine Win-Win-Situation

und ermöglichte Rosa die Erfüllung ihres Wunsches als Ärztin zu praktizieren.

Rosa Kerschbaumer und auch Cécile Vogt brauchten und benutzten ihre Ehemänner um arbeiten

zu können. Hätte Cécile Vogts Ehemann eine Universitätskarriere beschritten, hätte sie, quasi

unsichtbar, als privat mitarbeitende Ehefrau tätig sein können. Doch ihr Ehemann brachte die

finanziellen Mittel für eine eigene, gemeinsame Forschung auf. Er würdigte die Arbeit seiner Frau

und ließ keine Eifersucht aufkommen. Sie waren gleichberechtigte Partner und publizierten

Ergebnisse immer im Namen beider. Als er Direktor am KWI wurde, erhielt sie eine Anstellung als

Wissenschaftlerin, wurde Wissenschaftliches Mitglied der KWG, stellvertretende Institutsdirektorin

und Abteilungsleiterin. Positionen, die sie ohne ihren Ehemann oder einen anderen Unterstützer

zu diesem Zeitpunkt nicht erreichen hätte können. Bei Lise Meitner gab es keinen Mann oder

Partner, keine Liebesbeziehungen oder sonstige Affären. Es waren die Vorgesetzten und

Kollegen, allen voran Otto Hahn, die in ihrem Leben eine wichtige, sogar lebensrettende Rolle

einnahmen. Die Assistentenstelle bei Max Planck war ein wichtiger Schritt, wenn nicht sogar der

Beginn in Lises Karriere. Otto Hahn war ein Kollege, der von ihrer wissenschaftlichen

Zusammenarbeit profitierte und ihre Leistungen anerkannte, jedoch leider nicht immer öffentlich.

Nur dank ihres weitverzweigten Netzwerkes, dem die namhaftesten Wissenschaftler ihrer Zeit

angehörten, schaffte Lise die Flucht ins Exil und einen wissenschaftlichen Neubeginn.

104

Die Männer an der Seite von Gudrun Ensslin waren keine Unterstützung für sie. Der sprunghafte,

unzuverlässige und untreue Vesper faszinierte sie mit seinem literarischen Wissen, war ihr aber

sonst keine Stütze und kein Halt. Der unangepasste Baader, für den sie den Vater ihres Kindes

verließ, war mit seinem politischen Aktionismus wahrscheinlich die fehlende Komponente in ihrem

Weltbild. Sie lernte ihn zu einer Zeit kennen, in der sie mit der Gesellschaft zu hadern begann.

Ihre reflektierende und scharf analysierende Art wurde durch den Aktionismus zuerst ergänzt und

dann ersetzt. Andreas Tatendrang hielt die Doktorandin vom Schreiben und wahrscheinlich auch

vom Reflektieren und Analysieren ab. Erst später erkannte sie, dass ihre Taten ein Irrtum waren.

Doch nicht nur Baader, sondern auch der Rest der Gruppe nahmen Einfluss auf Gudruns weiteren

Werdegang. Ab der Geburt der RAF, war sie kein eigenständiges Subjekt mehr. Es gab nur mehr

das ‚Wir‘. Sie selbst wurde irgendwie unsichtbar und merkwürdig stumm. Ihre Familie hatte keinen

Einfluss mehr auf sie. Obwohl der Draht nach Hause am Anfang des Studiums noch gegeben war,

verringerte sich dies im Laufe der Zeit. Die Distanz zum Herkunftsmilieu wurde immer größer. Vor

den ersten terroristischen Taten war sie noch auf Besuch zu Hause. Die Eltern schöpften keinen

Verdacht. Als sie im Gefängnis saß, hatte sie die Verbindung nach Hause lange schon

abgebrochen. Einer Freundin aus der Schulzeit, die sie im Gefängnis besuchte, schrieb sie nicht

mehr wiederzukommen. Sie wollte nur mehr mit Menschen interagieren, die ihre Gesinnung

teilten. Für ihre Eltern hatte sie letztlich kein gutes Wort mehr übrig. Allem Anschein nach hatte

sie mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen und auch mit den Menschen ‚draußen’. Sie hatte sich

nicht nur in eine Abhängigkeit, sondern in eine Abwärtsspirale manövriert, die ihr letztlich den Titel

der ersten deutschen Terroristin brachte und die ihr das Leben kostete. Ihr Weg war zweifelsohne

ein gänzlich anderer, als jener der anderen Pionierinnen in dieser Analyse.

Es ist deutlich erkennbar, wie zentral das soziale Kapital für Karrieren ist. Dies wurde bereits in

den beiden vorherigen Abschnitten dargelegt. Vor allem in diesem Abschnitt wird aber klar, dass

es sich nicht auf Familie und Lehrpersonen beschränkt, sondern bedeutend umfassender ist. Jede

der Frauen erhielt eine beachtliche Unterstützung durch das aufgebaute Umfeld. Manchen wurde

sogar die ihnen zustehende Anerkennung zu Teil. Die Vogts publizierten immer als

gleichberechtigte Partner. Hingegen nahm Otto Hahn, ohne Lise Meitner und ohne sie in

irgendeiner Weise zu würdigen, den Nobelpreis für die gemeinsam gefundenen Ergebnisse

entgegen. Die jahrzehntelange Zusammenarbeit und Partnerschaft stießen an ihre Grenzen, als

es um die öffentliche Anerkennung der gemeinsamen Forschungsergebnisse ging. Ein Nobelpreis

blieb der Pionierin Meitner trotz vielfacher Nominierungen verwehrt. Man vermutet, dass Siegbahn

als Vorsitzender des Nobelkomitees für Physik dies verhindert hat. Möglicherweise fürchtete er

die Konkurrenz der bereits international renommierten Kernphysikerin Meitner, da der Nobelpreis

ihre wissenschaftliche Reputation weiter gesteigert hätte.

105

Bei Lise Meitner sieht man zudem die Auswirkungen von Makro-Faktoren und deren Folgen. Ohne

die Politik der Nationalsozialisten und den 2. Weltkrieg, wäre Lise Meitners Karriere anders

verlaufen. Aufgrund der zeitlichen, politischen und örtlichen Rahmenbedingungen, durch den

Anschluss Österreichs an Deutschland, half ihr auch ihre wissenschaftliche Reputation nicht mehr.

Die österreichische Jüdin verlor ihre Lehrberechtigung und durfte keine öffentlichen Vorträge mehr

halten. Nach der Flucht nach Stockholm wurde sie ungerechtfertigter Weise zur Mitarbeiterin

Hahns degradiert und musste ihre wissenschaftliche Karriere neu beginnen.

Auch das Forscherleben der Vogts erlitt massive Einschnitte durch die Nationalsozialisten.

Aufgrund der finanziellen Möglichkeiten, dem Zusammenhalt der Beiden und ihres guten

Netzwerks gelang es ihnen jedoch, das Institut zu verlassen und eine eigene Klinik zu gründen.

Wie in der Literatur beschrieben, nehmen solche politischen Ereignisse auf Karrieren und den

Lauf des Lebens vornehmlich Einfluss. Obwohl viele Frauen auch davon profitierten, war dies im

Falle unserer Pionierinnen zumindest nur teilweise gegeben. Während Cécile Vogt ihre

wissenschaftlichen Arbeiten in ihrer privaten Klinik fortführen konnte, musste Lise Meitner ihre

Karriere in einer ihr möglicherweise nicht gut gesinnten Umgebung (unter Siegbahn) neu

beginnen. Die politische vor allem aber antisemitische Situation brachte Gefahr und einen

Umbruch für ihr Leben sowie einen massiven Einschnitt für ihre Karriere.

Die außergewöhnlichen Eigenschaften der Pionierinnen halfen ihnen auch in diesem

Lebensabschnitt. Anpassungsfähigkeit und Ehrgeiz ließen sowohl Lise Meitner als auch Cécile

Vogt und Rosa Kerschbaumer die vorherrschenden Hürden überwinden. Obwohl einige

schüchtern oder unsicher waren, setzten sie sich dennoch gegen die Widrigkeiten durch. Wie

schon im vorherigen Abschnitt beschrieben passt die Eigenschaft ‚mutig‘ auf viele. Dies zeigte

sich auch in diesem Abschnitt wieder. Die Eigenschaften ‚Durchsetzungsfähigkeit‘ und

‚Willensstärke‘ heben sich auch hier wieder an vielen Stellen heraus.

Vor allem in diesem Teil des Lebens kann man erkennen, dass viele Frauen Abstriche zugunsten

ihrer Karriere machten. Sei es aufgrund der Unterordnung persönlicher Empfindungen oder

lediglich anderer Zielsetzungen, aber die Zeit für Familie und Kinder war beschränkt. Parallelen

lassen sich hier für fast alle Pionierinnen erkennen. Rosa Kerschbaumer und Gudrun Ensslin

gaben ihre Kinder in die Obhut anderer. Gudrun Ensslin hatte während ihrer Inhaftierung

Gewissensbisse, da sie ihren Sohn abgegeben hatte und nun nicht für ihn sorgen konnte. Sowohl

Gudrun Ensslin als auch Rosa Kerschbaumer waren im Studium und der späteren Karriere auf

Flexibilität angewiesen, wechselten öfter den Wohnsitz oder reisten viel. Nach ihrer Scheidung

war es Rosa Kerschbaumer möglich, ihre Wünsche umzusetzen, was auch die Bereitschaft mit

sich brachte, sich nicht regional niederzulassen oder in die Heimat zurück zu gehen. Bei Olympe

de Gouges ist dies nicht ganz geklärt, es wird aber vermutet, dass sich jemand anderer um ihren

106

Sohn gekümmert hatte. Maria Theresia plante die Zukunft ihrer Kinder wie keine andere. Ihre

Kinder fielen ihrer harten Heiratspolitik zum Opfer und wurden auch in andere Länder verheiratet,

um das Bestehen der Monarchie zu sichern. Lediglich Cécile Vogt kümmerte sich anscheinend

selbst um ihre Töchter, die wie sie angesehene Naturwissenschaftlerinnen wurden. Dies ist zwar

weder bestätigt noch widerlegt, jedoch hatte sie als einzige bis zu ihrem Tod ein gutes Verhältnis

zu ihren Kindern.

Ein weiterer Faktor, der in fast allen Biografien der Frauen vorkam, waren Frauenbewegungen.

Olympe de Gouge, die während der französischen Revolution ausdrücklich um Frauenrechte

kämpfte und den Zustand im Land anprangerte, war eine schillernde, jedoch unterschätzte Figur

der Frauenbewegung und eine echte Vordenkerin. Sie wurde nicht beeinflusst, sondern sie

beeinflusste die Bestrebungen der Frauen nach gleichen Rechten. Auch Rosa Kerschbaumer

beschäftigte sich mit aktuellen Diskussionen, die das Thema Gleichberechtigung und

Frauenstudium betrafen. Ihre Mitbewohnerinnen gehörten zu den ersten Vorkämpferinnen des

Frauenstudiums und ihr Nachhilfelehrer Erismann hielt sie über aktuelle Entwicklungen am

Laufenden, da Frauen viele Veranstaltungen und Lokalitäten nicht besuchen durften. Die

Wahlsalzburgerin beschäftigte sich intensiv mit aktuellen Debatten über die ‚Frauenfrage’ und

engagierte sich aktiv in einem Verein, in dem sie auch Vorträge hielt. Sie übernahm eine führende

Rolle in der Frauenemanzipationsbewegung, trat öffentlich für die gestellten Forderungen auf und

förderte junge Ärztinnen. Cécile Vogt bekannte sich ebenso öffentlich zu den Zielen der

bürgerlichen Frauenbewegung und legte dar, warum man Frauen zum damaligen Stand der

Hirnforschung von keinem Beruf ausschließen könne. Die Vordenkerin kämpfte selbst, wie auch

Kerschbaumer und de Gouges, mit frauenfeindlichen Bedingungen.

Wenngleich auch Lise Meitner am Anfang ihrer Karriere mit der Ablehnung von Frauen in der

Wissenschaft konfrontiert war, stand auch sie einer Universitätskarriere von Frauen kritisch

gegenüber. Sie entwickelte jedoch in ihren Fünfzigern ein feministisches Bewusstsein, ein Gefühl

der Solidarität. Meitner trat dann sogar als Vortragende bei Veranstaltungen von

Frauenorganisationen auf und honorierte offen die Leistungen der Frauenbewegung, die auch

Einfluss auf sie hatten. Maria Theresia stellt als Regentin in diesem Zusammenhang eine

Ausnahme dar. Zudem kam die erste Welle der Frauenbewegung erst 1791 mit Olympe de

Gouges auf, also 10 Jahre vor Maria Theresias Tod. Bekannt ist jedoch, dass die konservative

Maria Theresia Frauen bei Untreue strenger bestrafte als Männer. Ihre Töchter verheiratete sie

gnadenlos. Man könnte sie daher als eher frauenfeindlich einstufen.

In diesem Kapitel wurden die jeweiligen Lebensabschnitte der Frauen dargelegt und auf

Gemeinsamkeiten hin analysiert, die einen erwartungswidrigen respektive außergewöhnlichen

Bildungs- und Karriereweg ermöglichten. Zudem wurde eine Verknüpfung der Erkenntnisse aus

107

der Biografie-Analyse mit den bereits bekannten Daten und Fakten aus der Literatur durchgeführt.

Im nächsten Kapitel folgt eine Systematisierung der Ergebnisse und eine Aufarbeitung bisher in

dieser Arbeit nicht theoretisierter Faktoren.

4. Systematisierung der Ergebnisse

Es folgt im nun letzten Kapitel die theoretische Aufarbeitung von Faktoren, die im Zuge der

Biografie-Analyse festgestellt wurden und noch nicht mit den bekannten Daten und Fakten aus

der Literatur verknüpft worden sind. Danach folgt eine Ableitung von Empfehlungen für förderliche

Bildungs- und Karriereverläufe. Anschließend wird im letzten Kapitel die vorliegende komplette

Arbeit reflektiert und resümiert.

4.1. Verknüpfung und Ergänzung zur Theorie

Ein Faktor, den alle der Pionierinnen gemeinsam haben und der sie zu eben diesen Pionierinnen

auch gemacht hat, ist der Faktor Geschlecht. Aus Bildungs- und auch Karrieresicht war es für sie

alle ein Nachteil eine Frau zu sein. Dies erschwerten ihnen den Zugang zu formaler Schulbildung

und den damit einhergehenden Abschlüssen, die wiederum Voraussetzung für ein Studium waren.

Knaben konnten ein Gymnasium bzw. höhere Schulen besuchen und erhielten eine Matura. Doch

auch der Zugang zum Studium war für Frauen nicht überall möglich und ausländische

Studienabschlüsse wurden nur selten anerkannt. Die vorherrschenden Strukturen zu

durchbrechen war schwierig, doch wie die Analyse der Lebensläufe der Pionierinnen bewiesen

hat, nicht unmöglich. Sie beschritten einen erwartungswidrigen Bildungs- und Karriereweg und

bekamen, zumindest teilweise, die ihnen zustehende Anerkennung für ihre beruflichen Erfolge,

wenn auch leider oft erst posthum, wie bei Lise Meitner, Rosa Kerschbaumer und den Vogts.

Aufgrund der bestehenden Strukturen hatten Frauen es damals viel schwieriger als heute. Dies

hebt die Bedeutung der Übergänge bei den Ausbildungen und deren Selektionsmechanismus für

die heutige Bildungsforschung hervor. Die Bearbeitung der Literatur im zweiten Kapitel hat

gezeigt, dass spätestens seit den Bildungsreformdebatten Ende der 1960er Jahre, wo durch

stärker werdende feministische Ströme eine rechtliche Gleichstellungsphase begann, eine

geschlechterbewusste Koedukationsdebatte und eine Bildungsexpansion erfolgte (vgl. Wenzel,

2010, S. 62). Infolge dieser wurden die traditionellen geschlechtsspezifischen Unterschiede im

Bildungsniveau abgebaut (vgl. Statistik Austria, 2020). Sowohl Wenzel (2010) als auch Ditton

(2010) beschreibt, dass infolgedessen die Bildungsbenachteiligung nicht nur abgebaut wurde,

sondern die Mädchen zu Gewinnerinnen der Bildungsexpansion wurden. Nicht nur, dass

mittlerweile mehr Mädchen als Jungen höhere Schulen besuchen, sondern sie sind auch

erfolgreicher (vgl. Ditton, 2010, S. 251; Wenzel, 2010, S. 62). Trotzdem setzt sich dieser Erfolg

108

nicht immer in entsprechenden Karrieren fort (vgl. Wenzel, 2010, S. 63). Gründe dafür sind

gesellschaftliche, politische und betriebliche Strukturen. Weitere Faktoren stellen die

Persönlichkeit und die Lebensumstände dar sowie das Geschlecht, denn traditionelle

Geschlechterstereotype bewirken eine Unterrepräsentanz von Frauen in Macht- und

Führungspositionen (vgl. Seeg, 2000, S. 7 f).

Obwohl der Faktor ‚Geschlecht‘ heute keine so große Rolle mehr spielt, zumindest nicht in Europa,

können dennoch Schlüsse aus der Analyse gezogen werden. Schließlich war dies nicht der

einzige Einflussfaktor für die außergewöhnlichen Bildungsverläufe und Karrieren. Trotz Vorliegens

bestimmter Rahmenbedingungen, können demnach positive Bildungs- und Karrierewege

bestritten werden. Es hat sich gezeigt, dass immer mehrere Faktoren auf einen Bildungsweg und

die darauffolgende Karriere einwirken. Manchmal wirkt ein Faktor als großes Hindernis, er steht

aber dennoch in Wechselwirkung zu anderen Faktoren. Sämtliche Faktoren in einem Bündel

können einen einzelnen Faktor abschwächen oder aber auch verstärken.

Hervorzuheben ist die größte Gemeinsamkeit der oben genannten Biografien: das soziale Kapital.

Wie bereits die Aufarbeitung der Literatur (2.2. Kapitel) zeigt, dürfen die sozialen Einflüsse nicht

unterschätzt werden (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 91). Alle Biografien zeigen, dass dazu

familiäre und idealerweise auch damit einhergehende finanzielle Ressourcen zählen und Eltern,

die einen hohen Wert auf Bildung legen und damit eine unterstützende und fördernde Funktion

einnehmen. Darüber hinaus spielten vor allem im späteren Bildungsverlauf neben Lehrkräften,

auch Dozentinnen und Dozenten eine wesentliche Rolle. Mit zunehmendem Alter nahm der

Einfluss der Familie ab und der Einfluss von Mentorinnen und Mentoren und sonstigen

Unterstützerinnen und Unterstützern aus dem freundschaftlichen sowie beruflichen Umfeld zu.

Soziale Netzwerke haben sich als durchaus förderlich erwiesen. Wie bereits die Ergebnisse der

empirischen Analyse von El-Mafaalani (2012) gezeigt haben, gibt es nicht ‚das eine

Aufstiegsmotiv‘ schlechthin. El-Mafaalani beschreibt, dass dies aber ohnehin nur begrenzt zum

Bildungsaufstieg verhelfen würde. Das fehlende Motiv hat oftmals fehlende Aufstiegs- oder

Karrierepläne zur Folge, was aber laut El-Mafaalani eine günstige oder sogar notwendige

Bedingung für einen erfolgreichen Aufstieg ist (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 324–327). Im Zuge der

Analyse konnten keine konkreten Motive bei den ausgewählten Pionierinnen festgestellt werden.

Lediglich die eigene Bildungsaspiration sowie das hohe Interesse an der spezifischen

Wissenschaft und der Berufswunsch oder der Wunsch der Menschheit zu dienen, trieb sie voran.

Gerhartz-Reiter (2017) hat hierzu bereits erkannt, dass alle auf die eigenen Bildungsaspirationen

einwirkenden Faktoren von hoher Bedeutung sind (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 91).

Neben diesen Rahmenbedingungen waren die charakterlichen Eigenschaften der vorgestellten

Pionierinnen weitere Parallelen. Die Ergebnisse der empirischen Analyse zu Bildungsaufsteigern

109

und Bildungsaufsteigerinnen von El-Mafaalani (2012) kam zu dem Schluss, dass diese sich ohne

Zweifel durch ein hohes Maß an Disziplin und Fleiß auszeichnen (vgl. 2012, S. 324). Diese

Ergebnisse können, durch die vorangegangene Analyse, ebenfalls bestätigt werden. Weitere

gemeinsame Eigenschaften, die in der Analyse immer wieder auftauchen, sind Zielstrebigkeit

sowie Mut. Die von El-Mafaalani (2012, S. 327) beschriebene notwendige Habitustransformation

konnte in der Analyse bei Olympe de Gouges und bei Gudrun Ensslin herausgearbeitet werden.

Bei den anderen Pionierinnen fanden sich dazu keine Hinweise. Jedoch legten ohnehin die

meisten Eltern viel Wert auf Bildung, wodurch diese Habitustransformation hin zum

bildungsnäheren Milieu nicht zwangsläufig notwendig war.

Ein Punkt, der im Zuge der Analyse der Biografien auftauchte, der aber in der behandelten

Literatur nicht vorkam, waren einschneidende Erlebnisse wie Gewalt oder Vernachlässigung im

Kindesalter. Sowohl Gewalt als auch Vernachlässigung in der Kindheit führen laut medizinischen

Forschungen mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Depressionen im Erwachsenenalter (vgl. Wenzel,

2010, S. 41). Die Formen der Gewalt klassifizieren sich in aktive physische, psychische oder

sexuelle Handlungen sowie das Unterlassen von Handlungen. Das Unterlassen von Handlungen

unterteilt sich wiederum in physische, erzieherische und psychische Vernachlässigung, wobei sich

die Formen der Vernachlässigung oft überschneiden (vgl. Hong, 2016, S. 80–84). Zudem erfahren

vernachlässigte Kinder zeitgleich oder später Gewalt, wie mehrere Studien belegen (vgl. Kindler,

2006, S. 3–3). Blum-Maurice (2002) nennt als beste Hilfsmaßnahme die frühe Prävention sowie

kompensatorische Beziehungen. Stehen dem Kind beispielsweise ein Milieu des Schutzes und

der Geborgenheit durch Verwandte oder öffentliche Einrichtungen zur Verfügung, kann die

Schwere der Beeinträchtigungen abgeschwächt werden (vgl. Blum-Maurice, 2002, S. 114 und

125).

Relevant hierfür sind die sozialen Beziehungen, denn Versagensängste oder fehlende

Unterstützung wirken sich auch mangels fehlenden Vertrauens auf die eigenen Fähigkeiten

kontraproduktiv aus (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 262). El-Mafaalani (2012) kam bei seinen

Analysen zu der Feststellung, dass es aufgrund der „innerfamiliären Vernachlässigung auch zu

einer inneren Isolation und erst nach Anerkennungs- und Erfolgserlebnissen in anderen sozialen

Kontexten“ (El-Mafaalani, 2012, S. 267) zu einem Widerstand kommt, der in der habituellen

Distanzierung vom Herkunftsmilieu mündet. Infolgedessen führt dies zu einer selbstreflexiven

Praxis in eben diesen neuen sozialen Kontexten, woraus dann ein selbstbewusster Umgang mit

den eigenen Fähigkeiten resultiert (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 267). Es ist also auch Aufgabe der

Bildungspolitik, diesen Kindern über mehrere Entwicklungsjahre hinweg individuell zur Seite zu

stehen und ihnen eine angemessene emotionale Fürsorge zukommen zu lassen (vgl. Wenzel,

2010, S. 41).

110

4.2. Abgeleitete Empfehlungen

Abschließend lässt sich sagen, dass es kein Rezept für einen erfolgreichen Bildungsweg und eine

daran anschließende Karriere gibt. Es gibt lediglich Empfehlungen, die einen positiven Verlauf

begünstigen. Wenn die Rahmenbedingungen nicht optimal sind, muss man versuchen diese zu

ändern. Vorhandene einschränkende Faktoren müssen nicht akzeptiert werden, sondern können

mit anderen Faktoren abgeschwächt oder gar neutralisiert werden. Allen voran zählen hierzu der

Faktor ‚soziales Kapital’ sowie der Faktor ‚eigene Eigenschaften und Einstellungen’. Die

analysierten Biografien haben gezeigt, dass diese Faktoren, trotz teilweise gegebener

einschränkender Faktoren, einen erwartungswidrigen Bildungsaufstieg begünstigen.

Folgend werden Vorschläge abgeleitet, die zwar kein Rezept für einen erfolgreichen

Bildungsaufstieg darstellen, aber dennoch förderlich sind. Dazu zählt allen voran, das Aufbauen

von Netzwerken. Man braucht ein Netz vielfältiger Beziehungen und Verbindungen, sowohl zu

Frauen als auch Männern. Die Auswahl der Personen für dieses Netzwerk sowie die Pflege des

Netzwerkes sind von hoher Bedeutung. Diese Unterstützungs- und Mentoringleistungen waren

bei allen Pionierinnen Teil ihres Erfolges. Ohne sie wären wohl die meisten Karrieren zumindest

anders oder nicht so erfolgreich verlaufen.

Es ist ein Prinzip, das auf Gegenseitigkeit beruht. Man kann Unterstützung einfordern und

annehmen, man sollte aber auch andere unterstützen und fördern, wie dies Rosa Kerschbaumer

und Cécile Vogt getan haben. Doch nicht nur Unterstützung und Mentoring von außen ist

notwendig. Man muss selber die größte Unterstützerin respektive der größte Unterstützer sein.

Will man etwas erreichen, muss man dafür Ehrgeiz, Disziplin, Durchsetzungs- und auch

Durchhaltevermögen an den Tag legen, wie zum Beispiel Olympe de Gouges, die 17 Jahre ihr

autodidaktisches Studium forcierte. Ganz nach dem Motto: ‚Von nix kommt nix’. Es bedarf Mut,

um die Komfortzone zu verlassen und Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Vorbilder sind

nicht nur wegweisend, wie bei Rosa Kerschbaumer, sondern können auch zum permanenten

Lernen anregen, wie Otto Hahn bei Lise Meitner. Aber auch Ziele und Zielklarheit, wie die Erfüllung

eines Berufswunsches, zählen zu den Erfolgsfaktoren. Für eine Karriere braucht man Vertrauen

in die eigenen Fähigkeiten und Klarheit über die eigenen Kompetenzen. Positive Kommunikation

der eigenen Leistungen führt zu deren Wahrnehmung und gebührenden Honorierung.

Es bedarf nicht der Befolgung aller diese Vorschläge für eine erfolgreiche Karriere. Manche

Vorschläge sind leichter umsetzbar als andere. Jeder Mensch ist unterschiedlich und muss für

sich selbst entscheiden, was im Rahmen des Möglichen liegt, wobei hier ein Blick über den

berühmten Tellerrand jedenfalls zu empfehlen ist. Nicht jeder dieser Vorschläge muss für eine

erfolgreiche Karriere konsequent fokussiert werden, sie stellen lediglich Anregungen dar, die sich

aufgrund der recherchierten Literatur und der betrachteten Biografien ergeben haben.

111

5. Resümee

Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der Frage auseinander, welche Faktoren erwartungswidrige

Bildungsaufstiege von Frauen beeinflussen und welche Erkenntnisse sowie fördernde und

präventive Maßnahmen daraus für die aktuelle Bildungsforschung abgeleitet werden können. Im

Zuge der Literaturbearbeitung wurden aktuelle Erkenntnisse zu Bildung und dem Bildungssystem

als (Re-)Produzent von Bildungs- und Chancenungleichheit diskutiert und der Stand der

Forschung für Einflussfaktoren auf Bildungs- und Karrierewege thematisiert. Teilweise sind diese

Einflussfaktoren in das Schul- bzw. Bildungssystem einzuordnen und teilweise in den

außerschulischen Kontext.

Zu Beginn wurde der Frage nachgegangen, ob oder inwieweit Schule respektive Bildung und das

Bildungssystem auf Chancen- oder Bildungsungleichheit eingehen und diese beheben oder gar

laufend reproduzieren. Bildung ist ein wesentlicher Faktor für schulischen und späteren

beruflichen Erfolg und ermöglicht zudem soziale, politische und kulturelle Teilhabe. Eine freie

Persönlichkeitsentfaltung, Selbstständigkeit und die Entwicklung individueller Interessen sowie

Kompetenzen ermöglichen Chancen in der Karriere und auch im Leben. Aktuelle Ergebnisse

legen jedoch nahe, dass Schule diese Funktion nicht erfüllt, sondern eher als (Re-)Produzent von

Chancenungleichheit agiert. Hätte jeder die gleiche Chance zu formaler Bildung und zu

beruflichen und auch sozialen Positionen, bestünde Chancen- respektive Bildungsgleichheit. Dies

ist jedoch nicht gegeben, da die Ausgangsbedingungen die schulische Laufbahn nach wie vor ab

deren Beginn beeinflussen.

Dennoch haben sich soziale Ungleichheitsmuster verringert, wie der historische Rückblick zeigt.

Generell kann festgestellt werden, dass gesamtgesellschaftliche nicht-schulische Faktoren immer

wieder einer Veränderung unterliegen. Obwohl soziale und nationale herkunftsbezogene Faktoren

sich standhaft halten, konnten Ungleichheitsmuster im Zusammenhang mit Region, Religion und

Geschlecht verringert werden. Der Einfluss des Faktors Geschlecht hat sich sogar umgedreht.

Mädchen haben heute Zugang zu höheren Schulen und Universitäten, sind in der Schule häufiger

vertreten und tendenziell erfolgreicher als Burschen. Trotz steigender Promotionszahlen setzen

Frauen ihre zukunftsorientierten, beruflichen Qualifikationen nicht immer in entsprechende

Karrieren um. Neben den schulischen Faktoren wie Qualität des Unterrichts oder des

Lehrpersonals spielen vor allem auch außerschulische Faktoren eine große Rolle. Bereits bei der

Aufarbeitung der Theorie war dies ein markanter Punkt, der später bei der Analyse der Biografien

bestätigt werden konnte. Neben dem unterschätzten Lehrpersonal oder Dozentinnen und

Dozenten nehmen auch Verwandte oder sonstige außerschulische Personen eine wegweisende

oder/und unterstützende Rolle ein. Vor allem Eltern, deren Bildungshabitus und

Bildungsaspirationen, Erziehungsstil und finanzielle Ressourcen bilden einen wichtigen

Ausgangspunkt. Von zentraler Bedeutung ist auch die Beziehung der Eltern zum Kind. Je älter

112

das Kind wird, umso mehr weichen die Eltern den Peers, Freundinnen und Freunden sowie

Mentorinnen und Mentoren oder auch den Vorbildern.

Wenig theoretisiert, weil auch nur schwer theoretisierbar, sind die Faktoren Zufall und Glück.

Weiters sind Makro-Faktoren für Wendepunkte in so manchen Karrieren verantwortlich, wie die

Analyse der Biografien zeigte. Dazu zählen institutionelle, gesellschaftliche und

wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen sowie historische und politische Ereignisse oder

soziale Bewegungen. Diese Makro-Faktoren nehmen Einfluss auf die Bildungspolitik, den

Arbeitsmarkt, aber auch auf gesamtgesellschaftliche Werthaltungen sowie auf das Individuum.

Dies kam auch im Zuge der Analyse klar heraus. Ebenfalls bestätigt werden konnte, der in der

theoretischen Ausarbeitung gezeigte Einfluss Individuum-spezifischer Faktoren auf den Bildungs-

und Karriereaufstieg. Fleiß, Disziplin und Zielstrebigkeit begünstigen einen Aufstieg immens.

Angetrieben durch die eigenen Bildungsaspirationen und Ziele, bedarf es nicht immer eines

konkreten Aufstiegsmotivs. Die Wechselwirkung all dieser oder weiterer Faktoren ist

ausschlaggebend für den individuellen Werdegang.

Gewiss gibt es viele weitere Faktoren, die weder im Zuge der literarischen noch der biografischen

Analyse entdeckt wurden, die aber erheblichen Einfluss auf den Bildungs- und Karriereverlauf

nehmen können. Konkret sind jedoch die in dieser Arbeit theoretisch aufgeführten Faktoren

größtenteils deckungsgleich mit den Ergebnissen der Analyse der Biografien. Dies führte im

vierten Kapitel zu Vorschlägen oder Empfehlungen, die einen Bildungsaufstieg tendenziell

fördern. Diese Erkenntnisse sind nicht unbedingt neu, sollten aber auf jeden Fall von

Pädagoginnen und Pädagogen sowie von Erzieherinnen und Erziehern stärker berücksichtigt

werden und speziell in die Arbeit mit benachteiligten Schülerinnen und Schülern miteinfließen.

Dazu bedarf es jedoch in der Bildungspolitik und bei jedem einzelnen Akteur bzw. jeder einzelnen

Akteurin mehr Bewusstsein darüber. Ferner können und sollen Eltern oder Erziehungsberechtigte

dieses Wissen zur Förderung ihrer Kinder nutzen. Aber auch eine Weitergabe und kritische

Reflexion dieses Wissens an die Schülerinnen und Schüler selbst wäre von Vorteil und würde

Vielen neue Optionen und Wege für die Gestaltung ihrer Zukunft aufzeigen. Dadurch kann ein

Mädchen von heute zur Pionierin für Mädchen von morgen werden.

113

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