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Die einstürzenden Neubauten Ruine, von frz. Ruine „Ruine, Trümmer, Einsturz, Verfall“, von lat. ruina „Einsturz, Sturz, Untergang; eingestürztes Gebäude, Trümmer“, zu lat. ruere „stürzen, einstürzen“ In Zeiten von Polyurethanplastiken und Epoxidharzgüs-sen, von Plexiglasrahmen, Digitalprints und zum Down-load bereitgestellten Kunstwerken erscheint es erstaun-lich nostalgisch, wenn jemand monatelang aus Gips und Knochenleim Stuckmarmor herstellt, um damit nach rund zwölf Wochen eine Quadratmeter grosse, armierte Plat-te an die Wand lehnen zu können. Gleichzeitig geht davon eine Faszination aus, die das traditionell Handwerkliche wohl seit jeher ausstrahlt. Die Arbeit mit Stuckmarmor verlangt zum einen äusserste Präzision und zum andern gleichzeitig die Offenheit, den Zufall in die Gestaltung einzubeziehen. Mit beiden Aspekten weiss der in Luzern wohnhafte Künstler Jeroen Geel (*1976) umzugehen. Was ist denn überhaupt Stuckmarmor? Stuckmarmor ist eine alte Technik zur Herstellung von glanzvollen far-bigen Oberflächen. Hochwertige Gipssorten, Knochen-leim und Pigmente werden dazu miteinander verknetet und zu Laiben geformt. Mehrmaliges Umschichten führt zu bezaubernden, sowohl farblich als auch formal vari-ierenden Strukturen. Von den so entstandenen Laiben werden Scheiben abgeschnitten. Nach der Härtung wird die Oberfläche der Scheiben geschliffen, gespachtelt und sie kann auf Hochglanz poliert werden. Dabei verändern sich mit jedem Schleifgang die angelegten Strukturen und Farbverläufe. Das Volumen des Stuckmarmors sorgt für Tiefe und Farbintensität.
Wenn von Nostalgie die Rede ist, so ist es wohl auch nicht mehr zeitgemäss, Skizzenbücher zu füllen, zu zeich-
nen und seine Ideen im stillen Kämmerlein zu behalten, bevor man sie der ganzen Welt erzählt. Jeroen Geel macht sich nichts daraus, will nicht modisch sein. Er bleibt ‚old school’, ein Künstler alter Schule, wenn man so will. Und doch: Experiment und Innovation haben einen nicht zu unterschätzenden Stellenwert in seiner Kunst. Wie die 1980 u.a. von Blixa Bargeld gegründete und diesem Text den Titel gebende Band Die einstürzenden Neubauten sich stets neuen Musikrichtungen zuwandte, ausprobier-te und die deutsche elektronische Musikszene immer wieder prägte, so will auch Jeroen Geel sich nicht auf eine Gattung oder ein einzelnes Handwerk festlegen. In seinem Atelier arbeitet er stundenlang. Er brütet und tüftelt, zeichnet, töpfert, aquarelliert, macht Radierungen, trägt Blattgold auf, gipst, formt und schleift. Ist er unter-wegs, so besucht er romanische Kirchen im Bündnerland oder barocke Schlösser in Bayern und füllt Seite für Seite sein Skizzenbuch. Er studiert Volumina, Strukturen und Bauten, bis er sie vom Fundament auf versteht, sie rezi-pieren und für seine eigene Kunst interpretieren kann.
Jeroen Geel ist ein Ruinenbaumeister. Sich altherge-brachter Techniken bedienend, schafft er mit ungemein gestalterischer Lust Kunst. Die Orientierung am Alten schafft Neues, das gleichzeitig nostalgisch als auch poppig anmutet. So entblösst der von weitem wie echter Mar-mor erscheinende Stuckmarmor von nahem erstaunlich moderne, abstrakte und in der Farbpalette keineswegs dem Marmor zuzuschreibende Qualitäten. In dem vom Künstler gekneteten, geformten und geschliffenen Mate-rial wird Crossover gespielt, was den fertigen Werken den Eindruck eines eklektischen Mixes verleiht. Einige Platten halten am Steinernen fest, andere sind humorvoll als Fleischimitat gestaltet. Wiederum andere scheinen von Stroboskopblitzen durchzogen zu sein. Man soll eben erkennen, dass sie gemacht sind! Das Imitat wird so zum
eigenständigen Objekt und emanzipiert sich vom Vorbild des echten Marmors. Bei der genaueren Betrachtung der Stuckmarmorplatten verfolgt der Blick die Spuren im Material, das Einwirken der Kraft, die das Ganze formte, orientiert sich entlang der verschiedenen Farbverläufe. Die Augen suchen, der Intellekt versucht zu entziffern. Welche Schicht liegt über welcher? Welche Ebene war zuerst da? Welche ist formgebend? Ist das Ganze stabil oder bricht alles gleich auseinander?
Jeroen Geels Werke führen ein seltsames Zwischenda-sein. Die auf Hochglanz polierten und rechteckig zu-geschnittenen Stuckmarmorplatten scheinen steinhart und unzerstörbar zu sein. Dieselbe Technik anwendend, formt Geel aus dem Material seit einiger Zeit fragile, scheinbar kaputte, an Fundstücke und Ruinen erinnernde grossformatige Platten, die gleich in sich zusammenzufal-len drohen. Das deutsche Wort „Ruine“ leitet sich vom lateinischen Wort ‚ruere’ ab und bedeutet ‚stürzen’. Die Ästhetik des Zerfalls begleitet die Arbeiten Geels. Rui-nen bedeuten immer Vergangenheit, Gewesenes, Über-bleibsel aus anderen Zeiten. Max Frisch nennt in seinen Überlegungen zu Architekturdarstellungen als Beispiel die Akropolis und bezeichnet „die Ruine als einzige Mög-lichkeit von ausgeführter und dennoch skizzenhafter Architektur.“ Hermann Burger zitiert Frisch in seinem Aufsatz Der Autor auf der Stör und schreibt, für den ursprünglich zum Architekten ausgebildeten Schriftstel-ler habe sich der Reiz eines solchen skizzenhaften oder unvollendeten Bauwerks wohl darin gezeigt, dass wir als Betrachtende gezwungen seien, das Fragment, welches die Ruine darstellt, in unserer Fantasie zu einem ver-meintlich Ganzen zu ergänzen. Denn, so erklärt Burger, die Aktivität der Ergänzung vermittle den lebendigeren Kunstgenuss als die Bewunderung vollendeter Bauwerke. Das Reizvolle an der Ruine sei somit, dass sie einmal ein
Ganzes war. Doch was passiert, wenn die Ruinen nicht einst waren, sondern wie bei Jeroen Geel neu gemacht sind? Dass Ruinen auch geplant errichtet werden kön-nen, haben uns einige Baubeispiele aus dem 19. Jahrhun-dert gezeigt. Auch diese konstruierten Ruinen muten nostalgisch an, tragen das Vergangene in sich. Obwohl manchmal trocken, staubig und öde (als Kind im Urlaub auf Kreta etwa), ein Zauber geht doch von ihnen aus! Die Rätselhaftigkeit gewisser architektonischer Überbleibsel hält uns auf Trab. Vermutungen mischen sich mit histori-schen Fakten. Welche einstürzenden Neubauten werden wir selbst einmal hinterlassen?
Als Schöpfer solcher neuer Ruinen ist Jeroen Geel von einer Experimentier- und Gestaltungslust getrieben, die den Künstler auch immer wieder dazu bringt, seine Tech-niken zu verändern, zu verfeinern und weiterzuentwi-ckeln. So beginnt er, nachdem er sich über vier Jahre mit dem Stuckmarmor beschäftigt hat, mit denselben Zuta-ten ein neues Herstellungsverfahren zu verfolgen: Wie ein Konditor drückt er die angerührte Gipsmasse durch einen Spritzbeutel aus Stoff und stellt so dünne, weisse Würste her. Diese vorsichtig im Kreis schlängelnd aufein-ander geschichtet, erbaut er Türme, die sofort aushärten, massiv sind und doch äusserst fragil wirken. Sie geben bei einem Atelierbesuch Anlass zu einem Gespräch über Rosendorfers „Ruinenbaumeister“ und bewirken in der nachfolgenden Reflektion des Gespräches eine Asso-ziationskette bis hin zu den Einstürzenden Neubauten. Im Grunde sind diese Türme komplett primitive Gefäs-se. Fast ungeschickt wirken sie; sind als Behälter nicht funktionstauglich. Das Gefäss als Grundmotiv eines je-den skulpturalen und plastischen Körpers verleiht diesen weissen Volumina eine Schönheit und Anmut, die wieder von der Faszination von altem Handwerk herrührt. Die Technik, aus einzelnen Kringeln einen Hohlkörper her-
zustellen, entspricht jeder Grundlektion im Töpfern, ist sozusagen Basis jeglichen plastischen Schaffens.
Das Ursprüngliche und Elementare verbindet sich mit dem Akt des Skizzierens: Wenn Jeroen Geel die Kapitel-le einer Kirche zeichnet, um das Volumen derselben zu verstehen, so baut er im Kopf sehr genau nach, lässt auf dem Papier jedoch gleichzeitig die Definition des Mate-rials oder das Herstellungsverfahren offen, berührt ge-wisse Dinge nur im Ansatz. Auch hier treffen die bereits erwähnten Überlegungen Max Frischs zur Akropolis zu: „Die Skizze hat eine Richtung, aber kein Ende; die Skiz-ze als Ausdruck eines Weltbildes, das sich nicht mehr schliesst oder noch nicht schliesst.“ Dieses Ungeschlos-sene ist anziehend, regt das eigene Denken an, verlangt nach genauerem Hinschauen, nach Ergänzung. Das offene Dazwischen, das Unfertige – Eingestürzte vielleicht – birgt packende Rätsel und schafft Mythen: Der Ruinen-baumeister erzählt seine Geschichten so, dass sie nicht langweilig werden, da sie Interpretationsraum lassen. Ge-els Kunstwerke befinden sich damit in einem Zustand von Werden und Vergehen. Die Richtung ist festgelegt, das Ziel noch unbestimmt. Dazwischen liegt die starre, unveränderbare Gestalt eines Neubaus, welchem er ge-trost den Rücken kehrt!
Ausstellungstext: „Mons Fractum - Jeroen Geel“ Kunstmuseum Luzern Lena Friedli
Bildmarmor 10, 2011/12 Gips, Knochenleim, Pigmente 11.5 cm x 20.5 cm x 2 cm
Bildmarmor 18, 2012/13 Gips, Knochenleim, Pigmente 27.5 cm x 37.5 cm x 2 cm
Biografiegeboren 1976 in Zürichaufgewachsen in Horgen, Meerbusch (D) und Wädenswilwohnt und arbeitet in Luzern und Emmenbrücke
seit 2007 Mitglied der Alpineum Produzentengalerie Luzern
2005 - 2006 Atelieraufenthalt in Kairo, Stipendium der KSK
1997 - 2002 Hochschule für Gestaltung und Kunst, Luzern
1992 - 1997 Mathematisch-Naturwissenschaftliches Gymnasium Rämibühl, Zürich
Publikation Buchpreis für Junge Kunst der Stadt Luzern 2015:
«Jeroen Geel - Mons fractus»,Texte: Claudia Kübler, Lena Friedli
Herausgeber:Kommission Bildende Kunst Stadt Luzern / Kunstmuseum Luzern.Nummer 11 in der Reihe junge Kunst Luzern.
© Vexer Verlag St.Gallen / Berlin
Ausstellungsverzeichnis
2015«Jeroen Geel - Mons fractus», Kunstmuseum Luzern
Werkbeiträge Kanton Luzern, Akku, Emmenbrücke
«Catch of the year», Dienstgebäude, Zürich
Wandarbeit «Beschattung», Credit Suisse, Kriens
2014«Minimale 2», Alpineum Produzentengalerie, Luzern
«Art Ort Tat» - Gruppenausstellung, Galerie am Leewasser, Brunnen SZ
Art Athena - Plattforms Project, Faliro Pavillion, Athen
«Wonderfuel Zeromoney», Gelbes Haus, Luzern
2013«Corpus delicti» - der Blick des Begehrens, Alpineum Produzentengalerie, Luzern
«Jahresausstellung Zentralschweizer Kunstschaffen», Kunstmuseum Luzern
«Catch of the year», Dienstgebäude, Zürich
«Samo Stancer, Andri Stadler, Jeroen Geel», Cheminée nord, Usine Kugler, Genf
«Alchemus II» - Jeroen Geel, Samo Stancer, Alpineum Produzentengalerie, Luzern
Supermarket Artfair, Kulturhuset, Stockholm
2012«Bildmarmor» – Jeroen Geel, Wäscherei Kunstverein, Zürich
2011«Äther Alpineum Produzentengalerie», Luzern
«Jeroen Geel, Michael Greppi, René Odermatt, Samo Stancer - Peintures et Objects», Cheminée nord, Genève
Preview Artfair, Ex-Flughafen Tempelhof, Berlin
«Halt!» Gruppenausstellung zum 10jährigen Jubileum der Station21, Zürich
«Treignac/Alpineum Experimental Dialogues: A Prologue» Treignac (F)
Supermarket Artfair, Stockholm
2010«Kopien und Zitate», Alpineum Produzentengalerie, Luzern & sic - Raum für Kunst, Luzern
«Jahresausstellung Zentralschweizer Kunstschaffen, Kunstmuseum Luzern
«Alchemus - Jeroen Geel, Christian Duss», Alpineum Produzentengalerie, Luzern
«inside», Kunsthalle, Luzern, Station21, Zürich
UND#5 – Plattform für Kunstinitativen, Nancyhalle, Karlsruhe
Supermarket Artfair, Kulturhuset, Stockholm
2009«Minimale – Die grosse Leistungsschau für aktuelle Mikrokunst», Alpineum Produzentengalerie, Luzern
«Kleinformate», Galerie Carla Renggli, Zug
«Jahresausstellung Zentralschweizer Kunstschaffen», Kunstmuseum Luzern,
«Jeroen Geel - Aquarelle und Druckgrafik», Hoffmann-La Roche, Basel
2008«Edition 08», Alpineum Produzentengalerie, Luzern
«Kartoffeln und Wolken - Aquarelle», Alpineum Produzentengalerie, Luzern
2007«Himmel über Luzern», Alpineum Produzentengalerie, Luzern
«Kleinformate», Galerie Carla Renggli, Zug
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