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JOHANNES KEPLER
UNIVERSITÄT LINZ
Altenberger Straße 69
4040 Linz, Österreich
jku.at
Eingereicht von
Jessica Tax, BEd
Angefertigt am Institut
Linz School of Education
Beurteiler / Beurteilerin
Ass.-Prof. Dr. Roman
Langer
Monat Jahr
September 202
AUF DEN SPUREN VON
PIONIERINNEN –
ANALYSE
ERWARTUNGSWIDRIGER
BILDUNGSAUFSTIEGE
VON FRAUEN
Diplomarbeit
zur Erlangung des akademischen Grades
Magistra der Sozial- und Wirtschaftswissenschaften
im Diplomstudium
Wirtschaftspädagogik
EIDESSTATTLICHE ERKLÄRUNG
Ich erkläre an Eides statt, dass ich die vorliegende Diplomarbeit selbstständig und ohne fremde
Hilfe verfasst, andere als die angegebenen Quellen und Hilfsmittel nicht benutzt bzw. die wörtlich
oder sinngemäß entnommenen Stellen als solche kenntlich gemacht habe.
Die vorliegende Diplomarbeit ist mit dem elektronisch übermittelten Textdokument identisch.
Leonding, 06.09.2020
Tax Jessica
II
Inhaltsverzeichnis
Verwendete Abbildungen ............................................................................................................... IV
Verwendete Abkürzungen .............................................................................................................. IV
Vorwort............................................................................................................................................. V
1. Einleitung ................................................................................................................................... 1
2. Theoretischer Rahmen.............................................................................................................. 3
2.1. Bildung und das Bildungssystem als (Re-)Produzent von Bildungsungleichheit ............. 3
2.2. Faktoren erwartungswidriger Bildungsaufstiege ............................................................... 6
2.2.1. Gesamtgesellschaftliche Faktoren ......................................................................... 7
2.2.2. Soziales Kapital: Familie, Erziehung und Sozialisation ....................................... 12
2.2.3. Bildung und Bildungssystem ................................................................................ 15
2.2.4. Glück und Zufall ................................................................................................... 17
2.2.5. Soziales Kapital: Schulunabhängige Motivationen und Schlüsselerlebnisse ..... 17
2.2.6. Makro-Faktoren .................................................................................................... 20
2.2.7. Individuum-spezifische Faktoren ......................................................................... 26
2.3. Fazit ................................................................................................................................. 28
3. Faktorenanalyse erwartungswidriger Bildungsaufstiege von Frauen .................................... 31
3.1. Wissenschaftliche Relevanz der Diplomarbeit ................................................................ 31
3.2. Methodische Vorgehensweise ........................................................................................ 32
3.3. Begründung der Auswahl ................................................................................................ 33
3.4. Vorstellung der Frauen .................................................................................................... 34
3.4.1. Maria Theresia (1717-1780)................................................................................. 34
3.4.2. Olympe de Gouges (1748-1793) ......................................................................... 35
3.4.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata (1851-1923) ........................................................... 36
3.4.4. Cécile Vogt (1875-1962) ...................................................................................... 36
3.4.5. Lise Meitner (1878-1968) ..................................................................................... 37
3.4.6. Gudrun Ensslin (1940-1977) ................................................................................ 38
3.5. Lebensabschnitt I............................................................................................................. 38
3.5.1. Herkunft und frühe Bildung .................................................................................. 38
3.5.1.1. Maria Theresia ...................................................................................... 38
III
3.5.1.2. Olympe de Gouges ............................................................................... 39
3.5.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata ................................................................. 40
3.5.1.4. Cécile Vogt ............................................................................................ 42
3.5.1.5. Lise Meitner ........................................................................................... 43
3.5.1.6. Gudrun Ensslin ...................................................................................... 44
3.5.2. Faktorenanalyse ................................................................................................... 45
3.6. Lebensabschnitt II............................................................................................................ 48
3.6.1. Weiterführende Bildung und Studium .................................................................. 48
3.6.1.1. Maria Theresia ...................................................................................... 48
3.6.1.2. Olympe de Gouges ............................................................................... 49
3.6.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata ................................................................. 51
3.6.1.4. Cécile Vogt ............................................................................................ 54
3.6.1.5. Lise Meitner ........................................................................................... 55
3.6.1.6. Gudrun Ensslin ...................................................................................... 59
3.6.2. Faktorenanalyse ................................................................................................... 62
3.7. Lebensabschnitt III........................................................................................................... 67
3.7.1. Berufliche Karriere ................................................................................................ 67
3.7.1.1. Maria Theresia ...................................................................................... 67
3.7.1.2. Olympe de Gouges ............................................................................... 69
3.7.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata ................................................................. 73
3.7.1.4. Cécile Vogt ............................................................................................ 82
3.7.1.5. Lise Meitner ........................................................................................... 85
3.7.1.6. Gudrun Ensslin ...................................................................................... 97
3.7.2. Faktorenanalyse ................................................................................................. 102
4. Systematisierung der Ergebnisse ......................................................................................... 107
4.1. Verknüpfung und Ergänzung zur Theorie ..................................................................... 107
4.2. Abgeleitete Empfehlungen ............................................................................................ 110
5. Resümee ............................................................................................................................... 111
6. Verwendete Literatur ............................................................................................................. 113
IV
Verwendete Abbildungen
Abbildung 1: Anteil Abschluss nach Geschlecht und Alter (Statistik Austria, 2020) .......................9
Abbildung 2: Zeitungsbericht "Der erste weibliche Arzt in Oesterreich" (Freie Stimmen,1890, S. 6).
....................................................................................................................................................... 77
Verwendete Abkürzungen
bzw. beziehungsweise
EBA erwartungswidrige Bildungsaufsteigerin bzw. Bildungsaufsteigerinnen
et al. et alii = und andere
f folgende
ff fortfolgende
Hrsg. Herausgeber
KWG Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft
KWI Kaiser-Wilhelm-Institut
resp. respektive
S. Seite
sic! sīc erat scriptum = so stand es geschrieben
vgl. vergleiche
V
Vorwort
Viele Menschen haben mich bei der Umsetzung und dem Gelingen dieser Diplomarbeit fachlich
und persönlich unterstützt. Meinen ganz besonderen Dank möchte ich meinem ersten
Ansprechpartner Herrn Ass.-Prof. Dr. Roman Langer vom Institut Linz School of Education
aussprechen, der das Verfassen dieser Arbeit überhaupt erst ermöglichte, sowie für die bereitwillig
gewährte mannigfaltige Hilfe und Unterstützung bei Recherchen.
Herzlich bedanken möchte ich mich bei Andrea und Martin Müllner, sowohl für die langjährige
Unterstützung meiner Person und für die inspirierenden Gespräche, die letztlich in diese Arbeit
miteingeflossen sind, sowie für die überaus hilfreiche Durchsicht dieser Arbeit. Bei meiner Mama
Petra Tax und meiner langjährigen Freundin Eldijana Hofstetter möchte ich mich ebenfalls für die
hilfreiche Durchsicht der Arbeit bedanken. Sie alle haben sehr dazu beigetragen diese Arbeit zu
verbessern.
Viele andere Menschen haben mich auf dem Weg, nicht nur zur Diplomarbeit, sondern während
meines gesamten Bildungs- und Karrierewegs, unterstützt. Großer Dank gebührt meinen Eltern
für Ihre Liebe und Unterstützung auf meinem bisherigen Weg. Schließlich danke ich meinen
Freundinnen und engsten Vertrauten für die vielen gemeinsamen schönen Momente und
Erfahrungen in den vergangenen prägenden und bedeutenden Lebensabschnitten.
1
1. Einleitung
Zahlreiche Studien belegen, dass Bildungsungleichheit im österreichischen Bildungssystem
allgegenwärtig und ein extrem stabiles Phänomen ist (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 14; Langer,
2017, S. 131). Daher ist die Bildungsungleichheit in gegenwärtigen Debatten, im Rahmen der
Chancengleichheit und Chancengerechtigkeit in unserem Bildungssystem, ein wesentliches
Thema. Der Hauptfokus dieser Debatten liegt dabei auf der Fragestellung, inwiefern zukünftige
Möglichkeiten nicht durch Leistung, sondern durch Ausgangsbedingungen beeinflusst werden, die
bereits vor Beginn der schulischen Laufbahn bestehen (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 11). Es ist
nicht ausreichend geklärt, welche Faktoren wie zur Kumulierung oder Kompensierung von
Bildungsungleichheiten im Bildungsverlauf beitragen, obwohl die Bedeutung von Übergängen im
Bildungssystem als Selektionsmechanismen immer wieder in der Bildungsforschung
hervorgehoben wird (vgl. Dombrowski & Solga, 2012, S. 80; Giesinger, 2009, S. 183, Fn. 3).
Infolgedessen stellt sich die Frage, welche Bedeutung sowohl die formale Bildung, vor allem auch
als Kompensator ungleicher Ausgangslagen, als auch entsprechende Bildungsabschlüsse für die
weiteren Berufs- und Lebenschancen haben. Etliche Studien beschäftigen sich mit den
Einflussfaktoren auf Bildungsverläufe, wobei bereits bekannt ist, dass einzelne Faktoren und
deren Kombination schulischen Erfolg tendenziell mehr begünstigen als andere. Obwohl
Einzelfaktoren allein beziehungsweise ein Bündel von Einzelfaktoren die Wahrscheinlichkeit für
eine gemeinhin erfolgreiche Bildungslaufbahn angeben können, misslingt dies jedoch bei einem
erwartungswidrigen Bildungsverlauf (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 11 f).
Einerseits galt es bei der Erstellung der Diplomarbeit die Theorie aufzuarbeiten und bereits
bekannte Faktoren für erwartungswidrige Bildungsaufstiege zu eruieren. Andererseits sollten im
Zuge der Bearbeitung der Biografien neue Erkenntnisse gewonnen werden. Versiert wurde dabei
die Beantwortung folgender Forschungsfrage:
Welche Faktoren beeinflussen erwartungswidrige Bildungsaufstiege von Frauen und welche
fördernden und präventiven Erkenntnisse können daraus für die aktuelle Bildungsforschung
abgeleitet werden?
Die vorliegende Diplomarbeit beschäftigt sich zunächst im Abschnitt 2.1. mit Bildung und
Bildungsungleichheit im Bildungssystem, gefolgt von den vorhandenen Forschungsergebnissen
zu einzelnen Faktoren erwartungswidriger Bildungsaufstiege im Abschnitt 2.2. Im 3. Kapitel wird
der Fokus auf erwartungswidrige und erfolgreiche Bindungsverläufe von Bildungsaufsteigerinnen
in der Zeitperiode vom 18. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert gelegt. Das Ziel ist, die
Schwierigkeiten und Hürden, aber auch die Ressourcen und Unterstützerinnen sowie Unterstützer
2
herauszufinden, welche die erwartungswidrigen Bildungsbiografien jener Frauen beeinflusst
haben. Diese Analyse erfolgt immer im Anschluss an die einzelnen Kapitel, welche in
Lebensabschnitte bzw. Bildungsabschnitte der Biografien gegliedert sind. Die daraus
gewonnenen Erkenntnisse sollen über die Zusammenhänge zwischen den einzelnen
Einflussfaktoren des Aufstiegs Aufschluss geben, um somit jene erklärenden Muster für fördernde
und präventive Maßnahmen zum Umgang mit Bildungsungleichheit zu nutzen. Abschließend
werden in Kapitel 4 die Ergebnisse der Biografie-Analysen zusammengefasst, mit den
Erkenntnissen aus der theoretischen Auseinandersetzung verglichen und gegebenenfalls
ergänzt. Schlussfolgerungen, im Sinne einer Empfehlung, werden dann im Abschnitt 4.2.
festgehalten. Im letzten Kapitel wird abschließend ein Resümee gezogen.
3
2. Theoretischer Rahmen
In diesem Kapitel werden zuerst die aktuellen Erkenntnisse zu Bildung und dem Bildungssystem
als (Re-)Produzent von Bildungs- und Chancenungleichheit diskutiert. Ferner wird der Stand der
Forschung für Einflussfaktoren auf Bildungs- und Karrierewege zusammengefasst, speziell in
Hinblick auf erwartungswidrige Bildungsaufstiege. Im abschließenden Fazit werden die aktuellen
Daten resümiert.
2.1. Bildung und das Bildungssystem als (Re-)Produzent von Bildungsungleichheit
Bildung wird als wesentlicher Faktor für Erfolg gesehen (vgl. Becker & Hadjar, 2009, S. 55). In
unserer Gesellschaft steht Bildung für Emanzipation und Partizipation. Mit Partizipation ist hier die
Teilhabe an sozialen, politischen und kulturellen Prozessen gemeint. Emanzipation bedeutet hier
Befreiung durch Bildung, als Faktor der Befähigung der freien Entfaltung der Persönlichkeit, zur
Entwicklung eigener Fähigkeiten und Interessen und zur Herausbildung von Selbstständigkeit für
individuelle Chancen im Leben und für beruflichen Erfolg (vgl. Dombrowski & Solga, 2012, S. 51;
Gerhartz-Reiter, 2013, S. 54; Giesinger, 2009, S. 175). Es gibt unterschiedliche Auffassungen von
Emanzipation. Hier ist jene Auffassung von Gerhartz-Reiter (2013) gemeint: Emanzipation als
„Befreiung von (sichtbarer und unsichtbarer) Unterdrückung und damit einhergehenden
eingeschränkten Chancen auf soziale, berufliche und private Selbstverwirklichung“ (S. 54).
Gesteht man Bildung diese emanzipatorische Funktion zu, soll sie Menschen zur autonomen und
selbstbewussten Auseinandersetzung mit dem Umfeld und den gegebenen gesellschaftlichen
Verhältnissen befähigen sowie eine Reflexion über und Kritik an eben dieser Gesellschaft
ermöglichen und allen zu gleichen Chancen verhelfen (vgl. Gerhartz-Reiter, 2013, S. 54). Das Ziel
der Chancengleichheit durch Bildung ist zwar richtungsweisend, dennoch ist es keineswegs der
Fall, dass alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Chancen haben bestimmte
Bildungslaufbahnen einzuschlagen und erfolgreich zu beenden. Zu bedenken ist, ob die formale
Bildung überhaupt zur Herstellung der Chancengleichheit beiträgt. Aktuelle Studien belegen, dass
die Schule eher als Faktor der (Re-)Produktion von Chancenungleichheit fungiert (vgl. Ditton,
2010, S. 252; Gerhartz-Reiter, 2013, S. 61; Ribolits, 2006, S. 84). Ditton (2010) nennt drei
Faktoren, die bei der Reproduktion von Bildungsungleichheit mitwirken: „mit der sozialen Herkunft
verbundene individuelle Faktoren, institutionelle Faktoren auf der Ebene des Unterrichts und der
einzelnen Schule, des Schulsystems sowie schließlich kontextuelle und regionale Bedingungen“
(S. 252).
Nach Langer (2017) führt das Erbe der Educational Governance-Forschung, nämlich die
permanente Nichtbeachtung von (Bildungs-)Ungleichheit, zu unterschiedlichen Zutritts- und
Mitbestimmungsmöglichkeiten der Bevölkerungsgruppen. Jene ökonomisch starken, politisch
4
einflussreichen und selbstorganisierten Akteurinnen und Akteure, welche die äußerst
intransparenten Educational Governance Prozesse verstehen, können Einwände gegenüber
staatlichen Entscheidungen vorbringen. Große Akteure wie die EU-Kommission, die OECD und
die Weltbank entscheiden mit überlegenem Wissen über Politik, entziehen sich jedoch der
demokratischen Kontrolle. Die Educational Governance sollte die Macht- und
Bildungsungleichheitsverhältnisse sowie die Verteilung der Ressourcen untersuchen und
basierend auf den Erkenntnissen Handlungsimplikationen ableiten, da sonst eine Politik
unterstützt wird, welche die Interessen der Vermögenden und der Eigentümer in den
Finanzinstitutionen und Konzernen vertritt (vgl. Langer, 2017, S. 25 f). Schirlbauer kritisiert
ebenfalls in diesem Zusammenhang die von der EU geforderte Chancengleichheit aller
Menschen, da sie eben nicht auf gleiche Bildungschancen, sondern auf gleiche Humankapital-
Verwertungschancen bezogen sei. Es gehe nicht um selbstständiges und kritisches Denken,
sondern um Anpassung und der damit einhergehenden Unerwünschtheit von kritischer
Unangepasstheit (vgl. Schirlbauer, 2009, S. 155 f). Bünger und Pongratz sagen etwas Ähnliches.
Bei den Bildungsangeboten gehe es um Funktionalität und um die Sicherung von Bestehendem
durch Reproduktion und nicht um die Selbstständigkeit der Menschen. Emanzipatorische Bildung
ist hier nicht von Bedeutung, folglich kann Emanzipation durch Bildung auch nicht erreicht werden
(vgl. Bünger, 2009, S. 179 f; Pongratz, 2009, S. 111).
Einerseits qualifiziert das Bildungssystem Personen, um gesellschaftlich relevante Positionen
einzunehmen, gesellschaftlich benötigte oder erwartete Arbeit zu leisten und für die
Weiterentwicklung der Gesellschaft Sorge zu tragen. Andererseits restringiert das Bildungssystem
die Personen insofern, dass sie institutionen- und normkonform agieren und ihre Ziele nicht zu
stark vom gesellschaftlichen Status quo abweichen. Die hierarchisch angeordneten
gesellschaftlichen Positionen respektive Arbeiten verlangen quasi unterschiedlich ausgebildete
Personen, weswegen dem Bildungssystem die Aufgabe der gesellschaftlichen Selektierung
zukommt (vgl. Langer, 2017, S. 149 f). Dadurch findet eine permanente Reproduktion und
Legitimation von Bildungsungleichheit und bestehender ungleicher Machtverhältnisse statt. Dies
ist meist kein starrer, immer wiederkehrender Prozess, sondern ein flexibler, die Strukturen
modifizierender und den veränderten Umweltbedingungen angepasster Prozess (vgl. Gerhartz-
Reiter, 2017, S. 23; Langer, 2017, S. 149 f).
Das Bildungssystem unterstützt die Vermittlung grundlegender Fähigkeiten, welche die Teilhabe
an sozialen, politischen und kulturellen Prozessen sowie die Entwicklung individueller Fähigkeiten
und Interessen zur unabhängigen Lebensgestaltung und für berufliche Chancen ermöglicht (vgl.
Giesinger, 2009, S. 175; Dombrowski & Solga, 2012, S. 51; Gerhartz-Reiter, 2013, S. 54). Über
die Vermittlung grundlegender Fähigkeiten hinaus, können unterschiedlich gewertete Bildungstitel
erworben werden, die zu hierarchisch angeordneten sozialen und beruflichen Positionen führen.
5
Dies führt zu einer Konkurrenz zwischen den gesellschaftlichen Akteurinnen und Akteuren, was
bedeutet, dass von vornherein keiner benachteiligt oder ausgeschlossen werden darf, damit
gemäß der demokratischen Gleichheitsnorm alle gesellschaftlichen Gruppen dieselben Chancen
haben diese Konkurrenz zu gewinnen. Bildungsungleichheit besteht, wenn eben diese Gleichheit
auf Chancen für bestimmte Bevölkerungsgruppen erleichtert und für andere
Bevölkerungsgruppen erschwert ist, wodurch sich eine ungleiche Ressourcen- und
Chancenverteilung ergibt (vgl. Langer, 2017, S. 141 f). Im Umkehrschluss würde
Chancengleichheit respektive Bildungsgleichheit vorliegen, wenn alle die gleiche Chance für den
Zugang zu formaler Bildung und beruflichen sowie sozialen Positionen haben würden. Dazu
müsste dieser Zugang von leistungsfremden Kriterien wie beispielsweise Geschlecht oder soziale
Herkunft losgelöst sein. Zudem müsste die Leistungsbewertung in einem freien Wettbewerb
erfolgen, individuell und auf dem Leistungsprinzip basierend, also durch Intelligenz und
Anstrengung (vgl. Becker & Hadjar, 2009, S. 37, 42 und 44; Giesinger, 2009, S. 183, Fn. 3; Langer,
2017, S. 142). „Dass das Bildungssystem nach dem Leistungsprinzip funktionieren würde, ist eine
ideologische gesellschaftliche Selbstbeschreibung“ (Langer, 2017, S. 143).
Zukünftige Möglichkeiten werden nicht durch Leistung allein, sondern durch
Ausgangsbedingungen beeinflusst, die bereits vor Beginn der schulischen Laufbahn bestehen.
Es stellt sich jedoch die Frage, welche Bedeutung sowohl die formale Bildung, vor allem auch als
Kompensator ungleicher Ausgangslagen, als auch entsprechende Bildungsabschlüsse für die
weiteren Berufs- und Lebenschancen haben (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 11 f). Denn Bildungs-
bzw. Lernerfolge hängen unter anderem von der Qualität des Unterrichts und des Lehrpersonals
ab. Die Noten, die dann am Ende eines formalen Bildungsganges in Zeugnissen festgehalten
werden, führen dann zum Abschlusszertifikat eines Bildungslehrgangs, der wiederum mit der
Verleihung eines Bildungstitels verknüpft ist. Unter Bildungstitel fallen sowohl der
Pflichtschulabschluss als auch Matura, Bachelor, Master oder Doktor. Diese Verleihungen von
Noten, Zeugnissen und Bildungstiteln sind das Kommunikationsmedium des Bildungssystems
(vgl. Langer, 2017, S. 148 und 151). Das Bildungssystems kommuniziert mit seinen Medien,
sowohl intern als auch extern die erbrachten Leistungen der Schülerinnen und Schüler, „die es
als Lernerfolgs- und damit Leistungsbewertungen versteht, obwohl sie streng genommen
Vermittlungs(miss)erfolgsbescheinigungen sind“ (Langer, 2017, S. 148).
Die wenigen bisher erfolgten Versuche der Educational Governance, das Problem der
Bildungsungleichheit in den Griff zu bekommen, blieben aber eher erfolglos. Versuche seitens der
Politik konnten die Bildungsungleichheit auch nicht eindämmen. Weder die Bildungsexpansion
der 1960er und -70er Jahre, noch die Einführung neuer Steuerungsinstrumente, noch mehr
Wettbewerb ab den 1990er Jahren oder die PISA-, Bildungsstandards- und
Vergleichstestbewegung brachten eine Verbesserung (vgl. Langer, 2017, S. 131). Langer (2017)
6
beschäftigt sich dabei mit der Frage, warum Bildungsungleichheit überhaupt ein Problem ist. Eine
gerechte Verteilung von Bildung ist notwendig, da Bildung die Lebenschancen beeinflusst (vgl.
Giesinger, 2009, S. 175), wodurch dem Bildungssystem die wichtige Funktion als
„Verteilungsinstanz für soziale und berufliche Positionen“ (Becker & Hadjar, 2009, S. 37)
zukommt. Wenn der Konkurrenzkampf um Bildungstitel stärker wird, erhöhen sich auch die
Bildungsaspirationen der ganzen Bevölkerung, sodass sich laut Pollak (2010) die Chancen für
erwartungswidrige Bildungsaufstiege reduzieren (vgl. Pollak, 2010, S. 13–32).
Es ist nicht ausreichend geklärt, welche Faktoren wie zur Kumulation oder Kompensation von
Bildungsungleichheiten im Bildungsverlauf beitragen, obwohl die Bedeutung von Übergängen im
Bildungssystem als Selektionsmechanismus immer wieder in der Bildungsforschung
hervorgehoben wird (vgl. Dombrowski & Solga, 2012, S. 80; Giesinger, 2009, S. 183, Fn. 3).
Etliche Studien beschäftigen sich mit den Einflussfaktoren auf Bildungsverläufe, wobei bereits
bekannt ist, dass einzelne Faktoren und deren Kombination schulischen Erfolg tendenziell mehr
begünstigen als andere. Obwohl Einzelfaktoren allein als auch ein Bündel von Einzelfaktoren die
Wahrscheinlichkeit für eine gemeinhin erfolgreiche Bildungslaufbahn angeben können, misslingt
dies jedoch bei einem erwartungswidrigen Bildungsverlauf (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 11 f).
2.2. Faktoren erwartungswidriger Bildungsaufstiege
Als erwartungswidriger Bildungsaufstieg wird eine Bildungskarriere dann bezeichnet, „wenn
Personen, die unter Bedingungen aufwachsen, die normalerweise zu einer kurzen und erfolglosen
Bildungskarriere führen, trotz dieser Ausgangslage ein Studium absolvieren und gut bezahlte,
gesellschaftlich angesehene Berufspositionen erreichen“ (Langer, 2017, S. 153).
Erwartungswidrige Bildungsaufstiege sind selten und statistisch gesehen eher weniger
wahrscheinlich (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 313). Während sich die Bildungsforschung schon
lange mit dem Thema des Schulabbruchs beschäftigt, wurden unerwartete Bildungsaufstiege erst
im letzten Jahrzehnt thematisiert. 2016 war es beim Jahreskongress der Deutschen Gesellschaft
für Empirische Bildungsforschung (GEBF) sogar das Hauptthema (vgl. Langer, 2017, S. 153 f).
Bildung wird als wesentlicher, aber nicht alleiniger Faktor zum Erfolg betrachtet. Die in der
Bildungslaufbahn erworbenen Bildungstitel haben einen Einfluss auf die beruflichen und sozialen
Positionen. Eine zentrale Rolle nimmt hierbei der ungleiche Zugang zu Bildung ein. Darüber
hinaus spielt die soziale Herkunft nach wie vor eine starke Rolle. Bildungschancen hängen stark
vom Elternhaus und der Familie ab. Zudem haben soziale Konflikte (z.B. Krieg) oder soziale
Bewegungen einen wesentlichen Einfluss (vgl. Becker & Hadjar, 2009, S. 55; Gerhartz-Reiter,
2017, S. 22; Grunert, 2012, S. 141; Langer, 2017, S. 153). Es kann nie nur ein Faktor isoliert und
unabhängig von den anderen auf die Bildungskarriere einwirken. Vielmehr handelt es sich um
7
komplexe „Wechsel-, Zusammen-, und Gegeneinander-Wirkungen“ (Langer, 2017, S. 154). Die
im Faktorenbündel wirkenden Faktoren unterscheiden sich hinsichtlich ihrer relativen
Wirkungsweise und hinsichtlich ihrer Wirkungsstärke auf jede individuelle Bildungskarriere (vgl.
Langer, 2017, S. 154). Sie wirken sich sowohl auf die objektive Ebene, also den Aufstiegsprozess
an sich aus, als auch auf die subjektive Ebene als Habitustransformation. Umfangreiche
Datenmengen belegen, dass nicht nur eine Schwelle oder eine Bildungsphase, ein Bildungsort
oder individuelle Defizite mit dem Bildungsaufstieg zusammenhängen, sondern vielmehr die
gesellschaftlichen Strukturen, die auf Leistungsgerechtigkeit und Chancengleichheit gründen (vgl.
El-Mafaalani, 2012, S. 313).
Es würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, würde man versuchen, ein
theoretisches Erklärungsmodell der Wechselwirkungen einzelner Faktoren für erwartungswidrige
Bildungsaufstiege vorzunehmen. Es geht vielmehr um jene Faktoren, deren Wechselwirkung auf
die Biografien der für diese Arbeit ausgewählten Frauen Einfluss hatten. Die Abkürzung EBA wird
im Rest der Arbeit häufig benutzt und steht für ‚erwartungswidrige Bildungsaufsteigerin bzw.
erwartungswidrige Bildungsaufsteigerinnen’.
2.2.1. Gesamtgesellschaftliche Faktoren
Gesamtgesellschaftliche Faktoren wie das Geschlecht, die soziale und regionale Herkunft oder
die Religion werden dem Kind mit der Geburt in eine bestimmte Familie zugeschrieben. Solche
Gruppenzugehörigkeiten haben Einfluss auf den Bildungs- und Karriereweg durch Bevorzugung
oder Benachteiligung der jeweiligen Person. War „In den 1960er Jahren […] die ‚katholische
Arbeitertochter vom Lande‘ der Inbegriff kumulierter Benachteiligungen im Bildungssystem“ (Hopf,
2017, S. 26), so ist es zu Beginn dieses Jahrhunderts der Migrantensohn in der Großstadt (vgl.
Hopf, 2017, S. 26). Gesamtgesellschaftliche nicht-schulische Faktoren haben sich im Zuge der
Geschichte immer wieder verändert. Historisch gesehen fand eine Reduktion sozialer
Ungleichheitsmuster statt, vor allem in Bezug auf regionale und religionsbezogene Faktoren.
Andere Faktoren wie das Geschlecht haben sich verschoben oder teilweise sogar umgedreht.
Herkunftsbezogene Faktoren wie soziale und nationale Herkunft blieben hingegen hartnäckig
bestehen (vgl. Becker, 2012, S. 128; Gerhartz-Reiter, 2017, S. 65).
Regionale Unterschiede gibt es in Österreich zwischen städtischen und ländlichen Regionen.
Schülerinnen und Schüler aus städtischen Regionen besuchen eher eine AHS oder BHS als ihre
in ländlichen Regionen lebenden Gleichaltrigen, deren Chance hierfür eher geringer ist. Dieser
Trend zeichnet sich vor allem im Bereich der Sekundarstufe I ab. Nur ein Viertel der Schülerinnen
und Schüler in Wohnorten mit unter 20.000 Einwohnern besuchen eine AHS, in größeren
Wohnorten mit bis zu 100.000 Einwohnern besuchen immerhin 39 Prozent eine AHS. Dieser
Anteil erhöht sich mit 47 Prozent auf fast die Hälfte in städtischen Wohnorten mit mehr als 100.000
8
Einwohnern. Mitunter Grund dafür ist, dass die Bildungsbeteiligung und die Qualifikationsstruktur
der Bevölkerung in den Städten höher ist (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 66). Dieses Bild zeichnet
sich auch in Deutschland ab, wo ebenso weiterhin soziale und regionale Ungleichheiten bestehen,
jedoch mit gewissen Modifikationen. Der Zugang zu einem Gymnasium wurde in der
Nachkriegszeit zunächst einfacher für untere soziale Gruppen. Obwohl sich dies in neuerer Zeit
veränderte, da der Gymnasialzugang wieder sozial geschlossener wurde, kann zumindest in
Teilbereichen eine schrittweise Angleichung der Bildungsbeteiligungsquoten festgestellt werden
(vgl. Ditton, 2010, S. 251). Laut Wenzel (2010) kann keine umfassend intendierte Reduzierung
von Bildungsbarrieren festgestellt werden, folglich besteht weiterhin eine regionale Ungleichheit
in der Bildungsteilhabe an mittleren Bildungsgängen, auch aufgrund der sozialen Geschlossenheit
gymnasialer und universitärer Bildung (vgl. Wenzel, 2010, S. 65).
In der Literatur finden sich schon früh Hinweise über die benachteiligend wirkende Verschränkung
von sozialer Herkunft mit Region und Religion (vgl. Dierckx, Miethe & Soremski, 2017, S. 3). Ein
wesentlicher Punkt, auch im Hinblick auf die im nächsten Kapitel folgenden Biografien, sind die
schrecklichen Geschehnisse des zweiten Weltkrieges. Juden wurden als minderwertig gegenüber
den ‚arischen’, ‚germanischen’ Völkern angesehen. Überfälle und Benachteiligungen wie die
Degradierung zu Bürgern zweiter Klasse, der Ausschluss vom Beamtenberuf oder die
Beschränkungen für den Besuch von Schulen und Universitäten gehörten zum alltäglichen Leben.
Sie wurden schikaniert, ihres Vermögens beraubt, vertrieben, als Arbeitssklaven ausgenutzt oder
deportiert (vgl. Ballhausen, 2004, S. 242 und 527). Trotz der zentralen Rolle von Religion in
vormodernen Gesellschaften, änderte sich dies mit Anbruch der Moderne (vgl. Müller, 2012, S.
190). Denn der Einfluss der Religionszugehörigkeit auf die Bildungschancen ist seit den 1970er
Jahren rückläufig (vgl. Becker, 2012, S. 128).
Im deutschsprachigen Raum konnte in den letzten Jahren eine Trendwende betreffend den Faktor
Geschlecht beobachtet werden. Die ideologisch orientierte Mädchenbildung – also Küche, Kirche
und Kinder – hielt den Bildungsreformdebatten Ende der 1960er Jahre nicht statt. In der Phase
der rechtlichen Gleichstellung sollten durch Bildungsexpansion und Koedukation die
Bildungschancen der Mädchen an jene der Jungen angeglichen werden. Durch stärker werdende
feministische Strömungen folgte der rechtlichen Gleichstellungsphase eine ausgleichende und
geschlechterbewusste, reflexive Koedukationsdebatte (vgl. Wenzel, 2010, S. 62). Bis Ende des
19. Jahrhunderts war die höhere Mädchenbildung im Alter von ca. 14 Jahren abgeschlossen. Die
höhere Mädchenschule bezog sich demnach nicht auf die Dauer des Schulbesuchs, sondern auf
die soziale Herkunft der Schülerinnen. Eine weitere Abstufung gab es zwischen den privaten und
öffentlichen Mädchenschulen, denn die privaten Töchterschulen waren sozial höher gereiht. Die
Lehrplaninhalte der höheren Mädchenschulen differierten zudem sehr stark von den Inhalten der
Gymnasialbildung der Knaben. Die Erziehung und Ausbildung der Mädchen galt der Vorbereitung
9
auf ihre Rolle als Hausfrau und Mutter. Alte Sprachen, Naturwissenschaften oder Mathematik
wurden wenig unterrichtet. Geisteswissenschaftliche und ästhetische Tätigkeiten standen
dagegen im Vordergrund. Nach der Vollendung der Mädchenbildung im Alter von ca. 14 Jahren
konnten noch zwei Jahre Privatunterricht genommen werden, dies war allerdings aufgrund der
Kosten nur für finanziell gut situierte Eltern möglich. Eine Matura sah eine Mädchenbildung bis
Ende des 19. Jahrhunderts nicht vor und legitimierte somit den Ausschluss aus akademischen
Berufen. Als entscheidende Sozialisationsinstanz reproduzierte die Mädchenschule die
vorherrschenden und tradierten Geschlechterrollenbilder (vgl. Franzke, 2016, S. 38–40)
Ditton (2010) und Wenzel (2010) beschreiben, dass in Folge der Bildungsexpansion die
Bildungsbenachteiligung von Mädchen im allgemeinbildenden System abgeschafft und das
weibliche Geschlecht somit zum Gewinner der Bildungsexpansion wurde. Der Anteil der Mädchen
in höheren Schulen ist mittlerweile größer als jener der Jungen und zudem sind Mädchen
erfolgreicher in ihren schulischen Karrieren (vgl. Ditton, 2010, S. 251; Wenzel, 2010, S. 62 f).
Schülerinnen haben im Vergleich zu Schülern, welche die selbe soziale Herkunft haben, eine um
neun Prozent höhere Wahrscheinlichkeit eine Gymnasialempfehlung zu erhalten (vgl. Gerhartz-
Reiter, 2017, S. 67). Dennoch setzt sich diese Bildungsqualifikation nicht immer in
entsprechenden zukunftsorientierten beruflichen Qualifikationen und Karrieren fort (vgl. Wenzel,
2010, S. 63).
Abbildung 1: Anteil Abschluss nach Geschlecht und Alter (Statistik Austria, 2020)
10
Die Zahlen der Abbildung 1 zeigen, dass infolge der Bildungsexpansion die traditionellen
geschlechtsspezifischen Unterschiede im Bildungsniveau abgebaut wurden. Im Zeitvergleich
(2007/08-2017/18) zeigen sich die merkbar steigenden Frauenanteile. 2017 verfügten 33,3% der
weiblichen und 27,3% der männlichen Bevölkerung im Alter zwischen 25 bis 64 Jahren über einen
mittleren oder höheren Schulabschluss. Mit 19,2% lag der Anteil der Frauen mit einem Hochschul-
oder Akademieabschluss über jenem der Männer, der bei 15,9% lag (vgl. Statistik Austria, 2020).
Obwohl die Mehrheit der Studienabschlüsse von weiblichen Studierenden absolviert wurden, liegt
der Frauenanteil bei Doktorratsabschlüssen bei 45,4%. Generell zeigt sich aber eine Steigerung
der Promotionen in den letzten Jahrzehnten, die zum größeren Teil auf weibliche Promovierungen
zurückgeht. Die Anzahl der weiblichen Doktorratsabschlüsse lag 1980/81 lediglich bei 13,5% (vgl.
Statistik Austria, 2019, S. 44). Obwohl Frauen eine wachsende Gruppe in akademischen
Laufbahnen sind, steigen viele nach der Promotion aus wissenschaftlichen und
forschungsintensiven Tätigkeiten an Universitäten aus. Karriereverläufe an Universitäten
bedürfen eines Wechsels der Universitäten, faktisch also Mobilität. Die Entscheidung der Frauen
für Kinder und deren Erziehung beeinflusst den weiteren Verlauf oder Abbruch der Karrieren
maßgeblich (vgl. Böhringer, 2017, S. 495). Betrachtet man die Zahl der belegten Studien zeigen
sich deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede bei der Studienwahl. Neben der
Veterinärmedizin (79,5%) weisen die Geisteswissenschaften (70,4%) den höchsten Anteil an
Frauen auf, in den Montanwissenschaften (23,4 %) und in der Technik (25,2 %) gibt es hingegen
den niedrigsten Frauenanteil (vgl. Statistik Austria, 2019, S. 34).
Bis ins frühe 20. Jahrhundert waren Universitäten eine Männerdomäne (vgl. Franzke, 2016, S.
35). Betrachtet man die Geschichte des Frauenstudiums, zeigen sich beachtliche zeitliche
Unterschiede in der Zulassung von Frauen zu den Universitäten. Großen Einfluss darauf hatten
die Gleichberechtigungsbestrebungen und Frauenbewegungen (siehe dazu 2.2.6. Abschnitt über
Frauenbewegung und Feminismus). Die Züricher Universität ließ Frauen schon ab 1840 als
Gasthörerinnen zu (vgl. Domke, 2017, S. 279) und ermöglichte Frauen ab 1865 die Zulassung
zum Studium und den Studienabschluss. Viele der ersten Studentinnen waren Russinnen, die in
ihrem Land nicht studieren konnten und sich für ein Studium im Ausland entschlossen (vgl.
Neumann & Benz, 2018, S. 235). In den Vereinigten Staaten von Amerika studierten Frauen
bereits seit 1833 an einigen Universitäten oder Colleges, teilweise sogar koedukativ. Ab 1860
studierten und promovierten Frauen unter anderem in Frankreich (1863), England (1869/1870),
Schweden (1873), Dänemark (1875), Norwegen (1882), Belgien (1883) und Österreich (1897).
Einer der Vorreiter in der Hinsicht war Österreichs südliches Nachbarland Italien. Hier wurden
bereits Ende des 19. Jahrhunderts Doktortitel in Physik, Naturwissenschaften und Philologie
verliehen (vgl. Franzke, 2001, S. 173; Gerhard, 2007, S. 279 f). Vermutlich wurde das erste
Doktorat einer Frau aber schon 1678 von der Universität von Padua an Elena Lucrezia verliehen,
11
die demnach die erste Frau mit akademischem Abschluss war. Zurückzuführen war dieser Erfolg
vermutlich auf den Einfluss ihrer Familie, denn Bestrebungen anderer Frauen sich für ein Doktorat
zu immatrikulieren, wurden abgewiesen. Erst 50 Jahre später erhielt Laura Bassi als zweite Frau
ein Doktorat. Es gibt vereinzelte Fälle, die schon im 18. Jahrhundert auf ein Frauenstudium
hindeuten (vgl. di Simone, 1996, S. 243), der reguläre Zugang für Frauen zu Italiens
Universitätsstudien erfolgte aber erst 1876 (vgl. Franzke, 2001, S. 173). Eines der letzten
europäischen Länder, welches Frauen regulär und gesetzlich zur Universitätsausbildung zuließ,
war Deutschland. Die gesetzliche Verankerung der Zulassung von Frauen zum
Universitätsstudium erfolgte zuerst in Sachsen (1906), dann in Preußen (1908) und anschließend
in ganz Deutschland (vgl. Franzke, 2016, S. 37 und 88f; Gerhard, 2007, S. 279 und 291).
Auch die soziale Herkunft, darunter die Berufsposition und das Einkommen der Eltern, ist als
Faktor nicht außer Acht zu lassen, da die Bildung der Eltern erheblichen Einfluss auf die
Bildungslaufbahnen der Kinder nimmt (vgl. Statistik Austria, 2019, S. 36). Obwohl
herkunftsbedingte Ungleichheiten auf Bildungschancen beim Zugang zur Realschule aufgrund
sozialer Unterschiede durch die Bildungsexpansion abnahmen, hängen die Chancen für den
Zugang zu einem Gymnasium und die darauffolgenden Bildungschancen noch stark von der
Schichtzugehörigkeit und der sozialen Position des Elternhauses ab (vgl. Becker, 2010, S. 163 f;
Becker, 2011, S. 101; Grunert, 2012, S. 141). Häufig haben die Eltern erwartungswidriger
Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger innerhalb der Arbeiterklasse selber den Aufstieg
in höher gestellte Positionen, wie beispielsweise die eines Fach- oder Vorarbeiters bzw. die einer
Fach- oder Vorarbeiterin, geschafft. Sie zeigen eine hohe Arbeitsmotivation und gehen
gelegentlich auch Nebentätigkeiten nach, weswegen sie, im Vergleich mit anderen aus ihrer
Bevölkerungsgruppe, durch höhere Einkommen mehr finanzielle Mittel zur Verfügung haben.
Dadurch können sie sich schichtuntypisch bessere Wohnbedingungen leisten, welche einen
positiven Effekt auf die Lebenssituation des Kindes haben. Zudem haben sie schichtuntypisch
mehr finanzielle Kapazitäten, um die Bildung ihrer Kinder zu unterstützen und zu fördern, wodurch
sich den Kindern mehr Bildungsmöglichkeiten eröffnen. In Relation zu anderen in ihrer
Sozialstruktur zählen die Eltern von EBA eher zu den Privilegierten (vgl. Langer, 2017, S. 155).
Eine Studie des Deutschen Studentenwerks, durchgeführt durch das HIS-Institut für
Hochschulforschung, fand heraus, dass im Jahr 2009 77% der Akademiker-Kinder studierten und
im Vergleich dazu nur 23% der Kinder aus Nicht-Akademiker-Familien (vgl. Middendorff,
Apolinarski, Poskowsky, Kandulla & Netz, 2013, S. 111). Dies beweist, wie stark der Bildungsweg
eines Kindes in Deutschland trotz der Reformen der letzten Jahrzehnte von der sozialen Herkunft
abhängt und noch stark geprägt ist (vgl. Domke, 2017, S. 293).
12
2.2.2. Soziales Kapital: Familie, Erziehung und Sozialisation
Ein wesentlicher Schlüsselfaktor für den Bildungsverlauf von Kindern ist die Qualität der sozialen
Beziehungen. Mit der Ressource Sozialkapital sind persönliche Beziehungen gemeint, die laut
Nairz-Wirth, Meschnig & Gitschthaler (2010) bei allen ihren Interviewten der Grund für positive
Entwicklungen waren (vgl. 2010, S. 66). Soziale Beziehungen beeinflussen die
Bildungsergebnisse des Kindes wesentlich (vgl. Schmitt, 2009, S. 729). Kompetente und stabile
Bezugspersonen wie Patinnen und Paten, Verwandte oder Bekannte sowie Lehrerinnen und
Lehrer oder auch Gleichaltrige (Peers) fungieren hier als Vorbilder und nehmen eine
unterstützende und problemreduzierende Funktion ein (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 74; Nairz-
Wirth et al., 2010, S. 66 f).
Familiäre ökonomische, soziale, kulturelle, finanzielle und auch zeitliche Ressourcen – also
Quantität und Qualität der Eltern-Kind-Beziehungen – und auch der Erwerb von grundlegenden
Kompetenzen in der Familie vermitteln positive Beziehungserfahrungen und haben Einfluss auf
den späteren Bildungserfolg der Kinder (vgl. Grunert, 2012, S. 139 f; Schmitt, 2009, S. 728;
Schütte, 2013, S. 117 und 185 f). Positive Beziehungs- und Bindungserfahrungen die im frühen
Alter des Kindes stattfinden, also das Aufwachsen in einem familiären Klima, welches geprägt ist
von emotionaler Sicherheit, Unterstützung durch die Eltern und Zusammenhalt innerhalb der
Familie, stehen am Anfang des sozialen Aufstiegs (vgl. Schütte, 2013, S. 183 ff). Der Einfluss der
Familie verringert sich aber im Laufe der Schulkarriere, wenn der erworbene milieuspezifische
Habitus durch andere Faktoren (wie Schule, Peers, Mentorinnen und Mentoren) beeinflusst wird
(vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 74).
Die Bildungsaspirationen, also Erwartungen der Eltern an die Kinder und deren
Bildungslaufbahnen sowie deren Unterstützung in Schulfragen, bilden einen eigenständigen
Faktor für erwartungswidrige Bildungskarrieren. Die meist aufstiegsorientierten Eltern späterer
EBA zeigen großes Interesse an Bildung und dem schulischen Bildungsverlauf des Kindes, um
den Wunsch des sozialen Aufstiegs des Kindes wahr werden zu lassen (vgl. Langer, 2017, S.
159). Das Anregungs- und Anforderungspotential in der Familie ist ein förderlicher Faktor für den
Schulerfolg (vgl. Hurrelmann & Wolf, 1986, S. 25). Die elterliche Erwartungshaltung, im speziellen
die Erwartungshaltung der Mutter, ist eine zentrale Einflussgröße, die zu einem bestimmten
Schulabschluss verleitet (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 91 f). Die hohen elterlichen
Bildungsaspirationen enden nicht wenn das Kind die Matura erlangt, da die Eltern davon
ausgehen, dass das Kind danach ein Studium macht. Es gibt in der Literatur drei Gründe für ihre
schichtuntypisch hoch ausgeprägte Wertschätzung gegenüber Bildung. Verpasste Chancen und
der als eingeschränkt erlebte eigene Bildungsweg der Eltern sind der erste Grund. Eltern
übertragen also nicht erfüllte eigene Bildungsambitionen auf ihre Kinder. Als zweiten Grund
werden die eigenen begrenzten beruflichen Möglichkeiten sowie negative Erfahrungen in der
13
Arbeitswelt genannt. Sie wollen ihren Kindern nicht nur diese negativen Erfahrungen ersparen
(vgl. Langer, 2017, S. 159), sondern auch ein Leben in Armut, da sie wissen, dass mit dem
Bildungsstand auch das Einkommen steigt, wodurch ihre Kinder es später einmal besser haben
werden als sie. Der dritte Grund betrifft den Status und dessen Steigerung in der
Herkunftscommunity, also das Ansehen der Familie und den gesellschaftlichen Aufstieg (vgl.
Langer, 2017, S. 159; Schütte, 2013, S. 198).
Ein weiterer Faktor von Bildungskarrieren ist der schulbezogene elterliche Rückhalt für die
Kinder. Aufstiegsorientierte Eltern wollen ihren Kindern den Zugang zu Bildung ermöglichen und
verzichten dafür auch auf vieles. Dafür werden finanzielle Ängste in Kauf genommen und eigene
Wünsche hintenangestellt, mit dem Ziel im Hinterkopf, wie oben schon genannt, dass es ihre
Kinder später einmal besser haben als sie. Dieser Typ Eltern vermittelt ihren Kindern, dass sie
durch zielstrebiges Lernen und Arbeiten eine Chance auf gesellschaftlichen und beruflichen Erfolg
haben (vgl. Schütte, 2013, S. 198 f). Das Risiko eines Scheiterns ihres Kindes nehmen sie eher
in Kauf als andere Eltern (vgl. Spiegler, 2015, S. 53). Sie bieten ihrem Kind Rückhalt und
Unterstützung in schulischen Dingen. Ihnen ist bewusst, dass sie ihren Kindern nicht immer helfen
können, aber jede erbrachte schulische Leistung wird wertgeschätzt und anerkannt. Außerdem
wird mit den Lehrern und Lehrerinnen über die Interessen des Kindes und die möglichen
Bildungswege gesprochen. Eventuell auch entgegen der Empfehlung mancher Lehrkräfte, wird
das Einschlagen höherer Bildungswege angestrebt (vgl. Langer, 2017, S. 160; Schütte, 2013, S.
199).
Über das spezifische Erziehungsverhalten der Eltern späterer EBA, welches mit der sozialen
Herkunft zusammenhängt, ist in der Literatur nur wenig zu finden. Die Studie von Hurrelmann und
Wolf (1986) kommt jedoch zu der Erkenntnis, dass dem elterlichen Erziehungsstil und der
Familienstruktur eine fördernde Wirkung auf die Schullaufbahn zugeschrieben werden können.
Umgekehrt können sich ungünstige Lernbedingungen auch negativ auf die schulischen
Leistungen auswirken (vgl. Hurrelmann & Wolf, 1986, S. 25). Erwähnt wird in der Literatur, dass
die gesetzten Regeln und Normen auch gegen die Wünsche der Kinder durchgesetzt werden
können, da die Eltern in Hinblick auf zukünftige Verpflichtungen in Schule und Arbeit diesen
Normen mehr Gewicht zuschreiben. Zusätzlich zu dieser strukturgebenden Atmosphäre wirkt sich
ein liebevolles Erziehungsverhalten positiv auf die Widerstandsfähigkeit des Kindes aus. Der
liebevolle und positive Umgang der Eltern mit ihren Kindern steht an oberster Stelle und sie sind
stets präsent, wenn diese Anliegen oder Kummer haben (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 74 f;
Langer, 2017, S. 157). Ohne Druck und mit einem Gefühl der Freiheit können die Kinder ihre
Fähigkeiten entdecken und entwickeln wodurch die Kompetenzaneignung gefördert wird (vgl.
Langer, 2017, S. 157; Schütte, 2013, S. 198). Zur Förderung sozialer und kognitiver Kompetenzen
der Jugendlichen erwies sich der autoritative Erziehungsstil als der Erfolgreichste. Dieser
14
Erziehungsstil unterstützt ohne Untergrabung der eigenen Autonomie oder Individualität des
Kindes auch disziplinierte Konformität. Regeln und etwaige Widersprüche werden besprochen.
Obwohl bei Disputen starke Kontrolle durch die Eltern erfolgt, werden die Kinder nicht durch
Einschränkungen eingeengt (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 75 und Fn. 16). Langer (2017)
vermutet, „dass die oben erwähnten interaktiv lebendigen und solidarischen Beziehungen auf der
einen Seite und die Inanspruchnahme sozialisierender Institutionen auf der anderen Seite an sich
erzieherische Wirkung entfalten, die scharf konturierte disziplinierende Akte selten werden lassen
und in ihrer Bedeutung relativieren“ (2017, S. 157).
Die von Langer (2017) beschriebene Nutzung sozialisierend wirkender Institutionen trägt zur
Entwicklung bildungsaufstiegsförderlicher kognitiver Kompetenzen bei (vgl. Langer, 2017, S. 158).
Laut Schütte (2013) führt das soziale Kapital dazu, dass Kinder im späteren Leben und auch im
Bildungsweg erfolgreicher sind als jene Kinder, die viel alleine sind. Dazu zählen
Freizeitaktivitäten, bei denen Kinder mit anderen Kindern und auch mit Erwachsenen zusammen
sind (vgl. Schütte, 2013, S. 151) sowie die Nutzung von Kindergärten und Vereinen zum Knüpfen
von Beziehungen. Oft sind die Eltern späterer erwartungswidriger Bildungsaufsteigerinnen
schichtuntypisch viel mehr in die sozialen Strukturen ihres Heimatortes eingebunden und
verschaffen ihren Kindern dadurch Zugang zu diesen beiden Typen von Bildungseinrichtungen.
Besonders der Besuch von Kindertagesstätten trägt zur Förderung kognitiver Kompetenzen bei,
die wiederum den Bildungsaufstieg fördern. Dies gelingt unter folgenden Prämissen: das Kind
besucht den Kindergarten regelmäßig, je früher desto besser, und Entwicklungsrückstände und
Lernschwierigkeiten werden im Kindergarten frühzeitig wahrgenommen und gezielt bearbeitet
(vgl. Langer, 2017, S. 158).
Oft kämpfen Kinder bereits vor Schulbeginn mit schul- und bildungsbezogenen Dispositionen.
Mit Dispositionen sind „emotionale und kognitive Muster inklusive Erwartungshaltungen,
Bewertungssysteme, Selbstbild und Selbstwirksamkeitsüberzeugung“ (Langer, 2017, S. 161)
gemeint, die ihre Wirkung zu Schulbeginn entfalten. Bereits zu Schulbeginn sind Kinder selbst
bildungsorientiert, da ihre Familie respektive ihre Eltern ihnen den hohen Wert der Bildung bereits
vermittelt haben. Sie wollen lernen und leisten, um einerseits die Bildungserwartungen zu erfüllen
und andererseits ihren Drang nach positiver schulischer Anerkennung zu befriedigen. Ein
ausgeprägtes Verantwortungsgefühl für das eigene Handeln wird hierbei entwickelt. Durch die
erfahrene Selbstwirksamkeit und das Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten, Stärken und das
eigene Leistungsvermögen, welche durch die Eltern vermittelt wurden, sind sie tendenziell
überzeugt ihren Bildungs- und Karriereweg in ihrem Sinne beeinflussen und entscheiden zu
können. Der Umgang mit Belastungssituationen und Ablehnung gelingt ihnen aufgrund der
mitgebrachten Stressverarbeitungskompetenz bereits in der Schule sehr gut. Die schulische Logik
15
sowie deren Pflichten und Regeln werden, wenn auch zeitweise kritisch, angenommen (vgl.
Langer, 2017, S. 161).
2.2.3. Bildung und Bildungssystem
Das Bildungswesen hat einen erheblichen Einfluss auf einzelne Bildungskarrieren. Die
Dispositionen vor Schulbeginn, also quasi die zugeteilten Rollen, werden nur selten neu vergeben.
So schafft das Bildungssystem die Grundlage für die stetige Reproduktion der Ungleichheit und
festigt die soziale Herkunft weiter (vgl. Ribolits, 2006, S. 84). Es gibt bis dato wenig
Untersuchungen, die den Verlauf von Bildungskarrieren betreffend den Einflussfaktor Schule
erforschten, jedoch betonen neuere Studien den Einfluss der Schule, deren Organisation und die
sozialen Beziehungen in der Schule (vgl. Nairz-Wirth et al., 2010, S. 34). Die Studie von
Hurrelmann und Wolf (1986) ist die Erste, die sich mit der Biografie und dem schulischen Erfolg
sowie Misserfolg von Jugendlichen auseinandersetzt. Darin kommen die Autoren zu dem
Ergebnis, dass der Verlauf der Schullaufbahn bis ins Erwachsenenalter von hoher Relevanz ist
und sowohl eine biografische als auch identitätsbeeinflussende Wirkung hat (vgl. 1986, S. 162).
Die institutionellen Praktiken und Arbeitsbeziehung in der Schule spielen eine große Rolle im
Umgang mit den unterschiedlich vorgeprägten Schülern und Schülerinnen. Konkret geht es
hierbei laut der Literatur um drei Punkte, die den Grad der sozialen Sensibilität – wie Langer dies
bezeichnet – in der Schule in Hinblick auf die unterschiedlich vorgeprägten Schülerinnen und
Schüler betrifft (vgl. Langer, 2017, S. 162).
Der erste Punkt betrifft die Regeln, Erwartungen und Bewertungskriterien, die in der Schule
hinsichtlich Sozialleben, Aufgabenstellungen und Leistungsanforderungen gelten sowie deren
Kommunikation an die Schülerinnen und Schüler. Dies kann entweder dialogorientiert mit
eindeutigen Erklärungen stattfinden oder implizit, in dem die Regeln und Bewertungen einfach
vollzogen werden, unabhängig davon wie es den Schülern und Schülerinnen damit geht. Die erste
Variante berücksichtigt, hinsichtlich Leistungsanforderungen und Erwartungen, das Vorwissen
und die Aufnahmefähigkeit der Kinder. Außerdem wird im Zuge von ernsthaften Feedback-
Gesprächen geklärt, was richtig gemacht wurde und was nicht und vor allem wieso und wie
zukünftig effektiver gelernt werden kann. Die zweite Variante führt zur Desorientierung von
Schülern und Schülerinnen, da die Erwartungen an das Verhalten und die unterschiedlichen
Aufgabenstellungen wenig verständlich oder in widersprüchlicher Weise oder gar erst im
Nachhinein mitgeteilt werden. Zudem werden Leistungen gleichgültig hingenommen oder es wird
nur auf Defizite eingegangen (vgl. Langer, 2017, S. 162 f; Nairz-Wirth et al., 2010, S. 35).
Der zweite Punkt, mitunter einer der meistunterschätzten Punkte in der Diskussion um
Bildungsgleichheit, handelt vom Umgang zwischen den Lehrkräften und den Schülerinnen und
Schülern. Obwohl bekannt ist, dass soziale Beziehungen allgemein einen großen Einfluss auf die
16
Bildungswege haben, werden schulische Arbeitsbeziehungen selten thematisiert. Auch hier gibt
es zwei Varianten wie diese Arbeitsbeziehungen gestaltet sein können: entweder durch
persönliche Beziehungen auf Basis eines wertschätzenden und respektvollen Umgangs
miteinander oder ein Umgang geprägt von negativen Emotionen (vgl. Langer, 2017, S. 163 f).
Beim respektvollen Umgang miteinander spielen Lehrkräfte eine große Rolle als eine Art Mentorin
beziehungsweise Mentor. In privaten Gesprächen, eventuell auch mit den Eltern gemeinsam,
werden Lösungen entwickelt, um den Kindern zu helfen und das Vorankommen zu fördern. Die
Unterstützung ist ganz entscheidend für spätere Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger,
da vor allem Kinder mit nicht optimalen Ausgangsbedingungen die Aufmerksamkeit, Akzeptanz
und das Interesse benötigen (vgl. Langer, 2017, S. 164). Viele erfolgreiche Absolventinnen und
Absolventen nennen Lehrkräfte als maßgeblichen Einfluss für Ihr Interesse an einem Gebiet. Bei
bereits verstorbenen Absolventinnen und Absolventen können Widmungen in den Dissertationen
einen Hinweis auf Einflüsse geben. Tatsächlich werden oftmals Lehrkräfte genannt (vgl. Tobies,
1997, S. 33 f). Die Lehrperson ist auch oft Ansprechperson bei der Auswahl der weiterführenden
Bildungseinrichtung respektive des Studiums. Durch gute Beziehungen mit einer Lehrperson, die
als Vorbild fungiert, werden Schülerinnen und Schüler gerne zur Schule gehen. Wenn die Schule
als zweites Zuhause angesehen wird, kann der Einfluss des Elternhauses reduziert und durch
schulische Aktivitäten das Selbstbewusstsein des Kindes gestärkt werden. Dafür ist eine
entsprechende Schulung der Lehrpersonen nötig, um mit gezielter Förderung Leistungsdefizite
ausgleichen zu können. Außerdem müsse laut Gerhartz-Reiter (2017) an der sozialen und
unterrichtlichen Kompetenz von Lehrkräften gearbeitet werden (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 107
f und 113).
Ein Umgang geprägt von negativen Emotionen, wie Erniedrigung, böswillige Ungerechtigkeit und
Schikanierung, Ablehnung, Abneigung sowie Gleichgültigkeit und Gefühlslosigkeit wäre die
gegenteilige nicht zielführende Variante. Wird die Schulzeit nicht vorzeitig abgebrochen, endet sie
für viele Schüler völlig orientierungslos und mit illusionären Vorstellungen über mögliche Berufe
(vgl. Langer, 2017, S. 162–165; Nairz-Wirth et al., 2010, S. 72–74).
Der dritte Punkt ist die Behandlung von wahrgenommenem Absentismus vom Unterricht durch
die Schule. Variante eins ist der konstruktive Umgang und Variante zwei ist die Abwälzung von
Verantwortung, wofür es unterschiedliche Gründe gibt (vgl. Langer, 2017, S. 162). Langer (2017)
schreibt hierzu:
„Spätere Bildungsaufsteiger/innen scheinen entweder nicht in nennenswertem Maße dem
Unterricht fernzubleiben, oder es gilt im Nachhinein nicht mehr als wichtig, weil der
Bildungsweg ja zum Erfolge geführt hat. Es ist auch möglich, dass die Schulen der
17
späteren EBA nicht offensichtlich auf Absentismus reagieren mussten, weil ihre sonstige
soziale Sensibilität bereits prophylaktische Effekte hatten.“ (S. 166)
Laut Langer (2017) ist der Grad der sozialen Sensibilität dann stark ausgeprägt, wenn die Schule
die erstgenannten Varianten treffen. Das Treffen der zweiten Varianten produziere laut ihm
seltener überraschend erfolgreiche Schulkarrieren, sondern eher Schulabbrüche. Nur wenn
Praktiken schulweit umgesetzt werden, handelt es sich um institutionelle Praktiken, unabhängig
davon wie einzelne Lehrkräfte handeln oder Situationen gehandhabt werden (vgl. Langer, 2017,
S. 162).
Ein weiterer wichtiger Faktor ist die praktizierte Ungleichheit, die durch Schullaufbahn-
empfehlungen von Lehrkräften oft unbewusst und unabsichtlich diskriminierend einhergehen. Die
gegebenen Übertrittsempfehlungen sind oft zentral für die weiteren Bildungskarrieren der Kinder
(vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 110 f). Neben der sozialen Herkunft werden aber auch die
schulischen Leistungen und leistungsfremde, aber dennoch leistungsrelevante Merkmale, wie
Motivation, Fleiß, Gewissenhaftigkeit, Ordnung, Interesse, Belastbarkeit und auch
Charaktereigenschaften wie Ehrlichkeit, Gehorsam und Höflichkeit, für die Laufbahn-
empfehlungen herangezogen (vgl. Ditton, 2010, S. 253; Gerhartz-Reiter, 2017, S. 110 f).
2.2.4. Glück und Zufall
Ein weiterer Faktor, der zu erwähnen ist, kann zwar nicht theoretisiert werden, wird aber in der
Literatur immer wieder, wenn auch manchmal indirekt, behandelt: Glück und Zufall. El-Mafaalani
(2012) verweist auf diese beiden Faktoren, da sie in seinen empirischen Analysen zu sozialen
Aufstiegsprozessen von den Interviewten genannt werden. Nebst einem Veränderungswunsch
spielen auch Glück oder Zufall und daraus sich ergebende Möglichkeiten und
Unterstützungsleistungen eine wesentliche Rolle (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 328–329 und 151-
280 (Interviews)). Im folgenden Abschnitt 2.2.5. ‚Soziales Kapital: Schulunabhängige
Motivationen‘ kommt der Faktor Zufall vor. Wenn nämlich schulexterne Mentorinnen und Mentoren
zufällig ins Leben des Kindes treten und eine wegweisende Position, eine Schlüsselposition, im
Leben zukünftiger Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger einnehmen (vgl. Langer, 2017,
S. 171).
2.2.5. Soziales Kapital: Schulunabhängige Motivationen und Schlüsselerlebnisse
Unabhängig von der Schule kann das Kind den Wunsch entwickeln, durch Bildung aufzusteigen.
Dies geschieht, wenn das Kind die schlechten und schwierigen Arbeitsbedingungen der Eltern
sieht und es für sich selbst Chancen zur eigenen Selbstverwirklichung ausmacht, was vor allem
durch Schlüsselerlebnisse hervorgerufen werden kann. Dies kann auch erst im späteren
18
Lebensverlauf eintreten. Häufigster Grund für solche Schlüsselerlebnisse ist die Orientierung an
Peers und Vorbildern (vgl. Langer, 2017, S. 167 f). Denn jede individuelle
Bildungswegentscheidung ist zwangsläufig von anderen Personen, wie Eltern, Peers oder
Lehrkräften, beeinflusst (vgl. Grunert, 2012, S. 121 und 132; Miethe, Soremski, Suderland,
Dierckx & Kleber, 2015, S. 36). Die Entwicklung von Interessen wird im Alter von sechs bis elf
Jahren stark von Gleichaltrigen beeinflusst. Dieser Einfluss übersteigt jenen der Familie und der
Schule merklich (vgl. Grunert, 2012, S. 132).
Peers, also Gleichaltrige, sind eine wichtige Ressource, wenn es um Motivation geht. Wichtig ist
mit welchen Peers sich das Kind umgibt, weswegen die Wahl der Schule hier bezüglich sozialer
Zusammensetzung von großer Relevanz ist (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 92 f). Denn der
familiale Einfluss reduziert sich im Laufe des Bildungsweges, wohingegen andere Faktoren wie
zum Beispiel Schule, Peers, Mentorinnen und Mentoren eine Vorbildfunktion übernehmen und an
Einfluss gewinnen (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 74; Grunert, 2012, S. 132; Nairz-Wirth et al.,
2010, S. 66 f). Peers spielen daher bei der Auswahl weiterführender Bildungseinrichtungen eine
große Rolle (vgl. Langer, 2017, S. 163–165). Wichtig ist, dass es keine (engen) Kontakte mehr zu
herkunftsähnlichen Peers gibt, außer diese schlagen auch solch einen Aufstiegsweg ein (vgl. El-
Mafaalani, 2012, S. 326). Nairz-Wirth, Meschnig & Gitschtaler berichten, dass die Peergruppe
einen immensen psychischen Druck ausübt, der von subtilen bis hin zu offenen Varianten reichen
kann (vgl. Nairz-Wirth et al., 2010, S. 82).
Spätere Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger vergleichen ihre Leistungen mit denen
der Mitschülerinnen und Mitschüler aus bildungsnahen Milieus, wodurch ein positives
Selbstbild über die eigene Leistungsfähigkeit ausgebildet wird. Der Kontakt zu diesen Peers nimmt
eine entscheidende Rolle ein. Der reflektierende Vergleich der eigenen Herkunftsfamilie mit dem
Freizeit-, Urlaubs- und Elternverhalten ihrer Peers erzeugt den Wunsch nach finanziellem,
kulturellem und sozialem Aufstieg. Je mehr die eigene Familie beziehungsweise das eigene Milieu
als beengend und demütigend erfahren wird, desto stärker wird der Wunsch sich von den
Herkunftsverhältnissen zu lösen. Normen, Überzeugungen und Handlungsweisen von Personen,
die Bildung höher wertschätzen als die Herkunftsgruppe, werden übernommen, vor allem in Bezug
auf die Verbesserung der schulischen Leistung. Dieses Engagement bringt positives Feedback
von Lehrkräften sowie Mitschülerinnen und Mitschülern, was unter anderem das
Durchhaltevermögen der EBA stärkt. Außerdem führt dies zu einem selbstverstärkenden,
persönlich-emotional stabilisierenden und kognitiv fördernden Prozess. Die Erwartungen an den
eigenen Bildungsweg verändern sich und der eigene Aufstieg erscheint realistisch umsetzbar.
Lehrkräfte bestärken das positive Sozialverhalten und die positiven Leistungen des Kindes und
auch die Mitschülerinnen und Mitschüler aus bildungsnahen Schichten akzeptieren großteils
19
künftige EBA. Rückblickend wird die Schulzeit als positive Erfahrung gewertet (vgl. Langer, 2017,
S. 167–169).
Diese einschneidenden Differenzerfahrungen zwischen dem Herkunftsmilieu und dem
Sozialkontext des bildungsnäheren Milieus verursachen Gefühle der Fremdheit, Irritationen und
Ängste. Im biografischen Abschnitt kommt es in der Jugend zu dieser Phase der Irritationen, in
welcher der eigene Handlungsspielraum als eingeschränkt erlebt wird. Diese Differenzerfahrung
kann dabei als akute biografische Krise oder als biografisch relevanter Wendepunkt verstanden
werden. Durch den Milieuwechsel, also den Wechsel des sozialen Umfelds, geschieht eine Um-
und Neukonstruktion der individuellen sozialen Identität. Dabei werden Verhaltensweisen, Denk-
und Deutungsgewohnheiten, die einem in die Wiege gelegt wurden, verändert. Es können dabei
zwei Typen unterschieden werden, welche die Habitustransformation rechtfertigen: einerseits der
empraktische Umgang, also die Normalisierung der Irritationen, indem sie situations- oder
themengebunden verarbeitet werden, andererseits der reflexive Umgang, der sich kritisch mit den
sozialen und habituellen Gegebenheiten auseinandersetzt. El-Mafaalani nennt den reflexiven
Umgang ‚Dramatisierung‘ (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 313–320 und 326–327; Langer, 2017, S.
171–173).
Auf die oben genannte Phase der Irritation folgt die Phase der Distanzierung. Neue soziale
Anschlussmöglichkeiten werden gesucht und neue Denk- und Handlungsweisen werden
ausgebildet. Der empraktische Typ setzt Herkunftsmilieu und das neue bildungsnähere Milieu in
Beziehung zueinander und bewältigt die Differenzen durch Ausbalancieren. Der reflexiv-kritische
Typ kann auch in einem biografischen Bruch, also in der Ablehnung des Herkunftsmilieus,
münden. Obwohl der Habitus, also die eigenen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster,
einen hohen Kompatibilitätsgrad zum höheren Milieu aufweist, kann er doch nicht gänzlich von
seiner Sozialisationsgeschichte gelöst werden. Dennoch ist die Veränderung des Habitus ein
wichtiger Faktor für einen Bildungsaufstieg zum beruflich etablierten Akademiker oder zu einer
beruflich etablierten Akademikerin. Diese Entfremdungserfahrungen führen zu einem Balanceakt
zwischen Loyalität zum und der Abgrenzung vom Elternhaus, was oftmals als große Belastung
empfunden wird. Es gibt verschiedene Ausprägungen der Distanzierung und auch ein Mitnehmen
der Eltern stellt eine Form dar (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 313–320 und 326–327; Langer, 2017,
S. 171–173).
Spätere EBA können aber generell mit all dem bildungsorientiert umgehen. Grund dafür sind
mitunter die sozialen Anknüpfungen an Peers aus dem bildungsnäheren Milieu und die
Erkenntnis, dass Ehrgeiz, Fleiß und Anstrengung schlussendlich Früchte tragen. Der gesteigerte
Selbstwert und die positive Selbstwahrnehmung helfen eventuelle soziale Differenzen
auszuhalten und zu verarbeiten. In dieser Phase der Stabilisierung, wird das Verhältnis zum
20
Herkunftsmilieu geklärt (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 313–320 und 326–327; Langer, 2017, S. 171–
173).
Neben Peers können auch schulexterne Mentorinnen und Mentoren eine wegweisende
Position im Leben zukünftiger EBA einnehmen. Sie nehmen eine Vorbildfunktion ein, an der sich
das Kind orientieren kann, was voraussetzt, dass die Person einer bildungsnahen Gruppe
angehört. Diese Mentorinnen bzw. Mentoren können gemeinhin zufällig ins Leben des Kindes
treten und sind aus dem (oft entfernen) Verwandten-, Bekannten- oder Freundeskreis. Solch eine
Mentorin bzw. solch ein Mentor kann auch erst im späteren Leben auftauchen, also in der
Ausbildung oder Berufstätigkeit (vgl. Langer, 2017, S. 171).
2.2.6. Makro-Faktoren
Dieser Punkt behandelt ein Bündel an Faktoren, dessen Einfluss auf Individuen gar nicht oder
zumindest nicht in dessen historischen und prozesshaften Charakter analysiert wurde. Gemeint
sind Makro-Faktoren, also institutionelle, gesellschaftliche und wirtschaftspolitische
Rahmenbedingungen, welche die Chancen auf Bildungsaufstieg aber auch die Gefahr des
Bildungsabstiegs wesentlich erhöhen können. So oder so tangieren die gesamtgesellschaftlichen
und bildungspolitischen Gelegenheitsstrukturen jeden Bildungsweg und bestimmen dessen
Verlauf mit (vgl. Miethe, Soremski, Suderland, Dierckx & Kleber, 2015, S. 34 und 266).
Bereits Miethe, Soremski, Suderland, Dierckx und Kleber (2015) haben sich im Zuge ihrer Studie
zu Bildungsaufstiegen mit dem Ansatz von Sidney Tarrow (1991) auseinandergesetzt und einen
Zusammenhang hergestellt (vgl. Miethe et al., 2015, S. 34–37 und 46). Sidney Tarrow fokussierte
sich bei seiner Erforschung auf den historischen und politischen Kontext sozialer
Bewegungen, wie beispielsweise Friedensbewegungen. Der Ansatz der Konzeptualisierung
dynamischer Veränderungen historischer Phasen ist durchaus auch für den Zusammenhang von
Bildung und sozialer Ungleichheit nutzbringend. Er zielte zwar nicht auf Bildungsaufstiege ab, die
in dieser Arbeit behandelt werden, dennoch sind die in seiner Studie behandelten
Zusammenhänge von veränderlichen strukturellen Einflussfaktoren auf soziales Handeln auch für
diese Arbeit interessant. Tarrow (1991) bezeichnet politische Gelegenheitsstrukturen ebenfalls als
Einflussgröße zur Ermutigung oder Entmutigung sozialer oder politischer Akteure bzw. deren
unterschiedlich ausgeprägte Chancen auf Umsetzung ihrer Vorstellungen. Interessant für diese
Arbeit ist, wie solche ‚politischen Großwetterlagen‘ Einzelne zu individuellen
Bildungsentscheidungen und der Entstehung der Vorstellung von Bildungschancen ermutigen
oder entmutigen. Tarrow nennt vier Faktoren, die politische Richtungsänderungen ermöglichen
und so Einfluss auf viele Bildungswege haben: Neben dem Ausmaß der Offenheit oder der
Geschlossenheit politischer Institutionen zählt auch die Instabilität und Stabilität politischer
Beziehungen zu diesen Faktoren. Er berücksichtigt damit externe nationale sowie internationale
21
politische und ökonomische Faktoren. Darüber hinaus sind die An- oder Abwesenheit von
Unterstützerinnen und Unterstützern sowie Verbündeten und der Bruch innerhalb der Eliten und
deren (In-)Toleranz Faktoren für politische Richtungsänderungen (vgl. Miethe et al., 2015, S. 34–
37 und 46; Tarrow, 1991, S. 651 f).
Historische Ereignisse, wie die beiden Weltkriege, ermöglichten es Frauen in Positionen zu
gelangen, die sie sonst nicht hätten erreichen können. Der Grund waren die fehlenden Männer.
Andererseits bedeutete der Beginn der NS Diktatur 1933 für viele Frauen das Ende ihrer Karriere.
Die Politik gegen das ‚Doppelverdienertum‘ hatte das Ziel Frauen aus ihrem Beruf zu drängen.
Obwohl auch die Hochschulpolitik gegen Frauen gerichtet war, schafften dennoch einige ihre
Promovierung und Habilitierung. Zudem litten Frauen zu dieser Zeit wohl mehr unter
antisemitischen als antifeministischen Haltungen. Der zweite Weltkrieg brachte zumindest
teilweise für Wissenschaftlerinnen mehr Freiräume (vgl. Tobies, 1997, S. 49–51). Solche
historischen Ereignisse wie der zweite Weltkrieg und dessen Folgen sowie „die spezifische
Arbeitsmarktsituation und die damit verbundenen Chancen auf ausbildungsadäquate
Beschäftigung – genauso wie Generationen- und Elitenwechsel, parteipolitische Interessen oder
wissenschaftlich-technische Entwicklungen“ (Miethe et al., 2015, S. 36), führten mancherorts,
aber eben nicht überall dazu, die bestehenden Strukturen zu hinterfragen und einer kritischen
Bestandsaufnahme zu unterziehen und wirkten sich somit auch auf die Bildungspolitik und die
Teilhabe im Bildungssystem aus (vgl. Miethe et al., 2015, S. 36). Neben Raumerweiterung und
Einflussvergrößerung nennt Tarrow die Chancenverbesserung als Auswirkung von
Mobilisierungswellen (vgl. Tarrow, 1991, S. 648).
Relevant für diese Arbeit sind bildungswirksame Effekte der Mobilisierungswellen. Unter
Raumerweiterung könnte man hier die regionale oder lokale Verbesserung von
Bildungsangeboten verstehen. Zudem könnte man bei einer Übertragung auf den sozialen Raum,
bildungsschwächere und -fernere Schichten ansprechen, die sonst eher keine Chance auf
Bildungsaufstiege hätten. Durch die Einflussvergrößerung resp. Einflussnahme auf politische
Programme könnten bislang benachteiligte Schichten und deren Befindlichkeiten Beachtung
bekommen und es könnten ihnen neue Möglichkeiten eröffnet werden. Eine bildungswirksame
Verbesserung von Chancen würde zu geänderten Voraussetzungen für die Teilnahme an
Bildungsangeboten führen, also zur Erhöhung der Bildungsbeteiligungsquote. Dies könnte durch
die Änderung formaler Voraussetzungen geschehen beispielsweise durch Änderung von
Gesetzen, die es Mädchen dann erlauben zur Schule zu gehen oder eine Universität zu besuchen,
durch die Verbesserung der Bildungsinfrastruktur beispielsweise durch den Bau neuer und leichter
erreichbarer Bildungsinstitutionen oder durch den Abbau von finanziellen Hindernissen
beispielsweise durch den Wegfall von Studiengebühren oder durch monetäre Unterstützung im
Sinne einer Beihilfe (vgl. Langer, 2017, S. 174; Miethe et al., 2015, S. 36 f und 46).
22
Politische Gelegenheitsstrukturen können zur Bildungsmobilisierung einzelner Individuen
beitragen. Allerdings müssen die Auswirkungen der Makro-Meso-Strukturen auf den Einzelfall
individuell analysiert werden, da die Gelegenheitsstrukturen niemals statisch sind, sondern auf
unterschiedliche Einflüsse reagieren und sich dementsprechend verändern (vgl. Miethe et al.,
2015, S. 38 und 266). Mobilisierungswellen müssen nicht zwangsläufig einen politischen Ursprung
haben, sondern können auch durch makrostrukturelle Prozesse oder Entwicklungen ausgelöst
werden. Dies kann die Arbeitsmarktsituation sein oder der Generationenwechsel und damit
einhergehende Chancen für Karrieren. (vgl. Miethe et al., 2015, S. 38). Durch die Industrialisierung
veränderten sich die Perspektiven von Frauen aus dem Bürgertum in Bezug auf die Erwerbsarbeit.
Bestimmten vormals die Heirat oder das Vermögen der Herkunftsfamilie die soziale Position,
wurden Ausbildung und Bildung schließlich zu einem Faktor, der die soziale Selektion
mitbestimmte (vgl. Franzke, 2016, S. 35 f).
Gesellschaftliche Krisen oder Naturkatastrophen können einen Abstieg oder Aufstieg bewirken.
Wenn beispielsweise dringend Personal in gewissen Bereichen benötigt wird, dann gibt es die
Möglichkeit von vorgezogenen Abschlüssen oder gar Crashkurs-Studien. Andererseits können
Wirtschaftskrisen die schwache Entwicklung von Arbeitsmärkten zur Folge haben. Dies bewirkt
die Zunahme der Arbeitslosigkeit und eine Forderung der Arbeitgeber nach einer höheren
Qualifizierung. Dadurch haben auch akademisch ausgebildete Personen keine Garantie mehr für
einen ausbildungsadäquaten Arbeitsplatz (vgl. Miethe et al., 2015, S. 34–36 und 67). In einer
Gesellschaftsordnung in der sowohl ökonomische als auch politische und andere Einflusseliten
sich zunehmend sozial schließen und hohe Positionen dauerhaft besetzen und intern vererben,
wird es immer schwieriger, durch Bildungsaufstieg Zugang zu diesen Kreisen zu erhalten (vgl.
Langer, 2017, S. 173). Wenn dann parallel die Mittelschicht bei gleichbleibendem Lohn mehr
arbeiten muss und sichere Arbeitsplätze unsicher werden, dann wird der Konkurrenzkampf um
Bildungstitel stärker, die Bildungsaspirationen der ganzen Bevölkerung erhöhen sich, wodurch
sich laut Pollak (2010) die Chancen für erwartungswidrige Bildungsaufstiege reduzieren (vgl.
Pollak, 2010, S. 13–32).
Neben (bildungs-)politischen Maßnahmen oder makrostrukturellen Prozessen bzw.
Entwicklungen, ist der allgemeine öffentliche Diskurs über Bildung und die gesellschaftliche
‚Stimmungslage‘ ein wichtiger Ausgangspunkt für Bildungsaufstiege. Vorausgesetzt im Diskurs
wird die Relevanz der Förderung von Kindern aus nicht-akademischen Elternhäusern betont.
Zudem ist eine generelle Reformstimmung von Nöten, durch die auch Bildungsinstitutionen, und
die in ihnen handelnden Lehrenden, in die Verantwortung genommen werden. Neben der
gesellschaftlichen Ermutigung erfahren die Kinder bildungsferner Elternhäuser, dass sie aktiv an
ihrem Bildungsaufstieg arbeiten können und mitgestaltender Teil der kollektiven
23
Aufstiegsbewegung sind. Wichtig ist auch im Zuge des Diskurses Informationen über die
Möglichkeiten höherer und weiterführender Bildungswege zu vermitteln sowie über Ziele, Qualität
und Weiterführungsangebote der Schulen zu informieren, um so individuelle Bildungsaufstiege zu
ermöglichen (vgl. Langer, 2017, S. 174 f).
Zusätzlich bieten weltanschauliche Institutionen, unabhängig vom staatlichen Einfluss,
Bildungsgelegenheiten und -angebote. Mit weltanschaulichen Institutionen sind „Gewerkschaften,
Kirchen, Burschenschaften, Stipendiatengruppen, parteinahe Stiftungen, alternative
Bildungsinstitutionen etc.“ (Langer, 2017, S. 175) gemeint. Es wird jedoch vorausgesetzt, dass
die Lernenden die Interessen und Anschauungen der Institution teilen und dementsprechend
agieren und leben. Durch die abgesicherte finanzielle Förderung (z.B. durch Stipendien oder
Ähnliches) und die persönliche Förderung durch aktive Begleitung und Unterstützung des
Lernprozesses, wird eine Befreiung und Emanzipation erlebt und mit entsprechender Dankbarkeit
und Loyalität der Institution gegenüber honoriert (vgl. Langer, 2017, S. 175).
Ein ganz wesentlicher Faktor für die vorliegende Arbeit ist die Behandlung, Wertschätzung und
Stellung der Frau innerhalb der Gesellschaft. Ute Gerhard schreibt ausführlich über die zwei
Stichworte Frauenbewegung und Feminismus und deren gemeinsames Ziel. Das Ziel beider
ist, die Frau in allen Lebensbereichen mit gleichen Rechten, Freiheiten und Ressourcen
auszustatten. Im deutschen Sprachgebrauch unterliegen die Begriffe Frauenbewegung und
Feminismus unterschiedlichen Bedeutungen oder politischen Ansichten. Frauenbewegung soll
durch gemeinsames soziales Handeln einen sozialen Wandel herbeiführen. Obwohl Feminismus
auch in die Kategorie sozialer Bewegungen einzuordnen ist, verweist der Begriff auch auf eine
politische Theorie, die einen sozialen und symbolischen grundlegenden Wandel gesellschaftlicher
Verhältnisse verfolgt. Es gibt nicht die eine feministische Theorie oder den Feminismus, sondern
vielmehr gab es in den letzten 200 Jahren verschiedenste politische und soziale Bewegungen von
Frauen und die verschiedensten Richtungen (vgl. Gerhard, 2012, S. 6 f)
Bereits im Altertum gab es die Überzeugung, dass Weiblichkeit und Intelligenz unvereinbar seien.
Diese Meinung zog sich bis ins letzte Jahrhundert durch. Die Polarität von männlich und weiblich
war seit Aristoteles tief in der Arbeitsteilung zwischen Mann und Frau verwurzelt. Lange Zeit hielt
sie sich aufrecht (vgl. Daston, 1997, S. 69, 71 und 81). Doch Kritik an der Geschlechterordnung
gab es bereits in der Frührenaissance. Es war primär ein männlicher Diskurs, an dem aber auch
gelehrte Frauen beteiligt waren. Der Aufklärer François Poullain de la Barre schrieb 1763, ganz
im Sinne der Philosophie René Descartes, dass der Verstand kein Geschlecht habe und die
Geschlechter gleich sind. Mit den zunehmenden wissenschaftlichen Erkenntnissen über die
Physiologie des Menschen und der Feststellung, dass Sinneswahrnehmungen und Gefühle sehr
wohl Wissen und Denken beeinflussen, wurde die Begründung der Gleichheit der Geschlechter
24
nicht mehr akzeptiert. Einer der prägendsten Aufklärungsphilosophen, Jean-Jacques Rousseau,
der ausführlich über die geschlechtsbedingten Unterschiede schrieb, war der Auffassung, dass
die Anatomie der Frau ihre Schwäche und Passivität und so ihre Stellung in der Gesellschaft und
ihre Rechte begründe. Aus diesem Grund schloss er eine Gleichberechtigung der Frau
kategorisch aus (vgl. Gerhard, 2012, S. 11–13).
„Karl VI. war (notgedrungen) der erste Feminist in Österreich. Ziel seiner Politik war die
Anerkennung der Pragmatischen Sanktion, die es seiner Tochter Maria Theresia ermöglichte,
nach ihm in Österreich zu regieren“ (Steininger, 2000, S. 141). Der Terminus Feminismus wurde
das erste Mal in den 1880er Jahren von französischen Frauenrechtlerinnen aufgebracht, die den
Begriff als Pendant auf den vorherrschenden Maskulinismus verwendeten. Der Begriff verbreitete
sich von da an in der westlichen Welt und wurde sinngemäß mit Frauenbewegung genutzt (vgl.
Gerhard, 2012, S. 7 f). Die Ereignisse der Französischen Revolution kennzeichnen diese als
Zeitenwende in den Geschlechterbeziehungen. Die traditionellen Geschlechterbeziehungen
wurden grundlegend in Frage gestellt und es sollte eine neue Form des politischen Rahmens und
der Öffentlichkeit geschaffen werden, in der Frauen und Männer aus allen Schichten ihre Stimme
erheben und intervenieren konnten. Die ersten Massendemonstrationen, darunter der Marsch der
Pariserinnen am 5. Oktober 1789 nach Versailles, hatten mehr als den Kampf um das tägliche
Brot zum Ziel. Beim Marsch der Pariserinnen forderten die Frauen nicht nur das Recht auf
Teilnahme am öffentlichen Leben, sondern übten dieses Recht bereits aus (vgl. Gerhard, 2012,
S. 9 f). Während der Französischen Revolution wurden aus politischen Prinzipien Rechtsbegriffe,
die in konkrete Forderungen und einem politischen Programm mündeten, bei denen auch Frauen
mitwirkten (vgl. Gerhard, 2012, S. 13 f). Eine dieser Frauen war die geb. Marie Gouze, eine der
extravagantesten und bis heute in ihrer Bedeutung unterschätzten Mitstreiterinnen der
Französischen Revolution. Ihre Biografie wird im Abschnitt 3.4.2. Olympe de Gouges behandelt.
Der Marsch der Pariserinnen ging in die Geschichte ein. Er verzerrte jedoch das Bild der Frauen
hin zu vulgären und zügellosen Hyänen. Die Denunziation sämtlicher Mitwirkung von Frauen in
der Politik brannte sich in das historische Gedächtnis ein (vgl. Gerhard, 2012, S. 10 f). Die
Französische Revolution endete im Terror. 1793 wurden Frauenclubs und politische Beteiligungen
der Frauen untersagt und viele der neu gewonnenen Rechte wieder eingeschränkt. Die weiblichen
Tugenden wurden 1795 zur Einschränkung der Frauenrechte herangezogen und hielten sich in
Frankreich erschreckend lange, nämlich bis ins 20. Jahrhundert (vgl. Gerhard, 2012, S. 26 f).
In Österreich und Deutschland ist die 1848er Revolution ein wichtiges Datum der Geschichte der
Frauenbewegung. Um diese Zeit bildete sich zum ersten Mal eine soziale Bewegung, die eigene
frauenspezifische Interessen zur Sprache brachte. Beeinflusst durch die Ereignisse in Paris 1848
entstanden in vielen Städten in ganz Europa Volkserhebungen und Straßenkämpfe mit dem Ziel
einer demokratischen Verfassung, mehr Freiheiten, mehr Rechte und weniger Lohnkürzungen.
25
Frauen demonstrierten und konnten die bisherigen Geschlechtergrenzen überschreiten (vgl.
Dinter, 2006, S. 72; Gerhard, 2012, S. 28 f). Mit dem Medium der Frauen-Zeitung hatten Frauen
ein Sprachrohr. Zuerst für vereinzelte Schreiberinnen, dann für die breite Masse. Die Frauen-
Zeitung wurde zu einem Organ für Fraueninteressen und zum Medium der Mobilisierung. Zudem
wurden viele Frauenvereine gegründet, die an der Durchsetzung frauenspezifischer Anliegen
arbeiteten. Doch Frauen blieben auch nach der Revolution von gleichberechtigter Teilhabe und
neuen Bürgerrechten ausgeschlossen (vgl. Gerhard, 2012, S. 37 und 40). Die Forderungen der
Frauen wurden weniger und leiser (vgl. Dinter, 2006, S. 72). Ein reaktionärer Antifeminismus
verbreitete sich nach 1850 in der Politik und in den Wissenschaften (vgl. Gerhard, 2012, S. 48).
Auch in Amerika formierte sich 1848 eine ähnliche Bewegung, die allerdings schnellere
Fortschritte schaffte. Im Bundesstaat New York verfasste Elisabeth Cady Stanton eine Art
Frauenrechtserklärung, wie die von Olympe de Gouges. Bis zum amerikanischen Bürgerkrieg
1861 gelang es jährlich Frauenrechtskonferenzen abzuhalten, die von der Öffentlichkeit genau
beobachtet wurden. Nach und nach schlossen sich immer mehr Frauen an. Im Gegensatz zur
europäischen Situation unterstützten eine nicht unerhebliche Zahl prominenter Männer diese
Bestrebungen (vgl. Gerhard, 2012, S. 46–48). Über nationale Grenzen und auch über den Atlantik
hinweg finden sich von da an Spuren und Verbindungslinien eines neuen feministischen
Bewusstseins (vgl. Gerhard, 2012, S. 48 f).
Anfang des 20. Jahrhunderts begann die Überzeugung, dass Weiblichkeit und Intelligenz
unvereinbar seien, zu bröckeln. Autoren behaupteten nicht länger, dass die intellektuelle
Gleichheit der beiden Geschlechter nicht möglich wäre. Wenngleich es sozial nicht überall
erwünscht war (vgl. Daston, 1997, S. 79). Bereits am Ende des 19. Jahrhunderts setzten sich
Frauen wieder energischer für ihre Rechte ein, vor allem für verbesserte Bildungs- und
Berufsmöglichkeiten (vgl. Dinter, 2006, S. 72 f). Im Gegensatz zu England oder Amerika, konnten
die Aktivitäten in Österreich keine Massenbasis erreichen, da die bürgerlich-liberalen und die
sozialdemokratischen Bewegungen unabhängig voneinander agierten. (vgl. Bader-Zaar, 2006, S.
1005). Das Frauenstimmrecht wurde erst sehr spät Teil der österreichischen Frauenbewegung.
Einerseits vermutlich aufgrund der katholischen Wurzeln der Bevölkerung, welche die
Lebensbereiche der Geschlechter regelten. Andererseits waren einige privilegierte Frauen,
aufgrund ihres Besitzes, bereits seit der bürgerlichen Revolution 1848 respektive seit März 1849
wahlrechtberechtigt. Die Frauen waren jedoch nicht direkt stimmberechtigt, durften sich jedoch
aufgrund ihrer Wahlberechtigung durch ihren Ehemann oder Vormund vertreten lassen. Ob dann
dem Wunsch der Frau entsprechend gewählt wurde, bleibt fraglich. Frauen hatten also de facto
keine politische Teilhabe und wurden aus dem öffentlich-rechtlichen Raum ausgeschlossen (vgl.
Bader-Zaar, 2006, S. 1007 und 1010; Dinter, 2006, S. 73).
26
Ab dem Übergang vom 19. Jahrhundert zum 20. Jahrhundert verwendeten Gegner der
Frauenemanzipation den Begriff Feminismus abwertend und denunzierend. Bis heute haftet
Radikalität an diesem Begriff (vgl. Gerhard, 2012, S. 8). Den Frauenbewegungen der
internationalen Geschichte ist ein Paradoxon immanent: Je härter für die gleichen Rechte und
Freiheiten gekämpft wurde, desto länger warteten die weiblichen Bürger auf ihre rechtliche
Gleichberechtigung. In kleineren und peripheren Ländern erhielten Frauen diese Möglichkeiten
schneller und ohne große Aufstände. Bereits 1893 erhielten Frauen in Neuseeland das aktive
Wahlrecht. Erst neun Jahre später folgte Australien und weitere vier Jahre später, im Jahr 1906,
das erste europäische Land: Finnland. Es war zugleich das erste Land in dem den Frauen auch
das passive Wahlrecht, also die gänzlich gleichen parlamentarischen Rechte wie den Männern,
zugestanden wurde. Norwegen, Island und Dänemark folgten in den Jahren 1913 bis 1915. Doch
in vielen anderen Ländern mussten die Frauen bis zum Beginn der 1920er Jahre warten (vgl.
Sulkunen, 2006, S. 11 f). Zu Zeiten des Krieges stand Kriegshilfe im Mittelpunkt, wodurch die
Aktivitäten der Frauenbewegungen in den Hintergrund rückten (vgl. Bader-Zaar, 2006, S. 1025).
Im Jänner 1918 stellten mehrere Vereine und Organisationen ihre Ungleichheiten hinten an (vgl.
Bader-Zaar, 2006, S. 1027). Es war jenes Jahr in dem die Republik Deutsch-Österreich gegründet
und am 12. November das allgemeine Wahlrecht unabhängig vom Geschlecht eingeführt wurde
(vgl. StGBl Nr. 5/1918, o. J., S. Artikel 9). In Frankreich dauerte die Einführung des allgemeinen
Wahlrechts sogar bis nach dem Zweiten Weltkrieg (vgl. Sulkunen, 2006, S. 12). Immerhin einige
Jahrzehnte vor der Schweiz, die das Frauenwahlrecht 1971 einführten und vor Liechtenstein, das
erst 1984 Frauen wählen ließen (vgl. Gamper, 2020, S. 6). Paradox, wenn man bedenkt, dass die
Züricher Universität eine der ersten Universitäten war, die Frauen zum Studium zuließ und das
bereits 1865 (vgl. Neumann & Benz, 2018, S. 235).
2.2.7. Individuum-spezifische Faktoren
Individuum-spezifische Faktoren beschreiben die Wesenszüge, Werthaltungen und Vorstellungen
eines jeden Menschen und deren erheblichen Einfluss auf Bildungs- und Karrierewege.
Unbestritten ist die Gemeinsamkeit der Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger über ein
hohes Maß an Disziplin und Fleiß zu verfügen. Einige der Biografien in El-Mafaalanis (2012)
empirischer Analyse zeigten, dass der Aufstieg allein durch ihre Eigenschaften begonnen werden
konnte. Diese Eigenschaften sind eine optimistische Grundhaltung und Zuversicht, eine
ausgeprägte Zielstrebigkeit, ein hohes Maß an Fleiß, sowie Disziplin und Durchhaltevermögen.
Sie zeichnen sich aus durch eine hohe Stresskompetenz, halten Unsicherheiten aus und können
flexibel und ausgleichend mit Rückschlägen umgehen. Kommunikationsfähigkeiten sowie
Anstrengungs- und Anpassungsbereitschaft sind weitere Merkmale von Bildungsaufsteigerinnen
und Bildungsaufsteigern, die ihnen auch helfen, sich in unbekannten Kontexten zurecht zu finden.
Ihr eigenverantwortliches Handeln ist geprägt von den Werten „Solidarität, Respekt, Leistung,
Ehrgeiz und – individuelle Verantwortung“ (vgl. Spiegler, 2015, S. 66). Die Veränderung des
27
Habitus und die Distanzierung zum Herkunftsmilieu, wie oben unter Punkt 2.2.5. beschrieben, ist
dennoch im späteren Bildungsverlauf notwendig (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 324 und 327;
Gerhartz-Reiter, 2017, S. 89; Langer, 2017, S. 175). Hilfreich für die Anpassungs-, Umstellungs-
und Stressbewältigungsmechanismen ist das Fähigkeitsselbstkonzept. Auswirkung auf das
Fähigkeitsselbstkonzept haben Leistungsgruppierungen und der Vergleich mit der Bezugsgruppe,
was sich wiederum auf die Selbsteinschätzung der eigenen Fähigkeiten auswirkt. Wichtig in
Bezug auf die eigenen Fähigkeiten, auf realistische Kontrollüberzeugungen und auf das
Selbstwirksamkeitsstreben ist das Selbstbewusstsein. Interessant wäre hier welches
Selbstkonzept spätere EBA haben und wie schulische Faktoren dieses (positiv) beeinflussen
können (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 89 f).
Die oberhalb erwähnte Wahrnehmung der eigenen Fähigkeiten und die zu erwartenden
Bildungserfolge prägen die eigenen Bildungsaspirationen, denn dementsprechend werden die
Ziele gesetzt oder eben nicht gesetzt (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 94). Alle Faktoren, die
Einfluss auf die eigenen Bildungsaspirationen haben, sind bedeutsam, da sich
Bildungsaspirationen positiv auf den Bildungserfolg auswirken. Nicht zu unterschätzen sind
zudem die eigenen Lernleistungen und die sozialen Einflüsse (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 91).
Soziale Einflüsse wurden bereits in den vorhergehenden Abschnitten behandelt, weswegen hier
auf Seite 12 Punkt 2.2.2. ‚Soziales Kapital: Familie, Erziehung und Sozialisation‘ und Seite 17
Punkt 2.2.5. ‚Soziales Kapital: Schulunabhängige Motivationen und Schlüsselerlebnisse‘
verwiesen wird. Der motivationale Einfluss unklarer oder aussichtsloser beruflicher Perspektiven
auf schulische Bildung darf nicht außer Acht gelassen werden. Wer den Wert von Bildung als
Investition in die berufliche Zukunft nicht sieht oder sich dessen nicht bewusst ist, verzichtet
infolgedessen darauf. Schulische Motivation sinkt, wenn Jugendliche mit schlechten oder wenig
Chancen auf dem Arbeitsmarkt rechnen. Sie passen daher ihre Ziele diesen Erwartungen an (vgl.
Gerhartz-Reiter, 2017, S. 94 f).
Faktoren, die für Frauen immer entscheidenden und wegweisenden Charakter haben, sind
Familie und Karriere. Lebens- und Karrierewünsche können sich durchaus sehr unterschiedlich
gestalten. Früher mehr als heute, bestand das Problem der Vereinbarkeit von Familie und
Karriere. Um 1900 wurden heftige Diskussionen über die akademische Frau geführt. Es gab nur
ein Entweder-oder. Tatsächlich zeigen sich mindestens drei Wege. Der erste Weg ist der Verzicht
der Frau auf eine Karriere im Interesse der Familie. Zumindest erlangten so einige Frauen als
mitwirkende Ehegattinnen Beachtung. Der zweite Weg ist gepflastert von einer gescheiterten Ehe.
Doch eine Ehe war oft Voraussetzung, um überhaupt studieren zu können, weswegen auch
Scheinehen eingegangen wurden. Und der dritte Weg, der Ausnahmefall, war die gelungene
Herstellung des Einklangs zwischen Familie und Karriere. Frauen, die diesen Weg bestritten
haben, berichten von besonderen Widerständen. Abgesehen von der Skepsis der
28
entscheidungstragenden Herren, war da noch das Hinundhergerissensein zwischen dem
beruflichen Ehrgeiz und dem familiären Verantwortungsgefühl (vgl. Tobies, 1997, S. 38–42).
Mittlerweile gibt es genug Unterstützung, die auch durch die Medienpolitik gefördert wurde. Unter
anderem helfen Kindertagesstätten Beruf und Familie zu vereinbaren (vgl. Tobies, 1997, S. 43).
Interessant und auch überraschend sind die Ergebnisse der empirischen Analyse von El-
Mafaalani, der herausgefunden hat, dass es kein gewöhnliches Aufstiegsmotiv, wie Geld oder
Macht, gibt. Solche zweckorientierten, instrumentellen oder extrinsischen Motive würden laut El-
Mafaalani nur begrenzt zum Bildungsaufstieg über höhere Bildungsinstitutionen verhelfen. Ein
gemeinsames Bedürfnis, nämlich ein Veränderungsbedürfnis, kann aber in allen seinen
analysierten Fällen erkannt werden. Sei es ein Bedürfnis nach „persönliche[r] Weiterentwicklung,
die Ausweitung von Denk- und Handlungsspielräumen, das Streben nach Wissen, ästhetischen
Erlebnissen oder moralischen Ansprüchen“ (El-Mafaalani, 2012, S. 325). Diese Motive erscheinen
erfolgsversprechend, bedenkt man den oft langjährigen Bildungsweg, indem immer wieder die
Fragen ‚Wozu lerne ich das?‘, ‚Wofür brauche ich das?‘ oder ‚Weswegen tue ich mir das an?‘
auftauchen. Dieses Veränderungsbedürfnis und die darauf gründenden Motive sind also demnach
das Geheimnis zum Erfolg. Durch die damit einhergehenden Veränderungen, wandelt sich
notwendiger- und verständlicherweise auch das Verhältnis zum Herkunftsmilieu. Das fehlende
Aufstiegsmotiv hat zur Folge, dass es keine Aufstiegs- oder Karrierepläne gibt. Zumal den
Aufsteigerinnen und Aufsteigern oft das Wissen über die Möglichkeiten oder das Vertrauen in sich
selbst, so einen Weg zu schaffen, fehlt. Erst im Laufe des Bildungswegs entwickeln sich die
Fähigkeiten und Interessen und das Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten (vgl. El-Mafaalani, 2012,
S. 324–327). „Das fehlende Motiv und der fehlende Plan erscheinen – so paradox dies klingen
mag – als günstige (wenn nicht notwendige) Voraussetzungen für einen Aufstieg“ (El-Mafaalani,
2012, S. 326).
2.3. Fazit
In den vorangegangenen Abschnitten wurden wesentliche Ergebnisse zur vorhandenen und
aktuellen Forschung über Einflussfaktoren auf Bildungs- und Karrierewege aufgezeigt, die
teilweise in das Schul- bzw. Bildungssystem und teilweise in den außerschulischen Kontext
einzuordnen sind.
Eine theoretisch nennenswerte Erkenntnis ist, dass erwartungswidrige Bildungsaufstiege häufig
doch nicht so erwartungswidrig sind. Bildung stellt einen wesentlichen, wenn auch nicht alleinigen
Faktor für den Erfolg dar. Bildung ermöglicht die Teilhabe an sozialen, politischen und kulturellen
Prozessen und befähigt zur freien Persönlichkeitsentfaltung, zur Entwicklung eigener Fähigkeiten
und Interessen sowie zur Selbstständigkeit. All das ermöglicht individuelle Chancen im Leben und
29
in der Karriere. Doch wie aktuelle Ergebnisse zeigen, fungiert Schule eher als (Re-)Produzent von
Chancenungleichheit. Die Nichtbeachtung von (Bildungs-)Ungleichheiten führt zu
unterschiedlichen Zutritts- und Mitbestimmungsmöglichkeiten. Chancen- und Bildungsgleichheit
liegen nur dann vor, wenn alle die gleichen Möglichkeiten beim Zugang zu formaler Bildung und
beruflichen sowie sozialen Positionen haben und zwar unabhängig von leistungsfremden
Kriterien, wie beispielsweise soziale Herkunft, Region, Religion oder Geschlecht. Zudem müsste
die Leistungsbewertung individuell und auf dem Leistungsprinzip, also auf Intelligenz und
Anstrengung, in einem freien Wettbewerb basieren. Die Ausgangsbedingungen sind jedoch qua
Geburt in eine bestimmte Familie gegeben und beeinflussen die schulische Laufbahn bereits vor
deren Beginn. Im Zuge der Geschichte haben sich die gesamtgesellschaftlichen nicht-schulischen
Faktoren jedoch immer wieder verändert. Soziale Ungleichheitsmuster haben sich verringert, vor
allem jene in Bezug auf Region, Religion und Geschlecht. Eine weitere nennenswerte Erkenntnis
ist jene, dass der Faktor Geschlecht nicht nur weniger, sondern teilweise gänzlich umgekehrt
wurde und Mädchen zu Gewinnerinnen der Bildungsexpansion machte. Hingegen halten sich
soziale und nationale herkunftsbezogene Faktoren hartnäckig.
Früher wurden Mädchen höhere Schulen und Ausbildungen verweigert, mittlerweile ist der Anteil
von Mädchen in höheren Schuhen größer als jener der Jungen und zudem sind Mädchen
erfolgreicher in ihren schulischen Karrieren. Dies setzt sich jedoch nicht immer in entsprechenden
zukunftsorientierten beruflichen Qualifizierungen und Karrieren fort. Obwohl seit einigen
Jahrzehnten auch Universitäten für Frauen frei zugänglich sind und die Zahl der weiblichen
Promotionen zugenommen hat, beeinflussen die Faktoren Kinder und Kindererziehung aber nach
wie vor maßgeblich den Verlauf der Karriere einer Frau. Von Dispositionen und
Zugangsbeschränken abgesehen, hängt der schulische oder später universitäre Erfolg auch von
der Qualität des Unterrichts und des darin agierenden Lehrpersonals ab. Obwohl bekannt ist, dass
das soziale Kapital ein wesentlicher Schlüsselfaktor für den Bildungsverlauf von Kindern ist, wird
der Faktor Lehrperson durchaus unterschätzt. Wie bereits erwähnt nehmen neben Lehrpersonen
auch Peers, Freunde und die Familie eine wegweisende Rolle ein. Vor allem Personen die als
Mentorinnen und Mentoren auftreten beeinflussen die Entscheidungen, Chancen und Wege mit.
Die Unterstützung der Eltern, teilweise geprägt durch deren Bildungsaspirationen sowie deren
Rückhalt und Erziehungsverhalten, spielt hierbei eine wesentliche Rolle. Deren
Bildungsabschlüsse, Berufspositionen und finanzielle Ressourcen sind ebenso zentral, wie die
Beziehung der Eltern zum Kind. Doch mit zunehmendem Alter nimmt dieser Einfluss ab und weicht
jenem der Peers, Freunde und Mentorinnen und Mentoren. Oft sind erwartungswidrige Aufstiege
von Zufällen und Glück geprägt, beispielsweise durch den Eintritt einer Mentorin oder eines
Mentors und daraus sich ergebende Möglichkeiten und Unterstützungsleistungen.
30
Eine weitere bemerkenswerte Einsicht betrifft das doch recht umfangreiche Gebiet der Makro-
Faktoren, also institutionelle, gesellschaftliche und wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen.
Dazu zählen historische und politische Ereignisse, soziale Bewegungen wie die
Frauenbewegungen und deren Bestrebungen, aber auch die beiden Weltkriege bzw. die damals
herrschende Politik, die viele Karrieren beeinflussten. Nicht außer Acht zu lassen sind die
Konsequenzen solcher Ereignisse, die oftmals viele Veränderungen mit sich brachten, sowohl in
der Bildungspolitik als auch am Arbeitsmarkt und auch gesamtgesellschaftliche
Werteänderungen, wie die Wertvorstellung und das Rollenbild der Frau. Unbestritten ist auch der
Einfluss von Individuum-spezifischen Faktoren. In der Literatur ist beschrieben, dass die
Bildungsaufsteigerinnen und Bildungsaufsteiger über ein hohes Maß an Fleiß und Disziplin
verfügen. Optimismus, Zielstrebigkeit, Anpassungs- und Anstrengungsbereitschaft zählen ebenso
dazu. Motivierend sind vor allem die eigenen Bildungsaspirationen und Ziele. Ein überraschender
Befund war, dass für den Aufstieg nicht immer ein konkretes Aufstiegsmotiv nötig ist.
Keine neue Erkenntnis ist, dass nicht ein Faktor allein entscheidet, sondern ein Bündel aus
Faktoren und deren Wechselwirkungen. Eine Berücksichtigung der bereits genannten Faktoren
wird im folgenden Kapitel für die individuellen Wege der EBA unternommen. Zusätzlich wird
versucht weitere Einflüsse, die bis jetzt nicht berücksichtigt wurden, zu finden und wenn möglich
zu theoretisieren.
31
3. Faktorenanalyse erwartungswidriger Bildungsaufstiege von Frauen
Überall und immer schon haben Frauen wichtige Beiträge in den unterschiedlichsten Bereichen
geleistet, darunter in den Naturwissenschaften, in der Medizin und auch in der Mathematik. Neben
den ungeregelten Umständen ihrer Ausbildung haben diese Frauen ihre historische Unsichtbarkeit
gemeinsam. Wissenschaftlerinnen waren stets weniger sichtbar als ihre männlichen Kollegen. Die
wenigen Frauen, die Zugang in die Wissenschaft fanden, wurden allem Anschein nach wiederum
als Argument verwendet, um anderen Frauen den Zugang zu akademischen Berufen zu
verweigern. Am Anfang dieses Jahrhunderts waren Frauen nach wie vor eine Randerscheinung
in der Wissenschaft (vgl. Sime, 2001, S. 7–9). In den letzten Jahrhunderten schafften Frauen es
aber immer mehr in Gebiete vorzudringen, die als Männerdomäne galten (vgl. Tobies, 1997, S.
17). Doch nicht nur Bereiche, die als Männerdomäne galten, sondern generell alle
erwartungswidrigen respektive außergewöhnlichen Bildungs- und Karrierewege sind im Interesse
dieser Arbeit.
In diesem Kapitel wird der Frage nachgegangen, warum Frauen diesen Weg meisterten und
gewisse berufliche Gebiete eroberten. Analysiert wird der Bildungs- und Karriereweg der Frauen,
die in einer Zeit lebten, die von Männern bestimmt wurde und ob respektive welchen Einfluss dies
auf sie hatte. Untersucht werden aber auch jene Bildungs- und Karrierewege von Frauen, die in
einer Zeit lebten, die nicht mehr von Männern bestimmt wurde, um die maßgeblichen Faktoren
auf die Karrierewege jener Frauen festzustellen. Ziel ist es, daraus Faktoren für erwartungswidrige
Bildungs- und Karrierewege abzuleiten, welche die aktuell bekannten Daten der
Bildungsforschung bestätigen oder Faktoren zu eruieren, die in der aktuellen Bildungsforschung
noch keine Berücksichtigung fanden. Das folgende dritte Kapitel gliedert sich in sieben Abschnitte.
Im Ersten wird die wissenschaftliche Relevanz der vorliegenden Diplomarbeit erläutert, gefolgt
von der Beschreibung der methodischen Vorgehensweise im zweiten Abschnitt. Nach der
Begründung der Auswahl im dritten Abschnitt, folgt die Vorstellung der ausgewählten Biografien.
Die markantesten Eckpunkte aus jeder Biografie werden kurz beschrieben und es wird das
Erwartungswidrige der Karriere und die Pionierleistung hervorgehoben. Im Anschluss folgt die
Unterteilung der Biografien in drei Teile, die sich in ‚Herkunft und frühe Bildung‘, ‚Weiterführende
Bildung und Studium‘ und ‚Berufliche Karriere‘ gliedern. Nach jedem Teil folgt die
Faktorenanalyse. Abschließend werden die Ergebnisse systematisiert und fließen in die
Schlussbetrachtung im letzten Kapitel mit ein.
3.1. Wissenschaftliche Relevanz der Diplomarbeit
Nicht nur moralische Gründe, sondern auch gesellschaftliche und wirtschaftliche Gründe sprechen
für die Auseinandersetzung mit diesem Thema. Gleiche Chancen auf ein hohes Bildungsniveau
32
führen zu hochwertigeren Kompetenzen der Frauen, die wiederum bessere Jobchancen und so
ein höheres Einkommen ermöglichen. Der wirtschaftliche Wohlstand eines Landes steigt durch
höhere Bildungserfolge. Kompensatorische Maßnahmen bei Bildungsabbrüchen sind hingegen
kostenintensiv. Vom wirtschaftlichen Wohlergehen abgesehen, ist auch der gesellschaftliche
Aspekt, also das menschliche Zusammensein, von hoher Relevanz. Doch nicht nur das, denn
eine fundierte Ausbildung ermöglicht Frauen, ihr Leben unabhängig von einem Mann frei zu
gestalten und selbst zu finanzieren.
Um mehr Menschen, vor allem Frauen einen Bildungsaufstieg zu ermöglichen, müssen die
Faktoren, welche zu erwartungswidrigen Bildungsaufstiegen führen, bekannt sein und gefördert
werden. Die in der Literaturrecherche gezeigten Faktoren für einen Aufstieg sollen auf ihr
Vorhandensein in den Lebensläufen der folgenden analysierten Bildungswege überprüft werden.
Zudem sollen weitere eventuell bisher unbekannte oder unbeachtete Faktoren in die
abschließende Betrachtung miteinbezogen werden, um der aktuellen Bildungsforschung so einen
Mehrwert zu bieten.
3.2. Methodische Vorgehensweise
Mit dem Ziel erwartungswidrige Bildungs- und Karrierewege von Frauen ab Mitte des 18.
Jahrhunderts bis hin zur Mitte des 20. Jahrhunderts auf Faktoren zu analysieren, wurde zu Beginn
eine Forschungsfrage formuliert. Zur Beantwortung dieser Frage wurde zuerst ein Konzept erstellt
und eine Struktur im Sinne eines Basiskonstrukts aufgebaut. Nach den Überlegungen zur
zielführenden Vorgehensweise und dem Aufbau der Analyse, waren die Menge der
einzubeziehenden Biographien, sowie deren Einteilung und Darstellung im Blickpunkt der
Überlegungen. Um mit der Auseinandersetzung der Literatur zu starten, war es notwendig eine
Auswahl der Biografien zu treffen. Dabei war es wichtig festzusetzen, was das Kriterium der
Erwartungswidrigkeit oder der Pionierleistung erfüllt. Jede der ausgewählten Damen hat in ihrem
Bereich eine Pionierleistung erfüllt und konnte auf eine erwartungswidrige Karriere zurückblicken.
Bei der Begründung der Auswahl werden diese Kriterien näher definiert und bei der Vorstellung
der einzelnen Biografien hervorgehoben.
Nachdem die relevanten Kriterien feststanden, begann die umfangreiche Recherche zu den
Biografien der ausgewählten Frauen. Zur wahrheitsgemäßen Beantwortung der hier vorliegenden
Forschungsfrage musste vor allem bei den namhafteren Damen darauf geachtet werden, wo die
Faktenlage der Fiktion oder bloßen Annahmen wich. Zu diesem Zweck wurden die literarischen
Werke zuerst gesichtet. Danach wurden die Biografien in die drei Lebens- und Bildungsabschnitte
unterteilt. Der erste Lebens- und Bildungsabschnitt wird durch die Herkunft und frühe Bildung
abgedeckt, gefolgt von der weiterführenden Bildung und dem Studium. Zuletzt wurde die
33
berufliche Karriere beschrieben. Nach jedem dieser Abschnitte wurden die Lebensläufe der
Frauen auf Gemeinsamkeiten analysiert. Die dadurch gewonnen Erkenntnisse und identifizierten
Faktoren wurden im vorletzten Kapitel systematisiert (4. Kapitel: Systematisierung der
Ergebnisse) und mit jenen der aktuellen Forschung verglichen. Im abschließenden 5. Kapitel
erfolgte das Resümee.
3.3. Begründung der Auswahl
Wie bereits verdeutlicht, geht es um das Analysieren von Faktoren, welche auf die besonderen
Bildungswege und Karrieren von Frauen zwischen dem 18. und 20. Jahrhundert einwirkten. Dazu
ist es notwendig festzulegen, was das Kriterium der Erwartungswidrigkeit und der Pionierleistung
meint.
Erwartungswidrig bedeutet nach OpenThesaurus.de auch ‚entgegen der Erwartungen‘,
‚unerwartet‘ oder ‚gegen alle Wahrscheinlichkeit‘. Weitere Synonyme dafür sind ‚erstaunlich‘,
‚überraschend‘ oder ‚verwunderlich‘ (vgl. OpenThesaurus.de, o. J.). Dadurch lässt sich eine
Auswahl bereits eingrenzen. Wenn die Karriere bzw. der vorherige Bildungsweg von Frauen
dieses Kriterium erfüllt, ist die Auswahl derjenigen Frau somit begründet. Ein weiterer Punkt, der
die Auswahl einer Biografie begründet, ist das Kriterium der Pionierleistung bzw. das Kriterium
Pionierin. Laut Dudenredaktion ist eine Pionierin bzw. ein Pionier „jemand, der auf einem
bestimmten Gebiet bahnbrechend ist“ (Dudenredaktion, o. J. a). Unter den Synonymen finden
sich unter anderem die Worte ‚Vorkämpferin‘, ‚Wegbereiterin‘ oder ‚Vorreiterin‘ (vgl.
Dudenredaktion, o. J. a). Pionierleistung bedeutet ‚wegbereitende, bahnbrechende Leistung‘ und
kann auch als ‚Durchbruch‘ oder ‚Errungenschaft‘ bezeichnet werden (vgl. Dudenredaktion, o. J.
b).
Basierend auf diesen Definitionen wurden passende Frauenbiografien ausgewählt. Wichtig war
es hierfür, Biografien aus möglichst unterschiedlichen Fachbereichen zu finden, um so
breitgefächerte Erkenntnisse zu erlangen. Außerdem wurde darauf geachtet, dass die
ausgewählte Frau die Erste in ihrem Fachbereich war oder eine Vorreiterin respektive
Wegbereiterin in ihrer Domäne darstellte. Unter den ausgewählten Biografien befindet sich mit
Maria Theresia eine jahrzehntelange Herrscherin des 18. Jahrhunderts sowie mit Olympe de
Gouges eine Vorreiterin der Frauenrechte, die in ihrer Bedeutung für die Französische Revolution
deutlich unterschätzt wurde. Ergänzt wird die Reihe durch Rose Kerschbaumer, die erste
praktizierende Ärztin in Österreich, durch die Hirnforscherin Cécile Vogt, welche sowohl Ehe,
Kinder und eine leitende Position am KWI für Hirnforschung unter einen Hut brachte, zu einer Zeit
in der Frauen an deutschen und österreichischen Universitäten noch nicht einmal studieren
durften. Komplettiert wird die Reihe durch eine der bedeutendsten und herausragendsten
34
Physikerinnen des 20. Jahrhunderts und Pionierin des Atomzeitalters: Lise Meitner und durch
Gudrun Ensslin, die erste deutsche Terroristin (eine bahnbrechende Leistung, der etwas anderen
Art).
3.4. Vorstellung der Frauen
Jede der folgenden Frauen hat eine außergewöhnliche Leistung vollbracht und verdient es, in der
folgenden Analyse berücksichtigt zu werden. Trotz schlechter Voraussetzungen oder Hürden für
einen erfolgreichen Bildungs- und Berufsweg, konnten sie sich durch ihre Pionierleistung
hervorheben.
Auf den folgenden Seiten werden die Frauen und ihre Pioniertaten beziehungsweise
erwartungswidrigen Karrieren kurz vorgestellt, die als Rechtfertigung für die Berücksichtigung in
der Analyse dienen. Die Reihung der Vorstellung steht in keinem Zusammenhang zur
Pionierleistung oder dem Bekanntheitsgrad, sondern erfolgt einfach mit aufsteigendem
Geburtsdatum. Im Anschluss folgt die Aufgliederung in die einzelnen Lebensabschnitte, die dann
auf bildungsaufstiegsfördernde Faktoren hin untersucht werden.
3.4.1. Maria Theresia (1717-1780)
Maria Theresia, die legendäre Herrscherin, war nicht nur Regentin sondern auch Mutter und
Ehefrau. Die Mutter von 16 Kindern reformierte das Staatswesen und vernetzte das Habsburger
Haus mit halb Europa. Dennoch hatte auch sie damit zu kämpfen Beruf, Ehe und Kinder zu
managen. Als ihr Vater völlig unvorhersehbar starb, war sie vor eine riesige Herausforderung
gestellt. Sie musste ein großes Reich mit leeren Staatskassen regieren und sich Beratern,
Fürstenhäusern und dem Volk beweisen. Sie wurde nie auf die Rolle der Thronfolgerin vorbereitet.
In weiser Voraussicht hat ihr Vater aber mit der ‚pragmatischen Sanktion‘ die Erbfolge geändert
und so seiner Tochter die Thronfolge ermöglicht. Die junge Königin belehrte alle eines Besseren.
Das Volk stand hinter ihr und jubelte ihr zu (vgl. Klima, 2019, S. 22 f). Die Prinzessin, junge Mutter
und Erbin befreite ihr heruntergekommenes Riesenreich von den missgünstigen alten Ratgebern
ihres Vaters und transformierte dieses in ihren vierzig Regierungsjahren mithilfe kluger Männer in
einen modernen Staat, der abgesehen von Russland, das größte europäische Reich war (vgl.
Birkenbihl, 2017, S. 7–20; Schmale, 2020, S. 24). Unter den nicht wenigen Herrscherinnen im 18.
Jahrhundert hatte Maria Theresia die längste Regierungszeit (vgl. Schmale, 2020, S. 28). Sie war
eine widersprüchliche Frauenfigur, doch sie handelte strategisch und setzte ihre Interessen durch.
Jede ihrer Rollen – die der Monarchin, Mutter und Ehefrau – erfüllte sie mit großer Leidenschaft
(vgl. Klima, 2019, S. 25). Die starke und entwicklungsfähige Regentin war anpassungsfähig,
weitsichtig, klug, beständig, innovativ und hatte schauspielerische Fähigkeiten, die ihr im Spiel,
aber auch in der Politik halfen. Sie war keine Aufklärerin, wie ihr Sohn Joseph, der als aufgeklärter
35
Reformer bezeichnet werden kann, sondern sicherte eher das Fortdauern der Monarchie. Die
religiöse Frau neigte zudem zu Fehleinschätzungen was ihre Kinder anging. Ihre Fähigkeit der
Selbstreflexion half ihr hingegen nicht nur über ihre Position zwischen den kulturellen
Geschlechtern hinweg, sondern auch dabei ihren Nutzen daraus zu ziehen (vgl. Schmale, 2020,
S. 19 und 24).
3.4.2. Olympe de Gouges (1748-1793)
Die Ehre, „die erste wirkliche universale Erklärung der Menschenrechte verfaßt [sic!] zu haben,
hat eine Frau: Olympe de Gouges“ (Schröder, 1995, S. 7). Die französische Schriftstellerin und
Kämpferin für die Rechte der Frauen zählte zu den schönsten Frauen von Paris (vgl. Doormann,
1993, S. 32). Ihre Person war von einer geheimnisvollen Aura umgeben, die sie selbst durch
mysteriöse Angaben und Verschleierungen zu ihrer Person und ihrer Herkunft unterstützte. Ein
Jahr vor ihrem Tod sagte sie von sich selbst, sie sei „ein Lebewesen ohnegleichen; […weder]
Mann noch Weib, [und] besitze allen Mut des einen und zuweilen die Schwächen des andern“
(Doormann, 1993, S. 7). Ihre emanzipatorischen Ansprüche und ihr Lebensstil passten nicht in
diese Zeit. Als Frau war es ihr nicht möglich, auf der Rednerbühne das Wort zu ergreifen. Doch
sie verschaffte sich durch Streitschriften, die sie in Paris plakatieren ließ, Gehör (vgl. Doormann,
1993, S. 7 und 20).
Ihrer Auffassung nach war die Erklärung der Menschenrechte von 1789 politisch illegitim, da es
sich um eine Deklaration von Männerinteressen, von und für Männer handelte. Sie war männlich
privilegierend und ansonsten inhuman, ungerecht sowie tyrannisch und wurde somit
fälschlicherweise als Menschenrecht tituliert. Obwohl ihre ‚Erklärung der Rechte der Frau und
Bürgerin‘ über Jahrhunderte totgeschwiegen wurde und sie schon zu Lebzeiten
legendenumwoben war, war sie dennoch nicht gänzlich eine namenlose Unbekannte. Bekannt
wurde die Feministin durch die Schwierigkeiten in den Jahren der ersten Französischen
Revolution, wie es in der Nouvelle Biographie Générale, Paris 1817, geschrieben wurde. Im Jahre
1972 wurde die Erklärung der Olympe de Gouges in der Pariser Bibliothek wiederentdeckt,
nachdem sie dort 181 Jahre quasi im Grabe lag. Die totgeschwiegene, radikaldemokratische
Deklaration der Pariser Dramatikerin und humanen Aufklärerin von 1791 beinhaltete die siebzehn
Artikel der Menschenrechte, umgeschrieben zu einer Proklamation der Gleichheit der
Geschlechter. Einer ihrer kühnsten Sätze darin lautete: „Die Frau hat das Recht, das Schafott zu
besteigen; gleichermaßen muß [sic!] ihr das Recht zugestanden werden, eine Rednerbühne zu
besteigen“ (Doormann, 1993, S. 16). Tatsächlich blieb es bei dem Recht auf das Schafott, das
Recht auf die Rednerbühne blieb Frauen noch weitere 150 Jahre verweigert (vgl. Doormann,
1993, S. 7 f, 19 und 106; Schröder, 1995, S. 7 f und 80 f).
36
Zu den Werken der ehrgeizigen Autodidaktin zählen über vierzig Theaterstücke, mehrere Romane
und unzählige Pamphlete. Früher als wahnsinnig, bizarr, bösartig und widersprüchlich abgetan,
gilt die mutige Autorin der Frauenrechtserklärung heute für viele als Heldin, die im Kampf für die
Frauenrechte als Opfer der Männerwelt fiel (vgl. Doormann, 1993, S. 8 und 20).
3.4.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata (1851-1923)
Der gebürtigen Russin gelang es 1890, durch eine kaiserliche Sondergenehmigung, die erste
praktizierende Ärztin in Österreich zu werden. In der Habsburgermonarchie wurden Frauen erst
zehn Jahre später zum Medizinstudium zugelassen. Sie gehörte zu den ersten Frauen, die in der
Schweiz Medizin studierten. Sie promovierte 1876. Rosa Kerschbaumer-Putjata war eine
außergewöhnliche Frau mit einem ungewöhnlichen Leben. Sie war zahlreichen
Benachteiligungen, Diskriminierungen und daher auch Einschränkungen ausgesetzt. Doch sie
war weder Opfer noch widerständige Heldin. Aufgrund der kaiserlichen Entschließung konnte sie
nach der Trennung von ihrem Mann die gemeinsam gegründete Augenheilanstalt alleine leiten.
Wichtig war ihr die Verbesserung der Rechte der Frau. Vor allem in Österreich war sie in
spezifische Frauenkulturen und -netzwerke eingebunden und bezog Stellung zu so manchen
Frauenfragen. Wiederholt forderte sie die Zulassung ihrer Geschlechtsgenossinnen zum
Medizinstudium in Österreich. Nachdem sie nach Russland zurückgekehrt war, leitete sie eine
Wanderklinik und hielt Vorträge über Augenheilkunde für Ärztinnen und Ärzte. Bevor sie nach
Wien ging, war sie Leiterin einer Augenklinik in Tiflis, Georgien. Von Wien aus zog sie nach
Amerika, um auch dort als Ärztin zu arbeiten. Die Pionierin der Augenheilkunde praktizierte,
forschte, publizierte, lehrte und trug wesentlich zur Weiterentwicklung der Augenheilkunde bei
(vgl. Seebacher, 2008; Veits-Falk, 2008).
3.4.4. Cécile Vogt (1875-1962)
Der Karriereweg von Cécile Vogt kann durchaus als Ausnahme bezeichnet werden. Als es an
deutschen und österreichischen Universitäten noch nicht möglich war, als Frau zu studieren,
konnte sie das in Frankreich tun. Der Hirnforscherin gelang es, eine Ehe, das Aufziehen zweier
Töchter und einen Beruf unter einen Hut zu bringen. Viele der ‚Pionierinnen‘ dieser frühen Zeit
verzichteten zu Gunsten der Karriere auf Familie und Ehe oder verzichteten zugunsten der Familie
auf eine Karriere. Nach dem Vorbild der Curies forschte und publizierte das Forscher-Ehepaar
Vogt gemeinsam. Ihre Ergebnisse wurden als Leistung beider veröffentlicht, weswegen die
Leistungen der Französin auch später nicht streitig gemacht werden konnten (vgl. Vogt, 1997, S.
212), wenngleich viele ihrer Leistungen wieder vergessen wurden. Ihr Mann ist hingegen bis
heute, aufgrund der Untersuchung des Gehirns von Lenin, berühmt-berüchtigt. Dennoch erhielt
die Wissenschaftlerin zu einer Zeit, in der Frauen weder studieren noch einer besseren
Erwerbstätigkeit nachgehen durften (vgl. Satzinger, 1996, S. 79), sogar eine Anstellung als
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stellvertretende Institutsdirektorin und Abteilungsleiterin am Kaiser-Wilhelm-Institut (KWI) für
Hirnforschung. Außerdem wurde sie zum Wissenschaftlichen Mitglied der Kaiser-Wilhelm-
Gesellschaft (KWG) gewählt (vgl. Vogt, 1997, S. 212). Cécile Vogt legte 1927 dar, warum man
Frauen zum damaligen Stand der Hirnforschung, von keinem Beruf ausschließen konnte (vgl. von
Zahn-Harnack, 1928, S. 153–155). Leider kämpften auch die Vogts mit den frauenfeindlichen
Bedingungen in Berlin und erlebten durch den Nationalsozialismus einen gravierenden Einbruch
in ihrem Forscherleben (vgl. Vogt, 1997, S. 212 f).
3.4.5. Lise Meitner (1878-1968)
Die Meinungen zu Lise Meitner, einer der bedeutendsten und herausragendsten Physikerinnen
des 20. Jahrhunderts, sind entzweit. Albert Einstein bezeichnete sie als ‚unsere Madame Curie‘
oder ‚deutsche Madame Curie‘ (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 8 f; Klima, 2019, S. 12;
Rennert & Traxler, 2018, S. 79; Vogt, 1997, S. 210 f). Andere, spätere Meinungen sahen sie nur
als Mitarbeiterin von Otto Hahn. Der Physikprofessor Max Planck, der nur in Ausnahmefällen
Frauen förderte, setzte sich für Lise ein. Nachdem sie zwei Jahre als Assistentin an der Universität
Berlin gearbeitet hatte, wurde sie Leiterin der physikalisch-radioaktiven Abteilung des Kaiser-
Wilhelm-Instituts (KWI) für Chemie. Außerdem war sie als erste Frau wissenschaftliches Mitglied
der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft (KWG). Fünf Jahre danach wurde ihr der Professoren-Titel vom
Wissenschaftsministerium verliehen. Außerdem wurde ihr aufgrund ihrer herausragenden
Leistungen bei ihrer Habilitierung der Probevortrag und das Kolloquium von den
Kommissionsmitgliedern erlassen. Elf Jahre nach ihrer Habilitation wurde ihr von der
nationalsozialistischen, antisemitischen Politik die Lehrberechtigung wieder aberkannt. Sie durfte
vorerst am Institut bleiben, floh aber einige Jahre später nach dem Anschluss Österreichs nach
Schweden da ihr Leben bedroht war. In Stockholm angekommen, erhielt die Emigrantin nun nur
mehr untergeordnete Stellungen und wurde so zur Mitarbeiterin Otto Hahns degradiert (vgl. Vogt,
1997, S. 210 f). Die Krönung ihrer Laufbahn mit dem Nobelpreis blieb der genialen
Strahlungsforscherin versagt. Lise Meitners Beiträge gehören dennoch zu den grundlegendsten
Erkenntnissen der Atomphysik (vgl. Klima, 2019, S. 11). Ihre Beteiligung an der Erforschung der
Alpha-und Beta-Strahlung war bedeutend. Außerdem leistete sie einen wesentlichen Beitrag zur
Entdeckung der Kernspaltung (vgl. Vogt, 1997, S. 212). Lise Meitner war eine Pionierin des
Atomzeitalters (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 3). Otto Hahn, Chemiker und Nobelpreisträger,
beschrieb die kleine Frau mit dem großen Intellekt als sehr zurückhaltend, fast scheu und als
‚Tochter aus gutem Hause‘. In seinen Memoiren wurden ihre revolutionären Beiträge zur Physik
stets anerkannt. Obwohl sie besser war als viele ihrer männlichen Kollegen, war dies das
klassische Schicksal einer Frau, die in einer Männerdomäne arbeitete (vgl. Klima, 2019, S. 11).
Die Analytikerin Meitner und der intuitive Otto Hahn waren das ideale Forscherpaar. Gemeinsam
veröffentlichten sie zahlreiche wissenschaftliche Arbeiten (vgl. Klima, 2019, S. 12). Mit den Folgen
einer ihrer größten wissenschaftlichen Leistungen haderte Lise Meitner jedoch ihr Leben lang. Sie
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bedauerte ihren theoretischen Beitrag zur Vernichtung hunderttausender Menschen, die ihr in
Amerika den Namen als ‚Mutter der Atombombe‘ brachte (vgl. Klima, 2019, S. 14; Rennert &
Traxler, 2018, S. 143–154, 166 und 179). Nach Kriegsende engagierte sich Meitner weltweit für
eine friedliche Nutzung der Kernenergie und trug mit ihrer experimentellen physikalischen
Grundlagenforschung maßgeblich zur Erschließung neuer Wissenschaftsgebiete bei (vgl.
Cholodnicki, 2014). Bis zum Ende ihres Lebens blieb sie eine Pionierin (vgl. Rife, 1990, S. 331).
3.4.6. Gudrun Ensslin (1940-1977)
Die Biografie von Gudrun Ensslin, die später zur ersten deutschen Terroristin wurde, entspricht
nicht dem typischen Bildungsweg. Der besondere Radikalisierungsprozess der ursprünglichen
freundlichen und disziplinierten Pfarrerstochter, dann engagierten Studentin und Doktorandin und
späteren Terroristin Gudrun Ensslin beschäftigte schon viele Autoren. Ihre in kurzer Zeit massive
Radikalisierung hebt ihre Biografie unter den Extremistenbiografien der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts hervor. Wie kam es dazu, dass die disziplinierte, intelligente und unscheinbare
Gudrun Ensslin später Gründungsmitglied der Roten Armee Fraktion und zu einer kalten RAF-
Logistikerin wurde? Viele Anschläge und Tote gehen auf das Konto der RAF (vgl. Aßmann, 2018,
S. 12; Ensslin, Ensslin & Ensslin, 2005, S. 190–195; Gleichauf, 2017, S. 45, 62 und 96).
3.5. Lebensabschnitt I
Dieser Lebensabschnitt umfasst die Herkunft und frühe Bildung. Unter früher Bildung wird hierbei
die Primarstufe und Sekundarstufe I verstanden. Da aber in den vergangenen Jahrhunderten die
schulische Bildung nicht immer bis zur Sekundarstufe vorgesehen war, überhaupt keine
schulische Bildung stattfand oder die Mädchen oftmals zuhause unterrichtet wurden, umfasst
dieser Abschnitt einfach jene Bildung, die in diesem Alter erfolgte. Wenn keine Bildung stattfand,
wird auf die frühe Herkunft und die Gründe für die fehlende Bildung eingegangen.
3.5.1. Herkunft und frühe Bildung
3.5.1.1. Maria Theresia
Die älteste Tochter Kaiser Karls VI. wurde am 13. Mai 1717 in der Wiener Hofburg geboren. Ihre
beiden Schwestern kamen 1718 und 1724 zur Welt. Die drei Schwestern hatten zudem einen
Bruder, der kurz vor Maria Theresias Geburt starb (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 7). Den Eltern der
Mädchen waren Erziehung und Bildung sehr wichtig (vgl. Schmale, 2020, S. 27). Die Erziehung
Maria Theresias wurde von Jesuiten beaufsichtigt, war aber der einer kaiserlichen oder
königlichen Prinzessin gleich. Der Unterricht in den Fächern Zeichnen, Malen, Musik und Tanzen
sollte sie auf die Rolle der Gemahlin eines Regenten vorbereiten, nicht aber auf die einer Regentin
(vgl. Birkenbihl, 2017, S. 8). Neben Deutsch, das sie mit wienerischem Akzent sprach, lernte sie
39
auch Latein, Spanisch, Französisch und Italienisch (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 8; Klima, 2019, S.
22). Große Freude bereitete ihr auch die Teilnahme an vom Kaiser dirigierten Opern. Gesang und
Bogenschießen gehörten ebenfalls zu den Freizeitbeschäftigungen der jungen Maria Theresia.
Sie wurde als ernstes und zurückhaltendes Kind beschrieben (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 8). Klima
(2019) schreibt ebenso über die Sprachbegabung der jungen Erwachsenen Maria Theresia,
beschreibt diese aber als impulsiv und lebenslustig. Neben der Musik und dem nächtelangen
Tanzen auf Bällen gehörte auch das Glücksspiel zu ihren Leidenschaften (vgl. Klima, 2019, S.
22).
3.5.1.2. Olympe de Gouges
Geboren wurde Olympe de Gouges als Marie Gouze am 07. Mai 1748 im Süden Frankreichs in
Montauban, Languedoc. Sie stammte aus einer Metzgerfamilie. Ihre Eltern Anne-Olympe Mouiset
und (offiziell) Pierre Gouze hatten drei weitere Kinder. Sie selbst gab vor, die leibliche Tochter des
Marquis Jean-Jaques Le Franc de Pompignan, Feudalherr des Ortes und berühmten Literaten,
zu sein. Dieser erkannte sie gesetzlich aber nie an und kam weder für Bildung noch für die Mitgift
auf, was die Prämisse für eine ‚gute‘ Heirat gewesen wäre (vgl. Doormann, 1993, S. 20 f;
Schröder, 1995, S. 81). Diese Verleugnung durch ihren leiblichen Vater verarbeitete Olympe de
Gouges literarisch und rechtsphilosophisch in ihrem Erstlingswerk. Darin rechnete sie mit ihrem
angeblich leiblichen Vater und dessen alteingesessener und mächtiger Aristokratenfamilie ab. Die
Großeltern mütterlicherseits von Olympe de Gouges waren den Pompignans in treuen Diensten
ergeben. Nach dem Tod des Marquis veröffentlichte sie unter einem Pseudonym einen
autobiografischen Familienroman, in dem sie die Liebesgeschichte ihrer Mutter mit dem Marquis
enthüllte. Weniger ihr eigenes Schicksal als das ihrer Mutter betrübte sie. Denn die musste unter
den Augen dieser Familie in schrecklichstem Elend leben. Der Roman erregte trotz des
Pseudonyms Aufsehen. Darin erzählte sie, wie der Marquis nach dem Tod von Pierre Gouze bei
seiner Geliebten erschien und nicht mehr von der Seite seiner Tochter wich und auch öffentlich
zu ihr stand. Allem Anschein nach wollte der Adelige zwar die väterliche Fürsorge übernehmen,
aber seine Liebe zur Bürgerlichen nicht legalisieren (vgl. Doormann, 1993, S. 21–24; Schröder,
1995, S. 81). Später in den Revolutionsjahren gab es sogar immer wieder das gefährliche Gerücht,
Olympe sei die uneheliche Tochter des französischen Königs Ludwig XV. (vgl. Doormann, 1993,
S. 23).
Unbekannt ist, wo und wie sie Lesen und Schreiben lernte (vgl. Schröder, 1995, S. 81) oder ob
überhaupt. Man behauptete nämlich, dass sie ungebildet wäre und weder lesen noch schreiben
konnte (vgl. Doormann, 1993, S. 20). Die Tatsache, dass generell selbst der geringste Unterricht
für Mädchen verhindert wurde, erklärt, warum die meisten Frauen Analphabetinnen waren.
Olympe de Gouges beklagte immer wieder im Laufe ihres Lebens ihre mangelnde Ausbildung.
Der zweite Faktor, der ihr später in den ersten Jahren in Paris große Mühen abverlangte, war die
40
sprachliche Barriere. Denn in der Provinz, in der sie geboren wurde, sprach man Okzitanisch, das
sich stark vom Französisch des Nordens unterschied (vgl. Doormann, 1993, S. 26; Schröder,
1995, S. 81).
3.5.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata
Rosa Kerschbaumer wurde als Raissa Wassilijewna Schlykowa (oder Slikova) am 22. August (vgl.
Veits-Falk, 2008, S. 15) oder am 21. April (vgl. Seebacher, 2008, S. 50, 2006, S. 560) 1851 in
Moskau geboren. Da in Russland der westliche gregorianische Kalender erst 1918 eingeführt
wurde, ist nach diesem der 4. September ihr Geburtstag. In den meisten österreichischen Quellen
ist 1854 als Geburtsjahr angegeben, was vermutlich auf einen Fehler im Matrikel-Buch der Berner
Universität zurückgeht. Jedoch änderte Rosa nicht nur ihr Geburtsdatum, sondern auch
persönliche Daten mehrmals während ihres Lebens, wenn es für sie von Vorteil war. Raissas
Familie war sehr wohlhabend. Ihr Vater Wassilij Dmitrijewitsch Schlykow (oder Schlikow) stammte
aus einer landadeligen Familie. Der rechtswissenschaftliche Absolvent der Universität Moskau
trat in die Kanzlei des Moskauer Generalgouverneurs ein. 1856 wurde er zudem zum ‚wirklichen
Staatsrat‘ ernannt (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-Falk, 2008, S. 15). Ihre Mutter, Adelaida
Alexejewna Ogarjowa, die Tochter der Fürstin Uchotomskij, war die Urenkelin des berühmten
Architekten Dmitrij Uchotomskij, der am Umbau des Moskauer Kreml beteiligt war. Die Familie
Uchotomskij zählte zum russischen Hochadel. Raissas Großvater war ein despotischer
Großgrundbesitzer (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 15 f). Raissas Eltern heirateten 1850 in Moskau und
bezogen eine Acht-Zimmer-Wohnung in einem zweistöckigen Haus mit Garten und Stallungen in
Moskau. Im Jahr darauf kam Raissa zur Welt und zwei Jahre später ihre Schwester Virginija. Die
beiden Schwestern hatten auch einen Bruder, der aber 1859 im Alter von zwei Jahren an einer
Lungenentzündung starb (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-Falk, 2008, S. 16).
Raissa und Virginija erhielten eine westlich orientierte Erziehung und Sozialisation. Dies war in
den adeligen Kreisen der Moskauer Gesellschaft Mitte des 19. Jahrhunderts üblich (vgl. Veits-
Falk, 2008, S. 16). Die Mädchen wurden primär von Ammen, Kindermädchen sowie von
französischen und englischen Gouvernanten gepflegt und betreut. Dies war in adeligen
russischen Familien weit verbreitet. Neben den staatlichen Mädchengymnasien, die allen
zugänglich waren, gab es für adelige Mädchen hauptsächlich französische Pensionate oder
Institute. Da die Eltern die Töchter aber nicht wegschicken wollten, wurden sie zuhause von
russischen Hauslehrern und den Gouvernanten unterrichtet (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-
Falk, 2008, S. 18). Im Alter von zehn Jahren betreute sie eine Britin, die ihnen Manieren und
Anstand vermittelte. Ein französischer Gymnasiallehrer unterrichtete sie in Französisch. Russisch
und andere Fächer, darunter Geschichte und Literatur, übernahm der Student und später
einflussreiche Staatsanwalt Anatolij Fjodorowitsch Koni. Raissa und Virginija beschrieb er als
kluge, fähige und empfängliche Mädchen, die zu zwei jungen und eleganten Frauen
41
heranwuchsen. Der Hauslehrer unterrichtete die beiden aufgrund ihres großen Interesses zudem
in Chemie, Zoologie, Botanik und Physik. Religion sowie die Kultur und Geschichte Russlands
unterrichteten die gläubigen Eltern hingegen selbst. Primär zielten Erziehung, Bildung und
Sozialisation auf die Vorbereitung der weiblichen Bestimmung als Ehefrau und Mutter ab. Die
Eltern sorgten aber auch für die Ausbildung zu weltgewandten höheren Töchtern und balancierten
dabei zwischen traditionellem Frauenbild und traditioneller Erziehung sowie einem modernen
Bildungsangebot, wie beispielsweise dem Unterricht in Naturwissenschaften (vgl. Veits-Falk,
2008, S. 18 f). Der für das 19. Jahrhundert typische Widerstreit zwischen ‚Westlern‘ und
‚Slawophilen‘ betraf auch die Familie Schlykow. Der Vater war als hoher Beamter des
Generalgouverneurs hofverpflichtet und übernahm bei offiziellen Veranstaltungen bestimmte
Funktionen. Er war Anhänger der russisch-orthodoxen Kirche und war als guter Patriot gegen das
Westliche und den Gebrauch der französischen Sprache in der Gesellschaft. Er sah den Westen
jedoch nicht als kulturell schädlich für Russland. Die westlich ausgerichtete Erziehung und Bildung
der Töchter sowie viele Bereiche der Familienalltagskultur gingen wohl auf die Mutter, die in einem
französischen Pensionat erzogen wurde, zurück. Neben der Stadtwohnung bewohnte die Familie
im Sommer ein Landgut in Dubki, welches die Mutter Adelaida geerbt hatte. Dort tauschten die
Damen des Hauses die weiten Kleider gegen lose, fußfreie Kleider. Die Mädchen verbrachten viel
Zeit im Freien. Die lebhafte Raissa hatte stets alles im Blick (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 19–21).
Die 16-jährige Raissa bekam von ihrer Mutter eine Kurländerin gestellt, um ihre
Deutschkenntnisse zu verbessern. Das Kurland, heute die westlichste historische Landschaft
Lettlands, kam 1795 als ‚deutsche Provinz‘ an Russland. Zudem begann zu diesem Zeitpunkt
auch die aktive Rolle der Mutter. Es war die Übergangsphase vom Kind zur Erwachsenen, in der
die Mutter der Tochter ‚soziale Kompetenz‘ ihrer gesellschaftlichen Stellung entsprechend
beibrachte und Eheanbahnungen vorbereitete. Mit drei befreundeten Familien veranstaltet die
Mutter einen Tanzkurs. Die Mädchen, zwischen 14 und 16 Jahre alt, tanzten mit Burschen, welche
die oberen Gymnasialklassen besuchten. Da ein Tanzpartner fehlte, sprang der Student Wladimir
Putjata ein. Ein Jahr darauf wurde Raissa offiziell in die Gesellschaft eingeführt und durfte die
Eltern zu Konzerten, Bällen und festliche Veranstaltungen begleiten. Nur wenige Männer
widerstanden den Blicken der hübschen, temperamentvollen und koketten Raissa, die stets von
Männern umgeben war. Bei den von der Familie Schlykow veranstalteten Abendgesellschaften
mit Tanz, Musik und Gesellschaftsspielen wurden auch Ausschnitte aus bekannten
Bühnenstücken aufgeführt. Raissa und der Sprachen- und Geschichtsstudent Wladimir Putjata
stellten die Liebesszenen auf der Bühne so überzeugend dar, dass sich daraus tatsächlich Liebe
entwickelte (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-Falk, 2008, S. 24 f). Die sonst lebhafte und
mitteilsame Raissa veränderte sich ab da und war meist in Gedanken versunken, still und
bedrückt. Sie vertraute ihrer Schwester die Heiratspläne mit Wladimir an. Das Problem war, dass
sie noch keine 18 Jahre alt war und somit nicht heiraten durfte. Obwohl Wladimir eigentlich keine
42
so ‚gute Partie‘ war, stimmten die Eltern der Verliebten den Heiratsplänen schließlich widerwillig
zu, unter der Bedingung, dass die beiden bis zum Abschluss von Wladimirs Studium im Hause
der Schlykows wohnten. Die Hochzeit der beiden fand am 20. August in Dubki statt. Das Jahr der
Hochzeit ist laut Veits-Falk nicht bekannt, da die Memoiren der Schwester, auf denen Veits-Falk
aufbaut, widersprüchlich sind. Einerseits betont sie immer wieder den 18. Geburtstag ihrer
Schwester, was aber bedeuten würde, dass Raissa bei der Hochzeit im siebten Monat schwanger
war. Andererseits datiert sie die Geburt von Raissas Sohn ein Jahr nach der Hochzeit (vgl. Veits-
Falk, 2008, S. 25–28). Die Autorin Seebacher hingegen datiert die Hochzeit mit dem Jahr 1868,
demnach wäre Raissa 17 Jahre alt gewesen (vgl. Seebacher, 2008, S. 50). Bekannt ist, dass die
herrschaftliche Trauung in der russisch-orthodoxen Kirche mit der Krönung des Brautpaares
beendet wurde und anschließend mit den Dorfbewohnern gefeiert wurde. Raissas Sohn
Wsewolod Wladimirowitsch, auch genannt Lodja, kam am 2. Oktober 1869 zur Welt. Mit der
Geburt des zweiten Sohnes Boris im Jahr 1870 zog das Ehepaar Putjata samt Söhnen in ein
eigenes Haus (vgl. Seebacher, 2008, S. 50; Veits-Falk, 2008, S. 28 f).
Um seine Familie zu ernähren, nahm Wladimir im Oktober 1870 eine Stellung als Beamter des
Moskauer Hauptpostamtes an und brach sein Studium ab. Raissas Mutter unterstützte die Tochter
bei ihren mütterlichen Pflichten. Als es Probleme mit dem Personal gab, bedauerte Raissa den
Rat der Mutter, sich für den Haushalt zu interessieren, nicht befolgt zu haben (vgl. Veits-Falk,
2008, S. 29 f). Als ihr dritter Sohn Kolja im Jahr 1872 geboren wurde (vgl. Seebacher, 2008, S.
50), zogen die Putjatas wieder in Raissas Elternhaus zurück. Wladimir bereute indes den Abbruch
seines Studiums und ärgerte sich über seine Arbeit. Trotz der Bitten von Raissas Familie
entschloss er sich, seine Arbeit aufzugeben, verließ seine Frau und die Kinder, um sich einer
herumziehenden Schauspieltruppe anzuschließen. Diese Zesur nutzte Raissa als Chance, um ihr
Leben als angepasste Ehefrau und Mutter aufzugeben. Sie ging nach Zürich, um dort wie ihre
jüngere Schwester zu studieren. Die Eltern, welche die frühe Hochzeit genehmigt hatten, sahen
eine Teilschuld an der Miesere ihrer Tochter und unterstützen den Neuanfang (vgl. Veits-Falk,
2008, S. 31 f). Raissa inskribierte im Wintersemester 1872 an der Züricher Universität (vgl.
Seebacher, 2008, S. 51).
3.5.1.4. Cécile Vogt
Geboren wurde Cécile Vogt am 27. März 1875 in Annecy (Savoyen), im Osten Frankreichs als
Cécile Mugnier (vgl. Düweke, 2001, S. 118; Rürup & Schüring, 2008, S. 339; Satzinger, 1996, S.
77). Ihr Vater Pierre Louis M., ein französischer Offizier, starb als sie erst zwei Jahre alt war. Ihre
streng katholische Tante gab von da an den Ton in der Familie an. Dank der Unterstützung ihrer
Mutter, einer ‚unabhängigen Denkerin‘, die aus der katholischen Kirche ausgetreten war, konnte
Cécile eine Töchterschule absolvieren (vgl. Düweke, 2001, S. 118; Wolff, 2009, S. 21).
43
3.5.1.5. Lise Meitner
Elise Meitner, die später nur noch als Lise durchs Leben ging, wurde am 17. November 1878 in
Wien geboren. Obwohl dieses Datum im Geburtsregister der jüdischen Gemeinde Wien steht, ist
in all ihren Dokumenten der 7. November angeführt, was vermutlich auf das Versehen eines
Beamten zurückzuführen ist, dem die Eins vor der Sieben abhandenkam. Tatsächlich feierte Lise
später ihren Geburtstag immer am 7. November. Sie war das dritte von acht Kindern einer
liberalen jüdischen Familie (vgl. Klima, 2019, S. 11; Rennert & Traxler, 2018, S. 15; Sime, 2001,
S. 17). Ihre Eltern, der in Mähren geborene Vater Philipp und die aus der Slowakei stammende
Mutter Hedwig sowie ihre Geschwister, blieben für Lise immer ein wichtiger Anker, vor allem ihr
jüngster Bruder Waltl (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 16). Der Idealismus der Eltern beeinflusste
die Grundlage jener besonderen geistigen Atmosphäre im Elternhaus (vgl. Sime, 2001, S. 23 f).
Für den progressiven Freidenker Philipp Meitner, der in Wien zum Doktor der
Rechtswissenschaften promovierte, zählten Bildung und Kultur zu den höchsten Gütern (vgl.
Rennert & Traxler, 2018, S. 17). Die stille Lise liebte es zu lesen und verschlang Bücher statt im
Haushalt zu helfen, was ihre Mutter oft zu Jähzorn und Schlägen verleitete (vgl. Rennert & Traxler,
2018, S. 19). Bereits früh zeigte sich ihr Interesse an Naturwissenschaften (vgl. Klima, 2019, S.
11; Rennert & Traxler, 2018, S. 19; Sime, 2001, S. 22). Ihre wissenschaftliche Neugierde
entwickelte sie, als sie die schönen Farben einer Öllache in einer Wasserpfütze sah (vgl. Rife,
1990, S. 21; Sime, 2001, S. 22). Die Volksschule, welche sie 1884 bis 1889 besuchte konnte den
Wissensdurst nicht stillen. Lise mochte ihre Lehrerin nicht. Den Eltern bereitete sie teilweise
Kummer und Hoffnungslosigkeit. Sie bemühten sich, ihre Kinder nach Kräften zu fördern und
verbrachten viel Zeit mit ihnen. Von der Mutter lernten sie Lesen und Schreiben, sowie soziales
Gewissen und vom Vater die Sprachen Latein, Hebräisch, Französisch und Englisch. Außerdem
nahm sie der an Turnieren teilnehmende Schachspieler mit in die Oper, ins Theater, in Museen,
zu Konzerten und zu Pferderennen. Die Schachpartner von Lises Vater gehörten zu den höchsten
gesellschaftlichen Kreisen. Womöglich hatte sie ihr analytisches Denken und ihre später bekannte
und beliebte Bescheidenheit von ihm. Die Meitner-Töchter lernten alle Klavier, da zuhause viel
musiziert wurde. Die Eltern bereiteten ihren Kindern eine kulturell anregende Umgebung. 1951
schrieb Lise, wie dankbar sie ihren Eltern für all diese schönen und guten Erfahrungen war (vgl.
Rennert & Traxler, 2018, S. 19–21; Rife, 1990, S. 17 f). Nach der Volksschule durfte Lise auf eine
dreijährige Bürgerschule gehen, die eine über das Lehrziel der Volksschule hinausgehende
Bildung gewährleisten sollte. Der Rahmen war jedoch für Mädchen stark begrenzt. Ihr erstes
Zeugnis 1890 zeigte ihre Begabungen und Interessen in allen Wissensfächern und ihre lediglich
genügenden Leistungen in Weiblichen Handarbeiten, Schönschreiben und Freihandzeichnen,
sowie ihre Note ‚Befriedigend‘ in ‚Fleiß‘ und ‚Sittliches Betragen‘, was möglicherweise auf ihre
gelegentliche Langeweile in der Schule zurückzuführen ist. Das Endzeugnis im Juli 1892 weist in
allen Fächern ein ‚Gut‘ oder sogar ‚Sehr gut‘ auf, sogar im ‚Sittlichen Betragen‘. Ihre schlechteste
Note ist ein ‚Befriedigend‘ in ‚Fleiß‘ (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 20 f; Sime, 2001, S. 24).
44
3.5.1.6. Gudrun Ensslin
Geboren wurde Gudrun Ensslin am 15. August 1940 im Süden Deutschlands, im Dorf Bartholomä
als viertes von sieben Kindern (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 185; Gleichauf, 2017, S. 23). Über ihre
Kindheit gibt es nur dürftige Fakten. Der Sohn sowie die Geschwister wollen nichts erzählen, die
Eltern sind bereits verstorben. Ihr Vater Helmut Ensslin, Pfarrer von 1936 bis 1948 in der
evangelischen Kirchengemeinde von Bartholomä und ihre Mutter, Ilse Ensslin, die sich um den
Pfarrhaushalt und die Kinder kümmerte, boten den Kindern im Pfarrhaus und im Garten viel Platz
zum Spielen. Das gesamte Bild der angesehenen Familie wirkte harmonisch. Helmut Ensslin, der
Theologieabsolvent der Eberhard-Karls-Universität, galt als klug, offen, originell und kreativ. Seine
Reden waren intellektuell herausragend. Sein Denken und Handeln waren aber oft
unvorhersehbar. Als der 27-jährige Helmut zum Pfarrer berufen wurde, musste er sich politisch
positionieren. Der eigenwillige Helmut lehnte die Angriffe der Nationalsozialisten ab und wurde
später sogar vom Kirchengemeinderat aufgefordert, seine Propagandareden zu unterlassen.
Trotz seiner ablehnenden Haltung gegenüber Hitler zog er 1942 in den Krieg. Seine Frau und das
Haus- und Kindermädchen kümmerten sich um die Kinder und den Haushalt. Nach dem Krieg
nahm Helmut wieder seine Pastorenrolle ein, seine Rolle im Familienalltag ist unbekannt. Über
die unauffällige Gattin des Pastors weiß man nur wenig, außer, dass sie wohl verschlossen,
naturverbunden und familiär war (vgl. Gleichauf, 2017, S. 23–30). Gudrun, die als fröhliches und
freundliches Kind beschrieben wird, wächst in ihren ersten acht Jahren trotz Weltkrieg umgeben
von idyllischer Natur einigermaßen behütet auf. Die Mutter versuchte Normalität aufrecht zu
erhalten, wenn auch der Vater einige Jahre abwesend war. In der Schule herrschten eine
zeitübliche Strenge und Ordnung. Mehr ist leider nicht bekannt (vgl. Gleichauf, 2017, S. 29 und
32 f). Im Jahr 1948 zieht die Familie relativ schnell in die Kleinstadt Tuttlingen um, da Gudruns
Vater eine neue Pfarrstelle erhielt. Dort waren die Folgen des Krieges nach wie vor präsent (vgl.
Gleichauf, 2017, S. 37 f).
Auf befremdliche Weise beschreibt Ilse Ensslin ihre Tochter als „totalitären Charakter gegenüber
den andern Geschwistern“ (Overath, 2005, zit. nach Gleichauf, 2017, S. 38). Offensichtlich suchte
sie rückblickend verbittert nach Gründen für den Werdegang ihrer Tochter und machte gewisse
Charaktereigenschaften, die sie angeblich bereits als Kind hatte, für die Entwicklung Gudruns
verantwortlich. Tatsächlich beschrieben alle Schulfreundinnen und -freunde Gudrun weder als
bevormundend noch als drangsalierend, sondern im Gegenteil als heiter, offen, vital und das
fröhlichste Kind der Ensslin-Geschwister (vgl. Gleichauf, 2017, S. 38–41). Mit einer Freundin
besuchte Gudrun die Jungschar. Sie war eine gute, wissbegierige und äußerst
konzentrationsfähige Schülerin und schwärmte über die sehr freundliche Lehrerin in der Tuttlinger
Grundschule. Ihr Vater engagierte sich sehr in der Schule, in der sie die Oberstufe besuchte und
wurde sogar zum Elternbeirat gewählt. Gudrun, die als diszipliniert, intelligent und leistungsstark
beschrieben wurde, erhielt drei Jahre in Folge Belobigungen und Preise für ihre schulischen
45
Leistungen. Dennoch war das hübsche und beliebte Mädchen keine Streberin. Zudem war sie
sportlich und spielte Geige. Die gesamte Familie Ensslin war musikalisch sehr begabt und
musizierte oft gemeinsam. Ihre Kindheit und Jugend war geprägt durch unzählige
Freizeitaktivitäten (vgl. Gleichauf, 2017, S. 42–47).
Obwohl Gudrun nicht der Typ für ein intensiv religiös ausgerichtetes Leben war, leitete sie im Alter
von 16/17 Jahren die Jugendgruppe des Evangelischen Mädchenwerks. Sie wurde von ihren
Schützlingen, mit denen sie viel Spaß hatte, verehrt (vgl. Gleichauf, 2017, S. 48). In der 8. Klasse
der Oberstufe beschäftigte sich Gudrun intensiv mit gesellschaftsrelevanter Literatur und
extremen Charakteren. Sie erweiterte ihren Horizont mit Stefan Andres‘ ‚El Greco malt den
Großinquisitor‘, mit Friedrich Hebbels ‚Maria Magdalena‘, mit Werken von Friedrich Schiller,
Wilhelm Raabe, Theodor Storm und anderen berühmten Schriftstellern. Sie erforschte die
Möglichkeiten der Literatur und entwickelte Ideen, die über die Literatur hinausgingen (vgl.
Gleichauf, 2017, S. 49). 1958/1959 verbrachte sie ein Jahr als Austauschschülerin an der Warren
Highschool in Pennsylvania. Sie schrieb einen kleinen Bericht für die Schülerzeitung, in dem sie
über ihre Erfahrungen und Eindrücke berichtete. Fasziniert schilderte sie das gastfreundliche
Land. Dem Sport und den sozialen Netzwerken mit all den Clubs und Komitees sowie der eigenen
Popularität wurde ihrer Meinung nach zu viel Beachtung geschenkt. Außerdem beschrieb sie den
schier aussichtslosen Zwang zur Perfektion. Das deutsche Schulsystem sei logischer und
vielfältiger aufgebaut. Beeindruckt war sie, wie die Amerikaner ihre Religion auslebten und in das
tägliche Leben integrierten. Nach ihrer Rückkehr bemerkten ihre Freundinnen Veränderungen an
ihr – eine neue, freche Frisur, Schminke und modische Kleidung. Trotz ihrer brieflich geäußerten
Skepsis, bezüglich des ‚schön Machens‘ schien sie dem nachgegeben zu haben. Über ihr Privates
erzählte sie wenig (vgl. Gleichauf, 2017, S. 51–54).
3.5.2. Faktorenanalyse
Die dargelegten Details über die Herkunft und frühe Bildung zeigen, dass sich innerhalb der 223
Jahre der Zugang zu Bildung verändert hat. Im 18. Jahrhundert war Bildung und Schule für
Mädchen nicht nur nicht möglich, sondern wurde sogar verhindert. Darunter Olympe de Gouges,
geboren 1748, die Zeit ihres Lebens unter der fehlenden Bildung litt. Ihre Familie, eine
Metzgerfamilie, konnte ihr in Sachen Bildung, auch aufgrund der finanziellen Situation, nicht
helfen. Der vermeintliche leibliche Vater, der aus einer reichen und angesehenen
Aristokratenfamilie stammte, hätte Olympe die gewünschte Bildung ermöglichen können. Doch
die Verleugnung seiner Vaterschaft führte zu einer zusätzlichen Belastung und Prägung der
jungen Olympe. Wo und wie genau die spätere Autodidaktin letztlich Schreiben und Lesen lernte
ist unbekannt. Der zweite Lebensabschnitt enthält dazu Hinweise.
46
Wohlhabende, vor allem adelige Eltern, ermöglichten ihren Kindern eine umfangreiche Bildung.
Sowohl Maria Theresia als auch Rosa Kerschbaumer erhielten Unterricht. Maria Theresia, Tochter
des Kaisers, erhielt eine Erziehung durch Jesuiten. Bildung war ihrem Vater sehr wichtig. Sie
wurde in kreativen Fächern unterrichtet, lernte viele Sprachen und wurde auf die Rolle der Ehefrau
vorbereitet. Auf die Rolle als Regentin wurde sie nicht vorbereitet, da dies nicht der beabsichtigte
Weg für sie war. Obwohl zwischen der Geburt Maria Theresias in Wien 1717 und der in Moskau
1854 geborenen Rosa Kerschbaumer 137 Jahre liegen und nicht ganz zwei tausend Kilometer,
erhielten sie beide eine ähnliche Bildung. Rosa erhielt ebenso Unterricht in Sprachen, aber auch
in naturwissenschaftlichen Fächern. Generell waren die Erziehung, Bildung und Sozialisation als
Vorbereitung auf die weibliche Bestimmung als Ehefrau und Mutter gedacht, aber auch um zu
einer weltgewandten höheren Frau zu werden. Die westlich ausgerichtete Erziehung und Bildung
der Tochter sowie viele Bereiche der Familienalltagskultur, gingen wohl auf die Mutter von Rosa
zurück. Zwei Jahrzehnte nach Rosa Kerschbaumer wurde Cécile Vogt in Frankreich geboren. Bei
beiden Biografien sticht die prägende Rolle der Mutter hervor. Schließlich ermöglichte Céciles
Mutter, die eine unabhängige Denkerin war, ihrer Tochter den Besuch einer Töchterschule. Auch
den Eltern von Lise Meitner und Gudrun Ensslin war Bildung und Kultur wichtig. Ende des 19.
Jahrhunderts wurde Lise Meitner in eine liberale jüdische Familie hineingeboren. Der Vater, ein
progressiver Freidenker und Jurist, verkehrte in den höchsten gesellschaftlichen Kreisen. Der
Idealismus der Eltern bereitete Lise eine besondere geistige und kulturell anregende Umgebung.
Sie entwickelte früh eine wissenschaftliche Neugierde. Der Vater unterrichtete sie in Sprachen.
Die Mutter lehrte sie Lesen und Schreiben, sowie soziales Gewissen. Obwohl Lise im Haushalt
helfen sollte, verschlang sie lieber Bücher. Festzustellen ist, dass bis auf Olympe de Gouges,
allen Eltern Bildung und Erziehung wichtig war und sie sich die höhere Bildung ihrer Kinder leisten
konnten.
Die evangelische Pfarrerstochter Gudrun Ensslin wurde aufgrund der Abwesenheit ihres Vaters,
von der Mutter und einem Kindermädchen großgezogen. Ihr Vater befand sich im Krieg. Trotz der
Bemühungen die Normalität aufrecht zu erhalten, muss der Krieg für die 1940 geborene Gudrun
eine belastende Situation gewesen sein. Obwohl ihr Vater Pfarrer war, war Gudrun selbst nicht
intensiv religiös, wenngleich sie mit 16/17 Jahren die Jungschar leitete. Sie besuchte die
Volksschule, in der eine zeitübliche Strenge und Ordnung herrschte. Im Gegensatz zu Lise,
schwärmte sie über die freundliche Lehrerin in der Grundschule. In der Oberstufe verbrachte
Gudrun ein Auslandsjahr in Amerika. In dieser Zeit setzte sie sich mit der für sie neuen Kultur
auseinander und begann sich selbst intensiv mit gesellschaftsrelevanter Literatur und extremen
Charakteren zu beschäftigen. Sie erforschte die Möglichkeiten der Literatur und entwickelt Ideen,
die über die Literatur hinausgingen. Auch Lise Meitner entwickelte auf Basis eines fundierten
Allgemeinwissens ihre eigenen Interessen. Obwohl Lises Familie oft umzog, schien dies für sie
kein Problem darzustellen.
47
Einschneidende oder belastende Ereignisse in der Kindheit gab es vor allem für Olympe de
Gouges durch die fehlende Bildung, die Verleugnung durch den Vater und die Vernachlässigung
in ihrer Kindheit. Auch für Cécile Vogt gab es einschneidende oder belastende Ereignisse: der
Tod ihres Vaters und die Einschränkungen durch ihre strenge, katholische Tante. Krieg, die
Abwesenheit des in den Krieg gezogenen Vaters und mehrmalige Umzüge (nähere Informationen
dazu im Abschnitt 3.6.1. Weiterführende Bildung und Studium) schienen für Gudrun keine
Belastung dargestellt zu haben. Weder der Orts- noch der Schulwechsel bereiteten ihr Probleme,
sie war auch in der neuen Klasse wieder beliebt. Bekannt ist darüber explizit nichts, aber
womöglich waren der Jähzorn und die Schläge, die Lise Meitner von ihrer Mutter erhielt, wenn sie
nicht im Haushalt half, ein negativer Aspekt in der sonst so kulturell anregenden und
erfahrungsreichen Umgebung. Trotz einschneidender und belastender Ereignisse in allen
Biografien, ist kein negativer Einfluss auf die Karrieren erkennbar. Die Pionierinnen weisen
demnach eine erhöhte Resilienz auf.
Die meisten der Frauen hatten als junge Mädchen die Möglichkeit kulturelle und sportliche
Freizeitaktivitäten zu genießen, da den Eltern dies wichtig war. Dies trifft auf Maria Theresia, Rosa
Kerschbaumer, Lise Meitner und Gudrun Ensslin zu. Bei Olympe de Gouges und Cécile Vogt fand
sich darüber nichts in der Literatur. Aufgrund der Familienverhältnisse ist aber bei Olympe de
Gouges davon auszugehen, dass sie keine Teilhabe an Kultur, Musik und Sport hatte.
Soweit bekannt, zeigen sich bei den charakterlichen Eigenschaften der Mädchen Parallelen. Nicht
nur Maria Theresia war eine Strategin, auch Lise Meitner war bereits in der Kindheit eine
analytische Denkerin. Das Merkmal Intelligenz trifft nicht nur auf diese beiden Frauen zu, sondern
auch auf Rosa Kerschbaumer und Gudrun Ensslin. Für Olympe de Gouges und Cécile Vogt finden
sich für diesen Lebensabschnitt keine Merkmalsbeschreibungen. Als fähiges und empfängliches
Mädchen wurde Rosa Kerschbaumer bezeichnet, ähnlich dazu wurden Lise Meitner und Gudrun
Ensslin als leistungsstark, diszipliniert und wissbegierig charakterisiert. Ihre beliebte
Bescheidenheit hat Lise Meitner mit Maria Theresia gemein. Die als zurückhaltend und ernst
beschriebene Regentin, entwickelte sich zu einer impulsiven und lebenslustigen jungen
Erwachsenen. Auch Gudrun Ensslin wurde als fröhliches, offenes und freundliches Kind, sogar
als das Fröhlichste der Ensslin Kinder, hervorgehoben, was im Kontrast zu den Aussagen ihrer
Mutter über den totalitären Charakter von Gudrun steht. Allesamt zeichnen die Merkmale
Intelligenz und Ehrgeiz bereits im Kindesalter aus.
48
3.6. Lebensabschnitt II
Dieser Abschnitt umfasst die Bildungsperiode von der Sekundarstufe I bis hin zur Matura sowie
die Zeit des Studiums. Da nicht alle einen institutionellen Bildungsweg beschreiten konnten, rückt
auch hier anstelle des Bildungswegs jener Abschnitt vom Alter der Sekundarstufe I bis zum
Ausüben des Berufs in das Blickfeld. Dieser Abschnitt umfasst demnach jene Lernphase, welche
die Basis für die späteren Erfolge bildet.
3.6.1. Weiterführende Bildung und Studium
3.6.1.1. Maria Theresia
Im Alter von 19 Jahren durfte sie ihre Jugendliebe Franz Stephan von Lothringen, einen entfernten
Cousin, heiraten (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 9; Klima, 2019, S. 23 f; Telesko, 2020, S. 161). Die
Vereinigung der beiden konnte die Macht des Habsburger Hauses nicht in Gefahr bringen, da das
Haus Lothringen nicht bedeutend genug war (vgl. Klima, 2019, S. 23 f). Während der
Regierungszeit von Maria Theresia war er offiziell Mitregent. Sie selbst bestimmte ihn dazu, um
ihm bei der anstehenden Kaiserwahl als König von Böhmen ein Stimmrecht zu geben. Sie
übertrug ihm die Verwaltung der Finanzen und er beschränkte sich auf sein wirtschaftliches Talent
und kümmerte sich um die finanziellen Angelegenheiten des Hauses Habsburg. Maria Theresia
traf alle großen Entscheidungen alleine. Wenn er eine andere Meinung als sie vertrat, warf sie ihn
sogar aus den Ratssitzungen (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 11; Klima, 2019, S. 23 f).
Als ihr Vater Karl VI. im Oktober 1740 völlig unvorhersehbar verstarb, übernahm sie die
Regierungsgeschäfte. Möglich war dies, da ihr Vater 1713 mit der ‚pragmatischen Sanktion‘ die
Unteilbarkeit der Territorien des Hauses Habsburg festgelegt und die Erbfolge geändert hatte (vgl.
Birkenbihl, 2017, S. 9 f; Klima, 2019, S. 22). Ihr Vater hoffte jedoch bis zum Schluss auf einen
männlichen Erben und verlangte von Maria Theresia bei ihrer Hochzeit 1736 einen Verzicht zu
leisten und von ihren Ansprüchen zurückzutreten, falls doch noch ein männlicher Nachkomme
geboren werde (vgl. Telesko, 2020, S. 161). Die Berater, Fürstenhäuser und auch das Volk
begegneten Maria Theresia sehr skeptisch. Ihr Vater hatte sie nie zu seinen geschäftlichen Treffen
mitgenommen oder sie in irgendeiner Weise explizit auf die Rolle der Thronfolgerin vorbereitet
(vgl. Birkenbihl, 2017, S. 10; Klima, 2019, S. 22). Hingegen schreibt Schmale (vgl. 2020, S. 27),
dass Maria Theresia ab dem Alter von vierzehn Jahren ihren Vater zu Ratssitzungen begleiten
durfte. Ohne oder zumindest mit wenigen Kenntnissen stand sie vor der Aufgabe, ein riesiges
Reich zu regieren und übernahm den Vorsitz der Regierung noch am Todestag ihres Vaters. Zu
diesem Zeitpunkt war sie gerade einmal 23 Jahre alt und zum dritten Mal schwanger. Ihr erstes
Kind hatte sie kurz davor begraben müssen (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 10; Klima, 2019, S. 22;
Schmale, 2020, S. 27). Die Erbhuldigung fand am 22. November 1740 statt, noch während der
sechswöchigen großen Landestrauer. Die schwangere Maria Theresia wurde während des
49
gesamten Zuges von der Hofburg zum feierlichen Gottesdienst im Stephansdom auf einer Sänfte
getragen. Dies brachte eine Änderung der traditionellen Ordnung der Erbhuldigung (vgl. Hertel,
2020, S. 47 f).
Mit Übernahme der Macht musste Maria Theresia an allen Fronten schnell handeln. Anstatt sich
der Absicherung der Finanzen und dem Ausbau der Armee zu widmen, hatte sich Karl VI. nur um
die Absicherung der Erbfolge gekümmert und hinterließ seiner Tochter, auch aufgrund der letzten
beiden Kriege, leere Staatskassen. Österreichs Nachbarländer versuchten, die Unterzeichnung
der Pragmatischen Sanktion zu umgehen und erhoben Ansprüche auf beträchtliche Teile der
Habsburgischen Besitzungen (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 9–12). Weil das Volk Hunger litt, ordnete
Maria Theresia bei ihrem Amtsantritt die Öffnung der Kornkammern der Klöster an. Den Tod von
Karl VI. nutzte der preußische König Friedrich II., um im Dezember 1740 anzugreifen. Als sich die
verzweifelte Mutter mit dem neugeborenen Sohn dem gesamten ungarischen Adel präsentierte
und diesen um sich versammelte, gelang ihr die Wende. Die Fürsten, beeindruckt von der jungen
mutigen Frau, stellten ihr 20.000 Soldaten zur Verfügung. Sie wurde im Juni 1741 zum ‚König von
Ungarn‘ (eine weibliche Bezeichnung war nicht vorgesehen) gekrönt. Zuvor hatte sie Reitstunden
genommen und inszenierte die Krönung sorgfältig, in dem sie sich als fleischgewordene Hungaria
stilisierte. Weiblichkeit wurde durch staatsrechtliche Männlichkeit ausgeglichen. Sie trug ein
Schwert und die Farben der ungarischen Flagge. Der Erbfolgekrieg endete 1748 einerseits mit
dem Verlust des wohlhabenden Schlesiens und anderen Territorien, andererseits mit
Friedensverträgen, die ihre Herrschaft und auch das Erbe sicherten (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 16;
Klima, 2019, S. 22 f; Lau, 2020, S. 41). Die ‚wilde Reiterin‘ nahm offizielle Termine auch zu Pferd
wahr. Damit zog sie sich den Unwillen der Fürsten zu, löste aber auch einen Reit-Boom unter
Wiens Damen aus. Da die Königin dies tat, konnten die Herren es schlecht den Damen verbieten.
Im Gegensatz zu ihren Vorgängern ließ Maria Theresia sich öffentlich blicken und stellte sich dem
Volk. Sie erlaubte es sogar, dass man ihr Bittgesuche in die Kutsche warf. Zuvor von vielen
kritisiert, wurde die Frau am Thron nun bejubelt (vgl. Klima, 2019, S. 22 f).
3.6.1.2. Olympe de Gouges
Bereits mit 17 Jahren wurde Olympe de Gouges gegen ihren Willen an den Gastwirt Louis-Yves
Aubry zwangsverheiratet. Sie schrieb in einem ihrer Briefe, dass er ein Mann sei, der weder
wohlhabend war noch guter Herkunft und sie diesen Mann nicht liebte. Sie betrachtete diese
Heirat als grundlose Opferung ihrer Person. Im Jahr 1766 gab es zwei einschneidende Ereignisse
in ihrem Leben: Sie brachte ihren Sohn Pierre auf die Welt und ihr Mann starb, was sie als 18-
jährige zur Witwe machte. Den Namen des ihr verhassten Mannes wollte sie nicht mehr tragen
und nannte sich von da an Olympe de Gouges. Das bescheidene finanzielle Erbe nahm sie 1768
mit nach Paris, wo sie zu ihrer Schwester und deren Mann zog. Ungeklärt ist, ob sie ihren Sohn
mitnahm. Dort führte sie, wie sie selbst sagte, ein geregeltes, zurückgezogenes Leben, wie es
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sich für eine Frau, die etwas auf sich hielt, gehörte. Eine weitere Heirat lehnte sie aufgrund ihrer
negativen Erfahrung zuerst für sich selbst und später generell auch politisch ab. Es wird vermutet,
dass sie einige Jahre zuerst in Montauban und später in Paris eine freie Verbindung zu Jacques
Biétrix de Roziére hatte. Er war der Sohn eines reichen Transportunternehmers beim königlichen
Militär (vgl. Schröder, 1995, S. 81 f). Wahrscheinlich kam sie in dieser Zeit sogar auf den
Gedanken, gegenseitige Rechte und Pflichten vertraglich festzuhalten. Sie formulierte ihre
Gedanken über die Neugestaltung der Ehe, im Konkreten die Regelung der Zukunft einer Ehe
durch einen ‚Contract social‘, in einer Denkschrift (vgl. Opitz, 1985, S. 302; Schröder, 1995, S.
82). Die Verbindung, die 20 Jahre anhielt, ermöglichte ihr ein finanziell weitestgehend gesichertes
Leben (vgl. Doormann, 1993, S. 31).
Erst im Alter von 37 Jahren erschien sie öffentlich als Autorin Olympe de Gouges. Die ersten
siebzehn Jahre in Paris nutzte sie wahrscheinlich für ein intensives Selbststudium. Sie lernte
Französisch, „mündlich durch Konversation im kleinen Kreis, wo sie ihr rhetorisches und
ironisches Talent entfalten konnte, durch Lektüre literarischer und politischer Schriften und
schriftlich durch vielfältige Vorübungen“ (Schröder, 1995, S. 82). In dieser Zeit gab es viele
literarische Versuche: kleine und große Dialoge, Dramen und Komödien sowie eine Selbstbildung
zur Theaterautorin durch das Besuchen und Studieren von etlichen Theateraufführungen. Gewiss
ist, dass ihre Zielstrebigkeit ihre intellektuelle Entwicklung vorantrieb und ihr half, ihrem Ziel, eine
seriöse und erfolgreiche Autorin zu werden, näher zu kommen. Sie klagte, wie viele andere
autodidaktische Autorinnen, immer wieder über die Vernachlässigung in ihrer Kindheit und die ihr
fehlende Ausbildung. In der Zeit, in der sie lebte, mussten Autorinnen mutig sein. Es war Frauen
verboten, Geist und Vernunft zu demonstrieren, da sonst die Gefahr bestünde, dass das ‚inferiore‘
die Herrschaft des ‚superioren‘ Geschlechts stürzen würde (vgl. Schröder, 1995, S. 82 f). In ihrem
Briefroman (1786) veröffentlichte sie einen Brief. Laut Doormann (1993) ist es der Brief ihres
leiblichen Vaters an sie, laut Schröder (1995) der eines Autorenkollegen. Er wünschte sich, dass
Frauen keine Doktortitel erhalten, da gelehrte Frauen lächerlich seien und sie nur
anbetungswürdig wären, wenn sie laut Doormann (1993) kein öffentliches Verantwortungs-
bewusstsein bzw. laut Schröder (1995) keinen gesunden Menschenverstand hätten. Frauen
könnten gerne schreiben, aber zum Wohle der Welt ohne Ansprüche. Noch strikter galt dieses
Verbot für die literarischen Gattungen Drama und Komödie sowie das Theater und vor allem für
politisch brisante Themen. Es wurde als weibliche Vermessenheit bezeichnet, wenn Frauen nach
dem Unerreichbaren griffen und dieses exklusive und heilige Privileg antasten wollten (vgl.
Doormann, 1993, S. 38; Schröder, 1995, S. 82 f).
Während dieser Zeit des Theaterkonflikts lernte sie allem Anschein nach Louis Sébastian de
Mercier kennen, der die gleichen literarischen und politischen Interessen wie sie hatte. Später
pflegten sie eine enge berufliche und freundschaftliche Beziehung. Angeblich war er auch ihr
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Geliebter und überarbeitete ab 1785 ihre Schriften, doch in welchem Umfang, ist unbekannt. Er
gehörte zur Frondeur-Opposition, die literarisch tätige Frauen tolerierte und in der Gunst
königlicher Prinzen stand, die in Opposition zum Hof standen, darunter auch der Neffe Ludwig
des XVI., Prinz Louis-Philippe, auch genannt Philippe Égalité. Anfang der siebziger Jahre soll sie
eine der vielen Mätressen des Prinzen gewesen sein. Als Enklave war das Palais Royal einer der
Treffpunkte der Fronde, in dem sich Oppositionelle aller Stände und beider Geschlechter trafen.
Eventuell bekam Olympe de Gouges durch Louis Sébastian de Mercier Zugang zu diesem Kreis
(vgl. Doormann, 1993, S. 35 f und 42; Schröder, 1995, S. 83 f). Es schien so, als hätte die
uneheliche Tochter des Marquis auch ohne diesen den Aufstieg in die allerhöchsten
Gesellschaftskreise geschafft. Dennoch war sie unglücklich, da sie nicht jene gesellschaftliche
Anerkennung bekam, nach der sie sich sehnte: die Anerkennung als gleichberechtigtes Subjekt.
Als Mätresse lebten Frauen von ihrer Schönheit, wurden aber nicht ernst genommen und teilweise
sogar verleumdet. Im Alter von dreißig Jahren im Jahr 1778 kehrt sie der Galanterie den Rücken
zu. Ihr Geliebter Jaques Biétrix unterstützt die temperamentvolle Schönheit weiterhin finanziell
(vgl. Doormann, 1993, S. 35 f).
3.6.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata
Raissa entschied sich für ein Medizinstudium, wie die meisten der ersten Studentinnen. Die Motive
dafür waren einerseits angestoßen durch die Menschen, mit denen die beiden Schwestern
verkehrten und die Lektüren über die junge russische Intelligenz und die Emanzipations-
bestrebungen. Dies ging einher mit dem Bedürfnis nach höherer Bildung, der wirtschaftlichen
Unabhängigkeit, dem Ausbruch aus der traditionellen Frauenrolle und aus der Autorität der Eltern
oder des Ehemannes. Das Mitwirken an gesellschaftlichen Veränderungen war ihr erklärtes Ziel.
Einerseits war die Studienwahl konform mit den ‚weiblichen Bestimmungen‘ zu hegen und zu
pflegen, andererseits wollten die jungen, idealistischen Russinnen reformierend wirken und
Zugang zum ‚einfachen Volk‘ bekommen. Ihr früherer Hauslehrer Koni erzählte, dass sie bereits
früher studieren wollte, die Eltern dies jedoch mit einer List verhinderten und die Beziehung mit
dem jungen Mann arrangierten, den sie dann heiratete (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 33–35). Rosa
selbst behauptete später in einer autobiografischen Skizze, sie hätte sich bereits im 13.
Lebensjahr für das Medizinstudium entschieden. Es hätte harte Kämpfe gegeben, bis sie
entgegen dem Willen ihrer Eltern doch studieren gehen durfte (vgl. Kerschbaumer, 1896, S. 45).
Vorbild war die Russin Nadezda Suslova, die am 14. Dezember 1867 als erste Studentin an der
anerkannten Züricher Universität in Medizin promoviert hatte (vgl. Bonner, 1988, S. 464) und so
„wissensdurstigen Frauen den Weg gewiesen“ (Kerschbaumer, 1895, Separatabdruck, 2) hat.
Fraglich ist jedoch, ob sich Rosa tatsächlich so gegen ihre Eltern auflehnen musste, da sie ohne
deren Unterstützung bestimmt kein Universitätsstudium absolvieren hätte können. Mutig und auch
ein wenig naiv immatrikulierte Raissa ohne fachliche Vorbereitung im Oktober 1872. Virginija half
52
ihrer Schwester beim Lernen. Voller Eifer gelang es Raissa, mit ihrem raschen
Auffassungsvermögen und einem ausgezeichneten Gedächtnis die fehlenden Kenntnisse zu
erlangen und den Vorlesungen zu folgen. Sie stürzte sich in ihr Studium und gab sich große Mühe,
sich der neuen Umgebung anzupassen und dem alten Leben zu entfliehen (vgl. Veits-Falk, 2008,
S. 35 f). Die Eltern sorgten für Raissas Kinder und verbrachten sogar den Winter in Zürich. Laut
Virginija sprach Raissa wenig über ihre Söhne, meist nur wenn Briefe eintrafen. Wenn ihr dann
mal beim Lesen eines Briefes Tränen in die Augen stiegen, schämte sie sich der
Schwächeanwandlung. Die Erziehung und Pflege der Knaben hatte sie ihrer Mutter überlassen
(vgl. Seebacher, 2008, S. 51; Veits-Falk, 2008, S. 36 f). Sie hatte ihr versprochen, dass sie dies
übernehmen dürfe, solange sie studiere. Virginija hingegen ließ ihre Schwester als ‚Rabenmutter‘
erscheinen, die sich nicht um ihre drei Kinder kümmerte. Darauf angesprochen, argumentierte
Raissa, dass sie keine Zeit habe und sich auf ihr Studium konzentriere. Gemeinsam mit ihrer
Schwester nahm sie Nachhilfeunterricht in Naturwissenschaften und Deutsch (vgl. Veits-Falk,
2008, S. 36 f).
Im Frühling 1873 zogen die Schwestern in eine der größten und besten Pensionen in Zürich. Unter
den anderen Bewohnerinnen befanden sich auch die ersten Vorkämpferinnen des
Frauenstudiums. In ihrer Freizeit beschäftigten sich die Schwestern mit Berichten über die
aktuellen Diskussionen in Politik, Literatur und Kunst. Unter anderem hielt ihr Nachhilfelehrer
Friedrich Erismann sie dazu am Laufenden, da die Frauen viele Veranstaltungen und Lokalitäten
nicht besuchen durften (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 39–41). Der russische Zar setzte dem Züricher
Studium der russischen Studentinnen im Sommer 1873 ein abruptes Ende. Er hatte die politischen
Aktivitäten der Studentinnen beobachtet und bezichtigte die Frauen der Praktizierung schamloser
Liebe sowie der Nutzung der medizinischen Kenntnisse zur Vertuschung der Folgen. Er befahl
allen Russinnen per 1. Jänner 1874 die Universität Zürich zu verlassen und drohte, dass sie in
Russland weder geprüft, noch in staatlichen Einrichtungen beschäftigt werden würden. Obwohl
die meisten Studentinnen in ihre Heimat zurückkehrten, bemühten sich Raissa und ihre Schwester
an anderen Universitäten, darunter Prag und Leipzig, um eine Weiterführung ihres Studiums.
Schließlich durften sie im Oktober 1873 an der Universität Bern immatrikulieren. Raissas Eltern
kamen mit ihren Kindern und einer Gouvernante wieder über den Winter in die Schweiz (vgl. Veits-
Falk, 2008, S. 41–43).
Obwohl die medizinische Fakultät eher schlecht ausgestattet war, begannen nun die klinischen
Semester. Bei den Rundgängen im Krankenhaus mit dem jeweiligen Professor fanden die
klinischen Vorträge statt und die Studentinnen und Studenten konnten den jeweiligen Fall
diagnostizieren. Im Gegensatz zu Zürich war in Bern auch das Verhältnis zu den männlichen
Kollegen kameradschaftlicher und gegenseitige Vorbehalte wurden abgebaut. Auch die
Bevölkerung reagierte positiv auf die ‚Jungfer Doctor’ und man bat Raissa am Ende ihres
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Praktikums wieder eine ‚Jungfer Doctor’ anstelle eines ‚Herrn Doctor’ zu schicken (vgl. Veits-Falk,
2008, S. 44 f).
Als Raissa und ihre Schwester im August 1875 die Nachricht des Todes ihres Vaters erhielten,
reisten sie sofort nach Russland zu ihrer trauernden Mutter zurück, die mit Raissas Söhnen auf
das Landgut in Dubki übersiedelt war (vgl. Seebacher, 2008, S. 51; Veits-Falk, 2008, S. 45). Auf
ihrem Landgut angekommen, übernahmen sie anstelle ihres Vaters die medizinische Behandlung
der Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner sowie die Verabreichung von Medikamenten. Da die
Dorfbewohnerinnen und Dorfbewohner sich aber nicht vor ihnen ausziehen wollten,
diagnostizierten sie anhand deren Schilderungen. Bevor sie wieder nach Bern reisten,
verbrachten die Schwestern einige Tage in Moskau bei ihrem Onkel. Virginija wurde zu diesem
Zeitpunkt von der Geheimpolizei festgenommen, konnte aber von einem einflussreichen
Verwandten wieder aus dem Gefängnis geholt werden. Doch nicht nur Virginija sondern auch
Raissa wurde von der Geheimpolizei gesucht und sollte festgenommen werden. Zudem wurde sie
mehrmals beschattet. Aus einem Geheimdienstbericht geht hervor, dass die Studentin Raissa
Putjata, die wegen Revolutionspropaganda verurteilt war, unter anderem im Frühjahr 1876 in
Dubki observiert wurde, als sie dort an ihrer Dissertation schrieb. Bei den Einreisen nach Russland
wurden sie entweder festgenommen oder lange an der Grenze zurückgehalten. Im Juli 1876
wurde Raissas Gepäck auf erniedrigende Art und Weise durchsucht. Da sie Studentinnen waren,
wurden sie von vornherein verdächtigt. Viele ihre Mitstudentinnen waren Teil der revolutionären
russischen Bewegung. Obwohl die Schwestern manche der Forderungen und revolutionären
Ideen begrüßten, gehörten sie nicht zu den radikalen Studentinnen (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 46–
48).
Mit Virginijas Heirat im Oktober 1876 enden ihre Memoiren. Den letzten Passagen ihrer Memoiren
und dem Briefkontakt mit ihrer Mutter kann man entnehmen, dass es ein massives Zerwürfnis
zwischen den Schwestern gegeben hatte und sie später keinerlei Kontakt mehr hatten (vgl. Veits-
Falk, 2008, S. 49). Am 7. Juli 1876 schloss Raissa ihr Medizinstudium mit dem Doktorexamen ab
(vgl. Seebacher, 2006, S. 560; Veits-Falk, 2008, S. 50) und approbierte im Jahr 1877 mit ihrer
Dissertation ‚Ueber Sarcom der Lymphdrüsen‘ unter dem Namen ‚Raissa Putiata von Schlikoff‘.
Im August zuvor war sie nach Russland zurückgekehrt, hatte dort ihre Kinder und ihre Mutter
besucht und sich von Wladimir scheiden lassen. Die spätere Rosa Kerschbaumer hob die
Bedeutung ihres Studiums in Bern für den weiteren beruflichen und persönlichen Werdegang
hervor (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 49 f). Sie entschied sich für das Fachgebiet der Augenheilkunde.
Sie beschrieb es als außerordentliches Glücksgefühl, den Patienten zu helfen, und hob zu dem
ihre spezielle Befähigung als Augenärztin hervor: ihre, im Vergleich mit Männern, kleinen, zarten
und leichten Hände (vgl. Kerschbaumer, 1889, S. 11).
54
Angeregt durch ihr fachspezifisches Interesse und von Personen aus ihrem persönlichen Umfeld,
wie beispielsweise den auf Augenheilkunde spezialisierten Friedrich Erismann, ging sie nach
Wien, um sich dort fachlich weiterzubilden. Wie die Ausbildung in Wien genau ablief ist nicht
bekannt. Der jeweilige Professor entschied, ob die Studentin an Übungen und Vorlesungen
teilnehmen durfte. In Österreich war es Frauen bis 1900 nicht möglich ‚offiziell‘ als Ärztinnen zu
praktizieren. 1896 erreichten zahlreiche Petitionen die Anrechnung im Ausland erworbener
Diplome von Frauen. Ab 1900 durften Frauen auch in Österreich Medizin studieren. Im
Wintersemester 1876 war Raissa vermutlich eine Hospitantin, also eine unbezahlte Gastärztin,
die so möglichst viel Fachwissen erwerben konnte. Ein für Raissa unvergesslicher Freund und
Lehrer war ihr Unterstützer Ferdinand von Arlt. Zu seinem 70. Geburtstag erhielt er ein Album mit
Fotos seiner wichtigsten Schüler, darunter eine einzige Frau: seine Schülerin Raissa mit ihrem
späteren Namen Rosa Kerschbaumer. Unter seiner Anleitung eignete sie sich ihre
Spezialkenntnisse in Augenheilkunde an und wurde zu einer angesehenen Operateurin. Sie selbst
sagte, dass er ihre zarten und kleinen Frauenhände als vorteilhaft für die feinen und heiklen
Augenoperationen hielt. Er beherrschte die Techniken und neuesten Entwicklungen der
Augenheilkunde der Zeit beispiellos. Um die Kenntnisse in Chirurgie zu schärfen, besuchte Raissa
zudem Kurse beim berühmten Chirurgen Theodor Billroth. Als sie den klugen, aber nicht sehr
arbeitsamen Operateur Billroths und zeitgleich Assistenten Arlts Friedrich Kerschbaumer, Sohn
eines Gerbermeisters, kennenlernte, kam sie diesem näher und heiratete ihn noch 1877. Von da
an nannte sie sich Rosa. Veits-Falk bezweifelt, dass es die große Liebe war. Sachlich betrachtet
war die Ehe für beide von Vorteil. Da ihr Schweizer Doktordiplom in Österreich nicht anerkannt
wurde, hatte sie keine Möglichkeit zu arbeiten. Friedrich hatte nur geringe Chancen auf eine
Karriere an der Universität und konnte nun durch die Heirat, mit dem Geld und der Arbeitskraft
seiner Frau, eine Privatklinik gründen. Dies eröffnete Rosa die Möglichkeit an seiner Seite zu
arbeiten und die rechtlichen Bestimmungen zu umgehen. Dank Professor Arlts Tipp und seiner
Unterstützung konnte Rosa unter Kerschbaumers Namen eine Augenheilanstalt in Österreich
gründen und trotz der Ungunst der Wiener Professoren gegen ihre Zulassung, ihren Wunsch als
Ärztin zu praktizieren, verwirklichen (vgl. Seebacher, 2006, S. 560; Veits-Falk, 2008, S. 52–57
und 60–62).
3.6.1.4. Cécile Vogt
Nach der Töchterschule wurde Cécile von Privatlehrern im benachbarten Chambéry unterrichtet.
Sie konnte so ihr philologisches Abitur (Baccalauréat ès Lettres) im Alter von 17 Jahren ablegen.
Im Alter von 18 Jahren folgte das ‚Baccalauréat ès Sciences‘, das naturwissenschaftliche Abitur.
Dieses legte sie an einer Knabenschule ab, da diese Examen dem männlichen Geschlecht
vorbehalten waren. Dennoch durfte Cécile an einem separaten Tisch an den Examen teilnehmen
(vgl. Wolff, 2009, S. 21 f). Mit selbstständigem Denken gleich ihrer Mutter und steigendem
Selbstbewusstsein begann sich die junge Cécile gegen den streng katholischen Ton ihrer Tante
55
aufzulehnen. Diese bestrafte dieses Verhalten mit der Enterbung (vgl. Düweke, 2001, S. 118;
Wolff, 2009, S. 21).
Die weiblichen Familienmitglieder ihres Vaters hatten den Wunsch, dass Cécile nach ihrem Abitur
in ein Kloster eintrete. Cécile entschied sich jedoch für eine berufliche Laufbahn als Medizinerin.
Gleich nach ihrem Schulabschluss inskribierte sie 1893 für das Medizinstudium an der Pariser
Universität, an der seit 1867 auch Frauen zugelassen waren (vgl. Düweke, 2001, S. 118; Rürup
& Schüring, 2008, S. 339; Wolff, 2009, S. 22). Dort wurde Cécile im Jahr 1896 laut Wolff die
Schülerin und laut Düweke die Assistentin des Neurologen Pierre Marie. Dieser leitete die
psychiatrische Männerklinik Bicêtre und bildete Cécile in lokalisatorischer Hirnanatomie und
klinischen Untersuchungsmethoden aus (vgl. Düweke, 2001, S. 118; Satzinger, 1996, S. 77; Wolff,
2009, S. 22). Ihr Medizinstudium beendete sie im Winter 1898/99. Ihre Dissertation war eine
vergleichende, neuroanatomische Studie und gilt als bedeutend für die moderne
Thalamusforschung. Sie promovierte 1900 bei Pierre Marie. Im Jahr zuvor hatte sie den
deutschen Nervenarzt Oskar Vogt in Paris kennengelernt und heiratete diesen im Jahr ihrer
Promovierung in Berlin, wohin sie dann auch zog (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 339; Satzinger,
1996, S. 77). Bis 1922 wurde der Französin ihre Approbation als Ärztin in Deutschland
vorenthalten (vgl. Wolff, 2009, S. 22). Neben 30 Gehirnpräparaten, die sie von Pierre Marie zur
Hochzeit geschenkt bekam (vgl. Wolff, 2009, S. 5), brachte Cécile auch eine uneheliche Tochter
namens Claire (mehr ist über sie nicht bekannt) mit ein in die Ehe. Oskar adoptierte sie (vgl. Rürup
& Schüring, 2008, S. 339). Gemeinsam bekamen sie zwei weitere Töchter. 1903 wurde Marthe
geboren und zehn Jahre später Marguerite. Beide Töchter wurden angesehene
Naturwissenschaftlerinnen (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 339).
3.6.1.5. Lise Meitner
Lise erinnerte sich: „Ich war seit meinem 13. Jahr von dem Wunsch besessen, mich zur Gymnasial
Matura vorzubereiten, um Mathematik und Physik zu studieren, was nicht die Zustimmung meiner
Eltern fand, vermutlich weil sie nicht an die Ernsthaftigkeit meines Wunsches glaubten “ (L.M. an
E. zu Salm-Salm, 22.9.1961, MTNR zit. n. Sexl & Hardy, 2002, S. 18). Der Ehemann ihrer
Schwester Frieda berichtete, dass Lises Vater sie für zu fragil hielt. Er wollte sie nicht studieren
lassen, denn sie sollte Pianistin werden. Trotz strenger Kontrollen gelang es der lernbegierigen
und einfallsreichen Lise monatelang unbemerkt mit ihren Büchern unter einem Teppich und einer
elektrischen Birne an einer langen Schnur zu lernen (vgl. L. Frischauer an O.R. Frisch, 17.3.1969,
MTNR zit.n. Sexl & Hardy, 2002, S. 18). Lise konnte ihren Vater doch noch von der Ernsthaftigkeit
ihres Wunsches zu studieren, überzeugen (vgl. Sexl & Hardy, 2002, S. 18). Mädchen durften zu
dieser Zeit noch kein Gymnasium besuchen. Dies war erst mit Eröffnung des ersten
Privatgymnasiums ab 1892 möglich, wobei der Abschluss nicht von den Universitäten anerkannt
wurde. Lise machte 1901 die Externistenmatura an einem Knabengymnasium, worauf sie sich
56
selber vorbereiten musste. Die Externistenprüfung für Mädchen war umfangreicher als jene der
Knaben. Dies ermöglichte ihr aber zu studieren (vgl. Klima, 2019, S. 12; Rennert & Traxler, 2018,
S. 22).
Ihr Vater, der durch seine Tätigkeit als Rechtsanwalt wohlhabend war, förderte die Interessen und
Ambitionen seiner Kinder (vgl. Klima, 2019, S. 12; Sime, 2001, S. 22). Er hatte jedoch den
Wunsch, dass Lise vorab eine Ausbildung zur Französischlehrerin absolvierte, um notfalls selbst
ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Danach begann sie mit der zweijährigen Vorbereitung für die
Externistenmatura, die den Stoff aus acht Jahren Gymnasium beinhaltete. Sie nutzte jede freie
Minute zum Lernen und erhielt beim jungen theoretischen Physiker Arthur Szarvassy
Privatstunden in Mathematik und Physik. Als sie 1901 zur Matura am akademischen Gymnasium
am Wiener Beethoven Platz antrat, war sie eine der vier erfolgreichen Maturantinnen von den
insgesamt 14 angetretenen Mädchen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 22 f; Rife, 1990, S. 22–
24).
Lise inskribierte im Jahr 1901 als eine der ersten Frauen an der Wiener Universität Physik und
Mathematik und zählt somit zu den Pionierinnen des Frauenstudiums. Notwendigerweise belegte
sie auch Philosophie, da der physikalische Fachbereich der Philosophischen Fakultät zugeordnet
war. Zudem studierte sie Botanik. Zunächst hatte sie überlegt, diese Fächer nur nebenbei zu
studieren und als Hauptfach Medizin zu wählen, wovon ihr aber ihr Vater abriet. Die 23-jährige
Lise war die erste Frau in einer Physikvorlesung. Als erst zweite Frau dissertierte sie in Physik bei
Professor Ludwig Boltzmann (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 8; Klima, 2019, S. 12; Rennert
& Traxler, 2018, S. 26; Rife, 1990, S. 24 f). Wie viele andere junge Studentinnen und Studenten
begann sie voller Enthusiasmus ihr Studium und besuchte viele Vorlesungen (vgl. Rennert &
Traxler, 2018, S. 26; Sime, 2001, S. 29). Wie ihre Professoren zum Frauenstudium standen ist
unbekannt. Im Laufe des zweiten Semesters fand ein für Lise einschneidendes Ereignis statt,
welches ihr klar machte, dass sie Physikerin und nicht Mathematikerin werden wollte. Ihr
Mathematikdozent Leopold Gegenbauer gab ihr die Arbeit eines italienischen Physikers, die einen
Fehler enthielt. Meitner fand diesen mit der Hilfe von Gegenbauer, lehnte es jedoch ab, diese
Ergebnisse zu veröffentlichen, da es nicht ihre alleinige Erkenntnis war. Dieses Ereignis zeigt ihre
Bescheidenheit und Zurückhaltung, die sich durch ihre ganze Karriere zogen. Dies beweist, dass
für Lise die wissenschaftliche Arbeit selbst und nicht der akademische Vorteil und der persönliche
Geltungsdrang im Mittelpunkt stand (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 28 f; Sime, 2001, S. 29).
In ihrem ersten Studienjahr war der Lehrstuhl für theoretische Physik unbesetzt, weswegen Lise
der Physik noch nicht nachgehen konnte. Der Lehrstuhl wurde jedoch 1902 wieder mit dem
bekanntesten Physiker Österreichs Ludwig Boltzmann besetzt, der den Lehrstuhl auch zuvor
schon innehatte, aber dann einem Ruf nach Leipzig gefolgt war. Von 1902 bis 1905 konnte Lise
57
Boltzmanns berühmten Vorlesungszyklus folgen und berichtete später noch voller Begeisterung
über ihren Professor. Sie sah in ihm einen Mentor. Sein Einfluss auf sie darf nicht unterschätzt
werden. Jahre später reflektierte sie jedoch über die Inhalte der Vorlesungen, vor allem über jene
Inhalte und Physiker, die fehlten, wie beispielsweise Einstein. Da Boltzmanns Gemüts- und
Gesundheitszustand labil war, konnte er womöglich den schnellen Entwicklungen der Physik nicht
nachkommen. Da Lise auch privaten Kontakt mit ihm pflegte, wusste sie um seinen Zustand
Bescheid (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 29 und 31 f; Rife, 1990, S. 29 f und 36).
Meitner verfasste ihre Dissertation über die ‚Wärmeleitung in inhomogenen Körpern‘ in wenigen
Monaten, wie zu dieser Zeit üblich. Die zweite Frau die im Hauptfach Physik promovierte bestand
ihr Rigorosum am 11. Dezember 1905 ‚mit Auszeichnung‘. Im darauf folgenden Jahr wurde ihre
Dissertation in den Sitzungsberichten der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften in Wien
veröffentlicht und fand Anerkennung am Physikalischen Institut sowie bei Boltzmanns Mitarbeitern
(vgl. Meitner, 2005, S. 84; Rennert & Traxler, 2018, S. 33 f; Rife, 1990, S. 38; Sime, 2001, S. 35).
Da sich Lise unsicher war, ob sie das Zeug zur Wissenschaftlerin hat, entschloss sie sich die
Lehramtsprüfung in Physik und Mathematik abzulegen. Dessen ungeachtet trieb sie auch ihre
wissenschaftliche Ausbildung voran (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 33 f). Stefan Meyer,
Boltzmanns Nachfolger, und Egon von Schweidler führten sie zu dieser Zeit in das Gebiet der
Radioaktivität ein. Meitner war Meyer Zeit ihres Lebens für seine Anregung dankbar, sich mit
Radioaktivität zu beschäftigen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 34; Rife, 1990, S. 38 f; Vogt, 1997,
S. 210).
Obwohl es nie ihre Intention war, sich auf diesem Gebiet zu spezialisieren, begann sie eine
experimentelle Arbeit über radioaktive Strahlen (vgl. Meitner, 2005, S. 85). Im September 1906
veröffentlichte die Physikalische Zeitschrift Meitners Publikation ‚Über die Absorption der Alpha-
und Beta- Strahlen‘ (vgl. Meitner, 1906a) und im Jahr darauf ihre zweite Publikation ‚Über die
Streuung der Alpha-Strahlen‘ (vgl. Meitner, 1907). Großen Einfluss auf die Weiterentwicklung ihrer
wissenschaftlichen Fähigkeiten hatte auch ihr Physikerkollege Paul Ehrenfest. Sie bezeichnete
ihn als anregenden und ausgezeichneten Lehrer, der mit den theoretischen Problemen weit mehr
vertraut war als sie. Er lenkte ihre Aufmerksamkeit auf die optischen Arbeiten von Lord Rayleigh.
Nachdem sie sich viel mit diesem Thema beschäftigt hatte, verfasste sie schließlich ihre erste
unabhängige wissenschaftliche Arbeit: ‚Über einige Folgerungen, die sich den Fresnel’schen
Reflexionsformeln ergeben‘ die wieder in den Sitzungsberichten der kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften veröffentlicht wurde. Diese Arbeiten bildeten den Grundstein von Meitners
wissenschaftlichem Selbstbewusstsein (vgl. Meitner, 1906b; Rennert & Traxler, 2018, S. 34 f; Rife,
1990, S. 40). Besonders interessierte sie der Forscher Albert Einstein, dessen Vortrag sie 1909
in Salzburg mit Spannung verfolgte. Er referierte über die Zusammenhänge von Strahlung und
träger Masse (vgl. Klima, 2019, S. 12). Einige Jahre später lernte sie Einstein persönlich kennen,
58
als ihr Experimentalphysikprofessor Anton Lampa sie einander vorstellte. Zudem verhalf ihr
Lampa indirekt zu einer wesentlich besseren Stellung am Beginn ihrer akademischen Karriere
(vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 32 f).
Da Lise in Österreich eher schlechte Aussichten für sich sah, bewarb sie sich für eine
Assistentenstelle in Gießen. Angeblich wollte sie auch an der Sorbonne in Paris studieren, doch
ihr Gesuch wurde von Marie Curie abgelehnt, weil es keine freie Stelle gab, was Lise später als
Glück bezeichnete. Die damals 29-jährige bewarb sich daraufhin im Herbst 1907 an der Friedrich-
Wilhelm-Universität in Berlin. Da sie ihre Eltern auch finanziell noch unterstützten, bat sie um
Erlaubnis, Österreich zu verlassen. Warum sie sich für Berlin entschied, ob eine verflossene Liebe
oder einer ihrer Mentoren dafür ausschlaggebend war, ist nicht geklärt. Fakt ist, dass die am
Beginn ihrer Karriere stehende Wissenschaftlerin im Herbst 1907 in Berlin ankam und aus dem
ursprünglich geplanten einjährigen Aufenthalt 31 Jahre wurden (vgl. Klima, 2019, S. 12; Rennert
& Traxler, 2018, S. 35 und 45; Rife, 1990, S. 42 f; Sime, 2001, S. 37 und 40 f). Im Königreich
Preußen war es Frauen erst ab 1908 erlaubt ein Studium zu beginnen, davor war es Frauen nur
möglich mit individueller Erlaubnis und unter Einschränkungen zu studieren, weswegen einer der
ersten Wege Lises sie zum Ordinarius für theoretische Physik führte (vgl. Rennert & Traxler, 2018,
S. 46 f). Max Planck hatte zu dieser Zeit keine sehr hohe Meinung von Studentinnen (vgl. Meitner,
1964, S. 4). Der berühmte Berliner Physikprofessor unterstützte Frauen nur in Ausnahmefällen,
jedoch sah er Lise als solch eine Ausnahme und setzte sich für sie ein (vgl. Vogt, 1997, S. 210).
1907 war sie die einzige Frau unter 20 Studenten in Plancks Vorlesungen. Nicht nur
wissenschaftlich, sondern auch privat war sie Teil von Plancks engerem Kreis, der in seinem Haus
zusammenkam. Trotz ihrer Schüchternheit fand sie schnell Anschluss an die Berliner
Physikergruppe. Ihre Freundschaft mit Planck, ihre Forschung und ihre Teilnahme am
Physikalischen Kolloquium eröffneten ihr diesen Kreis. Bereits im Dezember wurde sie in die
physikalische Gesellschaft aufgenommen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 48 f; Rife, 1990, S. 51
und 92). Mit Plancks Töchtern und dessen erster Frau verband sie eine enge Freundschaft (vgl.
Rife, 1990, S. 64). Im September zuvor lernte sie durch den Ordinarius für Experimentalphysik,
Heinrich Rubens, den Chemiker Otto Hahn kennen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 50; Sime,
2001, S. 46). Bereits beim ersten Treffen merkt Lise, dass sie sich in Gegenwart von Hahn, der
eine sehr angenehme und informelle Art hatte, wohl fühlte. Sie konnte ihre Schüchternheit ein
wenig ablegen und ganz offen und direkt wissenschaftliche Fragen stellen (vgl. Meitner, 1964, S.
5). Angesprochen durch ihre gutbürgerliche Herkunft, ihre höfliche Art und ihre Kenntnisse in der
Physik, offerierte er ihr eine Zusammenarbeit. Sein Angebot mit ihm an Experimenten im Bereich
der Radioaktivität zu arbeiten, nahm Lise 1907 an. Ohne es zu wissen, begann – wenn auch mit
temporären Unterbrechungen – eine jahrzehntelange Zusammenarbeit (vgl. Rennert & Traxler,
59
2018, S. 50). Von 1908 bis 1938 forschten die Physikerin Meitner und der Chemiker Hahn
gemeinsam (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 12).
3.6.1.6. Gudrun Ensslin
Ihr letztes Schuljahr absolvierte Gudrun in Stuttgart, nachdem sich ihr Vater dorthin hatte
versetzen lassen. Auch in ihrer neuen Klasse war sie sehr beliebt. Weder der Ortswechsel noch
der Schulwechsel bereiteten ihr Probleme, obwohl ihr missfiel, dass sie von da an in einer
Mädchenschule war. Sie hielt den Briefkontakt mit Scott Mohr aufrecht, mit dem sie wahrscheinlich
in Amerika eine Liaison hatte. Die disziplinierte und sozial aktive Schülerin engagierte sich in der
Schülermitverwaltung, besuchte in Geschichte und Philosophie Arbeitsgemeinschaften, spielte im
Orchester und formte allmählich ein Berufsziel. Sie wollte Lehrerin werden, um ihr Wissen
weiterzugeben (vgl. Gleichauf, 2017, S. 54–57).
Im März 1960 machte sie ihr Abitur (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 185). Gudrun Ensslin erhielt ein
gutes Abiturzeugnis und durfte, wie ihr Bruder Ulrich, studieren. Dies war ein Privileg, da sich die
Familie finanziell am Limit bewegte. Sie wurde für eine Förderung bei der Studienstiftung des
deutschen Volkes vorgeschlagen. Der Schulleiter und vier Lehrkräfte beschrieben in ihrer
Stellungnahme die Doppelbegabung zur Sprache, ihr soziales Engagement und ihr großes
Interesse an Bildung und am Lernen. Sie wurde in höchsten Tönen gelobt. Aus ihrem Lebenslauf
und ihrer Bewerbung ging ihr Berufswunsch, Lehrerin zu werden, hervor. Es war ein starker
pädagogischer Impuls und die Leidenschaft für wissenschaftliches Arbeiten erkennbar. Am 4. Mai
1960 schrieb sie sich an der Universität Tübingen für Anglistik und Germanistik ein. Die ersten
zwei Studienjahre wohnte sie aus finanziellen Gründen bei ihrer strengen und wachsamen Tante
in deren winzigen Dienstwohnung. Das Pensum der Studentin Ensslin war enorm: sie besuchte
eine Einführung in die neuere Philologie und philosophische Lehrveranstaltungen zu
Shakespeare, Nitzsche und Herder. Sie beschäftigte sich mit deutschen Novellen, englischer
Phonetik und zeitgenössischer deutscher Literatur (vgl. Gleichauf, 2017, S. 57 und 64).
Im April 1961 erhielt sie die Benachrichtigung, dass ihre Förderung abgelehnt wurde und sie sich
in zwei Semestern erneut bewerben könne. Man könnte nachvollziehen, wenn dieser harte Schlag
sie zutiefst verunsichert hätte. Doch ihre Energie blieb aufrecht. Sie war für alle literarischen
Genres offen und spielte sogar in einer Studententheatergruppe mit. Im Wintersemester 1961/62
besuchte sie Lehrveranstaltungen zur Existenzphilosophie und eine zur Kriminalpsychologie.
Ende 1961 bewarb sie sich erneut für die Förderung. Ein Gutachter schrieb, dass sie über dem
Durchschnitt der Studenten liege, auch aufgrund ihrer wissenschaftlichen Fähigkeiten und ihrer
Fähigkeit zur sachlichen und unprätentiösen Selbstkritik. Ihre generelle Aufgeschlossenheit für
auch vom Studium unabhängige Themen wäre bemerkenswert und dies trotz der belastenden
Umstände Zuhause. Ihr Bruder Ulrich wurde nämlich wegen einer starken psychischen
60
Erkrankung in eine Heilanstalt eingewiesen. Dennoch wurde der Förderantrag abermals
abgelehnt (vgl. Gleichauf, 2017, S. 67–71).
Anfang 1962 lernte Gudrun den Studenten Bernward Vesper kennen. Nicht nur die Studienwahl
der beiden war eine Parallele, auch die finanzielle Situation. Gudrun arbeitete in den Ferien, um
ihr Budget aufzustocken (vgl. Gleichauf, 2017, S. 72–73). Sie erkannte recht schnell, dass
Bernward viele Probleme mit sich trug. Doch sein imposantes literarisches Wissen und sein
unangepasstes Verhalten beeindruckten sie. Die Anziehungskraft zwischen den beiden war groß
und das, obwohl er bereits mit Gudruns Freundin Dörte ein Verhältnis hatte. Etwas musste in
ihrem bisherigen Leben gefehlt haben, denn er entsprach nicht unbedingt dem Bild eines netten
und anständigen Mannes. Er hielt das Verhältnis mit beiden Frauen aufrecht. Seine
Tagebucheinträge klingen nach exzessiven sexuellen Erfahrungen. Unklar ist, ob die 22-jährige
bis zur Begegnung mit Vesper überhaupt schon sexuelle Erfahrungen gemacht hatte. Er glaubte
nicht an die Liebe und sah diese als Mittel zum Zweck. Andererseits beschrieb er die Liebe zu
Gudrun und auch zu Dörte als romantisch und illusionär. Doch diese Liebe war weder das eine
noch das andere. Es gab Regeln für die Liebe zwischen den Geschlechtern und
Rollenzuschreibungen. Die Rolle der Frau: Selbstaufgabe für den Geliebten. Nicht nur Gudruns
Leben, geprägt von Regeln und Systemen, sondern auch die Liebe richtete sich nun nach Regeln.
Gerade in dieser heiklen Phase hätte Gudrun Rückhalt gebraucht, doch niemand war da. Im
Sommer 1962 verbrachte Gudrun mit Vesper zwei Monate in Spanien. Dort trafen sie auch Dörte
mit ihrem neuen Freund Scott Mohr, Ensslins ehemaligen Freund aus Amerika. Während dieser
Zeit schrieb sie ihrem Bruder Gottfried und berichtet über die Abenteuer und schwärmte von Land
und Leuten. Nach wie vor bestand also der Draht nach Hause, trotz ihres Freiheitsdrangs und den
nunmehr unterschiedlichen Auffassungen zu Gott und dem Leben im Allgemeinen (vgl. Gleichauf,
2017, S. 77–85).
Zurück aus Spanien überlegte das Paar einen Verlag zu gründen. Vesper hatte viele Ideen,
fantastische Schnellschüsse und dennoch konnte er andere dazu begeistern. Noch bevor sie
einen Verlag gründeten, setzte Vesper sein Versprechen an seinen Vater um, dessen zweifelhafte
Nazi-Dichtungen und Texte erneut zu veröffentlichen. Ein österreichischer Verleger half ihm dabei,
aber den größten Teil des finanziellen Risikos und des Vertriebs mussten Vesper und Ensslin
übernehmen. Gudruns Vater musste dies übel aufgestoßen sein. Aber Gudrun ließ sich von ihrem
Partner blenden und manövrierte sich in eine Abhängigkeit (vgl. Gleichauf, 2017, S. 87–90).
Im Frühjahr 1963 wechselt sie an die Pädagogische Hochschule in Schwäbisch Gmünd, doch
weder das Städtchen noch die Hochschule sagten ihr zu. Sie wusste, dass sie schnell ihren
Abschluss machen musste. Seit dem Sommer arbeiteten Vesper und Ensslin an der Gründung
eines Kleinverlags. Für den ersten erschienen Band schrieb die rationale, klar strukturiert
61
arbeitende Ensslin namhafte Autorinnen und Autoren an und bat sie um einen Beitrag. Die Anzahl
der literarischen Stimmen in diesem Band war beeindruckend. Trotz mangelndem Interesse am
Lehramtsstudium, bewarb sich Gudrun erneut bei der Studienstiftung. Viel lieber wollte sie im
Verlagswesen arbeiten (vgl. Gleichauf, 2017, S. 91–96 und 114 f). Im Jahr 1964 gründete sie mit
Vesper den Verlag ‚Studio Neue Literatur‘. Im selben Jahr gaben sie ihren ersten Band ‚Gegen
den Tod – Stimmen deutscher Schriftsteller gegen die Atombombe‘ und ‚Gedichte‘ von Gerardo
Diego heraus (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 185).
Im März 1964 legte sie ihre erste Dienstprüfung für das Lehramt an Volksschulen ab und bekam
im selben Monat, beim dritten Anlauf, die Zusage für die Förderung der Stiftung (vgl. Ensslin et
al., 2005, S. 186; Gleichauf, 2017, S. 95 f). Im April erhielt sie „den Zulassungsbescheid für ein
Promotionsstudium an der TU Berlin. [….] Eine Zukunft im Dienste der Wissenschaft erscheint ihr
möglich“ (Gleichauf, 2017, S. 96). In Berlin angekommen, wohnte sie zuerst bei Freunden von
Freunden und bezog dann eine eigene Wohnung, in die später auch Vesper einzog. Die Großstadt
Berlin war eine immense Herausforderung. Sie wollte sich zuhause fühlen. Verstärkt trat ihr
Hunger nach praller Wirklichkeit hervor. Obwohl der Kontakt zu ihren Eltern bestand, hatte sie
eine Distanz zu Glaube und Kirche sowie zu ihrer Kindheit und Jugend hergestellt. Sie probierte
viel und setzte sich mit der eigenen Zeit und persönlichen Konflikten auseinander, jedoch war
weder in weltanschaulicher noch in politischer Hinsicht eine Spur von Radikalisierung
wahrzunehmen. Die Doktorandin belegte Ferienkurse in Italien und Frankreich und schrieb einen
Bericht darüber an die Stiftung. Der Bericht zeigte deutlich ihre Begabung für das Schreiben, denn
sie schaffte es, mit wenigen Sätzen den Leser in eine bestimmte Atmosphäre zu versetzen.
Literarisch versuchte sie sich zudem an Gedichten und übermittelte diese Günter Eich, einem
Dichter hohem Niveaus (vgl. Gleichauf, 2017, S. 102–103 und 107–110). Auch privat gab es
Entwicklungen. Im Frühjahr 1965 verlobte sie sich mit dem chronischen Fremdgeher Vesper, aber
auch sie hatte eine Affäre mit dem aufstrebenden Schriftsteller und Lektor Roehler Klaus. Sie
selbst beschrieb dies als ein Doppelleben (vgl. Gleichauf, 2017, S. 111–113).
Im Juni 1965 traten Ensslin und Vesper dem Wahlkontor bei, Ensslin war eine von zwei Frauen.
Roehler Klaus beschrieb die Aufgaben des Wahlkontors: die Formulierung des SPD-Programms
sowie Slogans, das Aufbauen von Willy Brandt, die Bearbeitung der Wahlreden und das Sammeln
von Unterschriften bekannter Leute. Auch das ‚Schlechtmachen‘ der CDU und die wortreichen
Gegenreaktionen auf deren Reden wurden von ihnen verfasst. Obwohl Gudrun eine äußerst
talentierte Schreiberin war, fungierte sie lediglich als Sekretärin der kreativen Herren. Es wirkte,
als ob Ensslin nur peripher von den Personen in ihrem engeren Umkreis wahrgenommen wurde
(vgl. Gleichauf, 2017, S. 118–120 und 122).
62
Im darauffolgenden Sommer belastete der Selbstmordversuch von Ulrich, Gudruns Bruder, die
gesamte Familie schwer. Da die endgültige Aufnahme in die Studienstiftung noch ausstand,
musste Ensslin sich trotz aller Probleme weiterhin auf ihr Studium und ihre Doktorarbeit
fokussieren. Ein Jahr darauf, im Oktober 1966 erfolgte nach vier langen Jahren voll Gutachten,
Beobachtungen und Rechtfertigungen endlich die endgültige Aufnahme. Ende Februar 1967
erhielt sie auch die Zusage eines Professors, ihre Dissertation zu betreuen, die sie im Frühjahr
1968 abgeben wollte. Doch das Leben kam dazwischen. Im Mai 1967 wurde ihr Sohn Felix etwas
zu früh und zu klein geboren. Außerdem nahm sie aktiv, inklusive Vorbereitung und Auswertung,
an etlichen politischen Ereignissen und Demonstrationen an der Universität und in Westberlin teil
(vgl. Gleichauf, 2017, S. 125 f).
Bei einem der Treffen funkte es zwischen ihr und Andreas Baader, dem bücherfernen Anti-
Studenten und Anti-Familienmenschen, der dennoch keinesfalls dumm war. Er wohnte bei seiner
Freundin und der gemeinsamen Tochter. Als Gudrun Baader kennenlernte, war sie nicht mehr die
freundliche und schüchterne Pfarrerstochter. Die junge Frau war kritisch, scharf analysierend und
dennoch sensibel für Ungerechtigkeiten wie dem Mord am unschuldigen Benno Ohnesorg durch
einen Polizisten während einer Demonstration im Juni 1967. Gleichauf (2017, S. 134) nannte dies
den „Auslöser für das dringende Bedürfnis, sich handelnd einzubringen in die Gesellschaft“. Für
eine Hinwendung zu Gewalt oder Terrorismus gab es noch keine Spur. Ebenfalls 1967 spielte sie
in einem 12 Minuten dauernden Experimentalfilm eine Rolle, die ihr theatralisches Talent und ihre
Wandlungsfähigkeit bewiesen. Zudem arbeitete sie im Sommer weiter an ihrer Dissertation,
während ihre 12-jährige Schwester Ruth auf den kleinen Felix aufpasste. Die Beziehung zu
Vesper war zu Ende. Er fantasierte sich eine Wirklichkeit und entglitt sich selbst. Im Januar 1968
zog Gudrun aus der gemeinsamen Wohnung aus (vgl. Gleichauf, 2017, S. 127, 130 f, 134–138).
Sie verweilte bei ihren Eltern und zog anschließend mit Andreas Baader zusammen. Sohn Felix
brachte sie nebenan bei einem Paar unter. Bernward äußerte sich Gudruns Vater gegenüber
besorgt über ihre Entwicklung und ihre erneute Abhängigkeit von einem Mann (vgl. Gleichauf,
2017, S. 141 f). Einem Mann, der das absolute Gegenbild zu Helmut Ensslin darstellte. Sowohl
Gudrun als auch Andreas waren hochintelligente, emotionale und widersprüchliche Personen.
Wer hier von wem abhängig war, ließ sich noch nicht ausmachen. Zwei Menschen, die mit dem
Zustand der Gesellschaft haderten, verzweifelt waren und die Welt retten wollten. Das erste Mal
in ihrem Leben ging es um handlungsorientiertes Denken (vgl. Gleichauf, 2017, S. 145 f und 153).
3.6.2. Faktorenanalyse
Die Analyse des zweiten Lebensabschnitts von der Sekundarstufe II über die Matura bis hin zum
Ende des Studiums – oder bei jenen, die keinen formalen Weg bestritten haben, die Zeitspanne
vom 14. Lebensjahr bis hin zum Beginn der Karriere – zeigt, dass alle auf die Unterstützung oder
Hilfe von jemandem bauen konnten, wenn auch in den unterschiedlichsten Ausprägungen und
63
Varianten. Der Faktor soziales Kapital nimmt also, wie auch in der Literatur beschrieben, einen
maßgeblichen Einfluss auf den Bildungs- und anschließende Karriereweg.
Maria Theresias Vater hatte sie nie als Thronfolgerin vorgesehen und verlangte bei ihrer Hochzeit,
auf ihre Ansprüche zu verzichten, falls doch noch ein männlicher Nachfolger geboren werden
würde. Zur Aufrechterhaltung seines Reiches nach seinem Tod, hatte er jedoch die pragmatische
Sanktion eingeführt, die es Maria Theresia ermöglichte zu herrschen und das Reich ihres Vaters
zu übernehmen. Bedauerlicherweise hatte er sie nie zu seinen geschäftlichen Treffen
mitgenommen oder sie explizit auf die Rolle der Regentin vorbereitet.
Auch Personen die nicht aus dem direkten Umfeld der Pionierinnen stammten, spielten eine Rolle.
Rosa Kerschbaumer hatte schon früh den Wunsch zu studieren. Vorbild war die Russin Nadezda
Suslova, die erste Medizinpromovendin an der Züricher Universität. Eltern und deren
Unterstützung spielten bei vielen Biografien in diesem Abschnitt eine wesentliche Rolle. Rosas
Eltern bezahlten die Hauslehrer, die sie in den unterschiedlichsten Fächern unterrichteten. Rosa
selber schrieb in einer autobiografischen Skizze, dass es harte Kämpfe gegeben hätte, bis sie
entgegen dem Willen ihrer Eltern doch studieren durfte. Doch ohne die Hilfe ihrer Eltern wäre ein
Studium nicht machbar gewesen. Nach dem Scheitern der Ehe, unterstützten sie Rosa bei ihrem
Neuanfang in Zürich. Sie kamen finanziell für alles auf und kümmerten sich um Rosas Söhne. Ein
Mentor, unvergesslicher Freund und Lehrer war ihr Unterstützer Ferdinand von Arlt. Er
ermöglichte ihr, sich ihre Spezialkenntnisse in Augenheilkunde anzueignen und zu einer
angesehenen Operateurin zu werden.
Auch bei Cécile Vogt und Lise Meitner spielt der Faktor soziales Kapital, unter anderem die Eltern
aber auch Vorbilder und Mentoren, eine wesentliche Rolle. Céciles Mutter ermöglichte ihrer
Tochter den Besuch einer Töchterschule. Ihre unabhängige, freidenkerische Art färbte auf Cécile
ab, die sich zum Unmut der übrigen Familienmitglieder für eine berufliche Laufbahn als
Medizinerin entschied. Privatlehrer unterrichteten sie und bereiteten sie auf ihr Abitur vor. Mit
steigendem Selbstbewusstsein begann Cécile sich gegen den strengen katholischen Ton ihrer
Tante aufzulehnen. Ein Unterstützer und Freund während ihres Studiums war Pierre Marie, bei
dem sie an der Pariser Universität promovierte. Auch später standen sie und ihr Mann mit ihm in
engem beruflichen Kontakt.
Wie Cécile, hatte auch Lise Meitner Unterstützer. Nicht nur in der Schulzeit waren es ihre Eltern,
die ihr halfen. Lise hatte schon im Alter von 13 Jahren den Wunsch zu studieren, doch ihre Eltern
glaubten entweder nicht an die Ernsthaftigkeit ihres Wunsches oder ihr Vater hielt sie tatsächlich
für zu ‚fragil‘ für ein Studium, weswegen er sich eine Karriere als Pianistin für sie vorgestellt hatte.
Der lernbegierigen und einfallsreichen jungen Frau wurde es anscheinend verboten ihren
64
Wissensdurst zu stillen respektive ihrer Lieblingsbeschäftigung nachzugehen. Trotz
zurückhaltender und bescheidener Art gelang es ihr, eine ihrem Wunsch entsprechende
Ausbildung durch- und umzusetzen. Lise konnte ihre Eltern überzeugen und erfüllte ihrem Vater
den Wunsch, zuerst eine Ausbildung zur Französischlehrerin zu absolvieren. Danach folgte die
Vorbereitung auf die Externistenmatura. Die Privatstunden in Mathematik und Physik bezahlten
ihre Eltern und sie konnte schließlich erfolgreich ihre Matura absolvieren. Der wohlhabende Vater
förderte auch weiterhin die Interessen und Ambitionen seiner Tochter. Da sie sich unsicher war,
ob sie eine gute Wissenschaftlerin werden würde, legte sie zusätzlich die Lehramtsprüfung in
Physik und Mathematik ab, parallel trieb sie ihre wissenschaftliche Arbeit voran. Dabei stand ihr
ein ausgezeichneter Lehrer und späterer Physikerkollege namens Paul Ehrenfest bei, der großen
Einfluss an der Weiterentwicklung ihrer wissenschaftlichen Fähigkeiten hatte. Auch Ludwig
Boltzmann beeinflusste Lise wesentlich. Sie war begeistert von ihrem Professor und Mentor, mit
dem sie auch privat Kontakt hatte. Am Beginn ihrer Karriere verhalf ihr außerdem ihr
Experimentalphysikprofessor Anton Lampa zu einer wesentlich besseren Stellung. Generell ist
aber unbekannt, wie ihre Dozenten zum Frauenstudium standen. Außer bei Max Planck, bei dem
man wusste, dass er von Studentinnen nicht viel hielt. Er sah Lise jedoch als Ausnahme und
setzte sich für sie ein. Dies ermöglichte ihr unter anderem den Zutritt zu seinem privaten Umfeld.
Mehr als die anderen Frauen in dieser Analyse, wurde Gudrun Ensslin von Personen in ihrem
Umfeld beeinflusst. Am Beginn ihres Bildungswegs förderten sie Eltern und Lehrkräfte, aber
später begegnete sie Personen, die nicht nur guten Einfluss auf sie hatten. Ihre Eltern
unterstützten die disziplinierte und sozial aktive Schülerin. Ihre Lehrerinnen und Lehrer hoben ihre
Doppelbegabung zur Sprache, ihr soziales Engagement und ihr großes Interesse an Bildung und
am Lernen hervor. Sie konnte trotz der angespannten finanziellen Situation studieren, benötigte
aber eine Förderung. Die reflektierende Gudrun setzte sich mit der eigenen Zeit und persönlichen
Konflikten auseinander und probierte viel aus. Sie war kritisch und scharf analysierend und
dennoch sensibel für Ungerechtigkeiten. Ihr Pensum an der Universität war enorm. Zu diesem
Zeitpunkt war noch keine Spur der Radikalisierung erkennbar. Obwohl sie hochintelligent war,
dauerte es dennoch vier lange Jahre mit mehreren Absagen bis sie nach etlichen Gutachten,
Beobachtungen und Rechtfertigungen endlich die Zusage für ein Stipendium erhielt. Die
vorhergehenden Absagen schienen sie in keiner Weise verunsichert zu haben, denn ihre
Entschlossenheit und Ausdauer blieben aufrecht. Während des Studiums traf sie zwei Männer,
die ihren Werdegang und ihr weiteres Leben entscheidend beeinflussten: der eher unzuverlässige
und sprunghafte Vesper und danach der bücherferne, aber intelligente Anti-Student Baader.
Olympe de Gouges hatte keine Unterstützung, um einen angemessenen Beruf zu erlernen. Durch
ihre Zwangsheirat nahm sie die Rolle der Frau ein und ihr Mann sorgte für den Unterhalt.
Allerdings verstarb er bereits nach einem Jahr, wodurch sie ihren weiteren Lebensweg selbst
65
bestimmen konnte. Das bescheidene finanzielle Erbe verwendete sie für einen Neustart in Paris,
wo sie die ersten siebzehn Jahre für ein intensives Selbststudium nutzte. Da sie nur Okzitanisch
sprach, erlernte sie nun die französische Sprache in Wort und Schrift. Die freie Verbindung zu
Jacques Biétrix de Roziére, die 20 Jahre anhielt, ermöglichte ihr ein finanziell abgesichertes
Leben. Ein weiterer sozialer Kontakt, der ihr Leben beeinflusste, war der zu Louis Sébastian de
Mercier. Die enge berufliche und freundschaftliche Beziehung – angeblich auch Liebesbeziehung
– verhalf ihr zum Aufstieg in die allerhöchsten Gesellschaftskreise.
Vor allem Eltern spielten bei allen, mit Ausnahme von Olympe de Gouges, eine wegebnende
Rolle. Es zeigten sich die unterschiedlichsten Gründe und Ausprägungen der
Unterstützungsleistungen. Ohne die Unterstützung der Eltern, in welcher Form auch immer, wäre
das Leben dieser Frauen vermutlich anders verlaufen. In der Analyse wurden Hinweise auf den
Einfluss von Lehrkräften oder Professoren (nur die männlich Form, weil keine weiblichen
Professorinnen, die als Mentorinnen fungierten, vorhanden waren) festgestellt. Aufgrund der
mageren Datenlage bzw. des informellen Weges bei Maria Theresia und Olympe de Gouges,
kann dieser Punkt nur vermutet werden. Vor allem bei Lise Meitner, bei Cécile Vogt und Rosa
Kerschbaumer gab es während des Studiums mehrere Professoren, die als Unterstützer und
Mentoren fungierten. Trotz der positiven und lobenden Stellungnahmen für Gudrun Ensslin, ist
kein direkter Einfluss von Lehrkräften oder Professoren auf sie feststellbar.
In der Literatur und auch im vorangegangenen Abschnitt wurde die zentrale Rolle von
Charaktereigenschaften bereits hervorgehoben. Mit dem plötzlichen Tod ihres Vaters musste sich
Maria Theresia selbst durchkämpfen und das Beibehalten ihrer Stellung hart erarbeiten. Sie war
eine Strategin, die mit schauspielerischem Talent viel zu erreichen wusste. Beispielsweise
inszenierte sie ihre Krönung sorgfältig und glich ihre Weiblichkeit durch staatsrechtliche
Männlichkeit aus. Vor Kriegen oder der Konfrontation mit Fürsten schreckte sie nicht zurück. Als
‚wilde Reiterin‘ pflegte sie, im Gegensatz zu ihren Vorgängern, den öffentlichen Kontakt mit dem
Volk. Die Herrscherin erarbeitete sich den ihr gebührenden Respekt und die Zustimmung der
Bevölkerung war ihr damit sicher.
Der fehlende Respekt und die Anerkennung als gleichberechtigtes Subjekt machten vor allem
Olympe de Gouges zu schaffen. Schöne Frauen wie sie wurden zu ihrer Zeit nicht ernst
genommen und durften nicht klug, also auch nicht literarisch tätig sein. Doch ihre Zielstrebigkeit
trieb sie und ihre intellektuelle Entwicklung voran, das Ziel immer im Blick, eine seriöse und
erfolgreiche Autorin zu werden. Um ihrem alten Leben zu entfliehen, stürzte sich auch Rosa
Kerschbaumer, mutig und auch ein wenig naiv, ohne fachliche Vorbereitung in ihr Studium. Sie
bemühte sich, sich an die neue Umgebung anzupassen. Sie war eifrig, hatte ein rasches
Auffassungsvermögen und ein ausgezeichnetes Gedächtnis.
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Eine weitere Gemeinsamkeit der Frauen, neben den Unterstützerinnen und Unterstützern, sind
demnach ihre Eigenschaften. Es zeichnen sich gleich mehrere Parallelen ab. Gemeinsam haben
sie ihre Intelligenz und Zielstrebigkeit, aber auch ihre Durchsetzungskraft und ihr
Durchhaltevermögen, die ihnen beim Verfolgen und Umsetzen ihrer Pläne und Ziele halfen. Aber
auch die Eigenschaft ‚mutig‘ trifft auf viele der Pionierinnen zu. Einige von ihnen brachten sogar
Opfer für die Bildung und die Karriere. Sie steckten Schmerz und Belastungen weg und
fokussierten sich auf ihre Ziele. Ehrgeiz und Ausdauer halfen ihnen beim Meistern von
Hindernissen. Viele wären bereits an der notwendigen Qualifikation und Voraussetzung für ein
Studium, die Matura beziehungsweise das Abitur, gescheitert. Und auch die Zulassung zum
Studium oder zum späteren Beruf stellte eine große Hürde dar. Manche verließen ihre Heimat
und zogen in ein fremdes Land, um sich dort frei entfalten zu können. Doch auch dies war kein
Garant für eine Ausbildung oder einen Job. Vor allem im Studium konnten die männlichen
Professoren bestimmen, ob sie weibliche Studentinnen teilnehmen ließen. Selbst mit einem
Doktortitel mussten die Frauen viel mehr kämpfen, um die gleichen Chancen und Möglichkeiten
zu erhalten wie ihre männlichen Kollegen. Aufgrund der bestehenden Strukturen hatten Frauen
es damals viel schwieriger als heute. Dies hebt die Bedeutung der Übergänge bei den
Ausbildungen und deren Selektionsmechanismen für die heutige Bildungsforschung hervor. Alle
ausgewählten Frauen zeigen eine ausgeprägte Bildungsaspiration. Sie verbindet der große
Wunsch nach Bildung und tiefergehenden Kenntnissen in ihrem jeweiligen Fachgebiet. Sie waren
fasziniert von ihrem Fachgebiet und forderten die gleichen Rechte und Möglichkeiten wie ihre
männlichen Kollegen. Ohne stark ausgeprägte Bildungswünsche, hätte die Willenskraft nicht
gereicht, um sich gegen die vorherrschenden Strukturen durchzusetzen.
Mit den vorherrschenden Strukturen und politischen Hindernissen kämpfte Rosa Kerschbaumer
nicht nur während ihres Studiums, sondern auch später immer wieder. Dem Zaren waren die
unerwünschten politischen Aktivitäten der Studentinnen ein Dorn im Auge, weswegen er die
Züricher Studien für russische Studentinnen mit fadenscheinigen Gründen untersagte. Rosa
musste an eine andere Universität wechseln und obwohl sie und ihre Schwester nicht zum
radikalen Flügel gehörten, waren sie den wiederholten Repressalien des Zarenregimes
ausgesetzt. Die Universität Bern ermöglichte eine Immatrikulation und das Fortsetzen des
Studiums. Zudem war das Verhältnis zu den männlichen Kollegen an der Universität Bern
kameradschaftlicher und gegenseitige Vorbehalte wurden abgebaut. Rosa hob später die
Bedeutung ihres Studiums in Bern für den weiteren beruflichen und persönlichen Werdegang
hervor. In Wien konnte die promovierte Rosa sich schließlich ihren fachspezifischen Interessen
widmen. Bekannt ist, dass der jeweilige Professor entschied ob die Studentin an Übungen und
Vorlesungen teilnehmen durfte. Denn in Österreich war es Frauen bis 1900 nicht möglich ‚offiziell‘
als Ärztin zu arbeiten. Folglich war Rosa vermutlich eine unbezahlte Gastärztin. Als Hospitantin
konnte sie aber zumindest viel Fachwissen erwerben. Politische Hindernisse musst auch Cécile
67
Vogt überwinden, als sie mit ihrem Mann nach Berlin kam. Der französischen Ärztin wurde bis
1922 die Approbation durch die deutsche Regierung vorenthalten.
Mit politischen Hindernissen war Gudrun Ensslin nie konfrontiert. Sie beteiligte sich aktiv bei der
SPD, durfte aber nur Hilfsarbeiten leisten. Ihr Freiheitsdrang stieg stetig an. Trotz Kontakt nach
Hause, distanzierte sich aber von Glaube und Kirche und von ihrer Kindheit und Jugend. Ihre
Auffassung vom Leben im Allgemeinen differierte mittlerweile stark zu jener ihrer Eltern. Bestimmt
war der Selbstmordversuch ihres Bruders ein belastendes Ereignis, allerdings dürfte erst der Mord
an dem unschuldigen Benno Ohnesorg durch einen Polizisten ein Umdenken bei Gudrun Ensslin
ausgelöst haben. Sie haderte mit dem Zustand der Gesellschaft, dennoch waren bei ihr noch
keine Anzeichen für Gewalt oder Terror zu erkennen. Auch Rosa und Lise hatten schmerzhafte
Ereignisse während ihres Studiums oder kurz danach. Bei beiden Pionierinnen verstarb der Vater
in dieser Zeit. Zusätzlich kam es bei Rosa zu einem Zerwürfnis mit ihrer Schwester, welches zu
einem Kontaktabbruch führte. Inwiefern Rosa dies beeinflusste, ist aber leider nicht bekannt.
3.7. Lebensabschnitt III
Im letzten Lebensabschnitt wird die Zeitspanne vom Beginn der Berufsausübung bis zum
Lebensende behandelt. Mit Beginn der beruflichen Karrieren erreichten alle der ausgewählten
Frauen unerwartete Erfolge, kämpften aber auch dann noch mit verschiedensten Hindernissen
auf ihrem weiteren Weg. Nicht allen wurde die ihnen zustehende Anerkennung entgegengebracht.
3.7.1. Berufliche Karriere
3.7.1.1. Maria Theresia
Die unerschütterliche Herrscherin, zugleich aber auch schutzbedürftige Frau, hatte kein leichtes
Leben. Maria Theresia brachte 16 Kinder zur Welt, doch nur zehn von ihnen erreichten das
Erwachsenenalter. Sie ließ sich sogar eine spezielle Sänfte anfertigen, um auch als
Hochschwangere an allen Ratssitzungen teilnehmen zu können (vgl. Birkenbihl, 2017, S. 9; Klima,
2019, S. 23; Lau, 2020, S. 42). An ihrer Seite war die wichtigste und langjährige Beraterin die
Amme und Erzieherin Gräfin Karoline von Fuchs-Mollard. ‚Die Füchsin‘ war von großer Bedeutung
für die Kaiserin. Sie wurde als einzige Nicht-Habsburgerin in der Kapuzinergruft bestattet. Maria
Theresia plante die Erziehung und Zukunft all ihrer Kinder, die meisten fielen ihrer harten
Heiratspolitik zum Opfer. Die berühmteste ist Maria Antonia, besser bekannt als Marie Antoinette,
die als 15-jährige an den späteren französischen König Ludwig XVI. verheiratet wurde. Lediglich
Maria Theresias Lieblingstochter Maria Elisabeth durfte sich ihren Mann aussuchen. Alle anderen
Kinder, sowohl Töchter als auch Söhne, wurden entgegen ihren Wünschen verheiratet (vgl. Klima,
2019, S. 23–25). Maria Theresias Erziehungsstil war zweifellos autoritär, aber durch viel Zwang
und Disziplin sehr effektiv. Sie machte die Familie zu einem Handlungs- und Ermöglichungsraum
68
(vgl. Schmale, 2020, S. 28). Der Kinderreichtum Maria Theresias visualisiert die optimistische
Einstellung, das Weiterexistieren der Dynastie über Jahrhunderte zu sichern (vgl. Telesko, 2020,
S. 165).
Einer ihrer größten Erfolge war die Krönung ihres Gatten Franz Stephan zum Kaiser. Sie holte mit
ihren Interventionen die Kaiserkrone des Heiligen Römischen Reiches 1745 wieder in das Haus
Habsburg zurück und platzierte diese auf dem Haupt ihres Ehemannes und später auf dem ihres
Sohnes Joseph II. Obwohl sie es abgelehnt hatte, dass man sie zur Kaiserin krönte, nannte das
Volk und auch sie sich selbst von da an so. Über die Gründe für diese Ablehnung spekuliert man
bis heute. Einer könnte das belastete Verhältnis zum Reich respektive zu zahlreichen
Reichsfürsten gewesen sein. Eine andere Deutung verweist auf die geringe Wertschätzung des
Titels und Ranges durch Maria Theresia hin, da der Titel der Kaiserin im alten Reich eine
abgeleitete Würde sei, die sie nicht aus eigenem Recht erworben habe und erwerben könnte. Am
wahrscheinlichsten scheint eine strategische Entscheidung als Begründung. Durch die rituelle
‚Aufführung des Reiches‘ hätte sie sich Kaiser, Kurfürsten und Reich untergeordnet und so ihr seit
1740 legitimiertes Erbe der habsburgischen Herrschaft und ihre Position gefährdet (vgl. Keller,
2020, S. 59 f und 68; Klima, 2019, S. 24).
Durch die berühmten Reformen der Monarchin wurde das Erzherzogtum Österreich zu einem
einheitlichen Verwaltungs- und Beamtenstaat mit zentralistisch ausgerichteter Regierung. Sie
besetzte hohe, verantwortungsvolle Ämter mit Staatsdienern, deren Fähigkeiten sie unschwer
erkannt hatte. Diese Männer waren auch ihre Ratgeber. Die ‚Theresianische Staatsform‘
beinhaltete eine Haus-, Hof- und Staatskanzlei. Es gab eine allgemeine Steuerpflicht, die erstmals
auch Adel und Klerus betraf, wodurch sich die Staatseinnahmen verdoppelten. Um ein großes
Wirtschaftsgebiet zu schaffen, war eine Reformmaßnahme die Aufhebung von Binnenzöllen. Ihre
Wirtschaftspolitik hatte das Ziel, die Ernährung und Beschäftigung der Bevölkerung zu sichern.
Um Einblick in die innere Struktur des Landes zu erhalten, ließ sie erste Volkszählungen
durchführen und Statistiken dazu anfertigen. Neben der Schaffung eines Höchstgerichtes,
verordnete Maria Theresia auch die ‚Constitutio Criminalis Theresiana‘, das erste einheitliche
Strafrecht in der Monarchie und kodifizierte das zivile Recht mit dem ‚Codex Theresianus‘. Sie
reformierte und modernisierte das Heereswesen grundlegend, verdoppelte die Stärke der Armee
und gründete die ‚Theresianische Militärakademie‘. Vor allem Graf Haugwitz und Graf Kaunitz-
Rietberg, der 1753 Staatskanzler wurde, halfen ihr bei diesen Vorhaben (vgl. Birkenbihl, 2017, S.
17–20; Klima, 2019, S. 24). Die Bauherrin von Schloss Schönbrunn sowie Schloss Laxenburg war
auch die Begründerin der Mailänder ‚Scala‘. Eine ihrer berühmtesten Reformen ist 1760 die
Einführung der allgemeinen Schulpflicht. Zu den unterrichteten Fächern gehörten neben Lesen,
Schreiben und Rechnen auch Rechtschaffenheit, Wirtschaft und Religion. Der Katholizismus war
Staatsreligion und Maria Theresia war berüchtigt für ihre religiöse Intoleranz. Juden und auch
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Protestanten wurden verfolgt und vertrieben. Mit der von ihr geschaffenen Keuschheitskomission
kontrollierte die Monarchin das sittliche Leben der Menschen. Ehebruch wurde bei Frauen härter
als bei Männern bestraft. Prostituierte und Kriminelle wurden Donau abwärts in entlegene
Gegenden verschifft (vgl. Klima, 2019, S. 24).
Aus Briefen der Kaiserin geht hervor, dass die Ehe zwischen Franz Stephan und ihr bis zuletzt
glücklich verlief. Im Gegensatz zu den meisten anderen Regentenpaaren teilten sie sich nicht nur
lebenslang das Bett, sondern auch den Doppelsarg in ihrer letzten Ruhestätte. Franz Stephan
hatte einige Affären, von denen die Königin jedoch wusste. Ihrer Logik nach war er ihr aber
deswegen umso mehr zugetan (vgl. Klima, 2019, S. 23 f; Schmale, 2020, S. 26). Mit dem Tod
ihres geliebten Gatten und Freund, im Jahr 1765, verlor sie den einzigen Gegenstand ihrer Liebe.
Von da an trug sie nur noch schwarz. Ihre religiöse Intoleranz verstärkte sich zunehmend. Sie ließ
sich ihre Haare abschneiden und ihre Gemächer mit grauer Seide aushängen. Ihr Sohn, Joseph
II. wurde zum Mitregenten. Er wiedersetzte sich jedoch oftmals ihren intoleranten Maßnahmen,
was zu heftigen Konflikten führte und zur Folge hatte, dass die beiden zeitweise nicht am selben
Tisch dinierten (vgl. Klima, 2019, S. 25). Als sie 1780 starb, trug sie den Morgenmantel ihres
geliebten Ehemannes (vgl. Klima, 2019, S. 22–25).
3.7.1.2. Olympe de Gouges
„Ideenreichtum, lebhafte Phantasie, Fähigkeit und Mut zur Ironie, vor allem aber soziales und
politisches Engagement sind die Quellen ihre außergewöhnlichen Produktivität“ (Schröder, 1995,
S. 84). Aufgrund ihres natürlichen Talents – wie sie es selbst nannte – hatte sie spontane Einfälle
und schnelle Eingebungen und konnte in kurzer Zeit ganze Theaterstücke produzieren. Diese
diktierte sie Schreibern, was zu Beginn ihrer literarischen Arbeit notwendig war. Doch tatsächlich
mietete sich jeder Schreiber sogar Gelehrte. Viele Antifeministen behaupteten, dies sei ein Beweis
für Analphabetismus oder gar literarische Unfähigkeit der Autorinnen und dass diese ihre Werke
nicht selbst schrieben. Doch die mündliche Literaturproduktion, also die primäre Form literarischer
Produktion, ist unabhängig von Schreibkenntnissen (vgl. Schröder, 1995, S. 84).
Die mutige, stolze und brennend ehrgeizige Olympe de Gouges nahm mit ihrem Drama ‚Zamor
und Mirza‘, das die Sklaverei behandelte, jahrelange (1783-1789) Feindschaften und Gefahren
auf sich und kam sogar dafür in die Bastille, aus der sie aber auf wundersame Weise wieder frei
kam (vgl. Doormann, 1993, S. 47; vgl. Schröder, 1995, S. 83). Ihr erster Briefroman ‚Denkschrift
der Madame de Valmont‘ erschien 1786. Er ist gekennzeichnet durch einen komplexen Aufbau
und wechselnde Erzählperspektiven. Sie sprach über Themen ihres Interesses und kritisierte im
1788 ergänzten Vorwort alle Rousseau-Anhänger und die allgemein gültige (männliche) Meinung,
dass Frauen nur für das Hauswesen zu gebrauchen seien und all jene, die sich der Literatur und
dem Geiste widmen für die Gesellschaft untragbar seien. Doch der Hauptfokus lag auf dem
70
Verhältnis leiblicher Väter zu ihren ‚Bastard‘-Kindern. Sie verknüpfte das Menschenrecht dieser
Recht- und Schutzlosen mit dem Menschenrecht ihrer rechtlosen Mütter, die von gesetzlich
begünstigten Männern im Stich gelassen wurden und verlangte, dass diese gleiche
Rechtssubjekte werden müssten. Diese radikal neue Philosophie war eine feministische
Neudefinition des patriarchalen Naturrechts-Ideologems. Das zweite, nicht weniger brisante
Thema, in dem sie die Verantwortungslosigkeit der Verführer kritisierte, die sich all ihrer
Vaterpflichten entziehen, hängt ursächlich mit dem vorangegangenen Thema zusammen (vgl.
Schröder, 1995, S. 84–87).
Im Vorwort zu ‚L’Homme généreux‘ 1786 brachte sie ihre grundsätzliche Sozialkritik an der feudal-
patriarchalen Ordnung zum Ausdruck. Sie beklagte die Vorteile der Männer, die trotz niederer
Herkunft ein Vermögen machen können, wohingegen tugendhafte Frauen im Elend bleiben und
von Wissenschaft und Macht gänzlich ausgeschlossen werden (vgl. Schröder, 1995, S. 87). 1788
verfasste sie ihr erstes politisches Pamphlet ‚Brief an das Volk oder Plan einer patriotischen
Klasse‘, veröffentlichte es aber anonym ‚von einer Bürgerin‘. Es erschien jedoch als erste
politische Propagandaschrift von Madame de Gouges im ‚Journal Général de France‘ (vgl.
Doormann, 1993, S. 62; Schröder, 1995, S. 87). Aus ihren Schriften geht hervor, dass sie
Verteidigerin der Monarchie war und keinesfalls ‚Republikanerin der ersten Stunde’. Die zu
königstreuen, frauenfeindlichen oder egozentrisch-eitel klingenden Passagen oder ganze Seiten
wurden aus ihrem Werk gestrichen, da sie nicht zum Bild einer Revolutionärin passten. Dadurch
entstand ein gänzlich falscher Eindruck ihrer Intentionen (vgl. Doormann, 1993, S. 66).
Paradox war, dass sie ihre Meinung in Hinblick auf Rousseau innerhalb kürzester Zeit änderte.
1788 ergänzte sie ihr Vorwort in ihrem Briefroman von 1786, wo sie energisch Rousseau-
Anhänger kritisierte und die allgemein gültige (männliche) Meinung (vgl. Schröder, 1995, S. 84 f).
Im Jahr darauf war ihr ‚Aufschrei’ hingegen voll von Rousseauschem Geist. Die künftige ‚Ahnfrau
des Feminismus’ distanzierte sich nicht nur von Forderungen ihrer Geschlechtsgenossinnen nach
politischer Gleichberechtigung, im Gegenteil, sie warf ihren Geschlechtsgenossinnen vor, ihre
natürlichen Aufgaben als Hausfrau vernachlässigt zu haben (vgl. Doormann, 1993, S. 69–70).
„Erstaunlich ist nur, daß [sic!] die glühende Anhängerin Rousseaus sich so wenig an der
untergeordneten Stellung störte, die dieser den Frauen zugedacht hatte“ (Doormann, 1993, S.
71).
Obwohl Autorinnen keine eigene Zeitung hatten, verfasste sie ab 1789 Vorschläge und Kritik über
unzählige soziale und politische Tagesgeschehnisse und publizierte diese in Druckschriften und
offenen Briefen, adressiert an die Nationalversammlung oder als Plakat an den Pariser Mauern.
Sie verlangte eine öffentlich zugängliche Ausbildung für Hebammen sowie ein Theater für
Autorinnen und setzt sich für die Ehescheidung ein (vgl. Schröder, 1995, S. 87). Bereits 1790 aber
71
hielt sie sich mit ihren politischen Schriften deutlich zurück und konzentrierte sich auf neue
Theaterproduktionen. Sie war davon überzeugt, dass ihre nützlichen politischen Projekte lediglich
aufgrund ihres Geschlechts nicht berücksichtigt wurden. Zweifelsfrei hatten es Frauen zu dieser
Zeit schwer, sich in der Öffentlichkeit durchzusetzen, besonders aber eine Frau wie Olympe, die
wiederholt ihre Unwissenheit und Inkompetenz hervorhob (vgl. Doormann, 1993, S. 95). „Ihr
provozierender Geltungsdrang und ihre Selbsteinschätzung als Naturgenie, die zu einer überaus
oberflächlichen Arbeitsweise führten, schadeten ihren teilweise interessanten Ideen vielleicht
mehr, als es ihr Frausein vermochte“ (Doormann, 1993, S. 95). 1790 verfasste sie ein Kloster-
Drama, welches ihr bis dahin größter Erfolg wurde. Außerdem arbeitete sie schon längere Zeit an
ihrem Roman ‚Le Prince Philosophe’. Im Rahmen einer romantischen Handlung philosophierte sie
über Staatsformen und äußerte radikal-universale Gleichheitsvorstellungen. Erst 1792 wurde der
Roman publiziert. Sie behauptete dann, nur fünf Tage daran geschrieben zu haben. Im April 1791
starb nach kurzer Krankheit ihr väterlicher Mentor Mirabeau, der immer freundlich und
anerkennend auf ihre Schriften reagiert hatte (vgl. Doormann, 1993, S. 97 f; Schröder, 1995, S.
87) und laut Doormann (1993) einmal über sie sagte: „Viele gute Werke verdanken wir einer
Ungebildeten“ (S. 98).
Im September 1791, als Frankreich nach der Verabschiedung der Verfassung eine konstitutionelle
Monarchie wurde, veröffentlichte Olympe de Gouges in royalistischem Überschwang ihre, der
Königin Marie Antoinette gewidmete Fassung der Menschenrechte. Ihre feministische
Gleichheitsproklamation der Ideengeschichte ‚Die Rechte der Frau – an die Königin’ sollte ihren
Namen unsterblich machen. Indes eskalierte die politische Lage im Land. In den Jahren der
Französischen Revolution äußerte sie immer ihre Ideen und Meinungen zum politischen
Geschehen. Im neugewählten Nationalkonvent gab es keine Royalisten mehr. Allem Anschein
nach war es Olympe nicht schwer gefallen, eine Republikanerin zu werden. Während der
französischen Revolution war Olympe de Gouges die einzige Autorin, die ausdrücklich um
Frauenrechte kämpfte. Bereits zu Beginn des Terrors und der Diktatur prangerte sie den Zustand
im Land an, lange bevor die mächtigen Männer es wagten. Zu dieser Zeit wurden Frauen nicht
nur massakriert, sondern samt ihren Kindern auch getötet. Olympe de Gouges vermutete, dass
auch sie dem politischen Terror zum Opfer fallen werde und schrieb ihr ‚Testament politique’ im
Juni 1793. Darin vermachte sie ihrem Sohn die armseligen Überbleibsel eines ansehnlichen
Vermögens und ihr immaterielles Vermögen, wie ihr Herz, dem Vaterland. Im Monat darauf wurde
sie verhaftet. Vorwand dafür war ein Plakat, auf dem sie eine direkte ‚Volksabstimmung’ zur
Herstellung des innenpolitischen Friedens vorschlug. Sie sprach nicht von Frauenwahlrecht,
sondern von einem gänzlich ‚republikanischen‘ Vorschlag, der dem ‚Souveränitäts‘-Ideologem
entsprang. Dieser ‚Volkssouverän‘ war grundsätzlich illegitim, tyrannisch und schloss das
weibliche Volk von ‚republikanischer Souveränität‘ aus. Diese Plakat wurde, wie auch der
öffentliche Ankläger in ihrem Prozess später bestätigte, nicht veröffentlicht. Nachdem sie eine
72
Woche im Rathaus festgehalten worden war, verlegt man sie in ein Gefängnis, in dem die
Zustände katastrophal waren. Man verlegte sie krank und verzweifelt in ein anderes Gefängnis
und wenig später dann wieder in ein anderes, aber besseres Gefängnis. In diesem konnte sie sich
erholen und für viel Geld Erleichterungen erhalten (vgl. Doormann, 1993, S. 16, 100, 103 f, 114,
131 und 151; Schröder, 1995, S. 88–90 und 98).
Nachdem im September das ‚Gesetz über die Verdächtigen’ in Kraft getreten war, machte man
ihr am 1. November den Prozess. Dieses Gesetz ermöglichte systematische politische Morde an
‚Verdächtigen‘ mit dem Schein von Legalität, erbarmungslose Schauprozesse und
Massenhinrichtungen. Gnadenlos wurden Frauen, die nie ein Amt innehatten, als politisch
gefährlich verdächtigt oder einfach anstelle ihrer Männer zum Tode verurteilt. Verdacht allein
genügte, um am Schafott zu sterben. In der Anklageschrift stand, dass die Schriften de Gouges‘
nur als Angriff auf die Volkssouveränität gesehen werden können und die Schriften voll von
Provokation zum Bürgerkrieg aufstacheln. Sie wurde des Verrats an der einen und unteilbaren
Republik beschuldigt. Viele der Schriften, auf die man sich in der Anklageschrift bezog, waren laut
Schröder (1995) unveröffentlicht oder nicht vorhanden. In ihrem letzten Brief schrieb sie über ihre
Unschuld und dass man ihr keine einzige Tat gegen die Revolution zur Last legen konnte. Der
Brief war an ihren Sohn adressiert, den Bürger Degouges, Offizier in der Rheinarmee. Sie wusste
nicht einmal, ob er noch am Leben war, da sie lange keine Nachricht mehr von ihm erhalten hatte
(vgl. Doormann, 1993, S. 12–14; vgl. Schröder, 1995, S. 90–95).
Obwohl es im Gesetz geschrieben stand, hatte sie nicht die Möglichkeit, die Geschworenen zu
wählen und musste geschwächt und krank früh morgens ohne Verteidiger, da dieser es abgelehnt
hatte sie zu verteidigen, vor das Tribunal treten, um sich dann ohne Anwalt und juridisch unkundig
selbst zu verteidigen. Als sie einen anderen Anwalt verlangte, entgegnete der Richter dem de
Gouges Weib, wie er sie nannte, dass sie geistreich genug sei, sich selbst zu verteidigen. In ihrem
letzten Brief schrieb sie, dass sie zweifellos geistreich genug wäre, doch ein Verteidiger hätte ihre
Dienste und Wohltaten, die sie dem Volk gegenüber erwiesen hatte, nachdrücklicher vorbringen
können. Zuerst wurde sie zu ihren Personalien befragt, woraufhin sie angab 38 Jahre alt zu sein.
Bereits einige Jahre lang gab sie sich sieben Jahre jünger aus und korrigierte sogar das
Geburtsdatum in ihren Pässen. Man befragte sie dann zu ihren Schriften und Plakaten und
hinsichtlich ihrer Gefühle gegenüber den Repräsentanten des Volkes. „Während des Resümees
des öffentlichen Anklägers habe die Angeklagte nie aufgehört, über die Tatsachen, die ihr zu Last
gelegt wurden, hämisch zu schmunzeln“ (Schröder, 1995, S. 98). Sie schien den Ernst der Lage
nicht zu verstehen. Sie glaubte nicht, dass man sie verurteilen würde. Sie hatte die Hinrichtung
der Marie-Antoinette am 16. Oktober anscheinend nicht mitbekommen und wohl auch nicht die
Verbote sämtlicher Frauenversammlungen und -clubs. Völlig machtlos musste sie mit ansehen,
wie sie, trotz ihrer Beweise für ihre Unschuld, einstimmig wegen ‚Verletzung der
73
Volkssouveränität’ zum Tode verurteilt wurde und ihre Werke zum Eigentum der Republik wurden.
Sie starb am 3. November 1793 durch die Guillotine (vgl. Doormann, 1993, S. 10–15 und 18; vgl.
Schröder, 1995, S. 90–99). Aufgrund eines Kommentars zu ihrem Tod wenige Tage danach
schlussfolgert Opitz (1985, S. 305): „Nicht die politische Intrige also konnte Frauen den Kopf
kosten, sondern die ‚Überschreitung der Grenze des weiblichen Geschlechts‘…“.
3.7.1.3. Rosa Kerschbaumer-Putjata
Das Ehepaar Kerschbaumer eröffnet im November 1877 in Salzburg eine Praxis für
Augenheilkunde. Salzburg hatte eine auffallend hohe Blindenquote, mitunter auch aufgrund der
mangelnden ärztlichen Versorgung. Zu Beginn behandelten sie Augenkranke ambulant in ihrer
eigenen Wohnung im Faberhaus. Anfang 1878 nahmen sie Patientinnen und Patienten auch
stationär auf. Zunächst hatten sie jedoch nur ein Bett, erweiterten auf sieben weitere und später
auf noch mehr. Friedrich kümmerte sich um die notwendigen bürokratischen Angelegenheiten
(vgl. Veits-Falk, 2008, S. 65–68 und 71).
Der Bedarf an Betten stieg kontinuierlich, was zu Platzmangel führte. Das Ehepaar Kerschbaumer
bezog neben der Anstalt gelegene Zimmer samt Nebenräumen, um mehr Betten und Platz zu
schaffen. Sie sorgten rigoros für die Einhaltung hygienischer Standards. Schlechte Belüftung,
Platzmangel und schlechte Lichtverhältnisse wirkten sich nachteilig auf den Heilungsverlauf aus,
was allgemein bekannt war durch das 1859 erschienene Buch ‚Notes on Hospital‘ von Florence
Nightingale. Nachdem das Ehepaar in den Folgejahren abermals mit Platzmangel zu kämpfen
hatte, übersiedelten sie im März 1881 mit ihrer Augenheilanstalt in eine großzügige
Gründerzeitvilla mit Garten, den die Patienteninnen und Patienten für ihre Erholung nutzen
konnten. Drei Stockwerke wurden nach damals modernen Standards als Augenklinik adaptiert.
Zudem befand sich dort auch die Bibliothek und die Privatwohnung des Ehepaares. Beiden
gehörte dieses Haus jeweils zur Hälfte. Sie finanzierten alles aus Eigenmitteln. In
autobiografischen Angaben schrieb Rosa, dass es gänzlich mit ihrem Privatvermögen finanziert
wurde. Obwohl sie bisweilen Schönfärberei betrieb, kann auch aufgrund der Herkunft der beiden
davon ausgegangen werden, dass tatsächlich der größere Teil von Rosa stammte. Die finanzielle
Staffelung der Pensionsbedingungen in der Klinik, also die Deckung der Kosten, erwies sich als
großes Problem. Viele Arme konnten sich trotz unentgeltlicher Behandlung die
Verpflegungsgebühr bei einem stationären Aufenthalt nicht leisten. Aus humanitären Gründen
waren von 1872 bis 1882 fast die Hälfte der medizinischen Behandlungen und zwei Drittel der
gesamten ärztlichen Leistungen im Ambulatorium für die Patienteninnen und Patienten kostenlos.
Dies führte zu finanziellen Problemen beim Ehepaar Kerschbaumer, worüber Friedrich auch in
der Publikation ‚Die Blinden des Herzogthums Salzburg‘ schrieb. Er plädierte für eine öffentliche
Augenklink, obwohl diese doch die Existenz ‚seiner‘ Augenheilanstalt gefährden würde (vgl. Veits-
Falk, 2008, S. 73–78). Ab dem Jänner 1888 wurden, nach Vertragsabschluss und der Einigung
74
über die Verpflegungstaxe, auch augenkranke Patienteninnen und Patienten des St.-Johanns-
Spital übernommen. Dieser markante Punkt in der Geschichte der Klinik führte zu einer
Neuaufteilung der Räume und zu einer Erhöhung der Bettenanzahl. Der zeitungslesenden
Öffentlichkeit war die Aufgabenverteilung in der Klinik bekannt. Friedrich hielt lediglich die
Nachmittagsvisite ab und die Ordination der Privat-(ambulatorischen) Praxis. Die ärztliche Leitung
der Klinik, operative Tätigkeiten und instrumentelle Untersuchungen, aber auch
Nachbehandlungen übernahm Rosa. Der Autor des Zeitungsartikels unterschlug hierbei jedoch
Rosas Doktortitel und schrieb, dass beide ein selbstständiges Arbeitsfeld übernahmen (vgl. Veits-
Falk, 2008, S. 80–82).
Friedrich war zudem von 1887 bis 1891 Mitglied im Landessanitätsrat und beim ‚Ärztlichen Verein
im Herzogthume Salzburg‘. Rosa war kein Mitglied, durfte aber bei bestimmten Veranstaltungen
als Friedrichs Gattin teilnehmen. Friedrich war zudem Mitglied bei der angesehenen ‚Heidelberger
Ophthalmologischen Gesellschaft‘, bei der Frauen ab 1911 Mitglied werden konnten. Bereits im
Jahr 1881 begleitete Rosa ihren Mann zu einer Sitzung der Gesellschaft und war so die erste
Teilnehmerin der Gesellschaft (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 91 f). Von Beginn an und bis 1882
publizierte das Ehepaar Jahresberichte ihrer Klinik, die beide als Verfasser nannten. Rosa wurde
dabei immer an erster Stelle genannt, was einerseits auf ihre Arbeit in der Klinik hinweist und
andererseits Ausdruck ihres Selbstbewusstseins war. Da sie formal unter der Leitung ihres
Ehemannes arbeitete, wäre es auch ‚normal‘ gewesen, wenn ihr Name nicht erschienen wäre.
Nach außen hin vertrat Friedrich die Klinik bei allen mühsamen und zeitaufwendigen
Verhandlungen über Kostenbegleichungen mit den Gemeinden und auch mit dem Spital. Zudem
übernahm er die Verwaltung der Augenheilanstalt. Rosa hingegen fokussierte sich auf die
medizinische Behandlung, die fast ausschließlich sie übernahm. Ärztliche Mitarbeiter assistierten
der ausgezeichneten Operateurin (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 82–84).
Weiters setzte sie sich mit der Kurzsichtigkeit auseinander und fand heraus, dass 58 Prozent der
‚gebildeten‘ Personen, also jene mit Mittel- und Hochschulabschluss oder einem Lehrberuf, der
eine anstrengende Augenarbeit erforderte, kurzsichtig waren. Obwohl von den ‚Ungebildeten‘ nur
42 Prozent betroffen waren, also jene die zur Arbeits- und Bauernbevölkerung gehörten und nur
eine Volksschule besucht hatten, war deren Kurzsichtigkeit hochgradiger. Auf ihren Ergebnissen
aufbauend, appellierte sie, die Ursachen und die Verbreitung nicht nur auf den schädlichen
Einfluss der modernen Schulen zurückzuführen, sondern auch außerhalb zu forschen (vgl. Veits-
Falk, 2008, S. 87 f). In den Jahren 1883 und 1886 erschienen Publikationen unter dem Namen
von Friedrich Kerschbaumer. Obwohl er als Autor genannt ist, ist in den Schriften häufig die Rede
von ‚den Verfassern‘. Ein bekannter Salzburger Arzt und Historiker Franz Valentin Zillner kündigte
bereits 1881 die Veröffentlichung einer Schrift von den Doktoren Rosa und Friedrich
Kerschbaumer über ‚Die Blinden des Herzogthums Salzburg‘ an. Eine Nennung beider durch eine
75
lokale Autorität wie Zillner war, angesichts der vorherrschenden Skepsis und ablehnenden
Haltung gegenüber wissenschaftlich-medizinischen Leistungen des weiblichen Geschlechts, nicht
zu unterschätzen. Rosas Anteil am Zustandekommen der Publikation muss maßgeblich gewesen
sein, andernfalls hätte Zillner sie nicht als Co-Autorin genannt (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 66–67).
Spannend ist auch, dass das Salzburger Volksblatt am 14. September 1887 über die bedeutende
touristische Leistung der Frau Dr. Kerschbaumer berichtete, die den 3313 Meter hohen Piz Buin,
die höchste Spitze der Vorarlberger Alpenkette, auf einer sechzehnstündigen Tour bestiegen
hatte. Der Führer Lerch bestätigte, dass Frau Dr. Kerschbaumer die erste Dame seit 30 Jahren
war, die er auf den Piz Buin geführt hatte (vgl. Besteigung des Piz Buin, 1887, S. 3). Rosa
beschrieb „den Anblick, den man vom Piz Buin aus genießt, als einen überaus prachtvollen…“
(Besteigung des Piz Buin, 1887, S. 3).
Die Wahlsalzburgerin Rosa verfolgte aufmerksam aktuelle Debatten über die ‚Frauenfrage‘. Sie
engagierte sich aktiv in einem 1888 gegründeten ‚Verein für erweiterte Frauenbildung in Wien‘,
der sich für staatliche höhere Mädchenbildung und das Universitätsstudium von Frauen einsetzte.
Rosa hielt am 2. April 1889 den ersten Vortrag für den Verein, welcher den Titel ‚Die ärztliche
Berufsausbildung und Praxis der Frauen‘ trug. In Wien berichtete sie über historische
Entwicklungen, leitete dann über zu den aktuellen Entwicklungen auf der ganzen Welt und
berichtete über heilkundige Frauen. Die steigende Zahl der Ärztinnen sei ihres Erachtens Beweis
für das dringende Bedürfnis nach Ärztinnen und betonte speziell die Bedeutung von
Frauenärztinnen und Kinderärztinnen aufgrund des angeborenen und anerzogenen Zart- und
Schamgefühls. Wie viele Vertreterinnen und Vertreter der Frauenbewegung hob sie den
moralisch-sittlichen Aspekt hervor (vgl. Kerschbaumer, 1889, S. 9 f; Seebacher, 2006, S. 560;
Veits-Falk, 2008, S. 95–97). Sie stützte sich zudem auf das ‚Konzept der Mütterlichkeit‘ wie auch
andere Ärztinnen und Ärzte sowie Vertreterinnen und Vertreter der bürgerlichen
Frauenbewegung. Das Konzept stützte sich auf die besondere Neigung zur medizinischen
Versorgung von Frauen und Kindern durch Frauen (vgl. Arias-Lukas, 2004, S. 79 f;
Kerschbaumer, 1889, S. 9 f). An dieser Stelle ging sie auch auf das Österreichische Allgemeine
Bürgerliche Gesetzbuch vom Jahre 1811 ein, konkret auf den Paragraphen 141, indem die Pflege
des Körpers und der Gesundheit der Kinder hauptsächlich als Aufgabe der Mutter beschrieben
wird. Außerdem betonte sie in ihrem Vortrag die Vorteile kleiner und leichter Frauenhände und
deren bessere Feinmotorik in Bezug auf die besondere Eignung für die Augenheilkunde. In ihrem
Vortrag entkräftete sie die häufigsten Einwände gegen das Medizinstudium und die ärztliche
Praxis von Frauen. Sie ging auch auf die Vereinbarkeit des Berufs der Ärztin und etwaige
Mutterpflichten ein und argumentierte, dass ohnehin nur ein Bruchteil verheiratet sei und durch
die Berufsausübung und Selbstständigkeit, auch ohne Mann, glücklich sei. Sie verwies aber auch
auf weibliche Kolleginnen, die mit Ärzten verheiratet waren und sich gegenseitig förderten. Als
Beispiel zog sie sich selbst heran. Sie beendete ihren Vortrag mit den emanzipatorischen und
76
energievollen Worten über die Sprengung tausendjähriger Fesseln und der Forderung nach der
vollen Gleichberechtigung mit Männern auf allen Gebieten der Wissenschaft (vgl. Kerschbaumer,
1889, S. 11–16). Rosas Worten über Gleichberechtigung folgten im Februar 1890 Taten. Um als
Ärztin praktizieren zu dürfen und auch um die Augenheilanstalt leiten zu dürfen, stellte sie ein
Ansuchen für eine Sondergenehmigung bei Kaiser Franz Joseph. Dies war aufgrund der
österreichischen Rechtslage die einzige Möglichkeit für sie, um offiziell die Berechtigung zur
Ausübung ihres Berufs zu erhalten (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 99 f).
Eventuell spielte für dieses Ansuchen auch Friedrichs Zustand eine Rolle. Aus einem Brief von
Rosas Mutter an Virginija im Jahr 1886 geht hervor, dass dieser wohl an einer psychischen
Krankheit litt. Weder Rosa noch Friedrich wollten, dass dies bekannt werde. Aber Patientinnen
und Patienten der beiden hatten sein lärmendes Verhalten als störend und beängstigend erlebt.
Womöglich war dies auch mitunter ein Grund, warum Rosa allein in der Klinik operierte, da
Friedrich dies unter diesen Umständen gar nicht mehr konnte. Inwieweit die Krankheit zum
Zeitpunkt des Briefwechsels bereits fortgeschritten war und wer davon wusste, ist unbekannt.
Jedoch wurde die Publikation über die Salzburger Blinden zu dieser Zeit veröffentlicht und zwei
Jahre danach handelte Friedrich den Vertrag mit dem St.-Johanns-Spital aus. Dennoch musste
diese Situation für Rosa sehr schwierig gewesen sein. Sie machte den Hauptanteil der
medizinischen Arbeit in der Klinik, die ihr zur Hälfte gehörte, die aber von ihrem kranken und
vielleicht auch deswegen unberechenbaren Mann geleitet wurde. Nachdem Rosa ihr Ansuchen
gestellt hatte, wurde es an das Innenministerium weitergeleitet. Dieses ließ sich vom Salzburger
Bürgermeister, der selbst Arzt war, die Erfolge der Ärztin Kerschbaumer bestätigen. Außerdem
wurde die Augenheilanstalt vom Landessanitäts-Referenten besichtigt, der die Aufgabenteilung
der Doktoren Kerschbaumer begutachtete. Dieser bekräftigte Rosas Kenntnisse und Fertigkeiten
sowie deren Sicherheit in allen Behandlungs- und Operationsmethoden. Er schrieb
bemerkenswerterweise, dass die bereits mehrjährige Leitung durch sie erfolgreich verlief und
somit die Ausübung der ärztlichen Tätigkeit als auch die selbstständige Leitung als berechtigt
erklärt werden müsse. Sämtliche Informationen und Gutachten wurden Kaiser Franz Joseph vom
Innenminister vorgelegt (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 100–103).
Der Kaiser erteilte am 23. März 1890 die Berechtigung, die sich ohnehin auf die Stadt Salzburg
beschränkte und machte Rosa Kerschbaumer zur ersten offiziell zugelassenen praktizierenden
Ärztin und Leiterin einer Klink in der Habsburgermonarchie (vgl. Seebacher, 2006, S. 560; Veits-
Falk, 2008, S. 103 f). Bereits am 8. Juni übernahm sie offiziell die alleinige Leitung der
Augenheilanstalt und kaufte Friedrichs Eigentumsrechte an seiner Hälfte des Hauses samt
Einrichtungsgegenständen und beweglichen Gütern um 24.000 Gulden (vgl. Veits-Falk, 2008, S.
107), was heute laut historischem Währungsrechner einem Kaufpreis von 330.228 Euro
entsprechen würde (vgl. Oesterreichische Nationalbank, o. J.).
77
Abbildung 2: Zeitungsbericht "Der erste weibliche Arzt in Oesterreich" (Freie Stimmen,1890, S. 6).
Die Leitung eines Unternehmens durch eine Frau war nicht so ungewöhnlich, wie man vermuten
würde. Im 19. Jahrhundert waren Frauen rechtlich gezwungen, nach dem Tod ihres Mannes das
Unternehmen zur Existenzsicherung weiterzuführen bis ein neuer Mann das Gewerbe übernahm
oder es verkauft wurde. Wurde kein neuer Mann gefunden, so konnten die Frauen ihre Fähigkeiten
unter Beweis stellen und sich in männlichen Strukturen behaupten. Es gibt einige sehr erfolgreiche
Frauen, denen dies gelang (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 109). Neben den Eigentumsrechten und der
Leitung der Klinik regelte der Vertrag der Kerschbaumers auch die Trennung, laut Veits-Falk aber
nicht die Scheidung des Ehepaares. Solch eine Regelung war in bürgerlich-intellektuellen Kreisen
durchaus üblich. Die Quellen bezüglich der Scheidung differieren in diesem Punkt jedoch. Laut
Seebacher wurden die beiden auch gleich geschieden (vgl. Seebacher, 2008, S. 51; Veits-Falk,
2008, S. 107). Rosa erzählte ihrem früheren Lehrer Koni, dass sie zu unterschiedliche Charaktere
waren und ihre Meinungen über das Leben zu sehr differierten. Friedrich zog nach Wien, wo er
nach längerem Leiden im 59. Lebensjahr verstarb (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 107).
Rosa leitete weiterhin die Klinik. In den letzten Monaten des Jahres 1892 endete der Vertrag mit
dem St.-Johanns-Spital. Das Spital hatte indes selber eine Augenabteilung samt Primararztstelle
geschaffen und überstellte im Dezember die von Rosa betreuten Patientinnen und Patienten in
das Krankenhaus. Da Rosa in ihrem kaiserlichen Ansuchen um die Leitung einer Augenabteilung
oder Augenheilanstalt bat, kann davon ausgegangen werden, dass sie gerne die Primaria der
Augenabteilung geworden wäre. Dies war aber zu diesem Zeitpunkt unrealistisch. Mit Ende des
78
Vertrages mit dem Spital entfielen wesentliche Einnahmen und bedrohten die Existenz von Rosas
privater Klinik. Sie beschäftigte sich mit der Weiterführung der Klinik und forschte weiterhin an den
Ursachen und Folgen der Kurzsichtigkeit. Im März des Folgejahres hielt sie darüber einen Vortrag
in Linz. Sie wies auf die Gefahren schlechter Beleuchtung beim Lesen, schlecht gedruckter
Bücher oder schlechter Brillen hin. Sie riet zudem, vor der Verwendung einer Brille einen
Augenarzt aufzusuchen (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 112–114). Die Pionierin der Augenheilkunde
schrieb etliche wissenschaftliche Arbeiten, die auch in angesehenen Fachzeitschriften
veröffentlicht wurden. Eines ihrer bekanntesten Werke ‚Das Sarkom des Auges‘ ist vermutlich das
erste von einer weiblichen Verfasserin publizierte wissenschaftliche Werk zur Augenheilkunde.
Ihre 1900 erschiene Abhandlung zeugt von Rosas länderübergreifender Forschungstätigkeit und
fand große Beachtung in Fachkreisen (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 114 und 116).
Sie nahm außerdem Stellung zu der vom Chirurgen Eduard Albert veröffentlichten Schrift ‚Die
Frauen und das Studium der Medicin‘. In seiner selbstherrlichen und misogynen Schrift schrieb er
über eine Abwertung des Ärztestandes aufgrund einer Verweiblichung und über die Bedrohung
von Wertvorstellungen. Mit falschen Daten und Zahlen versuchte er dem Experiment
Frauenstudium den Garaus zu machen und überschritt dabei die Grenze zwischen Wissenschaft
und Ideologie. Bereits vor Rosa hatten sich zahlreiche Gegner mit den haltlosen chauvinistischen
Behauptungen und den logischen Widersprüchen beschäftigt, weswegen sie nicht mehr darauf
eingehen wollte. Sie sah den Artikel durchaus als positiv an. Einerseits wurden Frauenrechte in
Österreich mehr diskutiert und andererseits zeigte der Artikel, dass auch der berühmte Professor
keine logischen Argumente gegen das Frauenstudium finden konnte. Sie belegte mit genauen
Quellenangaben die Entwicklung medizinischer Schulen in Russland und die Tätigkeiten
russischer Ärztinnen. Sie kam zu dem Schluss, Österreich könne die positiven Erfahrungen der
anderen Länder mit Ärztinnen nicht länger ignorieren. Das Frauenstudium tangierte nicht nur
ökonomische und soziale Aspekte, sondern auch rechtliche. Der Verfassungsrechtler Edmund
Bernatzki versuchte bereits dies als einen Verfassungsbruch des modernen Rechtsstaates zu
beweisen. Im Paragraph 18 des Staatsgrundgesetzes wurde eindeutig das Recht auf
Bildungsfreiheit für ‚jedermann‘ beschrieben. Die Redaktion der Wiener Literaturzeitung ‚Neue
Revue‘ publizierte Rosas Stellungnahme ‚Professor Albert und die weiblichen Aerzte‘ und
vermerkte ihre Stellungnahme als sehr interessant, da sie die einzige praktizierende Ärztin in
Österreich sei. Rosa wünschte sich, dass österreichische Ärztinnen zukünftig die Möglichkeit
hätten ihre Fähigkeiten erfolgreich unter Beweis zu stellen (vgl. Kerschbaumer, 1895; Seebacher,
2008, S. 52, 2006, S. 562 f; Veits-Falk, 2008, S. 120–123). Rosa Kerschbaumer setzte als
selbstbewusste Vertreterin der ersten Generation von Ärztinnen das Ziel der Gestaltung eines
neuen weiblichen Vorbilds in Gesellschaft und Wissenschaft. Sie hinterfragte offen das von der
Mittelschicht erwartete Geschlechterbild und die patriarchalische Familienstruktur (vgl. Arias,
2000, S. 56).
79
Rosa übernahm eine führende Stelle in der Frauenemanzipationsbewegung, die sich für die
Zulassung von Frauen zum Medizin- und Philosophiestudium einsetzte. Sie forderte die
Möglichkeit für die Ausübung ärztlicher Tätigkeiten für Frauen- und Kinderärztinnen sowie für
Lehrerinnen für höhere Lehranstalten für Mädchen. Demnach ist es wenig verwunderlich, dass
sie öffentlich für die gestellten Forderungen auftrat und jungen Ärztinnen die Möglichkeit bot, als
Assistentinnen in Salzburg zu arbeiten (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 117 und 126). Im November 1893
war Rosa nach wie vor die einzige Frau in Österreich, die eine ärztliche Praxis ausüben durfte,
obwohl in vielen anderen Ländern bereits ausgezeichnete Erfahrungen mit Ärztinnen gemacht
wurden (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 119). Mit dem radikalen Flügel der bürgerlichen
Frauenbewegung konnte sie sich nie identifizieren. Sie galt als Vorbild und ihr persönliches
Engagement trug wesentlich zur Öffnung der Universitäten für Frauen bei (vgl. Seebacher, 2008,
S. 53; Veits-Falk, 2008, S. 125). Rosa Kerschbaumer engagierte sich zudem sozial. Sie
behandelte hunderte Augenkranke kostenlos und beschenkte bedürftige Kinder mit Kleidung,
Schuhen und Lebensmitteln (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 127).
1895 starb Rosas Mutter, mit der sie, trotz der großen Entfernung, eine gute Beziehung hatte. Sie
behandelte ihre Mutter sogar einmal in Russland, als sie an Sehstörungen und Lidschlaffheit
infolge einer Hirnhautentzündung litt (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 132). Im November 1895 gab es
die erste Meldung, dass Rosa Kerschbaumer Österreich verlassen und nach St. Petersburg gehen
würde. Die ‚Österreichische Zeitschrift für Pharmacie‘ (1895) schrieb am 20. November: „Die
einzige österreichische Augenärztin, Frau Dr. Rosa Kerschbaumer in Salzburg, verlässt, wie
verlautet, demnächst Oesterreich“ (Die einzige österreichische Augenärztin, S. 815). Und auch
die ‚Wiener Medizinische Wochenschrift‘ (1895) veröffentlichte am 09. November ähnliche Zeilen:
„Frau Dr. Rosa Kerschbaumer in Salzburg, die erste und bisher einzige, zur Ausübung der
ärztlichen […] Praxis in Oesterreich berechtigte Dame, verlässt, wie wir erfahren,
demnächst Oesterreich. Sie kehrt in ihre Heimat nach Russland zurück, um in Petersburg
an der neu begründeten medizinischen Frauenakademie eine Lehrkanzel zu
übernehmen.“ (Frau Dr. Rosa Kerschbaumer in Salzburg, S. 1963)
Durch die rückgängigen Patientinnen- und Patientenzahlen und der Ablösezahlung an Friedrich
kämpfte Rosa sicherlich mit finanziellen Schwierigkeiten. Die 45-jährige Ärztin löste im Februar
1896 die Augenklinik auf und kehrte nach Russland zurück (vgl. Seebacher, 2008, S. 53; Veits-
Falk, 2008, S. 130–132). Der Wunsch nach Russland zurückzukehren wurde von der Nachricht
der Neuorganisation des medizinischen Instituts für Frauen in St. Petersburg geweckt. Die
Enttäuschung war groß, als sie feststellen musste, dass sie als ausländische Ärztin in Russland
erst arbeiten konnte, wenn sie nochmals die Prüfungen in Allgemeinmedizin ablegen würde. Die
Augenspezialistin mit 20-jähriger Berufserfahrung suchte bei Koni, der mittlerweile einflussreicher
80
Jurist und kurz zuvor als Beratungsmitglied im Medizinalrat des Innenministeriums tätig war, um
Rat. Mit der Überprüfung ihrer wissenschaftlichen Publikationen gelang es ihr, eine
Arbeitserlaubnis als Ärztin zu erhalten (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 135). An dem 1897 wieder
eröffneten medizinischen Institut für Frauen, wo Rosa eine Lehrkanzel übernehmen wollte, durften
jedoch keine Frauen unterrichten. Daher arbeitete Rosa an einer Klinik in St. Petersburg als
Augenärztin. Ab 1899 war sie zudem Vortragende in Fortbildungskursen für Ärztinnen und Ärzte
in Augenheilkunde (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 135 f).
Im Auftrag der russischen Regierung reiste sie von 1897 bis 1903 entlang der Transsibirischen
Eisenbahn. Über ihren Einsatz und ihre Leitung der ‚mobilen Augenheiltruppe‘ berichteten
ophthalmologische Fachzeitschriften. Kerschbaumers Wanderklinik, darunter mehrere
Augenärzte, Feldschererinnen und Feldscherer sowie Krankenschwestern, behandelte die in
Massen heraneilenden Augenkranken. Überdies zählten die Erforschung der Ursachen der stark
verbreiteten Augenkrankheiten, der Unterricht einheimischer Ärzte in der Augenheilkunde sowie
die Errichtung fortwährender Augenabteilungen zu den Aufgaben der Expedition (vgl. Seebacher,
2008, S. 53; Veits-Falk, 2008, S. 136–138). Ab 1899 war sie zudem als Wissenschaftlerin höchst
erfolgreich und leitete am IX. Internationalen Ophthalmologischen Kongress in Utrecht eine
Sektion. Bei der ‚Ophthalmologischen Gesellschaft’ in St. Petersburg hielt sie einen Vortrag über
ihre Untersuchungen über das Augensarkom, deren Ergebnisse sie 1900 veröffentlichte. Ihre
1901 eingebrachte Bewerbung als Leiterin eines Instituts an der Universitätsklinik in Warschau
wurde abgewiesen und als unverschämt aufgefasst, da sie als Frau kein Recht hätte sich um
diese Stelle zu bewerben. Im Jahr darauf nahm sie am VIII. Kongress der russischen Ärzte in
Moskau teil, wo sie einen Vortrag hielt ‚Über die Behandlung des Trachoms und der Kampf mit
dieser Krankheit in Russland’. Zur selben Zeit fand die Sitzung der ‚Gesellschaft der Augenärzte’
in Moskau statt, an der sie auch teilnahm (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 138 f).
Von 1903 bis 1906 übernahm sie als Direktorin die Leitung der Augenklinik der Zarin Maria in
Tiflis, in Georgien. Obwohl in der Klinik eine Ärztin und ein Arzt fix angestellt und eine zweite Ärztin
außerbudgetär angestellt waren, untersuchte Rosa, die in der Früh als erste zur Arbeit kam und
erst als Letzte wieder ging, alle Patientinnen und Patienten zuerst selbst, bevor sie diese von den
anderen behandeln ließ. Eine dort tätige OP-Schwester beschrieb Rosa als ordentliche,
energische und strenge Direktorin. Die zudem gut aussehende Doktorin war sehr lebhaft und
flexibel (vgl. Seebacher, 2008, S. 53; Veits-Falk, 2008, S. 140). In Österreich wurde auch nach
über einem Jahrzehnt seit Rosas Rückkehr nach Russland über die Augenärztin mit
ausgezeichnetem internationalem Ruf berichtet. 1906 schrieb die ‚Salzburger Chronik für Stadt
und Land’, dass Rosa „vor einigen Jahren die Leitung der Augenheilanstalt der Kaiserin Maria in
Tiflis übernahm und heute noch als Direktorin die gleiche Stellung bekleidet“ (Richtigstellung, S.
3). Am 17. Jänner 1907 berichtete die ‚Salzburger Zeitung’, dass „die bekannte Augenärztin Dr.
81
Putiata-Kerschbaumer, […] zurzeit am persischen Hof in Teheran [weilt], um an einer kranken
Prinzessin eine schwierige Augenoperation auszuführen“ (Salzburger Zeitung, 1907, S. 2, zit. n.
Veits-Falk, 2008, S. 140 f).
Über den Vorderen Orient kehrte sie wieder nach Österreich zurück und wohnte ab September
1907 in Wien. Obwohl sie die Eröffnung einer Praxis für Augenheilkunde plante, wollte sie, oder
vermutlich musste sie aus finanziellen Gründen vorerst in Karlsbad als Ärztin arbeiten. Der k. k.
Oberbezirksrat in Karlsbad gestattete ihr dies jedoch nicht, da ihre kaiserliche Entschließung nur
für Salzburg galt. Sie stellte erneut ein Ansuchen und legte sämtliche Referenzen und Zeugnisse
vor. Acht Jahre nachdem Frauen auch in Österreich Medizin studieren durften, erforderte es noch
immer einen Gnadenakt, um als Ärztin arbeiten zu dürfen. Auch dieses Ansuchen bewilligte Kaiser
Franz Joseph am 7. August 1908, wodurch sie die Erlaubnis hatte zur Praktizierung der
Augenheilkunde in ganz Österreich (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 141 f). Von 1907-1911 arbeitete
Rosa wieder als Ärztin in Wien (vgl. Seebacher, 2008, S. 53). Eines ihrer Anliegen war ‚Die
Hygiene des Auges in der Schule’, wie auch der gleichlautende Artikel heißt, der in der Zeitschrift
‚Der Bund’ 1909 veröffentlicht wurde. In diesem Artikel schrieb sie, dass die Schulhygiene trotz
der wichtigen Bedeutung in Österreich noch immer im Argen liege. Sie forderte die Verbreitung
der Grundprinzipien der Hygiene über alle Gesellschaftsschichten hinweg und das frühzeitige
Vermitteln elementarer Kenntnisse der Hygiene in der Schule (vgl. Kerschbaumer, 1909, S. 8 f).
Im Jahr darauf bezog sie zudem Stellung zum brisanten und tabuisierten Thema der Prostitution
in Österreich. Sie begrüßte die sanitäre Kontrolle der Frauen, die durch neue Regelungen die
bisherige polizeiliche Kontrolle ablöste. Als Ärztin empfahl sie für die medizinische Untersuchung
der Prostituierten Ärztinnen heranzuziehen. Ganz im Sinne der Sozialdemokratie forderte sie eine
bessere Entlohnung von Frauen und gleichen Lohn bei gleicher Arbeit. Denn nur wenn Frauen
eine ehrliche und gute Erwerbsmöglichkeit hätten, würde Armut bekämpft und Prostitution
rückgängig werden (vgl. Kerschbaumer, 1910, S. 5).
Ob es nun der unerfüllte Wunsch einer eigenen Klinik in Wien war oder der eventuell bestehende
Kontakt zu Selina Bloom, ihrer ehemaligen Assistenzärztin, die nun in New York lebte oder ein
anderer Grund sei dahingestellt. Rosa verließ Wien wieder. Vorerst im Zuge einer Studienreise
nach Amerika im Sommer 1911, woraus dann eine endgültige Auswanderung werden sollte (vgl.
Veits-Falk, 2008, S. 143 f). Im Alter von sechzig Jahren zog sie nach Seattle und später nach Los
Angeles, um dort zu praktizieren (vgl. Seebacher, 2008, S. 53). 1914 erhielt sie eine Lizenz, um
in Nevada und Kalifornien arbeiten zu können. Außerdem war sie Mitglied der ‚Medical Society of
the State of California’. Im Jahr darauf übersiedelte sie nach Los Angeles und operierte im ‚Good
Samaritan Hospital‘, worüber die ‚Washington Post‘ sogar berichtete. Interessanterweise wurde
sie in Amerika als Dr. Kerschbaumer aus Salzburg, Österreich bezeichnet und nicht als russische
Ärztin. Die Daten der 1920 erhobenen Volkszählung zeigen, dass ‚Rose P. Kershbaumer‘ ihre
82
Daten so angab, wie es für sie von Vorteil war. Ihr Geburtsdatum war mit 1867 datiert, also ganze
sechzehn Jahre different zum tatsächlichen Geburtsdatum, wodurch sie vermutlich leichter eine
Berufsberechtigung erhielt (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 144 f).
Das außergewöhnliche Leben der Augenärztin und ersten Ärztin Österreichs Rosa
Kerschbaumer, über deren letzte Lebensjahre man nur Eckdaten weiß, endete am 27. Juli 1923
in Los Angeles (vgl. Universität Zürich, o. J.). Anders Veits-Falk, die den 27. Juni 1923 als
Sterbedatum angibt, sich aber ebenso auf die Matrikeledition der Züricher Universität bezieht (vgl.
Veits-Falk, 2008, S. 145). Seit 2007 erinnern die im Salzburger Stadtteil Itzling benannte Straße,
die Rosa-Kerschbaumer-Straße und eine Gedenktafel am Haus der ehemaligen Augenklinik an
der Schwarzstraße, an die Pionierin der Augenheilkunde und die erste in Österreich praktizierende
Ärztin (vgl. Veits-Falk, 2008, S. 167).
3.7.1.4. Cécile Vogt
Hätte Oskar eine Universitätskarriere angestrebt, dann wäre es für Cécile nur möglich gewesen,
quasi unsichtbar, als privat mitarbeitende Ehefrau tätig zu sein (vgl. Düweke, 2001, S. 119). Denn
um die Jahrhundertwende, als das das Ehepaar versuchte gemeinsam zu forschen, herrschten
frauenfeindlichen Bedingungen in Berlin. Die medizinische Fakultät war zu diesem Zeitpunkt eine
Hochburg von Gegnern des Frauenstudiums. Sogar die Teilnahme an einer Sitzung der Berliner
Gesellschaft für Nervenkrankheiten und Psychiatrie, bei der sie mit ihrem Mann einen Vortrag
angemeldet hatte, wurde Cécile untersagt. Oskar gelang es jedoch genügend Geldmittel zu
organisieren. Er gründete 1902 ein Neurobiologisches Laboratorium, indem die beiden ihr
Forschungsprogramm umsetzen konnten. Die finanzielle und politische Unterstützung Friedrich
Alfred Krupps, eines der mächtigsten und reichsten Männer Deutschlands, bot den beiden
vielfältige Ressourcen und Möglichkeiten und war essenziell für die Etablierung ihrer
universitätsunabhängigen Forschungseinrichtung. Cécile gab ihrem Mann zusätzliche
wissenschaftliche Unterstützung, wodurch er seine Handlungsmöglichkeiten erweitern konnte.
Eine unverzichtbare Grundlage der Vogt‘schen Hirnforschung waren die Hirnschnittserien und
deren Abbildungen, die von Cécile und von den von ihr ausgebildeten Mitarbeiterinnen hergestellt
wurden. Dies war eine wissenschaftliche Feinarbeit, die ausschließlich von Frauen angefertigt
wurde, die weder ein Recht auf ein Studium, geschweige denn auf wissenschaftliche Arbeit und
deren Anerkennung hatten. Das Ehepaar Vogt hielt engen beruflichen Kontakt mit dem
Neurologen Pierre Marie, bei dem Cécile promoviert hatte. Dies ermöglichte eine Verknüpfung mit
der französischen Neurologie und der dort betriebenen Hirnforschung (vgl. Rürup & Schüring,
2008, S. 341; Satzinger, 1996, S. 78 f; Vogt, 1997, S. 212). Nachdem die Forschung der beiden
internationale Anerkennung erlangt hatte, beschloss die KWG 1914 die Gründung eines Instituts
für Hirnforschung. Oskar wurde Direktor dieses Instituts (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 341),
Cécile erhielt eine Anstellung als Wissenschaftlerin. Sie wurde 1919 als zweite Frau, fünf Jahre
83
nach Lise Meitner, zum Wissenschaftlichen Mitglied der KWG gewählt, war stellvertretende
Institutsdirektorin und leitete die Abteilung für Hirnforschung ab 1919 (vgl. Rürup & Schüring,
2008, S. 341; Vogt, 1997, S. 212, 2003, S. 174). Die Angaben, bis wann sie die Abteilung leitete,
sind unterschiedlich. Kompisch schreibt bis 1935/1936 und Vogt gibt die Pensionierung 1937 an
(vgl. Kompisch, 2008, S. 151; Vogt, 2003, S. 169).
Nachdem das Institut jahrelang, aufgrund der wirtschaftlichen Probleme nach dem ersten
Weltkrieg, ein Provisorium geblieben war, wurde der Neubau des Instituts schließlich 1931
eröffnet. Zum damaligen Zeitpunkt war es das größte Hirnforschungsinstitut der Welt und wurde
zu einer nationalen und internationalen Vorzeigeeinrichtung der KWG. Cécile leitete die
anatomische Abteilung und ihre Tochter Marthe die chemische Abteilung. Obwohl Oskar dem
Institut vorstand, war bekannt, dass das Ehepaar wichtige Programmentscheidungen und
wissenschaftliche Lenkungsaufgaben gemeinsam besprach und bewältigte (vgl. Rürup &
Schüring, 2008, S. 341 f). Die Ergebnisse ihrer Forschungen publizierte das Forscher-Ehepaar
immer unter dem Namen beider, weswegen man Céciles Anteil nicht verschweigen oder
schmälern konnte. Sie war eine gleichberechtigte Partnerin und hatte auch oft eine führende Rolle.
Cécile publizierte aufsehenerregende Resultate ihrer Hirnregion-Forschungen, wie die Ursachen
von Bewegungsstörungen (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 341 f; Vogt, 1997, S. 212). Die
Forschungsgebiete der Vogts waren sehr umfangreich. Untersucht wurden neben der
„lokalisatorischen Hirnforschung auch [die Gebiete der] Psychologie, Psychotherapie,
Evolutionsbiologie, Insektensystematik und Genetik [und viele weitere Gebiete] die in den
verschiedenen Abteilungen des KWI für Hirnforschung zwischen 1930 und 1933 bearbeitet
wurden“ (Satzinger, 1996, S. 76).
Cécile legte unter anderem 1927 dar, warum man Frauen zum damaligen Stand der Hirnforschung
von keinem Beruf ausschließen konnte (vgl. von Zahn-Harnack, 1928, S. 153–155). Möbius‘
Behauptung der geistigen Inferiorität der Frau, aufgrund des leichten Gehirns und der minderen
Furchungen, dementierte die Hirnforscherin. Sie argumentierte, dass die architektonische
Felderung der Großhirnrinde ausschlaggebend sei für die Leistungsfähigkeit des Gehirns,
unabhängig von der Größe des Gehirns oder der Furchungen (vgl. Satzinger, 1996, S. 77). Zu
diesem Zeitpunkt hatte die 51-jährige eine Position mit dem formalen und finanziellen Status einer
außerordentlichen Professur (vgl. Satzinger, 1996, S. 76). Cécile Vogt wurde außerdem 1932
Mitglied in der Leopoldina, sechs Jahre nach Lise Meitner und einen Monat vor Marie Curie (vgl.
Vogt, 2003, S. 170). Die Vogts hatten das Ziel wirksame biochemische-pharmakologische
Eingriffsmöglichkeiten in das Gehirn zu finden, um sozial nützliches Verhalten zu fördern und
schlechte Eigenschaften zu hemmen. Im Sinne der Eugenik plädierten sie kurzzeitig für die
Höherzüchtigung des geistigen Menschen (vgl. Satzinger, 1996, S. 76). Bereits 1925 entgegnete
Cécile dem Plädoyer für ‚Die Freigabe der Vernichtung unwerten Lebens’, dass psychiatrische
84
Krankheiten physikalisch oder chemisch therapiert und somit strukturell im Gehirn verändert
werden könnten (vgl. Düweke, 2001, S. 123).
Als die Nationalsozialisten an die Macht kamen, bedeutete dies für die Vogts einen gravierenden
Einbruch in ihr Forscherleben am Institut. 1933 wurde das KWI für Hirnforschung massiv von den
Nazis angegriffen und überfallen (vgl. Vogt, 1997, S. 213). Die herausragenden Wissenschaftler
galten als politische Außenseiter, Pazifisten und ‚Franzosenfreunde‘. Bereits im Ersten Weltkrieg
distanzierten sie sich von der Kriegsbegeisterung und dem radikalen Nationalismus. Das Ehepaar
befürwortete die demokratisch-parlamentarische Republik und die soziale Neuordnung von
1918/19. Cécile bekannte sich zudem öffentlich zu den Zielen der bürgerlichen Frauenbewegung
(vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 342) und zweifelte, wie alle Frauen der bürgerlichen
Frauenbewegung, an der Objektivität naturwissenschaftlicher Aussagen (vgl. Satzinger, 1996, S.
79). Die Vogts mussten sich gegen das ‚Doppelverdienertum’ wehren. Oskar Vogt tat dies indem
er verlautbarte, dass seine Frau von 1899 bis April 1919 ohne Erhalt von Entgelt am Aufbau des
Instituts mitgearbeitet hatte. Das Gehalt, das sie letztlich nach Beschlagnahmung, Versailler
Vertrag und Geldentwertung bezogen hatte, reichte lediglich zur Deckung der privaten Ausgaben.
Von einer Einnahme konnte man hier nicht sprechen (vgl. Vogt, 1997, S. 213).
Nach vielen Auseinandersetzungen und Angriffen wurde Oskar, trotz Vertrag auf eine lebenslange
Anstellung, 1934 entlassen. Als Begründung wurde Emeritierung angegeben. Er war noch bis
1937 als kommissarischer Direktor tätig, dann verließen Cécile und Oskar, mittlerweile 62 und 67
Jahre alt mit der jüngeren Tochter Marguerite 1937 das Institut. Doch dies war nicht das Ende
ihrer Forschungstätigkeit. In Neustadt im Schwarzwald baute sich die Familie Vogt ein neues
privates ‚Institut für Hirnforschung und Allgemeine Biologie’ auf. Die Mittel dafür hatten sie aus
einer für sie geschaffenen privaten Stiftung. Die von ihnen aufgebaute Sammlung von Gehirnen
und Hirnschnitten konnte das Forscherehepaar in ihr neues Institut mitnehmen. Einige
wissenschaftliche Mitarbeiter begleiteten sie. Bis ins hohe Alter arbeiteten und lebten sie dort für
die Hirnforschung (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 342 f; Vogt, 1997, S. 213). 1950 wurde die
Wissenschaftlerin zusammen mit ihrem Ehemann und Kollegen zum Ehrenmitglied der Berliner
Akademie der Wissenschaften in (Ost-)Berlin ernannt und 1955 erhielten sie beide die
Ehrendoktorwürde der Universitäten Freiburg und Jena (vgl. Rürup & Schüring, 2008, S. 344 f;
Vogt, 2003, S. 174). Als eine von wenigen wurde die Hirnforscherin mit einer Briefmarke der
Bundespost geehrt (vgl. Vogt, 1997, S. 214).
Im höheren Alter widmete sich Cécile anderen Pflichten und Aufgaben, darunter der Betreuung
des Archivs der Krankenakten, unüberschaubaren Schnittseriensammlung sowie der
Überwachung des Labors. Auch die Betreuung der Mitarbeiter und der Gäste, die zu Besuch oder
zu Studienaufenthalten am Institut waren, übernahm sie. Außerdem zeichnete sie die Symbole
85
von Windungen und Furchen auf den Aufnahmen von zuvor mikroskopisch zerlegten Gehirnen
ein. Nicht nur wissenschaftliches, sondern auch persönliches hielt sie schriftlich fest (vgl. Vogt,
1997, S. 213 f).
Nachdem ihr Mann Oskar im Juli 1959 starb, zog sich Cécile aus der wissenschaftlichen Arbeit
zurück und zog nach Cambridge zu ihrer Tochter Marthe. Das Forscherehepaar hatte sechs
Jahrzehnte gemeinsam wissenschaftlich gearbeitet. In Neustadt gab es zu viele Erinnerungen an
ihr Forscherdasein mit ihrem Mann. Am 3. Mai 1962 starb sie in Cambridge (vgl. Rürup &
Schüring, 2008, S. 101 und 344; Vogt, 1997, S. 214). Der Biograf der Vogts, Webb Haymaker,
schrieb über Céciles „ausgewogenes Gemüt, ihre Aufmerksamkeitsgabe, ihre Schlagfertigkeit
sowie über ihre Logik und das Lächeln, die keine wirksame Widerlegung ihres Standpunktes
tolerierten, eine seltene Liebenswürdigkeit, die alle dazu brachte, ihr zu Vertrauen“ (Haymaker,
1970, zit. nach Bhattacharyya, 2011, S. 413 f). Igor Klatzo, ein Kollege von Cécile, beschrieb die
liberale Frau mit den humanistischen Idealen als jemanden, der wusste wie man das Leben
verstand und genoss. Er bezeichnete die Frau, die ihn und seine Entwicklung nicht nur
wissenschaftlich beeinflusst hatte, als die intelligenteste Person, die er je kennen gelernt hatte
(vgl. Bhattacharyya, 2011, S. 414).
3.7.1.5. Lise Meitner
An der Universität Berlin grüßten die Mitglieder des Instituts morgens immer ‚Herrn Hahn’ (vgl.
Meitner, 1964, S. 5), nicht aber das ‚Fräulein Doktor’. Anfangs hatte Lise demnach eine
untergeordnete, eher geduldete Position. Die ihr zustehende Anerkennung und der Respekt
blieben ihr am Anfang ihrer Karriere verwehrt. Zu Beginn arbeiteten Meitner und Hahn in einem
improvisierten Labor, einer Holz-Werkstatt im Keller am Institut des Chemikers Emil Fischer.
Dieser gab den beiden die Erlaubnis, dass Lise auch im Labor mitarbeiten und unbezahlt forschen
durfte. Gleichwohl unter der Prämisse, dass sie den Hintereingang des Instituts nahm und sonst
keine Räumlichkeiten im Gebäude betrat, weswegen sie auch die Toilette eines nahe gelegenen
Gasthauses benutzen musste. Diese Einschränkung fiel als Frauen 1908 zum Universitätsstudium
zugelassen wurden. Bis dahin schlich sie sich heimlich in Vorlesungen. Zunehmend, auch
aufgrund der Erfolge des Forscher-Duos, fiel die Skepsis gegenüber Lise Meitner, die bis dahin
oft ignoriert wurde (vgl. Klima, 2019, S. 12; Meitner, 1964, S. 5; Rennert & Traxler, 2018, S. 52 f;
Rife, 1990, S. 62; Vogt, 1997, S. 210). Die beiden entdecken neue radioaktive Substanzen und
entwickelten, in Zusammenarbeit mit Otto von Bayer, das erste magnetische Betaspektrometer
zur Erforschung der Energiespektren der Betastrahlung – für viele Jahre das Hauptarbeitsgebiet
von Lise. Obwohl die beiden eng und viel miteinander im Labor arbeiteten, ist ihr privates
Verhältnis dennoch die ersten zehn Jahre distanziert und formell. Nicht einmal den Schmerz über
den Tod ihres geliebten Vaters im Dezember 1910 teilte sie mit ihm. Es war ein schwerer Schlag
für sie, den sie dennoch für sich behielt (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 54 f).
86
Dankend erinnerte sich Lise später an die außerordentlich stimulierende, intellektuelle
Atmosphäre, die in ihrem Elternhaus immer geherrscht hatte. Über Politik und Weltanschauung
wurde offen diskutiert und eigene Meinungen waren explizit erwünscht. Nicht nur Lise, sondern
auch sechs ihrer sieben Geschwister absolvierten eine höhere Ausbildung in den
unterschiedlichsten Fachbereichen. Religion spielte keine große Rolle in der aufgeklärten Familie.
Lise und vier oder sechs ihrer Geschwister traten später sogar aus der Israelitischen
Kultusgemeinde (IKG) aus. Am 29. September 1908, der Tag ihres Austritts aus der IKG, ließ sich
Lise, im Alter von 29 Jahren, in der evangelischen Pfarrgemeinde in Wien protestantisch taufen.
Die Gründe dafür sind nicht bekannt, könnten aber aufgrund der zeitlichen Abfolge mit dem Suizid
des 9 Jahre jüngeren Bruders Max Anfang 1908 in Zusammenhang stehen. In den Wochen bzw.
Monaten nach seinem Tod, dessen Motive ebenso nicht bekannt sind, traten zumindest drei
weitere Geschwister aus (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 23–25).
Lises privates Leben in Berlin ist generell ein sehr ruhiges. Ernsthafte Liebesbeziehungen sind
nicht bekannt (vgl. Sime, 2001, S. 9). Es gab weder amouröse Affären (vgl. Rennert & Traxler,
2018, S. 55), noch hatte sie ihr „Unverheiratetsein jemals ernsthaft bereut“ (Lemmerich, 2010, S.
71 zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 56). Ihrer Schwester Gisela schrieb sie: „Ich wusste zu
genau, dass ich ein großes Talent hatte, in einer Ehe unglücklich zu werden“ (Lemmerich, 2010,
S. 71 zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 56). Da sie in den ersten Jahren in Berlin ohne eigenem
Einkommen, sondern nur durch die finanzielle Unterstützung der Eltern auskommen musste, lebte
sie sehr bescheiden. Das Geld reichte für das Notwendigste und ganz wichtig für Zigaretten. Mit
dem Tod ihres Vaters wurde die finanzielle Unterstützung ungewiss (vgl. Lemmerich, 2003, S. 27;
Rennert & Traxler, 2018, S. 56). Zudem fühlte sie sich manchmal sehr einsam. Sie schrieb ihrer
langjährigen Freundin Elisabeth Schiemann über ihre sich wiederholenden Sorgen, über ihre
Gefühl ihrer Ausnahmestellung und dem Egoismus ihrer Lebensweise, da sie niemandem nützte
und vogelfrei war (vgl. Lemmerich, 2003, S. 31). Dieses Gefühl verminderte sich durch den
beruflichen Erfolg 1912 (vgl. Lemmerich, 2010, S. 22 zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 57). Sie
publizierte etliche Arbeiten mit Otto Hahn, aber auch mit anderen wie beispielsweise 1911 mit
James Franck. Alleine in den Jahren 1912 und 1913 verfasste sie mit Hahn sieben Arbeiten (vgl.
Rife, 1990, S. 94 f).
Die Assistentenstelle bei Max Planck war ein wichtiger Wendepunkt und Schritt in Meitners
Karriere. 1912 wurde sie nicht nur seine erste Assistentin, sondern generell die erste Frau in solch
einer Stellung an der preußischen Universität. Zudem wurde sie nun finanziell für ihre Arbeit
entlohnt (vgl. Meitner, 1964, S. 4; Rennert & Traxler, 2018, S. 56; Sime, 2001, S. 68; Vogt, 1997,
S. 210). Otto Hahn erhielt im KWI für Chemie, welches im Oktober 1912 eröffnet wurde, eine
kleine Abteilung. Lise forschte dort vorerst als unbezahlter Gast, bis sie 1913 zum Mitglied ernannt
87
wurde. Formal stand sie dadurch mit Hahn auf einer Stufe, wenngleich sie weniger verdiente.
Neben ihrer Forschungstätigkeit übernahm sie auch Verwaltungsaufgaben. Die Abteilung für
Radioaktivität wurde zum Laboratorium Hahn-Meitner (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 57 f; Rife,
1990, S. 98–100 und 106). Als Lises ehemaliger Praktikumsbetreuer Anton Lampa ihr eine
Dozentinnenstelle an der Prager Universität anbot, mit Aussicht auf eine Professur, zog sie dies
ernsthaft in Erwägung. Durch diese Anerkennung ihrer Leistungen beschloss Fischer, eventuell
auf Anraten von Max Planck, Meitners Gehalt anzuheben. Ihre befristete Anstellung wurde mit der
von Otto Hahn auf unbegrenzte Zeit verlängert und sie wurde zum vollbezahlten
wissenschaftlichen Mitglied (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 59 f; Rife, 1990, S. 109; Sime, 2001,
S. 76).
Privat hatte sich Lise in Berlin einen beachtlichen Freundeskreis, unter anderem bestehend aus
zahlreichen bedeutenden Physikern und Chemikern, aufgebaut. Darunter die
Wissenschaftlerinnen Elisabeth Schiemann, die am Botanischen Institut arbeitete und sogar
Vorlesungen in Biologie hielt und die schwedische Wissenschaftlerin Eva von Bahr-Bergius. Ihr
Lebensmittelpunkt war von da an Berlin, dennoch blieb ihre Bindung zu Österreich stark. Die
Aufenthalte in ihrer Heimat nutzte sie für lange Spaziergänge oder Bergtouren. Im Frühjahr 1913
war sie zu Besuch in Wien und verbrachte viel Zeit mit ihrem achtjährigen Neffen Otto Robert
Frisch. Was keiner zu diesem Zeitpunkt ahnte: er wurde später ein herausragender
Wissenschaftler. Mit ihm gemeinsam gelang ihr ihre wichtigste wissenschaftliche Entdeckung (vgl.
Rennert & Traxler, 2018, S. 60 f; Rife, 1990, S. 106).
Als 1914 der erste Weltkrieg begann und die Welt ins Wanken geriet, veränderte sich auch Lises
Leben grundlegend. Von den politischen Umbrüchen erwartete sie sich eine Verbündung
Österreichs mit Deutschland. Sie berichtete Schiemann über die Österreicher, die voller
Begeisterung in den Krieg zogen, über ein großes Vertrauen in die deutschen Kampfgenossen
und über ihre Freude darüber, weil sie mit einem Teil ihres Herzens schon zu den deutschen
gehörte (vgl. Lemmerich, 2010, S. 33 f zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 63). In einem Brief an
eine befreundete schwedische Physikerin schrieb sie über die Erhabenheit und den Aufstieg der
deutschen Rasse (vgl. Lemmerich, 2010, S. 37 zit. n. Rennert & Traxler, 2018, S. 65). Doch genau
diese menschenverachtenden, rassistischen Aussagen brachten sie zwanzig Jahre später fast
um alles. Dreißig Jahre nach diesen Aussagen verändert sie ihre Ansicht ins vollkommene
Gegenteil. Die Universitäten wurden teilweise in den Dienst des Krieges gestellt. Lise wollte
helfen, erhielt jedoch nur Absagen. Da auch Otto Hahn in den Krieg zog, führte Lise die
wissenschaftliche Arbeit alleine weiter. In ihren Briefen berichtete sie ihm über ihre Experimente.
Sie stellte Ende 1914 mit Otto von Baeyer eine Arbeit über Betastrahlen und eine über Radiothor
fertig (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 62–66). Außerdem wurde sie 1914 Leiterin der
physikalisch-radioaktiven Abteilung und war ab 1914 als erste Frau wissenschaftliches Mitglied
88
der KWG (vgl. Vogt, 1997, S. 210, 2003, S. 174). Dort nahm sie eine herausragende Stellung ein
(vgl. Vogt, 1997, S. 212).
Im Sommer 1915 erhielt sie dann doch noch die Möglichkeit, ihren Beitrag zum Krieg zu leisten
und trat ihren Dienst als Röntgenschwester in der österreichischen Armee an. Bevor das
Röntgenzimmer genutzt werden konnte, half sie im Operationssaal. Freie Zeit blieb ihr keine in
Lemberg, heute Lvov in der Ukraine. Von früh bis spät operierte sie und legte Verbände an (vgl.
Rennert & Traxler, 2018, S. 71; Sime, 2001, S. 84). „Der Anblick der vielen Schwerstverletzten [...
ließ] ihre Kriegseuphorie schon innerhalb weniger Tage schwinden“ (Rennert & Traxler, 2018, S.
71). Als sie Ende August/Anfang September zu Besuch in Wien war und das Radiuminstitut betrat,
bekam sie Sehnsucht nach der Physik. Lise fertigte über 200 Röntgenaufnahmen an (vgl. Rennert
& Traxler, 2018, S. 72). Nachdem ihr immer mehr Zweifel über die Bedeutung ihrer Arbeit in
Lemberg aufkamen und der Direktor des KWI den Tätigkeitsbericht 1914/15 für ihr Labor forderte,
suchte sie im Januar 1916 um ihre Entlassung aus der Armee an. Dennoch wollte sie weiter als
Röntgenschwester arbeiten, jedoch an einem Ort, wo es mehr Arbeit für sie gab. Nach
monatelangem Warten wurde sie am 5. Juni nach Trient und am 1. Juli nach Lublin geschickt, um
dort als Röntgenschwester tätig zu sein. An beiden Orten waren die Situationen, wie in Lemberg,
unbefriedigend für sie, sie hatte wenig Arbeit und fühlt sich nicht nützlich (vgl. Rennert & Traxler,
2018, S. 74 f).
Anfang Oktober kehrte sie nach Dahlem an ihr Institut zurück und kämpfte darum, nicht mit der
chemischen Abteilung zusammen gelegt zu werden. Langsam macht sich eine zunehmende
Ablehnung des Kriegs bei Lise bemerkbar (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 75; Sime, 2001, S.
88). Wie viele andere Frauen profitierte aber auch Meitner vom Krieg. Von Männern verlassene
Arbeitsplätze wurden von Frauen übernommen (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 76). 1917 wurde
sie vom Verwaltungsrat des KWI für Chemie mit der Einrichtung der physikalischen Abteilung
betraut (vgl. Vogt, 1997, S. 211). Für diese Möglichkeit war sie Max Planck Jahre später sehr
dankbar (vgl. Meitner, 1964, S. 5). Durch die Aufspaltung des Labors Hahn-Meitner erhielt sie ihre
eigene Abteilung, das Labor Meitner. Neben einer stärkeren Position brachte dies auch mehr
Gehalt (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 76; Sime, 2001, S. 90). Während der Kriegszeit kam es
öfter vor, dass Lise mehrere Wochen nichts von Hahn hörte, woraufhin sie ihm deswegen
vorwurfsvoll schrieb. Durch Hahns Stellung beim Militär konnte er seine periodischen Urlaube von
der Front mit Lises dienstfreien Zeiten in den Jahren 1915 bis 1917 abstimmen, um an
radiochemischen-radiophysikalischen Versuchen am KWI in Dahlem zu arbeiten (vgl. Meitner,
1964, S. 6; Rennert & Traxler, 2018, S. 76 f). Sie führte ihre gemeinsame Arbeit, die Suche nach
der Muttersubstanz des Actiniums, weiter und weihte den Chemiker Friedrich Giesel ein. Hilfe
erhielt sie zudem von Stefan Meyer aus Wien, der ihr Material besorgte, den sie jedoch nicht
einweihte. Nach fünf Jahren gelang es Meitner endlich das Element mit der Ordnungszahl 91
89
aufzuspüren (vgl. Meitner, 1964, S. 6; Rennert & Traxler, 2018, S. 77; Sime, 2001, S. 90 und 93).
Am 16. März 1918 erscheint die Arbeit über ‚Die Muttersubstanz des Actiniums, ein neues
radioaktives Element von langer Lebensdauer’ in der Physikalischen Zeitschrift mit Otto Hahn als
Erstautor, obwohl Meitner die Arbeit fast gänzlich allein durchgeführt hatte (vgl. Hahn & Meitner,
1918; Sime, 2001, S. 96). Zur gleichen Zeit gelang Soddy und Cranston in Glasgow ebenso die
Isolation der Muttersubstanz von Actinium. Da Meitner und Hahns Arbeit aber detaillierter war und
sie mehr isoliert hatten, wurde ihnen die Entdeckung zugeschrieben. Sie nannten das chemische
Element Nr. 91 ‚Protactinium’. Eine Benennung nach sich selbst lehnte Meitner ab. International
wurde ihr Andenken von der Forschergemeinschaft hochgehalten, indem zu ihren Ehren postum
im Jahr 1997, das chemische Element mit der Ordnungszahl 109 als ‚Mt‘ für Meitnerium benannt
wurde (vgl. Klima, 2019, S. 14; Rennert & Traxler, 2018, S. 77 f; Rife, 1990, S. 130).
Mit 1918 war der Erste Weltkrieg für Österreich und Deutschland verloren. Im Herbst erzählt Lise
ihrer Freundin Schiemann über mehrere anregende wissenschaftliche Gespräche mit Einstein,
der ihr eine Zusammenarbeit angeboten hatte. Da er mit seiner Annahme jedoch daneben lag,
war die Zusammenarbeit vorbei, bevor sie wirklich beginnen konnte (vgl. Rennert & Traxler, 2018,
S. 79; Rife, 1990, S. 128). Die Wertschätzung und Bewunderung von Meitner und Einstein beruhte
auf Gegenseitigkeit. Albert Einstein bezeichnete sie als ‚unsere Madame Curie’ oder ‚deutsche
Madame Curie’ (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 8 f; Klima, 2019, S. 12; Rennert & Traxler,
2018, S. 79; Vogt, 1997, S. 210 f). Durch die Weimarer Republik schafften es immer mehr Frauen
in höhere akademische Positionen. Dank eines Antrags von Planck und Nernst erhielt auch Lise
endlich die ihr gebührende Anerkennung für ihre wissenschaftliche Leistungen. Am 31. Juli 1919
wurde ihr als eine der ersten Frauen in Deutschland und als erste Frau in Berlin der
Professorentitel vom Wissenschaftsministerium verliehen (vgl. Klima, 2019, S. 12; Rennert &
Traxler, 2018, S. 81 f; Vogt, 1997, S. 211). Der Professorentitel war jedoch an keine
Lehrberechtigung geknüpft, diese erhielt sie erst drei Jahre später (vgl. Rennert & Traxler, 2018,
S. 82). 1922 war sie die erste Frau, die in Berlin habilitieren durfte (vgl. Klima, 2019, S. 12) und
die erste habilitierte Physikerin Deutschlands (vgl. Cholodnicki, 2014). Dank der
Überzeugungskraft ihres Kollegen und Freundes Max von Laue, musste Lise keine
Habilitationsschrift anfertigen (vgl. Duchardt & Bossmann, 2019, S. 11). Das Thema ihrer Arbeiten
für ihre Habilitation war ‚Entstehung der Beta-Strahl-Spektren radioaktiver Substanzen’. Aufgrund
ihrer herausragenden Leistungen wurden ihr bei ihrer Habilitierung die Probevorlesung und das
Kolloquium von den Kommissionsmitgliedern erlassen (vgl. Vogt, 1997, S. 210 f). Sie musste
lediglich im Sommer 1922 eine öffentliche Antrittsvorlesung halten. Der Titel ‚Bedeutung der
Radioaktivität für kosmische Prozesse’ wird von einem Journalisten als ‚kosmetische Prozesse’
veröffentlicht, worüber sich Lise noch Jahre später amüsierte. Die ‚Venia legendi’ verpflichtete
Meitner zur Abhaltung einer Vorlesung in jedem Semester. Dies tat sie 10 Jahre lang voller
Enthusiasmus (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 82; Rife, 1990, S. 141 f). Um neue Erkenntnisse
90
über den Aufbau der Atome zu erlangen, beschäftigte sich Meitner mit dem Beta- und
Gammazerfall. Diese Arbeiten sicherten ihr einen Platz im erlesenen Kreis von Vordenkern der
neuen Physik. Doch der Antisemitismus warf einen Schatten über die Erfolge der deutschen
Forscherinnen und Forscher. Vor allem Einstein kämpfte mit antisemitischen Anfeindungen (vgl.
Rennert & Traxler, 2018, S. 83–85).
Allmählich stieg Meitners Bekanntheitsgrad auch international. Der Einladung vom schwedischen
Physiker Siegbahn folgend, hielt sie ab April 1921 einen Monat lang in Lund eine Vorlesung und
gab ein Praktikum über Radioaktivität. Immer häufiger gelang es ihr, aufgrund der steigenden
Anerkennung durch ihre Fachkollegen, ihre Schüchternheit zu überwinden. Zu Siegbahns
Assistenten Coster und dessen Frau baute sie eine herzliche Beziehung auf, die eineinhalb
Jahrzehnte später eine lebensentscheidende Rolle für sie spielte. Ihre Reise führte sie im Sommer
weiter nach Kopenhagen, wo sie von Niels Bohr eingeladen wurde, einen Vortrag über Beta- und
Gammastrahlung zu halten. Dort kultivierte sie eine Jahrzehnte währende Freundschaft mit Niels
und Margarete Bohr. Zwischenzeitlich war sie zurück in Berlin und begann im Mai, die in Lund
gewonnenen Einsichten für ihre Betastrahlen-Analysen einzusetzen. Sie versuchte zu beweisen,
dass Gammastrahlen aus Betastrahlen resultieren. Die englischen Kollegen Chadwick und Ellis
waren gegenteiliger Ansicht und wendeten sich an Hahn, als wäre Meitner nach wie vor seine
Mitarbeiterin. Lise beklagte sich bei Hahn, da die englischen Kollegen ihre Arbeit offensichtlich
nicht einmal eingehend gelesen hatten, was sie auf ihr Geschlecht zurückführte. Letztlich hatten
sowohl Ellis als auch Meitner teilweise recht (vgl. Meitner, 1964, S. 7; Rennert & Traxler, 2018, S.
86 f; Rife, 1990, S. 134–136).
Im Oktober 1925 reichte Meitner ihren Artikel über ‚Die γ-Strahlung der Actiniumreihe und der
Nachweis, daß [sic!] die γ-Strahlen erst nach erfolgtem Atomzerfall emittiert werden‘ ein (vgl.
Meitner, 1925). Ellis kam zu ähnlichen Ergebnissen und bestätigte Meitners Resultate. Sie
eroberte sich damit einen Platz unter den führenden Experimentalphysikern ihrer Zeit (vgl. Sime,
2001, S. 124 f). Für ihre Beiträge zum Betaspektrum erhielt Meitner 1924 die Silberne (zweiter
Platz) Leibniz-Medaille der Preußischen Akademie der Wissenschaften und 1925 den Ignaz-
Lieben-Preis der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (vgl. Rife, 1990, S. 155; vgl.
Sexl & Hardy, 2002, S. 68–70; Sime, 2001, S. 145). Zudem wurde Meitner von 1924 bis 1965
ganze 48 Mal für den Nobelpreis in Physik und Chemie nominiert, unter anderem von ihrem
Langzeitkonkurrent Fajans, der sie 1925 gemeinsam mit Hahn für den Chemie-Nobelpreis
vorschlägt (vgl. NobelPrize.org, 2020b). Da Nominierungen erst nach 50 Jahren enthüllt werden,
wusste Meitner vermutlich nichts davon (vgl. NobelPrize.org, 2020a). Als sie 1926 zur ersten
nichtbeamteten außerordentlichen Professorin für Physik an der Berliner Universität berufen
wurde, hielt sie Vorlesungen über ausgewählte Fragen der Radioaktivität und der Atomphysik (vgl.
Cholodnicki, 2014; Vogt, 1997, S. 210 f) und wurde zum Vorbild, sowohl für Studentinnen und
91
Studenten an der Universität, als auch am KWI (vgl. Rife, 1990, S. 143). Lehrstuhl erhielt sie
keinen. Die Beschränkungen, die sie aufgrund ihres Geschlechts hatte, nahm sie einfach hin und
konzentrierte all ihre Energie in ihre wissenschaftliche Arbeit (vgl. Klima, 2019, S. 12). Von 1922
bis 1925 fasste sie ihre Ergebnisse über Radioaktivität und Atomkonstitution in sechzehn Arbeiten
zusammen (vgl. Rife, 1990, S. 142 f). 1926 wurde sie zudem Mitglied in der Leopoldina, sechs
Jahre vor Cécile Vogt und Marie Curie (vgl. Vogt, 2003, S. 170).
Obwohl sie lange Zeit eine sichtbare Ausnahmeerscheinung der Wissenschaftlerinnen war und
sie über die raue Wirklichkeit trotz zunehmender Liberalisierungsbestrebungen für Frauen wusste
(vgl. Rife, 1990, S. 153), stand auch sie Frauen in der Wissenschaft kritisch gegenüber. Meitners
Ansichten über weibliche Schülerinnen beziehungsweise Mitarbeiterinnen änderten sich jedoch
im Laufe der Zeit. Aus einem Brief, den sie 1930 an Otto Hahn schrieb, geht hervor, dass sie
Bedenken hätte eine weibliche Schülerin von Schonland aus Capetown für zwei Jahre bei sich
arbeiten zu lassen. Sie schrieb, sie hätte allerhand Bedenken gegenüber der weiblichen Schülerin,
da diese vermutlich ohnehin nichts von Radioaktivität verstünde. Andererseits verteidigte sie 1933
eine Mitarbeiterin gegenüber einem Kollegen. Aus weiblichem Klassengefühl heraus fragte sie
den Kollegen, ob dieser nicht etwas ungerecht handle. Auch von diesem Ereignis berichtete sie
Otto Hahn in einem Brief (vgl. Vogt, 1997, S. 210 f). In ihren Fünfzigern entwickelt sie ein, wie sie
es selbst bezeichnet, ‚weibliches Klassengefühl’. Sie selbst war in Deutschland zu Beginn ihrer
Karriere mit einer ablehnenden Stimmung gegenüber Frauen in akademischen Berufen
konfrontiert. Frauenfeindliche Schriften zu widerlegen, kam ihr jedoch nicht in den Sinn, da sie
diese gar nicht ernst nahm. Diesen Irrtum erkannte sie später und entwickelte besonders im
schwedischen Exil ein Gefühl der Solidarität. Ihr entwickeltes feministisches Bewusstsein ließ sie
sogar als Vortragende bei Veranstaltungen von Frauenorganisationen auftreten. Die Leistungen
der Frauenbewegung, die auch Einfluss auf sie hatten, honorierte sie sehr offen (vgl. Rennert &
Traxler, 2018, S. 190 f).
Abseits der Wissenschaft gab es für Lise in den 1920er Jahren einige Veränderungen. Das
Verhältnis zwischen Meitner und Hahn wurde immer persönlicher, sie wurde sogar die Patin von
Hahns Sohn. Das ‚Sie’ wurde durch das ‚Du’ ersetzt und in Briefen nannte sie Hahn häufig ‚Liebes
Hähnchen’. Wirtschaftlich kämpft die Weimarer Republik mit einer Hyperinflation. Lise fuhr öfter
und länger nach Wien, hauptsächlich aufgrund des schlechter werdenden Gesundheitszustandes
ihrer Mutter Hedwig, die letztlich im Dezember 1922 an den Folgen von Krebs starb. Ab 1927
arbeitete ihr Neffe Otto Robert Frisch ebenso in Berlin. Wie seine Tante hatte er an der Wiener
Universität Physik studiert. Die beiden aßen abends oft gemeinsam, besuchten Konzerte oder
spielten Klavier. Ihre berufliche Stellung und ihren Einfluss konnte sie kontinuierlich verbessern.
Nach einer beträchtlichen Gehaltserhöhung konnte sie sich schließlich 1931 eine geräumige
Wohnung in der Direktorenvilla des KWI leisten und ihre Zeit als Untermieterin in kleinen
92
Apartments beenden. Die Hausarbeiten und das Kochen übernahm eine Haushaltshilfe, die ihr
besonders wichtig war. Obwohl Lise immer geselliger wurde, genoss sie auch zeitweiliges
Alleinsein (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 89–93; Rife, 1990, S. 152 f und 159). Die Zeit ihres
Lebens als zurückhaltend geltende Frau hatte dennoch auch selbstsichere und lockere
Augenblicke, vor allem im Kreis ihrer Kollegen, wo sie sich wohl fühlte. Sie war Teil dieser
Wissenschaftlergeneration. Ihre Arbeiten brachten ihr Anerkennung und Ruhm (vgl. Rife, 1990,
S. 146 f). Immer öfter kümmerte sie sich auch um die persönlichen und nicht mehr nur um die
wissenschaftlichen Probleme ihre Kollegen und Mitarbeiter (vgl. Rife, 1990, S. 159). Die Arbeit am
Institut beschrieb Lise, umgeben von Doktoranden und Mitarbeitern, als eine höchst anregende
Zeit. Keiner wollte die persönliche und berufliche Gemeinschaft durch unterschiedliche politische
Ansichten zerstört wissen (vgl. Klima, 2019, S. 12).
Dem ‚Schwarzen Freitag’ im Oktober 1929, der die Weltwirtschaftskrise einleitete, folgten
Arbeitslosigkeit, politische Krisen und Hoffnungslosigkeit. Als Adolf Hitler 1933 die Macht ergriff,
wurde ihr von der nationalsozialistischen antisemitischen Politik der Titel und die
Lehrberechtigung aberkannt. Begründung dafür war das sogenannte ‚Gesetz zur
Wiederherstellung des Berufsbeamtentums’ (vgl. Klima, 2019, S. 13; Rife, 1990, S. 187; Vogt,
1997, S. 211). Plötzlich galt Lise als Jüdin aus Österreich, deren wissenschaftliche Reputation sie
nicht mehr schützte vor den „Sturmwolken der Nazis [, die] das Leben in Berlin verdunkelten“ wie
Rife (1990, S. 167) schrieb (vgl. Rife, 1990, S. 167). Aufgrund der Tatsache, dass sie
Österreicherin war und sich sowohl Otto Hahn als auch Max Planck persönlich für sie einsetzten,
durfte sie am Institut bleiben und weiterarbeiten (vgl. Klima, 2019, S. 13; Rennert & Traxler, 2018,
S. 104 f; Rife, 1990, S. 187–190; Vogt, 1997, S. 211). Sie durfte jedoch weder öffentliche Vorträge
halten noch das wöchentliche physikalische Kolloquium besuchen. Sie versuchte sich, soweit es
ging, von den politischen Entwicklungen abzuschirmen und fokussierte sich auf ihre Arbeit. Nach
einer Entdeckung des italienischen Physikers Enrico Fermi nahmen Hahn und Meitner ihre seit
mehreren Jahren unterbrochene direkte Zusammenarbeit 1934 wieder auf, um sich dem von
Fermi aufgeworfenen Problem der Transurane zu widmen. Dem Team Meitner-Hahn schloss sich
nach einiger Zeit Fritz Straßmann an. Gemeinsam veröffentlichten sie in den Jahren 1935 und
1936 acht Arbeiten zu ihrer Transuranforschung (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 107 f; Rife, 1990,
S. 212 und 221). Außerdem verfasste sie ihr erstes und einziges Buch mit ihrem Assistenten Max
Delbrück als Koautor. ‚Der Aufbau der Atomkerne, natürliche und künstliche Kernumwandlungen’
wurde 1935 veröffentlicht (vgl. Meitner & Delbrück, 1935).
Um sie zu schützen, schlugen Forscherkollegen sie 1936 abermals für einen Nobelpreis vor.
Leider ohne Erfolg. Im März 1938 durch den ‚Anschluss‘ Österreichs wurde Lise Meitner plötzlich
zur ‚Deutschen’. Als Jüdin war ihr Leben bedroht (vgl. Klima, 2019, S. 13; Vogt, 1997, S. 211).
Viele ihrer Kollegen und Freunde schickten Einladungen zu wissenschaftlichen Veranstaltungen,
93
die ihr einen unverdächtigen Grund für die Ausreise bieten sollten und bemühten sich vergebens,
sie zur Emigration zu bewegen. Erst im Mai, nachdem die Lage für sie immer prekärer wurde und
ihr keine andere Wahl mehr blieb, fasste sie den Entschluss, das Land zu verlassen. Da ihr
österreichischer Reisepass durch den ‚Anschluss’ wertlos geworden war, verweigerte ihr
Dänemark die Einreise (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 119 f; Sime, 2001, S. 240 f und 244 f).
Die Situation spitzte sich zu. Sie war Teil der wissenschaftlichen Elite und konnte nicht glauben,
dass es in Berlin keine Zukunft für sie gab. Rückblickend bereute sie, Deutschland nicht früher
verlassen zu haben. Mehrere Kollegen und Freunde planten ihre Ausreise, allen voran Coster.
Zudem waren Hahn, Laue, Bohr, Fokker, Rosbaud und Debye involviert. Damit niemand Verdacht
schöpfte, arbeitete Meitner am 12. Juli noch bis acht Uhr abends am KWI (vgl. Rennert & Traxler,
2018, S. 124–129; Sime, 2001, S. 250–261). Danach hatte die 60-jährige neunzig Minuten Zeit,
um ihren Koffer zu packen und zu fliehen. Otto Hahn gab Lise den Brillantring seiner verstorbenen
Mutter für Notfälle mit. Freunde und Kollegen halfen ihr bei ihrer Flucht über die Niederlande und
Dänemark, wo sie bei Coster Unterschlupf fand und auf das Einreisevisum nach Schweden
wartete (vgl. Klima, 2019, S. 13; Rennert & Traxler, 2018, S. 124–126; Rife, 1990, S. 249; Vogt,
1997, S. 211). Ende Juli erhielt Meitner das Einreisevisum nach Schweden. Mithilfe ihrer Freunde
und Kollegen bekam sie am Nobelinstitut für Physik in Stockholm ab Herbst eine Stelle bei Manne
Siegbahn (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 129; Sime, 2001, S. 265).
Doch Lise, nun Emigrantin, erhielt bis 1946 nur untergeordnete Stellungen und wurde so
ungerechtfertigterweise zur Mitarbeiterin Otto Hahns degradiert. In einem Brief an ihren Freund
Hahn protestierte sie gegen diese Degradierung. Nachdem sie 21 Jahre das Institut geleitet hatte,
war sie nun bloß Mitarbeiterin eines Kollegen. Es war nicht fair, dass man ihr ihre
wissenschaftliche Vergangenheit nahm (vgl. Vogt, 1997, S. 211). Sie litt schwer darunter, von den
ihr so wichtigen Forschungen abgeschnitten zu sein (vgl. Klima, 2019, S. 13). Auch ihr Neffe Otto
Robert Frisch hatte schon Jahre zuvor seine Koffer gepackt und arbeitete ab 1934 in Kopenhagen
bei Nils Bohr (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 100 f). Doch Lise war auch um ihre Geschwister
besorgt, von denen drei Schwestern noch mit ihren Ehemännern in Wien waren. Eine Schwester
und ein Bruder verließen Österreich Anfang und Mitte 1938 (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 133
f). Auch die Arbeit am Nobelinstitut für Physik konnte sie nicht großartig ablenken. Sie war
enttäuscht über die Forschungsbedingungen, die unvergleichlich schlechter als in Berlin waren.
Es gab kaum Apparate oder Literatur und Lise erhielt lediglich ein Durchgangszimmer. Hahn
schickte ihr regelmäßig die neuesten Ergebnisse ihrer Forschung, die er mit Straßmann indes
weiterführte. Dringender als je zuvor hätte sie die erfüllende Arbeit gebraucht. Für sie war es nur
schwer erträglich, so fern vom wissenschaftlichen Geschehen zu sein. Auch Meitners Sozialleben
war zu Anfang gehemmt, nicht aufgrund ihrer Schüchternheit, sondern aufgrund der sprachlichen
Barriere. Mit dem Theoretiker und Physiker Oskar Klein und dessen Frau Gerda konnte sie im
Laufe der Zeit eine enge Freundschaft aufbauen. Anlässlich Lises sechzigstem Geburtstag
94
organisierte ihr Neffe Otto Robert Frisch mit dem Ehepaar Klein einen Geburtstagstee mit
Bekannten, worüber sich Lise, obwohl sie nicht feiern wollte, dennoch freute. Glückwünsche aus
aller Welt trafen ein (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 137–139).
In einem Brief vom Dezember 1938 berichtet Hahn über die unverständlichen Ergebnisse eines
Experiments. Besorgt über die Resultate diskutierte Lise diese mit ihrem Neffen bei einem
Spaziergang. Da kam ihr plötzlich Einsteins Energieformel von 1905 in den Sinn, wodurch sie die
Erklärung für das Experiment und dessen Ausgang hatte. Sie berichtet Hahn über den
wissenschaftlichen Durchbruch, der jedoch ihre komplette Arbeit der letzten Jahre in Berlin zu den
Transuranen zunichtemachte. Während der Veröffentlichung kam es zwischen Hahn und Meitner
zu Missverständnissen, die sich als Schatten über ihre Freundschaft legten. Der Atomphysiker
Frisch unterbreitete Meitners Hypothese, dass die ‚verlorengegangene’ Masse bei der
Uranspaltung die freigesetzte Energie sei, seinem Professor Niels Bohr in Kopenhagen. Frisch
bestätigte die Annahme von Lise experimentell. In der am 18. Februar 1939 in der Zeitschrift
‚Nature’ publizierten Arbeit von Meitner und Frisch verwendeten sie den Terminus Kernspaltung,
der auf Frisch zurückgeht. Mit den Folgen dieser Erkenntnis haderte Lise später. Frisch nahm
dieses neue Forschungsergebnis mit nach Amerika, das vielen Menschen zum Verhängnis wurde.
Otto Robert Frisch war unmittelbar am Bau der Atombombe beteiligt, während seine Tante Lise
es ausgeschlagen hatte, beim Bau der Bomben, die im August 1945 auf Hiroshima und Nagasaki
abgeworfen wurden, mitzuarbeiten. Trotzdem erreichte Lise Meitner in Amerika und der ganzen
Welt einen hohen Bekanntheitsgrad, aber auch den zweifelhaften Ruf als ‚Mutter der Atombombe’.
Für den Rest ihres Lebens bedauerte sie ihren theoretischen Beitrag zur Vernichtung
hunderttausender Menschen und hoffte auf eine friedliche Nutzung der Atomenergie (vgl. Frisch,
1939; Klima, 2019, S. 14; Meitner & Frisch, 1939; Rennert & Traxler, 2018, S. 143–154 und 166;
Rife, 1990, S. 267–276 und 319). 1944 bekam Otto Hahn den Nobelpreis für Chemie "for his
discovery of the fission of heavy nuclei" (NobelPrize.org, 2020c).
Im Frühjahr 1939 konnte Lise aufatmen. Alle nahen Familienmitglieder waren der Bedrohung
durch die Nationalsozialisten in Deutschland entkommen. Ihre Schwester Gusti und deren
Ehemann Jutz, die Eltern von Otto Robert Frisch, erhielten gültige Papiere für die Einreise nach
Schweden. Sie zogen gemeinsam mit Lise in eine geräumige Wohnung. Im Mai erhielt Lise
schließlich einen Großteil ihres Eigentums, der von den Behörden in Deutschland zur Ausfuhr
freigegeben wurde. Dennoch war die Enttäuschung groß, da trotz der Bemühungen von
Schiemann und Hahn etliche Gegenstände entweder beschädigt waren oder gar fehlten (vgl.
Rennert & Traxler, 2018, S. 158 f). Der Herbst 1939 brachte mit dem Beginn des zweiten
Weltkriegs abermals Sorgen für Lise und ihre Geschwister. Meitner wurde immer öfter persönlich
um Hilfe gebeten. Sie fungierte als Verbindungsperson und half direkt bei der Rettung von
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Menschenleben. Lichtblicke boten ihr 1943 die Besuche von Max von der Laue und Otto Hahn im
Zuge von Vortragsreisen nach Schweden (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 162 f).
Im Wintersemester 1945/46 folgte sie freudig einer Einladung des österreichischen Physikers Karl
Herzfeld, vermittelt durch ihren Schwager Rudolf Allers, der sie als Gastprofessorin an die
katholische Universität von Washington D. C. einlud. Abgesehen davon hielt sie in den sechs
Monaten in Amerika auch an vielen anderen Universitäten Vorlesungen, darunter Harvard,
Princeton und dem MIT. Dadurch hatte sie die Gelegenheit, Freundinnen und Freunde sowie
Verwandte wieder zu treffen, die sie teilweise seit mehreren Jahren nicht gesehen hatte. Im Zuge
dessen ernannte sie der Women’s National Press Club zur ‚Woman of the Year’. Eine Hollywood-
Verfilmung über ihr Leben lehnte sie voller Entsetzen ab. Eine Einladung von Präsident Truman
zum feierlichen Bankett im Weißen Haus nahm sie gerne an. Während ihres Aufenthalts in
Amerika beschloss sie, die schwedische Staatsbürgerschaft zu beantragen, da sie festgestellt
hatte, dass das Leben in Schweden durchaus positive Aspekte bot, unter anderem die vielen
Freundschaften (vgl. Klima, 2019, S. 14; Rennert & Traxler, 2018, S. 179; Rife, 1990, S. 319–
324).
Auch sieben Jahre nach ihrer Flucht strebte sie Anerkennung und eine angemessene Stellung an.
Dadurch stellte die international renommierte Kernphysikerin eine Bedrohung für ihren
Vorgesetzten Siegbahn dar. Es gelang ihr, in Schweden ein neues Netzwerk aufzubauen, zu dem
Wissenschaftler wie Klein und Pettersson gehörten, die Siegbahns Dominanz in Schweden
kritisierten. Bohr und Klein bemühten sich, Meitners Beitrag zur Entdeckung der Kernspaltung
offen zu legen. Meitner wurde wieder etliche Male für den Nobelpreis nominiert, jedoch ohne
Erfolg. Siegbahn war bis 1957 Vorsitzender des Nobelkomitees für Physik und wollte vermutlich
den kometenhaften Aufstieg Meitners durch einen Nobelpreis verhindern. 1947 bekam Meitner
eine kleine Forschungseinheit für Kernphysik an der Königlich Technischen Hochschule
Stockholm und konnte so die belastenden Jahre unter Siegbahn hinter sich lassen (vgl. Rennert
& Traxler, 2018, S. 179–183; Sime, 2001, S. 372 und 448). Ende 1947 hatte Meitner die
Möglichkeit die Leitung des Max-Planck-Instituts für Chemie zu übernehmen, lehnte das Angebot
von Straßmann jedoch aufgrund ihrer Bedenken gegenüber der geistigen Mentalität in
Deutschland ab (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 185). In Deutschland wollte sie nicht mehr
arbeiten, akzeptierte aber den Verdienstorden der Bundesrepublik (vgl. Klima, 2019, S. 14).
Nach dem Krieg wurden ihr in Österreich und Deutschland viele Auszeichnungen und Ehrungen
zu Teil: 1949 erhielt sie, gemeinsam mit Hahn, die Max-Planck-Medaille und 1955 war sie die
erste Frau, die den Otto-Hahn-Preis überreicht bekam. Es folgten 1960 die Wilhelm-Exner-
Medaille und zwei Jahre darauf Dorothea-Schlözer-Medaille der Stadt Göttingen (Sime, 2001, S.
473). Über die Ernennung zum auswärtigen Mitglied der Royal Society in London 1951 freute sich
96
Meitner sehr. In Österreich erhält sie 1947 den Preis der Stadt Wien für Kunst, Wissenschaft und
Volksbildung sowie mehrere Ehrendoktorate und wurde Mitglied etlicher Gelehrtengesellschaften,
unter anderem wurde sie 1948 als erste Frau korrespondierendes Mitglied der Akademie der
Wissenschaften. Jedoch setzte sich niemand dafür ein, die Strahlenforscherin zum Heimkehren
zu bewegen. Als sie 1963 für einen Vortrag eingeladen wurde, dufte sie diesen nicht einmal an
der Universität halten, sondern lediglich in einem Volksbildungshaus. Dennoch hielt sie an ihrer
österreichischen Staatsbürgerschaft fest und nahm die schwedische Staatsbürgerschaft nach
mehrfachen Angeboten erst 1950 an, als gewiss war, dass sie beide Staatsangehörigkeiten haben
konnte. Der spätere Bundeskanzler Bruno Kreisky, mit dem sie regelmäßig und herzlich in Kontakt
stand, war ihr dabei behilflich (vgl. Klima, 2019, S. 14; Rennert & Traxler, 2018, S. 186; Sime,
2001, S. 473). Bruno Kreisky förderte und würdigte Frauen. Mit ihm als Bundeskanzler erhöhte
sich die Zahl der Frauen in der Regierung und es begann, entgegen dem Trend dieser Zeit, die
Institutionalisierung der Frauenpolitik in Österreich (vgl. Steininger, 2000, S. 149 f).
Nachdem klar war, dass ihr von der Max-Planck-Gesellschaft ein Anrecht auf Pensionsbezüge
zugestanden wurde, löste sie ihre Kernphysikabteilung an der Königlich Technischen Hochschule
Stockholm auf und bezog ein ‚Altersstüberl’ am Institut von Sigvard Eklund (vgl. Meitner, 1964, S.
7; Rennert & Traxler, 2018, S. 186 f; Sime, 2001, S. 467). Nach ihrem Ruhestand im Jahr 1953
besuchte sie weiterhin Vorlesungen und Seminare und betreute Studenten und Doktoranden (vgl.
Rife, 1990, S. 329). Mit zunehmendem Alter reiste Lise immer öfter nach London zu ihrer Familie,
bis sie schließlich im Jahr 1960 dorthin umzog. Ihr Bruder Walter, dessen Frau, Lises Neffe Otto
Robert Frisch, dessen Frau und Kinder hatten sie dazu überredet. Neben der Physik verbrachte
Lise viel Zeit mit Auslandsreisen und Wanderungen. 1963 war sie das letzte Mal in Wien, wo sie
im Saal der Wiener Urania, einen Vortrag, der später publiziert wurde, über ihr Leben hielt. Das
große Interesse der Zuhörer rührte sie sehr. Der Gesundheitszustand von Lise verschlechterte
sich zunehmend. Die jahrzehntelange Kettenraucherin verbrachte Anfang 1965 nach einem
Herzinfarkt eine Woche in einem Sanatorium in Cambridge. Zwei große Ehrungen wurden ihr zu
Lebzeiten noch zu Teil. 1966 erhielt sie gemeinsam mit Otto Hahn und Fritz Straßmann den
renommierten Enrico-Fermi-Preis der US-Atomenergiekommission. Ihre Freude darüber war
durch die Folgen der Atombombe etwas getrübt. Als erste Frau erhielt sie 1967 die höchste
Auszeichnung für wissenschaftliche Leistungen der Republik Österreich: das Ehrenzeichen für
Wissenschaft und Kunst (vgl. Rennert & Traxler, 2018, S. 192–194).
Die bescheidene und geniale Forscherin verbrachte ihre letzten Tage in Cambridge (vgl. Klima,
2019, S. 14). Kurz vor ihrem 90. Geburtstag, wenige Wochen nachdem Otto Hahn verstorben war,
was Lise jedoch nicht mehr erfahren hatte, verstarb auch sie am 27. Oktober 1968 (vgl. Klima,
2019, S. 14; Rennert & Traxler, 2018, S. 192–194; Rife, 1990, S. 330 f). Eine Inschrift auf ihrem
97
Grabstein, den ihr Neffe ausgewählt hat, hebt ihre Menschlichkeit hervor: „A physicist who never
lost her humanity” (Klima, 2019, S. 14; Sime, 2001, S. 493).
3.7.1.6. Gudrun Ensslin
Im März 1968 übergab Gudrun Sohn Felix in Vespers Obhut und machte sich mit Baader und
Thorwald Proll, einem 27-jährigen Kunststudenten und Kommune-1-Sympathisanten, auf den
Weg nach München. Trotz der kurzen Bekanntschaft vertrauten sie sich und schmiedeten Pläne
für eine gemeinsame Aktion. Ein Kommunenleben wäre nichts für Gudrun. Sie brauchte eine
ernsthafte Beziehung und Leidenschaft. Indes kämpfte Vesper vergeblich um Gudrun. Sie ließ ihn
nicht mehr an sich ran. Sie blickte nach vorne in eine Zukunft mit neuen Regeln und einer neuen
Gesellschaft. In München angekommen, besuchten sie das Action Theater, da Baader den Leiter
Horst Söhnlein kannte. Dieser schloss sich der Gruppe an. Nachdem sie einige Tage in
Oberbayern verbracht und dort ihre Zeit miteinander genossen hatten, machten sie sich auf den
Weg nach Frankfurt. Am Weg stoppten sie in Cannstatt bei Gudruns Eltern, die später erzählten,
dass sie keinen Verdacht geschöpft hätten (vgl. Gleichauf, 2017, S. 142–149).
In Frankfurt angekommen, übernachteten sie bei einer Freundin Prolls. In Frankfurt setzten sie
ihren Plan um. Am 2. April 1968 explodierten im dritten Stock eines Kaufhauses zwei Brandsätze
und wenige Minuten darauf loderte zwei Stockwerke darunter ein weiteres Feuer. Wieder einige
Minuten später brannte es auch im Kaufhof, zuerst in der Bettenabteilung und dann in der
Spielzeugabteilung. Der Deutschen Presseagentur gegenüber erklärte eine weibliche Stimme,
dass diese Brandstiftungen ein politischer Racheakt seien. Ein vertraulicher Hinweis am 4. April
führte zu der raschen Verhaftung der vier Verdächtigen. Im Auto von Gudrun fand man die
restlichen Teile des Materials, die für die Brandsätze benutzt wurden. Mehrere Zeugen
bestätigten, das junge Paar am 2. April im Kaufhaus gesehen zu haben. Sie fielen den Zeugen
aufgrund ihrer Anti-Haltung auf, weil sie sich nicht wie die Menschen, die in den Warenhäusern
einkauften, kleideten. Die Kolumnistin der Zeitschrift ‚konkret’ Ulrike Meinhof, berichtete zeitnah
über die Brandstiftung. Sie sah die Brandstiftung nicht als revolutionär. Immerhin profitierten die
Konsumgüterproduzenten von der Vernichtung ihrer Produkte. Die Versicherung bezahlte diese
und so wurde die Produktion abermals angekurbelt. Meinhof nannte es eine systemerhaltende
Tat (vgl. Gleichauf, 2017, S. 149–157). Nach Gleichauf (2017) „bewegt[e] sie sich bereits auf die
Gruppe um Baader und Ensslin zu, indem sie theoretisch zu legitimieren sucht[e], dass es
womöglich der gesetzesbrecherischen Tat bedarf, um ein Bewusstsein für Unrecht in der
Gesellschaft zu schaffen“ (S. 157).
Am 6. April schrieb die in der Frauenhaftanstalt Frankfurt-Preungesheim untergebrachte Gudrun
einen Brief an Vesper und erkundigte sich nach dem gemeinsamen Sohn Felix. Sie wollte diesen
gerne bei ihrer Cousine untergebracht wissen, welche aber ablehnte. Außerdem bat Gudrun
98
Vesper um Besorgungen: Zigaretten und Feuerzeug, Schokolade, Zeitungen und Bücher. Eine
Woche später schrieb sie erneut einen Brief und bat wieder um Besorgungen. Es findet sich nichts
über das Attentat auf Rudi Dutschke in diesem Brief, obwohl er doch der Patenonkel von Felix
war. Während des Prozesses besuchte Meinhof die Angeklagte Ensslin. Man weiß leider nicht,
wie das Gespräch der beiden abgelaufen ist, alles was darüber kursiert ist Hörensagen. Erneut
bat sie Vesper um ‚kluge’ Literatur, da sie sich manchmal leer und hohl fühle. Der Job in der
Gefängnisnäherei reiche für ihr Hirn nicht. Sie schrieb über ihre planenden und abwägenden
Gedankengänge. Vor allem über die Situation ihres Sohnes machte sie sich Sorgen. Neben
Büchern und Zeitschriften ersuchte sie Vesper auch um Kosmetika. Aus den Briefen an Vesper
erkennt man, dass die Untersuchungshaft für sie ein gewaltiger innerer Kampf war (vgl. Gleichauf,
2017, S. 158–159 und 163–169).
Während der Untersuchungshaft legte keiner der vier Angeklagten ein Geständnis ab. Nach sechs
Monaten begann der Prozess. Gudrun wahrte als einzige die Form des Prozesses, während ihre
Mitangeklagten sich selbst inszenierten und herumalberten. Am dritten Prozesstag legte Gudrun
ein Geständnis ab und sagte, dass Proll und Söhnlein nichts von der Brandlegung im Kaufhaus
wussten. Die Anklage auf ‚Versuchte menschengefährdende Brandstiftung’ sei nicht richtig, denn
man habe keine Menschen gefährden, sondern lediglich auf den Völkermord in Vietnam
aufmerksam machen wollen. Im Zuge des Prozesses legten auch die anderen Angeklagten
Teilgeständnisse ab. Die Kaufhof-Brandstiftung konnte ihnen nicht nachgewiesen werden. Am 31.
Oktober wurden alle vier Angeklagten wegen versuchter menschengefährdender Brandstiftung zu
jeweils drei Jahren Zuchthaus verurteilt. Bis zur Entscheidung der beantragten Revision mussten
die Angeklagten wegen Fluchtgefahr wieder ins Gefängnis. Die Zeit des Bandstifterprozesses
zeigte, dass Ensslin diszipliniert und hart daran arbeitete ihre Gedanken handlungsorientiert
umzusetzen. Das Schlusswort verweigerte Gudrun, da sie dem Gericht nicht die Gelegenheit
geben wollte, so zu tun, als würde es ihr zuhören. Erst in der Panorama-Sendung vom 11.
November äußerte sie sich ausführlich und ermöglichte einen Eindruck in ihr politisches Weltbild.
In ihren Schlussworten betonte sie, dass die Tat, wie sie geschehen war, ein Irrtum gewesen war.
Aber sie hätte eben etwas aufzeigen wollen. Eine Freundin aus der Schulzeit besuchte Gudrun
einmal im Gefängnis. Es blieb bei diesem einen Mal, da Gudrun ihr nach diesem Treffen schrieb,
nicht mehr wiederzukommen, da sie nur mit Menschen kommunizieren möchte, die ihre
Gesinnung teilten. Man kann zweifelsfrei feststellen, dass Gudrun mit ihrer Vergangenheit
abschloss. Sie kämpfte mit Schuldgefühlen sowohl Felix gegenüber, als auch Vesper. Sie
beschäftigte sich mit sich selbst und ihren Gedanken und las sehr viel. Im Briefwechsel mit Vesper
erkennt man ihre zunehmende Abgrenzung zu denen ‚draußen‘ (vgl. Gleichauf, 2017, S. 172–
184).
99
Die Art, wie die Briefe an Vesper und Baader verfasst sind, zeigt ihre doppelgesichtige Existenz.
Im Juni 1969 feierten die vier Angeklagten ihre Entlassung aus der Haftanstalt, da die Fluchtgefahr
mittlerweile als gering geschätzt wurde (vgl. Gleichauf, 2017, S. 188 f). Die vier engagierten sich
ab der Entlassung in der Staffelberg-Kampagne zur Verbesserung der Lebenssituation von
Heimzöglingen. Sie sahen sich jedoch nicht als Sozialarbeiter. Es ging vielmehr darum ein
revolutionäres ‚wir’ aufzubauen (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 188; Gleichauf, 2017, S. 191 und 193).
Als die Revision im November als unbegründet zurückgewiesen wurde und die vier Angeklagten
aufgrund der Rechtskräftigkeit des Urteils zurück in Haft mussten, flohen Baader, Proll und Ensslin
nach Paris (vgl. Gleichauf, 2017, S. 195 und 199). Gudrun hatte bereits im März einen Vertrag mit
einem Verlag unterschrieben und plante, an ihrem Buch über die Erfahrungen aus der Haftzeit zu
schreiben. Doch Andreas Tatendurst stand dem gegenüber. Astrid Proll, Thorwalds Schwester,
schloss sich den dreien an. Paris war eine Zeit der Vergnügungen und des Konsumierens, das
sie eigentlich anprangerten. Thorwald Proll verließ das Quartett, da er sich durch seine Schwester
ersetzt fühlte. Astrid brachte neben Geld auch gefälschte Pässe mit und so begab sich die Gruppe
im Dezember nach Rom, wo sie bei Freunden unterkam. Baaders Anwalt Horst Mahler stieß zu
der Gruppe und erzählte von seinen Ideen: der Gründung einer Untergrundorganisation in Berlin.
Die Ideen fielen auf fruchtbaren Boden und so fuhr Mahler zurück nach Berlin und bereitete die
Rückkehr des Trios vor. Dieses blieb noch eine Weile in Rom und reiste dann ganz in den Süden
(vgl. Gleichauf, 2017, S. 199–204).
Im Februar erfuhren sie, dass das Gnadengesuch abgelehnt worden war. Das Trio begab sich auf
die Heimreise, Astrid Proll nach Frankfurt und Baader und Ensslin trotz des Risikos nach Berlin,
wo ihnen Ulrike Meinhof vorerst Unterschlupf gewährte. Dort besuchte sie auch Horst Mahler, der
eine Wohnung für sie angemietet hatte, in die sie dann umzogen. Am 4. April 1970 wurde Andreas
verhaftet, nachdem er bei einer Polizeikontrolle nicht wiedergeben konnte, was in seinem
gefälschten Ausweis stand. Der wieder inhaftierte Andreas wurde damit zur Hauptfigur der
Gruppe. Sie planten seine Befreiung und fingierten ein Buchprojekt, für das Ulrike Meinhof und
auch Ensslin, verkleidet als Dr. Gretel Weitemeier, ihn mehrmals im Gefängnis besuchten.
Meinhof erwirkte einen einmaligen Freigang Baaders in das deutsche Zentralinstitut. Dort, am 14.
Mai 1970, erfolgte die Befreiungsaktion Baaders. Ab diesem Zeitpunkt konnte sich Ulrike Meinhof
nicht mehr frei bewegen. Die Rote-Armee-Fraktion war geboren. Ein versehentlich abgegebener
Schuss, der fast einem Menschen das Leben kostete, bewirkte die quasi Selbstisolation der
Gruppe, da die linke Szene insgesamt auf Abstand ging (vgl. Gleichauf, 2017, S. 205–211).
Im darauffolgenden Monat flog das Trio nach Jordanien in ein palästinensisches Militärlager. Dort
trafen sie Horst Mahler und mehrere Personen aus dem Umkreis der RAF. Was tatsächlich in
Jordanien geschah, weiß niemand genau. Bekannt ist jedoch, dass sich Gudrun zu
Guerillakämpferin ausbilden ließ (vgl. Gleichauf, 2017, S. 216 und 219). Im August kehrte die
100
Gruppe wieder zurück nach Berlin. In der Öffentlichkeit veränderten die Mitglieder der Gruppe
immer wieder ihr Äußeres. In der Literatur zur Aktion Dreierschlag, es handelte sich um
Banküberfälle, tauchte Ensslins Name so gut wie nicht auf. Sie schien unsichtbar und merkwürdig
stumm geworden zu sein. Meinhof hingegen blieb auch im Untergrund sichtbar und fassbar,
weshalb sich in der Öffentlichkeit der Name Baader-Meinhof-Gruppe etablierte. Die Gruppe
Baader, Meinhof, Ensslin und Raspe zog Mitte Dezember nach Stuttgart und dann Anfang 1971
nach Heidelberg um, nachdem in Berlin einige Genossen nach dem Dreierschlag festgenommen
worden waren. In Heidelberg planten und setzten sie zwei neue Banküberfälle um und
veröffentlichten im April einen Text in dem die Ziele der Gruppe bekannt gegeben wurden (vgl.
Gleichauf, 2017, S. 223–230). Ulrike Meinhof war das Sprachrohr und die Vermittlerin der Theorie
der Gruppe. Baader war die Energiemaschine und die fast unsichtbare Ensslin verwaltete im
Hintergrund die Finanzen und wirkte ausgleichend und harmonisierend innerhalb der Gruppe (vgl.
Gleichauf, 2017, S. 233). Im Sommer 1971 eskalierte der Kampf zwischen RAF und Staat,
nachdem ein RAF Mitglied und zwei Polizisten ums Leben gekommen waren. Wo Gudrun steckte
und wie sie auf diese Eskalation reagierte, ist unbekannt (vgl. Gleichauf, 2017, S. 236). Gleichauf
(2017) fasst dies ziemlich gut zusammen: „In diesen Jahren von 1970 bis zur Gefangennahme im
Juni 1972 über Gudrun Ensslin schreiben heißt über die RAF schreiben“ (S. 239).
Die Entscheidungsprozesse innerhalb der Gruppe waren nicht durchschaubar. In der Mai-
Offensive 1972 explodierten drei Bomben im Frankfurter Hauptquartier des V. Armee-Corps,
einen Tag darauf zwei weitere in der Augsburger Polizeidirektion und eine auf einem Parkplatz
des Landeskriminalamts in München. Drei Tage später explodierte ein Sprengsatz unter dem
Beifahrersitz des Autos von Gerta Buddenberg, der Frau von Bundesrichter Wolfgang
Buddenberg. Ganz zufällig ließ sich dieser an jenem Tag nicht von seiner Frau chauffieren. Sie
selbst konnte sich schwer verletzt aus dem Auto retten. Weitere vier Tage danach, am 19. Mai,
explodierte im Axel-Springer-Verlag in Hamburg eine Bombe. In der Erklärung vom 20. Mai
wurden die Gründe für die Anschläge erläutert, federführend dürfte Meinhof gewesen sein. Vier
Tage danach gingen zwei Autobomben am Europa-Hauptquartier der US-Armee in Heidelberg
hoch. Die Erklärung dafür folgte am Tag danach. Am 1. Juni wurden Baader, Meins und Raspe
nach einer wilden Schießerei verhaftet. Acht Tage vor der Verhaftung Meinhofs, wurde Gudrun
am 7. Juni in einer Boutique in Hamburg festgenommen. Die Ladenbesitzerin wollte Gudruns
Jacke auf die Seite legen und vermutete eine Pistole darin, weswegen sie die Polizei verständigte.
Diese Unvorsichtigkeit war untypisch für Gudrun. Das Foto der Festnahme zeigt eine Frau mit
erloschenen Augen (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 191 f; Gleichauf, 2017, S. 244–250).
Die Mitglieder der Baader Meinhof Gruppe wurden in unterschiedlichen Gefängnissen
untergebracht. Zur Unterbindung eines Ausbruchs oder einer Befreiungsbefreiungsaktion gab es
besondere Regelungen. Nachdem sich ihr Leben in den Jahren zuvor immer mehr um das
101
Handeln drehte, war Ensslin nun komplett handlungsunfähig. Das Subjekt Gudrun, welches im
Subjekt RAF aufgegangen und zu einem ‚Wir’ geworden war, durfte nur von ihren
Familienangehörigen besucht werden. Allerdings war dies eine Verbindung, die sie lange schon
abgebrochen hatte (vgl. Gleichauf, 2017, S. 255 f). Mit diesem Kontaktminimum wollten die
Behörden den Bruch der RAF-Gefangenen mit der eigenen Vergangenheit rückgängig machen
(vgl. Ensslin et al., 2005, S. 7).
Mit ihrer Schwester Christiane sprach Gudrun kontrovers und erregt über Politik (vgl. Gleichauf,
2017, S. 257). Zudem wechselten sich die Themen in ihren Briefen zwischen Privatem,
Intellektuellem und Analyse. Sie wünschte sich Kosmetikartikel und Bücher, wie auch in ihrer Haft
zuvor (vgl. Gleichauf, 2017, S. 262). Für ihre Eltern hatte Gudrun kein einziges, freundliches Wort
übrig (vgl. Gleichauf, 2017, S. 275). Diese Briefe sind der Beweis dafür, dass Gudrun sowohl mit
sich selbst und auch mit der Gesellschaft hart am Ringen war (vgl. Gleichauf, 2017, S. 264). Ihre
Haft erlebte sie als grausam und eine Form der Folter (vgl. Gleichauf, 2017, S. 257). Über ihre
Anwälte kommunizierten die Gefangenen ab Anfang 1973 miteinander und bauten ein
Kommunikationssystem namens ‚Info‘ auf. Es diente dem internen Zusammenhalt der RAF und
der Solidarität unter den Gefangenen. Gudrun versuchte sich in verschiedenen Textsorten und
fühlte sich ganz zu Hause, denn das Schreiben war ihr immer ein vertrautes Medium. Sie prägte
die Linie des ‚Info‘ entscheidend und konnte in dieser Hinsicht als Kopf der RAF bezeichnet
werden. Die öffentlichen Texte schrieb nach wie vor Meinhof. Sie organisierten mehrere
Hungerstreiks und verlangten die Gleichstellung der politischen Gefangenen mit allen anderen
Gefangenen. In der Einzelhaft kam Ensslins „Zukunftsvision, die Schaffung eines »neuen«
Menschen und einer neuen Welt“ (Gleichauf, 2017, S. 269), ihr eigenes Denken nun geprägt durch
die Erfahrung der Handlungsfähigkeit eines Kollektivs, wieder zum Vorschein (vgl. Gleichauf,
2017, S. 265–269).
Von Februar bis April 1974 war Gudrun im selben ‚Toten Trakt’ der Frauenpsychiatrie wie Ulrike
und durfte diese täglich 2 Stunden sehen (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 196; Gleichauf, 2017, S.
272). Die zwei Jahre, die sie nun schon in Haft war, wirkten sich merklich auf ihren Körper und
Geist aus. Sie verlor den Bezug zur Welt und entwickelte eine Theoriefeindlichkeit. Sie kämpfte
mit dem Problem, mit dem Geist nicht völlig in eine Leere abzudriften. Sie schaffte es, in dem sie
sich dem Zweck der Weltveränderung unterwarf. Ihre Rolle als Frau reflektierte sie wenig. Und
obwohl sie im Denken und Sprechen eigenständig blieb, brauchte sie den Mann als Motor für ihr
Handeln (vgl. Gleichauf, 2017, S. 272 und 275). Ein Vollzugsbeamter beschrieb sie als häufig
verlegen und manchmal unsicher. Ende April 1974 wurden die RAF-Angeklagten in ein neues
Gefängnis gebracht. Ulrike und Gudrun durften täglich 4 Stunden miteinander verbringen, jedoch
wurde der Kontakt zu anderen Gefangenen unterbunden. Im September desselben Jahres wurde
der erneute Hungerstreik bei Gudrun durch eine Zwangsernährung gestoppt. Sie leistete keinen
102
Widerstand, was ihren geschwächten Zustand, sowohl gesundheitlich als auch mental, beweist.
Im Oktober 1974 erhob der Generalbundesanwalt offiziell Anklage gegen die inhaftierten RAF
Mitglieder (vgl. Gleichauf, 2017, S. 284–286).
Am 21. Mai 1975 begann der Prozess. Ein unabhängiges Gutachten und zwei Internisten kamen
zu dem Schluss, dass die Angeklagten nicht voll verhandlungsfähig seien und sowohl mit
Kreislauf- als auch Wahrnehmungs-, Konzentrations- und Artikulationsstörungen zu kämpfen
hätten. Gudruns zuvor im ‚Info‘ veröffentlichte Texte bestätigen dies zusätzlich, da ihre
Gedankensprünge den Text teilweise unverständlich machten. Aufgrund eines neuen Gesetzes
konnte der Prozess auch ohne die Angeklagten fortgeführt werden, wenn diese ihren Zustand
selbst herbeigeführt hatten – wovon die Richter hier überzeugt waren. Der Psychiater Professor
Rasch plädierte schon zu Beginn des Prozesses für eine Aussetzung desselben und für bessere
Haftbedingungen. Nach dem Selbstmord Ulrike Meinhofs betonte er in einem Interview Ende Mai
1976 wieder, dass bessere Haftbedingungen, darunter die Aufhebung der strengen Isolation, nötig
seien. Er beschrieb die Situation in Stammheim als selbstmordfördernd. Während des Prozesses
wurden mehrere Anschläge und Morde im Namen von RAF-Mitgliedern durchgeführt. Eines der
Opfer war der Generalbundesanwalt. In Abwesenheit der Angeklagten Baader, Raspe und Ensslin
wurden sie am 28. April 1977 in allen Punkten schuldig gesprochen und zu lebenslanger Haft
verurteilt. Im Anschluss an das Urteil wurden die Haftbedingungen verbessert bzw. die Isolation
verringert (vgl. Gleichauf, 2017, S. 291–313). Dennoch konnte Gudrun ihre Worte und Gedanken
nicht mehr in einen Zusammenhang und zur Sprache bringen. Ihr waren während der Zeit der
Inhaftierung die Worte ausgegangen. Von drinnen konnte sie die Welt draußen nicht verändern.
Im Laufe ihres Lebens wurde aus einem ‚Ich‘ immer mehr ein ‚Wir‘. Immer mehr verlor sie ihre
eigene Persönlichkeit. Am 18. Oktober 1977 erhängte sie sich in ihrer Zelle (vgl. Gleichauf, 2017,
S. 320). Am gleichen Tag erschoss sich Baader in seiner Zelle und auch Jan-Carl Raspe starb im
Krankenhaus an den Folgen einer Kopfschussverletzung (vgl. Ensslin et al., 2005, S. 196).
3.7.2. Faktorenanalyse
Abermals zeigen die dargelegten Rahmenbedingungen des letzten Lebensabschnitts, dass das
soziale Kapital ein wesentlicher Faktor ist. Die Mentorinnen resp. Mentoren oder
Unterstützerinnen resp. Unterstützer wandelten sich jedoch im Verlauf der Zeit. Kam die
Unterstützung im zweiten behandelten Lebensabschnitt noch mehr von den Eltern, den
Lehrkräften sowie von den Professoren und Dozenten, waren es in diesem Abschnitt die Kollegen,
Vorgesetzten oder Freunde. Aufgrund der Darlegung der Fakten wird auf das geschlechtsneutrale
Schreiben hier bewusst verzichtet, da die Frauen soweit bekannt, mit einer Ausnahme, eigentlich
nur von Männern unterstützt wurden. Die Schüler/Schülerinnen-Lehrer/Lehrerinnen-Beziehungen
wurden durch Beziehungen auf Augenhöhe, gegenseitige Anerkennung und gegenseitigen
Respekt ersetzt. Die Personen, welche die Frauen unterstützten, offerierten ihnen durch das
103
bestehende Netzwerk oder die gegebenen fachlichen, rechtlichen und auch finanziellen
Bedingungen, unterschiedliche Möglichkeiten.
Maria Theresia baute bei ihren Vorhaben auf die Unterstützung der Grafen Haugwitz und Kaunitz-
Rietberg. Ihr Ehemann konnte ihr die Monarchie nicht streitig machen und versuchte dies auch
nie. Er begnügte sich mit der Verwaltung der Finanzen. Sämtliche große Entscheidungen traf sie
alleine, auch gegen seine Meinung. Im Gegensatz zu allen anderen Pionierinnen hatte die
Kaiserin auch in einer Frau, nämlich der Gräfin Karoline von Fuchs-Mollard, eine wichtige
Vertraute und Unterstützerin.
Olympe de Gouges hatte ihre freie Verbindung zu Jacques Biétrix de Roziére, die ihr eine
finanzielle Unabhängigkeit ermöglichte und Louis Sébastian de Mercier, der ihr bei ihren Schriften
half. Rosa Kerschbaumer wurde von Professor Arlt unterstützt, der sie auch auf die Vorteile einer
Ehe mit Dr. Kerschbaumer hinwies. Dieser war wohl nicht ihre große Liebe, aber die Verbindung
brachte für beide Ehepartner Vorteile. Er hatte wenig berufliche Chancen und keine finanziellen
Mittel, aber ein anerkanntes Diplom. Sie hingegen hatte die finanziellen Mittel und die
fachspezifischen Kenntnisse, durfte aber mit ihrem Schweizer Diplom aufgrund der rechtlichen
Regelungen nicht in Österreich arbeiten. Die Gründung der Privatklinik war eine Win-Win-Situation
und ermöglichte Rosa die Erfüllung ihres Wunsches als Ärztin zu praktizieren.
Rosa Kerschbaumer und auch Cécile Vogt brauchten und benutzten ihre Ehemänner um arbeiten
zu können. Hätte Cécile Vogts Ehemann eine Universitätskarriere beschritten, hätte sie, quasi
unsichtbar, als privat mitarbeitende Ehefrau tätig sein können. Doch ihr Ehemann brachte die
finanziellen Mittel für eine eigene, gemeinsame Forschung auf. Er würdigte die Arbeit seiner Frau
und ließ keine Eifersucht aufkommen. Sie waren gleichberechtigte Partner und publizierten
Ergebnisse immer im Namen beider. Als er Direktor am KWI wurde, erhielt sie eine Anstellung als
Wissenschaftlerin, wurde Wissenschaftliches Mitglied der KWG, stellvertretende Institutsdirektorin
und Abteilungsleiterin. Positionen, die sie ohne ihren Ehemann oder einen anderen Unterstützer
zu diesem Zeitpunkt nicht erreichen hätte können. Bei Lise Meitner gab es keinen Mann oder
Partner, keine Liebesbeziehungen oder sonstige Affären. Es waren die Vorgesetzten und
Kollegen, allen voran Otto Hahn, die in ihrem Leben eine wichtige, sogar lebensrettende Rolle
einnahmen. Die Assistentenstelle bei Max Planck war ein wichtiger Schritt, wenn nicht sogar der
Beginn in Lises Karriere. Otto Hahn war ein Kollege, der von ihrer wissenschaftlichen
Zusammenarbeit profitierte und ihre Leistungen anerkannte, jedoch leider nicht immer öffentlich.
Nur dank ihres weitverzweigten Netzwerkes, dem die namhaftesten Wissenschaftler ihrer Zeit
angehörten, schaffte Lise die Flucht ins Exil und einen wissenschaftlichen Neubeginn.
104
Die Männer an der Seite von Gudrun Ensslin waren keine Unterstützung für sie. Der sprunghafte,
unzuverlässige und untreue Vesper faszinierte sie mit seinem literarischen Wissen, war ihr aber
sonst keine Stütze und kein Halt. Der unangepasste Baader, für den sie den Vater ihres Kindes
verließ, war mit seinem politischen Aktionismus wahrscheinlich die fehlende Komponente in ihrem
Weltbild. Sie lernte ihn zu einer Zeit kennen, in der sie mit der Gesellschaft zu hadern begann.
Ihre reflektierende und scharf analysierende Art wurde durch den Aktionismus zuerst ergänzt und
dann ersetzt. Andreas Tatendrang hielt die Doktorandin vom Schreiben und wahrscheinlich auch
vom Reflektieren und Analysieren ab. Erst später erkannte sie, dass ihre Taten ein Irrtum waren.
Doch nicht nur Baader, sondern auch der Rest der Gruppe nahmen Einfluss auf Gudruns weiteren
Werdegang. Ab der Geburt der RAF, war sie kein eigenständiges Subjekt mehr. Es gab nur mehr
das ‚Wir‘. Sie selbst wurde irgendwie unsichtbar und merkwürdig stumm. Ihre Familie hatte keinen
Einfluss mehr auf sie. Obwohl der Draht nach Hause am Anfang des Studiums noch gegeben war,
verringerte sich dies im Laufe der Zeit. Die Distanz zum Herkunftsmilieu wurde immer größer. Vor
den ersten terroristischen Taten war sie noch auf Besuch zu Hause. Die Eltern schöpften keinen
Verdacht. Als sie im Gefängnis saß, hatte sie die Verbindung nach Hause lange schon
abgebrochen. Einer Freundin aus der Schulzeit, die sie im Gefängnis besuchte, schrieb sie nicht
mehr wiederzukommen. Sie wollte nur mehr mit Menschen interagieren, die ihre Gesinnung
teilten. Für ihre Eltern hatte sie letztlich kein gutes Wort mehr übrig. Allem Anschein nach hatte
sie mit ihrer Vergangenheit abgeschlossen und auch mit den Menschen ‚draußen’. Sie hatte sich
nicht nur in eine Abhängigkeit, sondern in eine Abwärtsspirale manövriert, die ihr letztlich den Titel
der ersten deutschen Terroristin brachte und die ihr das Leben kostete. Ihr Weg war zweifelsohne
ein gänzlich anderer, als jener der anderen Pionierinnen in dieser Analyse.
Es ist deutlich erkennbar, wie zentral das soziale Kapital für Karrieren ist. Dies wurde bereits in
den beiden vorherigen Abschnitten dargelegt. Vor allem in diesem Abschnitt wird aber klar, dass
es sich nicht auf Familie und Lehrpersonen beschränkt, sondern bedeutend umfassender ist. Jede
der Frauen erhielt eine beachtliche Unterstützung durch das aufgebaute Umfeld. Manchen wurde
sogar die ihnen zustehende Anerkennung zu Teil. Die Vogts publizierten immer als
gleichberechtigte Partner. Hingegen nahm Otto Hahn, ohne Lise Meitner und ohne sie in
irgendeiner Weise zu würdigen, den Nobelpreis für die gemeinsam gefundenen Ergebnisse
entgegen. Die jahrzehntelange Zusammenarbeit und Partnerschaft stießen an ihre Grenzen, als
es um die öffentliche Anerkennung der gemeinsamen Forschungsergebnisse ging. Ein Nobelpreis
blieb der Pionierin Meitner trotz vielfacher Nominierungen verwehrt. Man vermutet, dass Siegbahn
als Vorsitzender des Nobelkomitees für Physik dies verhindert hat. Möglicherweise fürchtete er
die Konkurrenz der bereits international renommierten Kernphysikerin Meitner, da der Nobelpreis
ihre wissenschaftliche Reputation weiter gesteigert hätte.
105
Bei Lise Meitner sieht man zudem die Auswirkungen von Makro-Faktoren und deren Folgen. Ohne
die Politik der Nationalsozialisten und den 2. Weltkrieg, wäre Lise Meitners Karriere anders
verlaufen. Aufgrund der zeitlichen, politischen und örtlichen Rahmenbedingungen, durch den
Anschluss Österreichs an Deutschland, half ihr auch ihre wissenschaftliche Reputation nicht mehr.
Die österreichische Jüdin verlor ihre Lehrberechtigung und durfte keine öffentlichen Vorträge mehr
halten. Nach der Flucht nach Stockholm wurde sie ungerechtfertigter Weise zur Mitarbeiterin
Hahns degradiert und musste ihre wissenschaftliche Karriere neu beginnen.
Auch das Forscherleben der Vogts erlitt massive Einschnitte durch die Nationalsozialisten.
Aufgrund der finanziellen Möglichkeiten, dem Zusammenhalt der Beiden und ihres guten
Netzwerks gelang es ihnen jedoch, das Institut zu verlassen und eine eigene Klinik zu gründen.
Wie in der Literatur beschrieben, nehmen solche politischen Ereignisse auf Karrieren und den
Lauf des Lebens vornehmlich Einfluss. Obwohl viele Frauen auch davon profitierten, war dies im
Falle unserer Pionierinnen zumindest nur teilweise gegeben. Während Cécile Vogt ihre
wissenschaftlichen Arbeiten in ihrer privaten Klinik fortführen konnte, musste Lise Meitner ihre
Karriere in einer ihr möglicherweise nicht gut gesinnten Umgebung (unter Siegbahn) neu
beginnen. Die politische vor allem aber antisemitische Situation brachte Gefahr und einen
Umbruch für ihr Leben sowie einen massiven Einschnitt für ihre Karriere.
Die außergewöhnlichen Eigenschaften der Pionierinnen halfen ihnen auch in diesem
Lebensabschnitt. Anpassungsfähigkeit und Ehrgeiz ließen sowohl Lise Meitner als auch Cécile
Vogt und Rosa Kerschbaumer die vorherrschenden Hürden überwinden. Obwohl einige
schüchtern oder unsicher waren, setzten sie sich dennoch gegen die Widrigkeiten durch. Wie
schon im vorherigen Abschnitt beschrieben passt die Eigenschaft ‚mutig‘ auf viele. Dies zeigte
sich auch in diesem Abschnitt wieder. Die Eigenschaften ‚Durchsetzungsfähigkeit‘ und
‚Willensstärke‘ heben sich auch hier wieder an vielen Stellen heraus.
Vor allem in diesem Teil des Lebens kann man erkennen, dass viele Frauen Abstriche zugunsten
ihrer Karriere machten. Sei es aufgrund der Unterordnung persönlicher Empfindungen oder
lediglich anderer Zielsetzungen, aber die Zeit für Familie und Kinder war beschränkt. Parallelen
lassen sich hier für fast alle Pionierinnen erkennen. Rosa Kerschbaumer und Gudrun Ensslin
gaben ihre Kinder in die Obhut anderer. Gudrun Ensslin hatte während ihrer Inhaftierung
Gewissensbisse, da sie ihren Sohn abgegeben hatte und nun nicht für ihn sorgen konnte. Sowohl
Gudrun Ensslin als auch Rosa Kerschbaumer waren im Studium und der späteren Karriere auf
Flexibilität angewiesen, wechselten öfter den Wohnsitz oder reisten viel. Nach ihrer Scheidung
war es Rosa Kerschbaumer möglich, ihre Wünsche umzusetzen, was auch die Bereitschaft mit
sich brachte, sich nicht regional niederzulassen oder in die Heimat zurück zu gehen. Bei Olympe
de Gouges ist dies nicht ganz geklärt, es wird aber vermutet, dass sich jemand anderer um ihren
106
Sohn gekümmert hatte. Maria Theresia plante die Zukunft ihrer Kinder wie keine andere. Ihre
Kinder fielen ihrer harten Heiratspolitik zum Opfer und wurden auch in andere Länder verheiratet,
um das Bestehen der Monarchie zu sichern. Lediglich Cécile Vogt kümmerte sich anscheinend
selbst um ihre Töchter, die wie sie angesehene Naturwissenschaftlerinnen wurden. Dies ist zwar
weder bestätigt noch widerlegt, jedoch hatte sie als einzige bis zu ihrem Tod ein gutes Verhältnis
zu ihren Kindern.
Ein weiterer Faktor, der in fast allen Biografien der Frauen vorkam, waren Frauenbewegungen.
Olympe de Gouge, die während der französischen Revolution ausdrücklich um Frauenrechte
kämpfte und den Zustand im Land anprangerte, war eine schillernde, jedoch unterschätzte Figur
der Frauenbewegung und eine echte Vordenkerin. Sie wurde nicht beeinflusst, sondern sie
beeinflusste die Bestrebungen der Frauen nach gleichen Rechten. Auch Rosa Kerschbaumer
beschäftigte sich mit aktuellen Diskussionen, die das Thema Gleichberechtigung und
Frauenstudium betrafen. Ihre Mitbewohnerinnen gehörten zu den ersten Vorkämpferinnen des
Frauenstudiums und ihr Nachhilfelehrer Erismann hielt sie über aktuelle Entwicklungen am
Laufenden, da Frauen viele Veranstaltungen und Lokalitäten nicht besuchen durften. Die
Wahlsalzburgerin beschäftigte sich intensiv mit aktuellen Debatten über die ‚Frauenfrage’ und
engagierte sich aktiv in einem Verein, in dem sie auch Vorträge hielt. Sie übernahm eine führende
Rolle in der Frauenemanzipationsbewegung, trat öffentlich für die gestellten Forderungen auf und
förderte junge Ärztinnen. Cécile Vogt bekannte sich ebenso öffentlich zu den Zielen der
bürgerlichen Frauenbewegung und legte dar, warum man Frauen zum damaligen Stand der
Hirnforschung von keinem Beruf ausschließen könne. Die Vordenkerin kämpfte selbst, wie auch
Kerschbaumer und de Gouges, mit frauenfeindlichen Bedingungen.
Wenngleich auch Lise Meitner am Anfang ihrer Karriere mit der Ablehnung von Frauen in der
Wissenschaft konfrontiert war, stand auch sie einer Universitätskarriere von Frauen kritisch
gegenüber. Sie entwickelte jedoch in ihren Fünfzigern ein feministisches Bewusstsein, ein Gefühl
der Solidarität. Meitner trat dann sogar als Vortragende bei Veranstaltungen von
Frauenorganisationen auf und honorierte offen die Leistungen der Frauenbewegung, die auch
Einfluss auf sie hatten. Maria Theresia stellt als Regentin in diesem Zusammenhang eine
Ausnahme dar. Zudem kam die erste Welle der Frauenbewegung erst 1791 mit Olympe de
Gouges auf, also 10 Jahre vor Maria Theresias Tod. Bekannt ist jedoch, dass die konservative
Maria Theresia Frauen bei Untreue strenger bestrafte als Männer. Ihre Töchter verheiratete sie
gnadenlos. Man könnte sie daher als eher frauenfeindlich einstufen.
In diesem Kapitel wurden die jeweiligen Lebensabschnitte der Frauen dargelegt und auf
Gemeinsamkeiten hin analysiert, die einen erwartungswidrigen respektive außergewöhnlichen
Bildungs- und Karriereweg ermöglichten. Zudem wurde eine Verknüpfung der Erkenntnisse aus
107
der Biografie-Analyse mit den bereits bekannten Daten und Fakten aus der Literatur durchgeführt.
Im nächsten Kapitel folgt eine Systematisierung der Ergebnisse und eine Aufarbeitung bisher in
dieser Arbeit nicht theoretisierter Faktoren.
4. Systematisierung der Ergebnisse
Es folgt im nun letzten Kapitel die theoretische Aufarbeitung von Faktoren, die im Zuge der
Biografie-Analyse festgestellt wurden und noch nicht mit den bekannten Daten und Fakten aus
der Literatur verknüpft worden sind. Danach folgt eine Ableitung von Empfehlungen für förderliche
Bildungs- und Karriereverläufe. Anschließend wird im letzten Kapitel die vorliegende komplette
Arbeit reflektiert und resümiert.
4.1. Verknüpfung und Ergänzung zur Theorie
Ein Faktor, den alle der Pionierinnen gemeinsam haben und der sie zu eben diesen Pionierinnen
auch gemacht hat, ist der Faktor Geschlecht. Aus Bildungs- und auch Karrieresicht war es für sie
alle ein Nachteil eine Frau zu sein. Dies erschwerten ihnen den Zugang zu formaler Schulbildung
und den damit einhergehenden Abschlüssen, die wiederum Voraussetzung für ein Studium waren.
Knaben konnten ein Gymnasium bzw. höhere Schulen besuchen und erhielten eine Matura. Doch
auch der Zugang zum Studium war für Frauen nicht überall möglich und ausländische
Studienabschlüsse wurden nur selten anerkannt. Die vorherrschenden Strukturen zu
durchbrechen war schwierig, doch wie die Analyse der Lebensläufe der Pionierinnen bewiesen
hat, nicht unmöglich. Sie beschritten einen erwartungswidrigen Bildungs- und Karriereweg und
bekamen, zumindest teilweise, die ihnen zustehende Anerkennung für ihre beruflichen Erfolge,
wenn auch leider oft erst posthum, wie bei Lise Meitner, Rosa Kerschbaumer und den Vogts.
Aufgrund der bestehenden Strukturen hatten Frauen es damals viel schwieriger als heute. Dies
hebt die Bedeutung der Übergänge bei den Ausbildungen und deren Selektionsmechanismus für
die heutige Bildungsforschung hervor. Die Bearbeitung der Literatur im zweiten Kapitel hat
gezeigt, dass spätestens seit den Bildungsreformdebatten Ende der 1960er Jahre, wo durch
stärker werdende feministische Ströme eine rechtliche Gleichstellungsphase begann, eine
geschlechterbewusste Koedukationsdebatte und eine Bildungsexpansion erfolgte (vgl. Wenzel,
2010, S. 62). Infolge dieser wurden die traditionellen geschlechtsspezifischen Unterschiede im
Bildungsniveau abgebaut (vgl. Statistik Austria, 2020). Sowohl Wenzel (2010) als auch Ditton
(2010) beschreibt, dass infolgedessen die Bildungsbenachteiligung nicht nur abgebaut wurde,
sondern die Mädchen zu Gewinnerinnen der Bildungsexpansion wurden. Nicht nur, dass
mittlerweile mehr Mädchen als Jungen höhere Schulen besuchen, sondern sie sind auch
erfolgreicher (vgl. Ditton, 2010, S. 251; Wenzel, 2010, S. 62). Trotzdem setzt sich dieser Erfolg
108
nicht immer in entsprechenden Karrieren fort (vgl. Wenzel, 2010, S. 63). Gründe dafür sind
gesellschaftliche, politische und betriebliche Strukturen. Weitere Faktoren stellen die
Persönlichkeit und die Lebensumstände dar sowie das Geschlecht, denn traditionelle
Geschlechterstereotype bewirken eine Unterrepräsentanz von Frauen in Macht- und
Führungspositionen (vgl. Seeg, 2000, S. 7 f).
Obwohl der Faktor ‚Geschlecht‘ heute keine so große Rolle mehr spielt, zumindest nicht in Europa,
können dennoch Schlüsse aus der Analyse gezogen werden. Schließlich war dies nicht der
einzige Einflussfaktor für die außergewöhnlichen Bildungsverläufe und Karrieren. Trotz Vorliegens
bestimmter Rahmenbedingungen, können demnach positive Bildungs- und Karrierewege
bestritten werden. Es hat sich gezeigt, dass immer mehrere Faktoren auf einen Bildungsweg und
die darauffolgende Karriere einwirken. Manchmal wirkt ein Faktor als großes Hindernis, er steht
aber dennoch in Wechselwirkung zu anderen Faktoren. Sämtliche Faktoren in einem Bündel
können einen einzelnen Faktor abschwächen oder aber auch verstärken.
Hervorzuheben ist die größte Gemeinsamkeit der oben genannten Biografien: das soziale Kapital.
Wie bereits die Aufarbeitung der Literatur (2.2. Kapitel) zeigt, dürfen die sozialen Einflüsse nicht
unterschätzt werden (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 91). Alle Biografien zeigen, dass dazu
familiäre und idealerweise auch damit einhergehende finanzielle Ressourcen zählen und Eltern,
die einen hohen Wert auf Bildung legen und damit eine unterstützende und fördernde Funktion
einnehmen. Darüber hinaus spielten vor allem im späteren Bildungsverlauf neben Lehrkräften,
auch Dozentinnen und Dozenten eine wesentliche Rolle. Mit zunehmendem Alter nahm der
Einfluss der Familie ab und der Einfluss von Mentorinnen und Mentoren und sonstigen
Unterstützerinnen und Unterstützern aus dem freundschaftlichen sowie beruflichen Umfeld zu.
Soziale Netzwerke haben sich als durchaus förderlich erwiesen. Wie bereits die Ergebnisse der
empirischen Analyse von El-Mafaalani (2012) gezeigt haben, gibt es nicht ‚das eine
Aufstiegsmotiv‘ schlechthin. El-Mafaalani beschreibt, dass dies aber ohnehin nur begrenzt zum
Bildungsaufstieg verhelfen würde. Das fehlende Motiv hat oftmals fehlende Aufstiegs- oder
Karrierepläne zur Folge, was aber laut El-Mafaalani eine günstige oder sogar notwendige
Bedingung für einen erfolgreichen Aufstieg ist (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 324–327). Im Zuge der
Analyse konnten keine konkreten Motive bei den ausgewählten Pionierinnen festgestellt werden.
Lediglich die eigene Bildungsaspiration sowie das hohe Interesse an der spezifischen
Wissenschaft und der Berufswunsch oder der Wunsch der Menschheit zu dienen, trieb sie voran.
Gerhartz-Reiter (2017) hat hierzu bereits erkannt, dass alle auf die eigenen Bildungsaspirationen
einwirkenden Faktoren von hoher Bedeutung sind (vgl. Gerhartz-Reiter, 2017, S. 91).
Neben diesen Rahmenbedingungen waren die charakterlichen Eigenschaften der vorgestellten
Pionierinnen weitere Parallelen. Die Ergebnisse der empirischen Analyse zu Bildungsaufsteigern
109
und Bildungsaufsteigerinnen von El-Mafaalani (2012) kam zu dem Schluss, dass diese sich ohne
Zweifel durch ein hohes Maß an Disziplin und Fleiß auszeichnen (vgl. 2012, S. 324). Diese
Ergebnisse können, durch die vorangegangene Analyse, ebenfalls bestätigt werden. Weitere
gemeinsame Eigenschaften, die in der Analyse immer wieder auftauchen, sind Zielstrebigkeit
sowie Mut. Die von El-Mafaalani (2012, S. 327) beschriebene notwendige Habitustransformation
konnte in der Analyse bei Olympe de Gouges und bei Gudrun Ensslin herausgearbeitet werden.
Bei den anderen Pionierinnen fanden sich dazu keine Hinweise. Jedoch legten ohnehin die
meisten Eltern viel Wert auf Bildung, wodurch diese Habitustransformation hin zum
bildungsnäheren Milieu nicht zwangsläufig notwendig war.
Ein Punkt, der im Zuge der Analyse der Biografien auftauchte, der aber in der behandelten
Literatur nicht vorkam, waren einschneidende Erlebnisse wie Gewalt oder Vernachlässigung im
Kindesalter. Sowohl Gewalt als auch Vernachlässigung in der Kindheit führen laut medizinischen
Forschungen mit höherer Wahrscheinlichkeit zu Depressionen im Erwachsenenalter (vgl. Wenzel,
2010, S. 41). Die Formen der Gewalt klassifizieren sich in aktive physische, psychische oder
sexuelle Handlungen sowie das Unterlassen von Handlungen. Das Unterlassen von Handlungen
unterteilt sich wiederum in physische, erzieherische und psychische Vernachlässigung, wobei sich
die Formen der Vernachlässigung oft überschneiden (vgl. Hong, 2016, S. 80–84). Zudem erfahren
vernachlässigte Kinder zeitgleich oder später Gewalt, wie mehrere Studien belegen (vgl. Kindler,
2006, S. 3–3). Blum-Maurice (2002) nennt als beste Hilfsmaßnahme die frühe Prävention sowie
kompensatorische Beziehungen. Stehen dem Kind beispielsweise ein Milieu des Schutzes und
der Geborgenheit durch Verwandte oder öffentliche Einrichtungen zur Verfügung, kann die
Schwere der Beeinträchtigungen abgeschwächt werden (vgl. Blum-Maurice, 2002, S. 114 und
125).
Relevant hierfür sind die sozialen Beziehungen, denn Versagensängste oder fehlende
Unterstützung wirken sich auch mangels fehlenden Vertrauens auf die eigenen Fähigkeiten
kontraproduktiv aus (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 262). El-Mafaalani (2012) kam bei seinen
Analysen zu der Feststellung, dass es aufgrund der „innerfamiliären Vernachlässigung auch zu
einer inneren Isolation und erst nach Anerkennungs- und Erfolgserlebnissen in anderen sozialen
Kontexten“ (El-Mafaalani, 2012, S. 267) zu einem Widerstand kommt, der in der habituellen
Distanzierung vom Herkunftsmilieu mündet. Infolgedessen führt dies zu einer selbstreflexiven
Praxis in eben diesen neuen sozialen Kontexten, woraus dann ein selbstbewusster Umgang mit
den eigenen Fähigkeiten resultiert (vgl. El-Mafaalani, 2012, S. 267). Es ist also auch Aufgabe der
Bildungspolitik, diesen Kindern über mehrere Entwicklungsjahre hinweg individuell zur Seite zu
stehen und ihnen eine angemessene emotionale Fürsorge zukommen zu lassen (vgl. Wenzel,
2010, S. 41).
110
4.2. Abgeleitete Empfehlungen
Abschließend lässt sich sagen, dass es kein Rezept für einen erfolgreichen Bildungsweg und eine
daran anschließende Karriere gibt. Es gibt lediglich Empfehlungen, die einen positiven Verlauf
begünstigen. Wenn die Rahmenbedingungen nicht optimal sind, muss man versuchen diese zu
ändern. Vorhandene einschränkende Faktoren müssen nicht akzeptiert werden, sondern können
mit anderen Faktoren abgeschwächt oder gar neutralisiert werden. Allen voran zählen hierzu der
Faktor ‚soziales Kapital’ sowie der Faktor ‚eigene Eigenschaften und Einstellungen’. Die
analysierten Biografien haben gezeigt, dass diese Faktoren, trotz teilweise gegebener
einschränkender Faktoren, einen erwartungswidrigen Bildungsaufstieg begünstigen.
Folgend werden Vorschläge abgeleitet, die zwar kein Rezept für einen erfolgreichen
Bildungsaufstieg darstellen, aber dennoch förderlich sind. Dazu zählt allen voran, das Aufbauen
von Netzwerken. Man braucht ein Netz vielfältiger Beziehungen und Verbindungen, sowohl zu
Frauen als auch Männern. Die Auswahl der Personen für dieses Netzwerk sowie die Pflege des
Netzwerkes sind von hoher Bedeutung. Diese Unterstützungs- und Mentoringleistungen waren
bei allen Pionierinnen Teil ihres Erfolges. Ohne sie wären wohl die meisten Karrieren zumindest
anders oder nicht so erfolgreich verlaufen.
Es ist ein Prinzip, das auf Gegenseitigkeit beruht. Man kann Unterstützung einfordern und
annehmen, man sollte aber auch andere unterstützen und fördern, wie dies Rosa Kerschbaumer
und Cécile Vogt getan haben. Doch nicht nur Unterstützung und Mentoring von außen ist
notwendig. Man muss selber die größte Unterstützerin respektive der größte Unterstützer sein.
Will man etwas erreichen, muss man dafür Ehrgeiz, Disziplin, Durchsetzungs- und auch
Durchhaltevermögen an den Tag legen, wie zum Beispiel Olympe de Gouges, die 17 Jahre ihr
autodidaktisches Studium forcierte. Ganz nach dem Motto: ‚Von nix kommt nix’. Es bedarf Mut,
um die Komfortzone zu verlassen und Herausforderungen in Angriff zu nehmen. Vorbilder sind
nicht nur wegweisend, wie bei Rosa Kerschbaumer, sondern können auch zum permanenten
Lernen anregen, wie Otto Hahn bei Lise Meitner. Aber auch Ziele und Zielklarheit, wie die Erfüllung
eines Berufswunsches, zählen zu den Erfolgsfaktoren. Für eine Karriere braucht man Vertrauen
in die eigenen Fähigkeiten und Klarheit über die eigenen Kompetenzen. Positive Kommunikation
der eigenen Leistungen führt zu deren Wahrnehmung und gebührenden Honorierung.
Es bedarf nicht der Befolgung aller diese Vorschläge für eine erfolgreiche Karriere. Manche
Vorschläge sind leichter umsetzbar als andere. Jeder Mensch ist unterschiedlich und muss für
sich selbst entscheiden, was im Rahmen des Möglichen liegt, wobei hier ein Blick über den
berühmten Tellerrand jedenfalls zu empfehlen ist. Nicht jeder dieser Vorschläge muss für eine
erfolgreiche Karriere konsequent fokussiert werden, sie stellen lediglich Anregungen dar, die sich
aufgrund der recherchierten Literatur und der betrachteten Biografien ergeben haben.
111
5. Resümee
Die vorliegende Arbeit setzt sich mit der Frage auseinander, welche Faktoren erwartungswidrige
Bildungsaufstiege von Frauen beeinflussen und welche Erkenntnisse sowie fördernde und
präventive Maßnahmen daraus für die aktuelle Bildungsforschung abgeleitet werden können. Im
Zuge der Literaturbearbeitung wurden aktuelle Erkenntnisse zu Bildung und dem Bildungssystem
als (Re-)Produzent von Bildungs- und Chancenungleichheit diskutiert und der Stand der
Forschung für Einflussfaktoren auf Bildungs- und Karrierewege thematisiert. Teilweise sind diese
Einflussfaktoren in das Schul- bzw. Bildungssystem einzuordnen und teilweise in den
außerschulischen Kontext.
Zu Beginn wurde der Frage nachgegangen, ob oder inwieweit Schule respektive Bildung und das
Bildungssystem auf Chancen- oder Bildungsungleichheit eingehen und diese beheben oder gar
laufend reproduzieren. Bildung ist ein wesentlicher Faktor für schulischen und späteren
beruflichen Erfolg und ermöglicht zudem soziale, politische und kulturelle Teilhabe. Eine freie
Persönlichkeitsentfaltung, Selbstständigkeit und die Entwicklung individueller Interessen sowie
Kompetenzen ermöglichen Chancen in der Karriere und auch im Leben. Aktuelle Ergebnisse
legen jedoch nahe, dass Schule diese Funktion nicht erfüllt, sondern eher als (Re-)Produzent von
Chancenungleichheit agiert. Hätte jeder die gleiche Chance zu formaler Bildung und zu
beruflichen und auch sozialen Positionen, bestünde Chancen- respektive Bildungsgleichheit. Dies
ist jedoch nicht gegeben, da die Ausgangsbedingungen die schulische Laufbahn nach wie vor ab
deren Beginn beeinflussen.
Dennoch haben sich soziale Ungleichheitsmuster verringert, wie der historische Rückblick zeigt.
Generell kann festgestellt werden, dass gesamtgesellschaftliche nicht-schulische Faktoren immer
wieder einer Veränderung unterliegen. Obwohl soziale und nationale herkunftsbezogene Faktoren
sich standhaft halten, konnten Ungleichheitsmuster im Zusammenhang mit Region, Religion und
Geschlecht verringert werden. Der Einfluss des Faktors Geschlecht hat sich sogar umgedreht.
Mädchen haben heute Zugang zu höheren Schulen und Universitäten, sind in der Schule häufiger
vertreten und tendenziell erfolgreicher als Burschen. Trotz steigender Promotionszahlen setzen
Frauen ihre zukunftsorientierten, beruflichen Qualifikationen nicht immer in entsprechende
Karrieren um. Neben den schulischen Faktoren wie Qualität des Unterrichts oder des
Lehrpersonals spielen vor allem auch außerschulische Faktoren eine große Rolle. Bereits bei der
Aufarbeitung der Theorie war dies ein markanter Punkt, der später bei der Analyse der Biografien
bestätigt werden konnte. Neben dem unterschätzten Lehrpersonal oder Dozentinnen und
Dozenten nehmen auch Verwandte oder sonstige außerschulische Personen eine wegweisende
oder/und unterstützende Rolle ein. Vor allem Eltern, deren Bildungshabitus und
Bildungsaspirationen, Erziehungsstil und finanzielle Ressourcen bilden einen wichtigen
Ausgangspunkt. Von zentraler Bedeutung ist auch die Beziehung der Eltern zum Kind. Je älter
112
das Kind wird, umso mehr weichen die Eltern den Peers, Freundinnen und Freunden sowie
Mentorinnen und Mentoren oder auch den Vorbildern.
Wenig theoretisiert, weil auch nur schwer theoretisierbar, sind die Faktoren Zufall und Glück.
Weiters sind Makro-Faktoren für Wendepunkte in so manchen Karrieren verantwortlich, wie die
Analyse der Biografien zeigte. Dazu zählen institutionelle, gesellschaftliche und
wirtschaftspolitische Rahmenbedingungen sowie historische und politische Ereignisse oder
soziale Bewegungen. Diese Makro-Faktoren nehmen Einfluss auf die Bildungspolitik, den
Arbeitsmarkt, aber auch auf gesamtgesellschaftliche Werthaltungen sowie auf das Individuum.
Dies kam auch im Zuge der Analyse klar heraus. Ebenfalls bestätigt werden konnte, der in der
theoretischen Ausarbeitung gezeigte Einfluss Individuum-spezifischer Faktoren auf den Bildungs-
und Karriereaufstieg. Fleiß, Disziplin und Zielstrebigkeit begünstigen einen Aufstieg immens.
Angetrieben durch die eigenen Bildungsaspirationen und Ziele, bedarf es nicht immer eines
konkreten Aufstiegsmotivs. Die Wechselwirkung all dieser oder weiterer Faktoren ist
ausschlaggebend für den individuellen Werdegang.
Gewiss gibt es viele weitere Faktoren, die weder im Zuge der literarischen noch der biografischen
Analyse entdeckt wurden, die aber erheblichen Einfluss auf den Bildungs- und Karriereverlauf
nehmen können. Konkret sind jedoch die in dieser Arbeit theoretisch aufgeführten Faktoren
größtenteils deckungsgleich mit den Ergebnissen der Analyse der Biografien. Dies führte im
vierten Kapitel zu Vorschlägen oder Empfehlungen, die einen Bildungsaufstieg tendenziell
fördern. Diese Erkenntnisse sind nicht unbedingt neu, sollten aber auf jeden Fall von
Pädagoginnen und Pädagogen sowie von Erzieherinnen und Erziehern stärker berücksichtigt
werden und speziell in die Arbeit mit benachteiligten Schülerinnen und Schülern miteinfließen.
Dazu bedarf es jedoch in der Bildungspolitik und bei jedem einzelnen Akteur bzw. jeder einzelnen
Akteurin mehr Bewusstsein darüber. Ferner können und sollen Eltern oder Erziehungsberechtigte
dieses Wissen zur Förderung ihrer Kinder nutzen. Aber auch eine Weitergabe und kritische
Reflexion dieses Wissens an die Schülerinnen und Schüler selbst wäre von Vorteil und würde
Vielen neue Optionen und Wege für die Gestaltung ihrer Zukunft aufzeigen. Dadurch kann ein
Mädchen von heute zur Pionierin für Mädchen von morgen werden.
113
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