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SoSe 0826.05.2008
D.1 Theorien über Entwicklungs- und Lernprozesse und ihre
Beeinträchtigungen
Themenblock III: Ausgewählte Beeinträchtigungen von Entwicklungs- und Lernprozessen und Möglichkeiten ihrer Beobachtung und Dokumentation
Sprachentwicklungsstörungen und
Sprachdiagnostik
Sprachentwicklung im Überblick
Was muss das Kind lernen, wenn es Sprache erwirbt?
In einem sehr frühen Stadium seiner kognitiv-konzeptuellen Entwicklung muss das Kind
den Sprachstrom der Umweltsprache sowie relevante Merkmale der Situationen, in denen Sprache geäußert wird verarbeiten, in sprachrelevante Einheiten untergliedern, zugrunde liegende komplizierte Sprachregeln ableiten.
nicht weniger als sechs teilweise eigenständige Wissenssysteme aufbauen (prosodische und linguistische Kompetenz)
den kontextuell angemessenen handlungsorientierten Gebrauch von Sprache erwerben (pragmatische Kompetenz).
Komponenten der Sprache im Überblick (Grewendorf et al., 1989)
Komponenten Funktion Erworbenes Wissen
suprasegmentale Komponente
Intonationskontur, Betonung, rhythmische
Gliederung
prosodische Kompetenz
PhonologieMorphologie
SyntaxLexikon
Semantik
Organisation von SprachlautenWortbildungSatzbildung
WortbedeutungSatzbedeutung
linguistische Kompetenz
SprechakteDiskurs
Sprachliches HandelnKohärenz der Konversation
pragmatische Kompetenz
Wörter als Endergebnis der Lautentwicklung...
Bevor ein Kind erste Wörter spricht, ist bereits eine komplexe Entwicklung abgelaufen:
vorgeburtlich: Hören der mütterlichen Sprache ab der 24. Schwangerschaftswoche
Entwicklung und Einüben von Dialogen zwischen Kind und Bezugsperson ab der Geburt.
Das Kind lernt, die Bezugsperson über Lautäußerungen in ihrer Handlung zu beeinflussen.
Phonologische EntwicklungÜberblick Alter rezeptiv produktiv
1. Lbm. Unterscheidung von Sprachlauten und nicht-sprachlichen Lauten
Sensitivität für Rhythmus & Prosodie
Schreienerste reaktive Laute
2.-6. Lbm. Kategoriale LautwahrnehmungUnterscheidung von Muttersprache vs.
FremdsprachenPräferenz der kindgerichteten Sprache
(„baby talk“)
GurrenLachen
Nachahmung von Vokalen („Lippenlesen“)
7.-10. Lbm. Erwerb der wichtigsten Regeln der muttersprachlichen Lautkombinationen
Erstes Wortverständnis
Kanonisches LallenNachahmung von Intonationen
der Muttersprache
11.-12. Lbm.
Ausbau der phonologischen Struktur und des Wortverständnisses
Lange Lallsequenzen, 1. WörterJoint attention
13.-17. Lbm.
Kind versteht ungefähr 100-150 Wörter, einfache Sätze und
Aufforderungen
Kind produziert 20-30 Wörternominaler vs. expressiver
Sprechstil
3 Hauptschritte der lexikalischen Entwicklung
Phase Merkmale Theoretische Erklärung
früher Worterwerb (ab 10. Lbm.)
pragmatischer Gebrauch:- soziale Wörter („winke-
winke“)- spezifische Benennungen
Assoziationslernen: Wort-Bedeutungsverknüpfung
im sozial-interaktiven Lernkontext
Benennungsexplosion (ab ca. 18. Lbm.)
Induktionsproblem, anderer Wortgebrauch als
bei Erwachsenen:- Übergeneralisierungen- Überdiskriminierungen
Ganzheits-, Taxonomie- und
Disjunktionsconstraints
schnelles Wortlernen für Verben/relationale
Wörter (ab ca. 30. Lbm.)
Verwechslungen, wie zwischen „geben“ und
„nehmen“
Syntaktische Constraints(„syntactic
bootstrapping“)
Lexikalische Entwicklung – Im Zentrum steht das Wort –
Vorläuferfähigkeiten der Kognition, der sozialen
Kognition, der Wahrnehmung
Produktive phonologische Entwicklung
erste Wörter
Schwellenwert:50 Wörter
Wortschatzspurt
Differenzierung desWortschatzes Grammatikerwerb
10. Lbm.
18. Lbm.
Voraussetzungen und Bedingungen für einen ungestörten Spracherwerb
Voraussetzungen / Bedingungen
kognitiv-konzeptuell
sprachspezifisch sozial-kognitiv sozial-kommunikativ
Linguistische KompetenzPragmatische Kompetenz
Störungen der Sprachentwicklung
Störungen der Artikulation und des Redeflusses
Sekundäre Störungen der Sprachentwicklung
Primäre Störung der Sprachentwicklung
Definition und Klassifikation Störungen der Artikulation und des Redeflusses
Stottern (ICD-10: F 98.5): Störung des Redeflusses, bei der es durch häufige Wiederholung
von Lauten, Silben oder Wörtern, durch Blockierungen oder Lautdehnungen zu einer Unterbrechung der Äußerung kommt.
subjektiv: Kontrollverlust über den Sprechvorgang
Poltern (ICD-10: F 98.6): Unrhythmisches Sprechen mit sehr wechselndem Sprechtempo,
Verschlucken von Silben, Wörtern und Satzteilen, häufigem Umstrukturieren von Äußerungen mit Satzabbrüchen und Neubeginn.
subjektiv: kein Störungsempfinden.
Definition und Klassifikation Sekundäre Störungen der Sprachentwicklung
bei sensorischer Behinderung Kinder mit Hörstörungen (ICD-10: H 91.1) blinde Kinder
bei neurologischer Schädigung Kinder mit erworbenen Aphasien (ICD-10: F 80.3)
bei mentaler Retardierung (ICD-10: F 84.x) Kinder mit Down Syndrom Kinder mit Williams Beuren Syndrom
bei pervasiver Störung Kinder mit frühkindlichem Autismus (low-functioning)
Definition und Klassifikation Umschriebene Störungen des Sprechens und der Sprache
(ICD-10: F 80)
normale Entwicklungsmuster sind von frühen Entwicklungsstufen an beeinträchtigt.
unterschieden wird zwischen expressiven und rezeptiven Störungen.
Die Störungen können nicht direkt neurologischen Störungen, Störungen des Sprechablaufs, sensorischen Beeinträchtigungen, Intelligenzminderungen oder Umweltfaktoren
zugeordnet werden.
Epidemiologie und Prävalenz
Stottern und Poltern: ca. 1%
sekundäre und primäre Sprachentwicklungsstörungen: 3 - 20% (Schöler et al., 1998) Die Zahlen schwanken in Abhängigkeit von der Art der
Störung, von der Definition und den angewandten Verfahren.
Verhältnis Jungen : Mädchen 2,8 : 1 – 4,8 : 1
Symptomentwicklung/KomorbiditätUmschriebene Sprachentwicklungsstörung
verspäteter Sprachbeginn (sog. „late talkers“) Identifikation im Alter von 24 Monaten Produktion von < 50 Wörter, keine Mehrwortäußerungen
verlangsamter Spracherwerb mit möglicher Plateaubildung 50% der late talkers holt den Sprachrückstand bis zum 3.
Lbj. auf („late bloomers“ oder Spätzünder) Bei den anderen 50% wird der Leistungsabstand zu
normalen Kindern mit zunehmendem Alter größer („Schereneffekt“)
Symptomentwicklung/Komorbidität Sprachverständnis > Sprachproduktion
formale Merkmale (Syntax/Morphologie) sind gestörter als Semantik/Pragmatik fehlerhafte Formen, rudimentäre Wortkombinationen Fehlen komplexerer Transformationen; Probleme mit der
Wortstellung selbst bei der Satzimitation „Zusammenbruch“ der Sprache
Typische Sprachbeispiele (aus Grimm, 2003)
Spontane Sprachproduktion
„Ich heute gehen raus.“
„Der hier hoch.“ „Soviel ich hab.“ „Ein Dach da legen
hin.“
Satzimitation
Vater hat den Rucksack gekauft, bevor wir wanderten.
Der Vater ein Rucksack und dann de wandern.
Die Sonne scheint, nachdem es immer geregnet hatte.
Die Sonne scheint nach immer regene.
Symptomentwicklung/Komorbidität
Verzögerung vs. Abweichung vom normalen Spracherwerbsverlauf?
Sprachgestörte Kinder produzieren Sätze, die nicht Bestandteil einer Entwicklungszwischenstufe sind, die normale Kinder durchlaufen (vgl. rule stage, Bowerman, 1983)
Die betroffenen Kinder haben ein „Wortordnungsproblem“ (Grimm, 1994, 1995).
Symptomentwicklung/Komorbidität
Auffälligkeiten im kognitiven Bereich Störungen der auditiven Wahrnehmung
Lautdiskrimination und -erkennung Störungen des Gedächtnisses
auditives KZG, Arbeitsgedächtnis, Langzeitgedächtnis Phänomen des „abrutschenden IQs“
Psychiatrische Störungen Aufmerksamkeitsstörungen mit und ohne
Hyperaktivität Störungen des Sozialverhaltens und emotionale
Störungen
Negative Spirale nach dem Modell der sozialen Konsequenzen
wahrgenommene Unreife
Psycho-soziale Konsequenzen
eingeschränkte Lernerfahrungen
eingeschränkte Peer-Beziehungen
gestörte Kommunikation
gestörte Sprachentwicklung
soziale Einstellungen/ Beurteilungen
soziale Konsequenzen: eingeschränkte Interaktion
(nach Rice, 1993)
Symptomentwicklung/Komorbidität
Schulische Schwierigkeiten
Lese- und Rechtschreibstörungen bei 60-80% der Kinder mit Legasthenie finden sich
Symptome von Sprachentwicklungsstörungen
Lernbehinderung zunächst umschriebene Sprachentwicklungsstörung
weitet sich zunehmend aus (Sprachlernen Lernen durch Sprache)
Motorische Störungen
feinmotorische Schwierigkeiten
Ätiologie und Pathogenese
Die umschriebene Störung der Sprachentwicklung ist multikausal bedingt und hat eine biologische Wurzel.
Ursachen werden in drei Bereichen gesucht: Umweltsprache kognitive Defizite biologische Faktoren
Diagnose
Methoden
Freie Spontansprache Äußerungen in interaktiven Handlungszusammen-
hängen (face-to-face-Interaktion)
Gelenkte Spontansprache vorab festgelegte Sprechanreize (Bilder, Gegenstände
etc.), aber freie Spiel- oder Gesprächssituation Orientierung an den Interessen des Kindes
Elizitierte Spontansprache ( Sprachtests oder –screenings) „Hervorlocken“ bestimmter Zielstrukturen
DiagnoseSpontansprachanalysen
Zielsetzungen
Spracherwerbsforschung Beschreibung von normalen Sprachentwicklungsver-
läufen (expressiv)
Patholinguistische Forschung Beschreibung von abweichenden oder verzögerten
Sprachentwicklungsverläufen, Entwickeln von Hypothesen über Bedingungsfaktoren, Einschätzung der Förderbedürftigkeit, Ableiten von Förderschwerpunkten, Beurteilung der Effektivität von Fördermaßnahmen.
Schrey-Dern, 2006
Schrey-Dern, 2006
DiagnoseSpontansprachanalysen
Nachteile
Mangelnde Repräsentativität der Sprachstichprobe Kinder zeigen nur das, was sie können, nicht das, was
sie nicht können, jedoch in einem bestimmten Alter schon können sollten.
Schwierigkeiten bei der Normierung Komplexität Erhebliche interindividuelle Variation
Sehr voraussetzungsreich: Hohe Anforderungen an linguistische und psycholinguistische Grundkenntnisse.
DiagnoseSprachtests oder -screenings
ab 12 Monate: ELFRA 1 24 Monate: ELFRA 2 (Grimm & Doil, 2000)
ab 24 Monate: SETK-2 (Grimm, 2000) Wortverständnis, Wortproduktion Satzverständnis, Satzproduktion
3 - 5 Jahre: SETK 3-5 (Grimm, 2001) Rezeptive und produktive Sprachverarbeitung auf Wort- und
Satzebene Sprachverarbeitung und auditive Gedächtnisfähigkeiten
DiagnoseSprachtests oder -screenings
Nachteile
Ökologische Invalidität Künstlichkeit der Kommunikationssituation, Rückschlüsse auf die tatsächlichen sprachlichen
Leistungen sind nicht verlässlich!
Linguistischer Reduktionismus Nur ausgewählte Aspekte der sprachlichen Fähigkeiten
werden überprüft.
ZusammenfassungIdentifikation und Verlauf (nach Grimm, 1995)
persistierende Sprachdefizite
kognitive Probleme
schulische Lernprobleme
KommunikationsproblemePsychosoziale Probleme
bislang unauffällige Kinder
24 MonateU7
13-20% späte Wortlerner unauffällige Kinder
ca. 50% der Kinder zeigen
Sprachentwicklungsstörung ca. 50% sind Aufholer
(„late bloomers“)
Verfestigung der Störung
3-4 J.
Literatur Grimm, H. (2003a). Störungen der Sprachentwicklung (2.
Aufl.). Göttingen: Hogrefe.
Grimm, H. & Doil, H. (200?). Elternfragebogen zur Früherkennung von Risikokindern. ELFRA 1 und 2. Göttingen: Hogrefe.
Grimm, H. (2000). Sprachentwicklungstest für zweijährige Kinder (SETK-2). Göttingen: Hogrefe.
Grimm, H. (2003b). Sprachentwicklungstest für drei- bis fünfjährige Kinder (SETK 3-5). Göttingen: Hogrefe.
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