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SWR2 MANUSKRIPT
SWR2 Musikstunde
Die Bachs - Chronik einer Musikerdynastie (3)
Mit Ulla Zierau
Sendung: Donnerstag, 20. April 2017 Redaktion: Ulla Zierau Produktion: SWR 2017
Bitte beachten Sie:
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt. Jede weitere
Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen Genehmigung des Urhebers bzw. des SWR.
Service: SWR2 Musikstunde können Sie auch als Live-Stream hören im SWR2 Webradio unter www.swr2.de Kennen Sie schon das Serviceangebot des Kulturradios SWR2? Mit der kostenlosen SWR2 Kulturkarte können Sie zu ermäßigten Eintrittspreisen Veranstaltungen des SWR2 und seiner vielen Kulturpartner im Sendegebiet besuchen.Mit dem Infoheft SWR2 Kulturservice sind Sie stets über SWR2 und die zahlreichen Veranstaltungen im SWR2-Kulturpartner-Netz informiert. Jetzt anmelden unter 07221/300 200 oder swr2.de
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SWR2 Musikstunde mit Ulla Zierau, 20.04.2017
Die Bach-Dynastie, Chronik einer Musikerfamilie (3)
Signet
Gestern sind wir mit der kleinen Familie von Ambrosius Bach nach Eisenach
gezogen, dort werden seine weiteren sechs Kinder geboren, das Jüngste ist Johann
Sebastian, was in den Jahren sonst noch so geschieht bei den Bachs, erfahren Sie
hier und jetzt – herzlich willkommen sagt Ulla Zierau. (0’20)
Titelmusik
Sie gleichen sich wie ein Ei dem anderen und gelten als unzertrennlich, die Zwillinge
Christoph, genannt Stoffel und Ambrosius Bach, so berichtet Carl Philipp Emanuel.
Aber dann landen sie doch in verschiedenen Orten, Arnstadt und Eisenach,
dazwischen liegen 60 km. Stoffel wird Hofmusiker in Arnstadt, Ambrosius
„Hausmann“ in Eisenach, das heißt Direktor der Ratsmusik und Mitglied der
herzoglichen Kapelle. Und da die übrigen Bachs ohnehin in ganz Thüringen, ebenso
in Ober- und Niedersachsen und Franken verstreut sind, treffen sie sich einmal im
Jahr und feiern ein paar Tage ihre Zusammenkunft, in Erfurt, Eisenach oder Arnstadt.
Die familiären Bande sind eng, man kennt und schätzt sich untereinander und will
schließlich wissen, wie es dem anderen beruflich ergeht, wo, wann welche Stelle frei
wird, was die Familie macht, wie viele Kinder hinzugekommen, vermutlich auch wer
gestorben ist. (0’55)
Musik 1
Wilhelm Friedemann Bach:
Sonate für 2 Flöten und Basso continuo D-Dur, Falck 47; 2. Satz
Camerata Köln
M0427376 015; CPO 777086-2, 2‘15
3
Camerata Köln mit dem zweiten Satz aus der Sonate für 2 Flöten und Basso
continuo D-Dur, Falck 47 von Wilhelm Friedemann Bach
Wilhelm Friedemann und Carl Philipp berichten dem ersten Bach-Biografen Johann
Nikolaus Forkel über die Bach’schen Familienfeste und Forkel schreibt auf:
„Die Art und Weise, wie sie die Zeit während dieser Zusammenkünfte hinbrachten,
war ganz musikalisch. Da die Gesellschaft aus lauter Cantoren, Organisten und
Stadtmusikanten bestand, die sämtlich mit der Kirche zu tun hatten, und es
überhaupt damals noch eine Gewohnheit war, alle Dinge mit Religion anzufangen, so
wurde, wenn sie versammelt waren, zuerst ein Choral angestimmt. Von diesem
andächtigen Anfang gingen sie zu Scherzen über, die häufig sehr gegen denselben
abstachen. Sie sangen nämlich nun Volkslieder, teils von possierlichem, teils auch
von schlüpfrigen Inhalt zugleich miteinander aus dem Stegreif.“
Die einzelnen Stimmen bildeten ein harmonisches Gerüst, aber jede Stimme sang
einen anderen Text, erzählt Forkel: „Sie nannten diese Art von extemporierter
Zusammenstimmung Quodlibet und konnten nicht nur selbst recht von ganzem
Herzen dabey lachen, sie erregten auch ein ebenso herzliches und unwider-
stehliches Lachen bei jedem, der sie hörte“.
Soweit Forkel über die Familienfeste der Bachs. Man mag es sich lebhaft vorstellen,
wie es klingt, wenn so viele ausgebildete Musiker und Sänger gut gelaunt,
ausgelassen, frei improvisierend einfach loslegen. (1’30)
Musik 2
Daniel Friderici
Marktrufe aus Neue Avisen oder Lustiges und gantz kurtzweiliges
musicalisches Quodlibet von allerhand lustigen Relationen und Zeitungen
Heinrich-Isaac-Ensemble der Musikhochschule Karlsruhe
M0128565 009, 3‘02
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Ein Quodlibet vom Renaissance Komponisten Daniel Friderici.
Sebastians Eltern, Ambrosius und Maria Elisabetha Bach haben im April 1668 in der
Erfurter Kaufmannskirche geheiratet und wenn man nun denkt, was der eine Zwilling
tut, tut der andere auch, liegt man bei Ambrosius und Stoffel falsch. Gewöhnlich hei-
raten die Bach-Männer jung und gerne auch Frauen aus ein- und derselben Familie.
Nur der Stoffel, der Arnstädter Hof- und Stadtmusiker will nicht so recht oder findet
keine oder steckt in einer unglückseligen Verlobung, aus der er erst noch mit
rechtlichem Beistand befreit werden muss.
Ambrosius wird in Eisenach zum fünften Mal Vater, Stoffel ist noch nicht mal
verheiratet und das mit Anfang dreißig. Und dann kommt sie endlich die Einladung
zur Hochzeit, am 29. April 1679 in Ohrdruf, einem bisher unbachischen Flecken in
Westthüringen, 50 km von Eisenach entfernt. Dort wohnt die Braut, Martha Elisabeth
Eisentraut, neun Jahre jünger als der Bräutigam. 70 Gäste sind geladen, sämtliche
Bache mit und ohne Instrument, mit und ohne Dackel, Ambrosius bringt seinen
vierbeinigen Xerxes mit, Frauen, Kinder, Säuglinge.
Ohrdruf ist mit rund 3000 Einwohnern ein kleiner Ort mit Mühlen, Handwerkern, vor
allem mit Hufschmiden. Denn unweit von hier führt die Via Regia vorbei, die
Königliche Straße, einer der wichtigsten Handelswege des Mittelalters. Von Moskau
beziehungsweise Kiew über Görlitz, Erfurt, Frankfurt, Mainz, Reims, Orléans,
Bordeaux bis nach Santiago de Compostela. Und Ohrdruf liegt fast am Wege, für
einen Zwischenstopp oder Pferdewechsel bestens geeignet. So kommt gelegentlich
die große Welt in die kleine Stadt und sicher auch der ein oder andere Musikant. In
jenem April 1679 kommen vor allem die Bachs aus allen Himmelsrichtungen. Sie
wollen Toffels Hochzeit feiern. Und der Cousin aus Eisenach, Christoph, der Stophus
improvisiert an der Orgel. (2’15)
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Musik 3
Johann Ludwig Krebs
„Sei Lob und Ehr dem höchsten Gut“, Choralbearbeitung für Orgel
Andreas Schröder, Orgel Eppingen, Kath. Stadtkirche 'Unserer lieben Frau'
M0027955 002, Aufnahme 1983, 2‘06
Andreas Schröder mit der Choralbearbeitung von Johann Ludwig Krebs über „Sei
Lob und Ehr dem höchsten Gut“.
Der Cousin Stophus spielt an Toffels Hochzeit nicht nur Orgel, er hat im Auftrag von
Christophs Zwillingsbruder Ambrosius auch einen Hochzeitsdialog komponiert. Viele
Bache stehen in der Kirche bereit, am Tasteninstrument der Komponist selbst,
weitere Cousins an der Violone und den Bratschen und Ambrosius übernimmt den
Solo-Geigenpart. Auch ein „Nicht“-Bach ist dabei, der geniale Geiger Johann
Pachelbel, seit langem ein enger Freund der Familie und ein Taufpate einer der
Töchter von Ambrosius und Maria Elisabetha. Das Ältesten-Paar der anwesenden
Bache sind Heinrich und Eva, 63 und 62 Jahre alt, die einzigen aus der
Elterngeneration der gesamten Musikerschar. Und Wendel Bach, ein Nachkomme
einer entfernteren Bach-Linie singt den Bass,also die Rolle des Bräutigams und wer
die Braut singt, das möchte ich Ihnen erst in der morgigen Musikstunde verraten,
wenn es um die Frauen der Bach-Familie geht. Soviel vorab, es soll eine Bachin,
zumindest eine angeheiratete, gewesen sein.
Der Text des Hochzeitsdialoges stammt aus dem alttestamentarischen Hohelied, in
dem König Salomon von seinem körperlichen Verlangen nach seiner Freundin
Sulamith singt. Von Theologen auf eine christliche Ebene gehoben, die Liebe Gottes
zu seiner Kirche, beziehen Christoph und Ambrosius den alttestamentarischen Text
auf die irdische Liebe zwischen Mann und Frau. Es geht ihnen um die Sinnlichkeit:
„Meine Freundin du bist schön, wende deine Augen von mir, denn sie machen mich
brünstig“. (1’45)
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Musik 4
Johann Christoph Bach (1642-1703)
Kantate „Meine Freundin du bist schön“, Anfang
Matthew Brook, Bass / Julia Doyle, Sopran
English Baroque Soloists / Leitung: John Eliot Gardiner
M0317394 008, Soli Deo Gloria, SDG715, 3‘16
Der Anfang der Hochzeitskantate „Meine Freundin, du bist schön“ von Johann
Christoph Bach mit Matthew Brook und Julia Doyle. John Eliot Gardiner leitete die
English Baroque Soloists.
Ambrosius hilft seinem Cousin Christoph beim Notenschreiben der Hochzeitskantate,
sicher sitzen die beiden öfters in Eisenach beisammen und haben ihren Spaß dabei,
dass der alte Stoffel nun endlich heiratet. Übermütig fügt Ambrosius mehrere, auch
doppeldeutige Kommentare in die Noten ein, wie: „endlich wurde für dieses Mal
Schluss und Feierabend gemacht. Daher hieß es nun überall Gute Nacht! Schlaft
wohl!“
Doch bevor die Liebenden schlafen gehen dürfen, wird erst einmal gefeiert: „Esset
meine Lieben und trinket meine Freunde“ und mehr noch „werdet trunken“, diesen
Sinnesrausch setzt Christoph Bach mit allen Raffinessen in Töne. Er verwendet
Sextolen in den Geigen, den Hoquetus, schnell wechselnde Stimmführungen und
setzt Hickser in die Vokalstimmen. (1’00)
Musik 5
Johann Christoph Bach (1642-1703)
„Esset meine Lieben“ aus der Kantate „Meine Freundin du bist schön
Cantus Cölln, Concerto Palatino, Leitung: Konrad Junghänel
Harmonia mundi 901783.84, 1‘43
Inzwischen sind alle angeheitert oder trunken, wie es im Text der Hochzeitskantate
von Johann Christoph Bach heißt. Konrad Junghänel leitete Cantus Cölln und
Concerto Palatino.
7
Viele Bache sind bei der Aufführung der Hochzeitskantate in Ohrdruf beteiligt, noch
mehr hören zu, die Alten und die ganz Jungen. Unter den Kindern auch der entfernt
verwandte Johann Ludwig Bach, Spross einer Nebenlinie der Familie. Bei der
Hochzeit von Martha und Toffel gerade mal zwei Jahre alt, 55 Jahre später schreibt
er als Hofkapellmeister in Meiningen eines der modernsten Werke seiner Zeit,
packend, ergreifend, dramatisch, wegweisend. Eine über 70-minütige
großdimensionierte Trauermusik für seinen Dienstherrn, Ernst-Ludwig von Sachsen-
Meiningen. Der hat in weiser Voraussicht, dass man sich auf niemanden verlassen
kann, den Text dazu selbst geschrieben:
Sebastian führt in Leipzig später einige Werke seines entfernten Verwandten auf,
folgender Chor aus der Trauermusik „Meine Bande sind zurissen“ könnte auch von
ihm sein. Die Schlüsselworte Bande und zerreißen werden dissonant betont. (1’10)
Musik 6
Johann Ludwig Bach (1677 - 1731)
Trauermusik für Ernst-Ludwig von Sachsen-Meiningen
Chor „Meine Bande sind zurissen“
RIAS Kammerchor / Akademie für Alte Musik Berlin /Leitung: Hans-Christoph
Rademann
M0281442 009, HARMONIA MUNDI France, HMC 902080, 2’34
„Meine Bande sind zurissen“ aus der Trauermusik für Ernst-Ludwig von Sachsen-
Meiningen von Johann Ludwig Bach. Hans-Christoph Rademann leitete den RIAS
Kammerchor und die Akademie für Alte Musik Berlin.
Die Hochzeit Toffels und Marthas in Ohrdurf ist ein besonderes Fest der Familie
Bach – doch immer ist es den Bachs nicht zu feiern zu mute. Es gibt bittere Zeiten,
voller Trauer und Schmerz. Die Pest geht um, Männer, Frauen, Kinder, Säuglinge
sterben Tag für Tag, Woche für Woche. Wie ein Gespenst schleicht die Seuche
durch die Straßen und Häuser. Ein jeder achtet mit Angst und Bangen auf erste
Symptome: Schwäche, Müdigkeit, Atemnot, Fieber und zuletzt blaue Flecken und
schwarze Beulen. Auch die Bachs verlieren Frauen, Männer, Kinder, die Kinder ihre
Eltern. Allein im Haus des Erfurter Johann Christian Bach sterben sechs Menschen.
Unwiederbringlich. Die minderjährigen Kinder werden bei Verwandten untergebracht.
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Ambrosius nimmt den ältesten Sohn seines Cousins in seine Obhut. Wie durch ein
Wunder macht die Pest vor Eisenach halt. Ambrosius Familie bleibt verschont. Seine
fünf Kinder, die in Eisenach geboren sind, leben alle und eines wird noch dazu
kommen. 1685 ein Sohn, er wird auf den Namen Johann Sebastian getauft und er
wird die Welt verändern. (1’20)
Musik 7
Johann Sebastian Bach:
Sinfonia aus dem Oster-Oratorium
The English Concert / Leitung: Trevor Pinnock
M0059107 015, Archiv Produktion 439780-2, 3‘46
Sinfonia aus dem Oster-Oratorium von Johann Sebastian Bach mit dem English
Concert unter Trevor Pinnock.
Sebastian wird zu Frühlingsbeginn, am 21. März 1685 in Eisenach geboren und zwei
Tage später in der Georgenkirche getauft. Das gotische Taufbecken existiert heute
noch. Zur Kirche Sankt Georg gehört eine Lateinschule, auf die die großen Brüder
und Cousins gehen, auch Martin Luther hat hier die Schulbank gedrückt und
Sebastian wird es auch tun, zusammen mit seinem drei Jahre älteren Bruder Jacob.
„Mit seiner ungemein schönen Sopranstimme“, so heißt es, singt er bald im Chor und
spielt verschiedene Instrumente. Von Anfang an ist Sebastian von Musik umgeben,
der Vater ein brillanter Geiger und Bratscher, die Brüder und die Cousins musizieren,
Onkel Stophus spielt Orgel und manchmal darf Sebastian nicht nur zugucken,
sondern das imposante Instrument selbst ausprobieren. Und wenn der Onkel die
Orgel repariert, kann er sehen, wie sie von innen aussieht.
Vieles müssen wir uns in der Fantasie vorstellen, denn Dokumente aus der Zeit gibt
es kaum. Das haben die beiden Autoren Klaus Rüdiger Mai und Volker Hagedorn in
ihren jeweiligen Büchern über die Familie Bach aus den Jahren 2014 und 2016 auch
getan. Ausschmückendes, Vermutetes und Mögliches detailreich hinzugefügt, vor
allem Hagedorn in „Bachs Welt“, immer mit dem Zusatz, „so könnte es gewesen
sein“.
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Dabei entstehen spannende, unterhaltende Lebensbeschreibungen, die uns in die
Zeit der Bachs führen und uns die Menschen und die Lebensumstände näher
bringen.
Hochzeiten, Taufen, Beerdigungen, das sind die Ereignisse, zu denen die Familie
zusammenkommt. Einschneidend ist der Abschied von Heinrich Bach, der letzte der
Großvater-Generation. Einige seiner Nichten, Neffen und Enkel hat er überlebt. Nun
stirbt er mit fast 77 Jahren in Arnstadt, über 50 Jahre ist er hier Organist gewesen –
In großer Anteilnahme nehmen die Bachs Abschied von Heinrich und hören der
Predigt über den Psalm 91 zu: „Ich will ihn sättigen mit langem Leben und will ihm
zeigen mein Heil“. Einer der vielen Organisten unter den Bachs präludiert an der
Orgel. (2’05)
Musik 8
Johann Michael Bach (1648-1694)
„Wenn mein Stündlein vorhanden ist“, Choral für Orgel
Franz Haselböck, Orgel
M0127047 024, hänssler-classic/Laudate 98.558. 2‘10
Frank Haselböck mit dem Choral „Wenn mein Stündlein vorhanden ist“ von Johann
Michael Bach.
Michaels Vater Heinrich stirbt im Alter von 77 Jahren, Heinrichs Kinder und die
meisten seiner Enkel werden längst nicht so alt. Der Tod geht um in den späten
Jahrzehnten des 17. Jahrhunderts, Läuse, Fleckenfieber, Typhus, Pest, Kindstod.
Was Ambrosius Bach besonders hart trifft, der geliebte Zwillingsbruder Toffel stirbt
mit 48. Kurz darauf verliert Ambrosius seine geliebte Frau Maria Elisabetha. 26 Jahre
waren sie verheiratet, 8 Kinder, davon noch drei minderjährig. Wenige Wochen
später stirbt der Cousin in Gehren, der Komponist Michael. Er hinterlässt eine Frau
und vier Töchter.
Michaels Bruder, Christoph, der Stophus in Eisenach, hat vor einiger Zeit ein
Lamento komponiert, in diesen Monaten des Todes ist es in der Familie Bach
allgegenwärtig.
10
„Wie bist du denn, oh Gott, in Zorn auf mich entbrannt, ist deine Güte gar in Eifer
umgewandt? Vor Trauern hab ich fast kein Mark mehr in den Beinen, die Augen
werden Blut und schwellen auf von Weinen. Des Jammers Unmut hat mir allen Mut
genommen, ich bin vor Kümmernis fast von mir selber kommen.“ (1’20)
Musik 9
Johann Christoph Bach (1642-1703)
„Wie bist du denn, o Gott“, Lamento
Stephan MacLeod, Bass / Ensemble Ricercar Consort
M0267108 008, MIRARE, MIR 041, 3’24
Stephan MacLeod und der Ricercar Consort mit dem Lamento “Wie bist du denn, o
Gott” von Johann Christoph Bach.
Ambrosius Bach ist Witwer, sein jüngster Sohn Sebastian gerade mal 9, Johann
Jacob drei Jahre älter. Die 17-jährige Tochter Maria Salome führt fortan den
Haushalt, so gut es eben geht. Ambrosius muss weiter arbeiten, er hat zwei
Lehrlinge und Gesellen, unterstützt die Witwe seines Zwillingsbruders und seinen
Cousin Christoph in Eisenach, den Stophus.
Er weiß es, er muss wieder heiraten. Die Tochter des Arnstädter Bürgermeisters ist
die richtige, zweifache Mutter, bereits zweimal verwitwet. So kommen zu den Bach
Söhnen zwei gleichaltrige Stiefschwestern, eine Patchwork Familie, doch nicht lange.
Drei Monate nach der Hochzeit scheidet Ambrosius Bach, zwei Tage vor seinem 50.
Geburtstag aus dem Leben.
John Eliot Gardiner zitiert an dieser Stelle in seinem unbedingt lesenswerten 700
Seiten umfassenden Bach-Buch den britischen Schriftsteller Graham Greene: „In
jeder Kindheit gibt es einen Moment, in dem eine Tür sich öffnet und die Zukunft
hereinlässt“. Für Sebastian war das unbedingt der Tod der Eltern. (1’15)
11
Musik 10
Johann Sebastian Bach
„Befiehl du deine Wege“, Choral zu 4 Stimmen, BWV 271
The Hilliard Ensemble
M9171002 001, ECM Records, 461895-2, 1’20
„Befiehl du deine Wege“, Choral zu 4 Stimmen, BWV 271 mit dem Hilliard Ensemble.
Beide Eltern tot, für Sebastian zerfällt die Familie. Jacob und er kommen als Waisen
zum ältesten Bruder Christoph nach Ohrdruf. Sebastian kennt seinen 14 Jahre
älteren Bruder kaum, vermutlich wäre er lieber bei Onkel Stophus in Eisenach
geblieben. Der ist ihm mit seiner Liebe zur Orgel vertrauter. Aber so sind die
Gepflogenheiten, der Älteste muss sich um die Jüngeren kümmern bis sie 15 sind.
Der Bruder Christoph ist in Ohrdruf Stadtorganist und hat die Tochter eines
Ratsherrn geheiratet, Dorothea von Hoff, beide erwarten ihr erstes Kind, als die
Brüder aus Eisenach hinzukommen. Sebastian und Jacob besuchen die
evangelische Lateinschule, Sebastian fünf Jahre, Jacob kehrt nach einem Jahr nach
Eisenach zurück und geht beim Nachfolger seines Vaters zur Lehre. Über das
Verhältnis Sebastians zu seinem älteren Bruder ist viel geschrieben worden, ohne
dass man etwas Genaues weiß.
Carl Philipp bemüht sich, den Onkel aus Ohrdruf schlecht zu reden, er sei nicht mehr
als ein Organist gewesen, er habe Sebastian Noten weggenommen und ihm abends
das Licht verboten, so dass Sebastian heimlich bei Mondschein studieren musste.
Als Förderer oder gar Lehrer des Vaters kommt Christoph aus Sicht Carl Philipps
nicht in Frage. An dem Bild des genialen Johann Sebastian Bach, der um sein
Können gegen Widrigkeiten kämpfen musste und ganz ohne Lehrer das geworden
ist, was er war, darf nicht gerüttelt werden.
Neuere Studien verraten, dass Christoph dem jüngeren Bruder durchaus seine
umfangreiche Notensammlung zur Verfügung gestellt hat, dass er ihn gefördert hat.
Vor ein paar Jahren sind in Weimar Notenblätter entdeckt worden. Wie durch ein
Wunder haben sie 2004 den Brand der Herzogin Anna Amalia Bibliothek überdauert,
weil sie zu dem Zeitpunkt zu wissenschaftlichen Untersuchungen im Kellergeschoss
aufbewahrt worden waren.
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Es sind Abschriften von Orgel-Tabulaturen von Werken von Reincken und
Buxtehude. Und die Bach Forscher sind sich einig – es handelt sich um frühe
Handschriften des 13- bis 15-jährigen Sebastians, entstanden um 1700, also noch im
Haus des Bruders, darunter die Choralfantasie „Nun freut euch, lieben Christen
g'mein“ von Dietrich Buxtehude. (2’25)
Musik 11
Dietrich Buxtehude:
Nun freut euch, lieben Christen g'mein, Choralfantasie für Orgel, BuxWV 210
Jean-Claude Zehnder auf der 1693 fertiggestellten und 1989-93 rekonstruierten
Schnitger-Orgel in der St. Jacobi Kirche in Hamburg
M0062017 001, Carus CV 83.197, 5‘07
Choralfantasie „Nun freut euch, lieben Christen g'mein“ von Dietrich Buxtehude.
Es sind frühe Handschriften Bachs, die auf dieser Carus CD vom Organisten Jean-
Claude Zehnder an der Schnitger-Orgel in der St. Jacobi Kirche in Hamburg
eingespielt wurden. Zum einen rehabilitieren diese Handschriften den Bruder, er hat
Sebastian also nichts vorenthalten, ganz im Gegenteil, vieles spricht dafür, dass er
die Abschrift überwacht hat, so ordentlich und korrekt wie sie aussieht.
Zum anderen zeigen die anspruchsvollen Kompositionen die außergewöhnliche
Begabung Sebastians. Buxtehudes Choralfantasie ist eines der komplexesten Werke
der Zeit, mit rhythmischen und metrischen Wechseln, absolut ein Stück für Kenner.
Sicher hat Sebastian das Werk nicht nur kopiert, sondern auch gespielt. Dann muss
er schon in jungen Jahren ein virtuoser Organist gewesen sein.
Sebastians weiterer Werdegang spricht dafür. Knapp fünf Jahre bleibt er bei seinem
Bruder in Orhdruf, dann macht er sich eine Woche vor seinem 15. Geburtstag mitten
im Schuljahr auf den Weg nach Lüneburg.
300 Kilometer zu Fuß mit seinem Schulfreund Georg Erdmann. Sie wollen sich um
ein Chorstipendium bewerben. Die beiden Jungen werden Schüler in der
Lateinschule des Michaelisklosters und singen im Mettenchor mit.
13
Zwei Jahre bleibt Sebastian in Lüneburg, dann beginnt seine eigentliche
Bildungsreise, nach Weimar als Hofmusiker, als Organist nach Arnstadt und 1705 die
berühmte mehrmonatige Reise nach Lübeck zu Dietrich Buxtehude und spätestens
hier müsste eine neue SWR2 Musikstundenwoche allein über Johann Sebastian
Bach beginnen, ein anderes Mal.
Jetzt sind wir am Ende von Teil drei der vorsebastianischen Familienchronik
angelangt, morgen soll es um die Bach Frauen gehen – kein leichtes Unterfangen.
Ich freue mich, wenn Sie wieder mit dabei sind.
Zum Schluss noch eine musikalische Verneigung Bachs vor seinem Bruder
Christoph, vielleicht ein Danke für die Zeit in Ohrdruf.
Capriccio in honorem Johann Christoph Bachii Ohrdrufienisis, BWV 993. Angela
Hewitt spielt und ade sagt Ulla Zierau. (2’15)
Musik 12
Johannn Sebastian Bach
Capriccio E-Dur "In honorem Joh. Christoph. Bachii, BWV 993
Angela Hewitt, Klavier
M0017582 010, Hyperion CDA 67306, 4‘13
Literatur:
John Eliot Gardiner, Bach, Musik für die Himmelburg, München 2016, Hanser
Volker Hagedorn, Bachs Welt, Hamburg 2016, Rowohlt
Klaus Rüdiger Mai, Die Bachs, Berlin 2014, List
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